EINLEITUNG 15 IV. Die in diesem Band versammelten Texte verstehen sich als Element und Ergebnis dieser Denkbewegung. Sie sind Beiträge zu einem Forschungsfeld, das in Deutschland bislang kaum etabliert ist: die »social studies of biomedicine and biotechnologies«. Immer noch werden die komplexen (wissenschafts-)historischen Entstehungskontexte, material-symbolischen Voraussetzungen, kulturellen Hintergrundannahmen und sozialen Folgen biowissenschaftlicher Diskurse und Praktiken in der deutschen Soziologie nur ansatzweise empirisch analysiert und theoretisch reflektiert. Obwohl grundsätzlich ein großer Bedarf an gesellschaftlicher Selbstverständigung in diesem Bereich besteht, werden die sozialen Implikationen des biomedizinischen und biotechnologischen Wissens hierzulande vor allem innerhalb der Theologie und der Philosophie auf der einen und der Naturwissenschaften und der Medizin auf der anderen Seite diskutiert. Diese Problem wird besonders augenfällig, wenn man die sozialwissenschaftliche Forschung zum Komplex Biotechnologie/Biowissenschaften/ Biomedizin in Deutschland mit der Situation in anderen Ländern vergleicht. Während hierzulande lediglich sporadische Forschungsanstrengungen und Einzelinitiativen zu beobachten sind, existiert vor allem in Großbritannien, den USA und in den Niederlanden bereits eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituten und -verbünden, welche die gesellschaftlichen Aspekte von Biotechnologien und Biomedizin untersuchen (zum Beispiel Program on Science, Technology and Society, Harvard University; CESAGEN, Lancaster University). Die Forschungsschwerpunkte sind häufig gekoppelt an die Einrichtung neuer Masterstudiengänge (zum Beispiel das Masterprogramm »Philosophy, Technology and Society« an der Universität Twente, der »Bio & Society Major« der Cornell University oder der Masterstudiengang »Medicine, Science and Society« am King’s College London). An dieser Forschungslücke setzt der vorliegende Band an. Er geht von der Annahme aus, dass die Genese, Zirkulation und Anwendung biowissenschaftlichen Wissens und biotechnologischer Innovationen zu einer Neukonfiguration gesellschaftlicher Verhältnisse führt. Dabei lassen sich zwei gegenläufige Dynamiken beobachten. Im Kontext biowissenschaftlichen Wissens erscheint einerseits die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft immer weniger als selbstverständlicher und unhinterfragter Ausgangs- und Bezugspunkt und Lebensprozesse werden zunehmend als in- 16 DIE NATUR IN DER SOZIOLOGIE terventionsoffen und gestaltbar begriffen. Zum anderen verbindet sich die gesellschaftliche Nutzung dieses Wissens mit Vorstellungen einer unmittelbar zugänglichen und objektiv feststellbaren biologischen Realität, die als ontologische Grundlage und normative Richtschnur individuellen und kollektiven Handelns begriffen wird. Die in diesem Band versammelten Beiträge nehmen diese spannungsvolle Konstellation in den Blick, ohne sie auf eine naturalistische Perspektive auf der einen oder eine sozio-zentrische Position auf der anderen Seite zu verkürzen. Die Materialität des Körpers und die äußere Natur werden weder als rein biologisch-physikalische Fakten noch ausschließlich als soziale Konstruktionen und kulturelle Schemata begriffen; im Mittelpunkt der Analyse steht vielmehr die Ko-Produktion von Gesellschaft und Natur, biowissenschaftlichem Wissen und gesellschaftlicher Verhältnissen (Benton 1991; Dickens 2004; Becker/Jahn 2006; Jasanoff 2006). Von der Soziobiologie zur Biosozialität? Anmerkungen zu einer Debatte in der Wissenschafts- und Technikforschung zeichnet Entstehungskontexte, Rezeptionslinien und Entwicklungstendenzen des Konzepts der Biosozialität nach. Der Beitrag rekonstruiert die Bedeutungsdimensionen der zunächst von dem US-amerikanischen Anthropologen Paul Rabinow vorgestellten Biosozialitätsthese. Diese setzt sich kritisch ab sowohl von den naturalistischen Vorannahmen mancher gentechnologiekritischer Positionen als auch vom Konstruktivismus vieler sozialwissenschaftlicher Arbeiten zu Bedingungen und Folgen biotechnologischer Innovationen. Im Mittelpunkt des Kapitels stehen wichtige Rezeptionslinien des Konzepts der Biosozialität und ihr Fokus auf Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen. Dabei ist zu beobachten, dass viele Arbeiten in diesem Forschungsfeld eine Reihe von empirischen Verkürzungen und analytischen Defiziten aufweisen, von denen drei eingehender untersucht werden: die Verengung der biosozialen Problematik, die aus der forschungspraktischen Konzentration auf die Aktivitäten von Patientenvereinigungen und Selbsthilfegruppen resultiert; die Vorstellung einer stabilen und eindeutigen Biologie als Grundlage von Prozessen der Identitätsbildung sowie die weitgehende Ausblendung bzw. die Dethematisierung von Machtverhältnissen. Am Schluss steht eine kurze Bilanz der Wirkungsgeschichte und Aktualität des Diskurses der Biosozialität. Bürgerrechte durch Biologie? Zur Konjunktur des Begriffs »biologische Bürgerschaft« beschäftigt sich mit einer Diskursfigur, die im letzten Jahrzehnt aufgetaucht ist und inzwischen eine wichtige Rolle in Arbeiten zu den sozialen, EINLEITUNG 17 rechtlichen und politischen Implikationen biowissenschaftlichen und biomedizinischen Wissens spielt: das Konzept der biologischen Bürgerschaft. In der Regel bezeichnet es Ansprüche auf Teilhabe an sozialen und politischen Prozessen und die Anerkennung individueller oder kollektiver Identitäten, deren konstitutive Grundlage in spezifischen biologischen Merkmalen gesehen wird. Der gemeinsam mit Peter Wehling verfasste Text zielt auf eine kritische Bestandsaufnahme des noch jungen Begriffs, wobei wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die theoretischen Hintergrundannahmen und Kontexte seiner Verwendung richten. Vier Aspekte der Debatte um den Begriff der biologischen Bürgerschaft stehen im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses. Zunächst diskutieren wir die von vielen Autorinnen5 geteilte Annahme eines historischen Bruchs zwischen den aktuellen humangenetischen Praktiken auf der einen Seite, eugenischen Projekten und biologistischen Vorstellungen auf der anderen Seite. Zweitens argumentieren wir, dass die Akzentuierung biologischer Bürgerschaft nicht nur eine Erweiterung von Rechten darstellt, sondern mit zum Teil neuartigen normativen Erwartungen und moralischen Verpflichtungen (»biologische Bürgerpflichten«) einhergeht, die in Zukunft möglicherweise auch rechtlich fixiert werden. Drittens suchen wir ein möglichst differenziertes Bild der Praktiken und Ziele von Patienten- und Selbsthilfegruppen zu zeichnen. Diese stellen zwar eine wichtige Triebkraft und Ausdrucksform von Ansprüchen auf biologische Bürgerschaft dar; notwendig ist jedoch, auch die unterschiedlichen Strukturen und Interessenlagen von Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen sowie ihre oft spannungsvollen Beziehungen zur biomedizinischen Forschung in angemessener Weise einzubeziehen. Viertens weisen wir auf einige grundsätzliche Probleme und Ambivalenzen hin, die auftreten können, wenn Bürgerrechte mit biologischen Merkmalen verknüpft werden. Bruno Latour ist einer der profiliertesten und produktivsten Vertreter der Wissenschafts- und Technikforschung und prägt diese Disziplin seit mehr als dreißig Jahren. »Waffen sind an der Garderobe abzugeben.« Bruno Latours Entwurf einer politischen Ökologie befasst sich mit Themen und Konzepten, die seine Arbeiten der letzten fünfzehn Jahre kennzeichnen. Bemerkenswert ist, dass sich Latour schrittweise von spezifischen Laborstudien —————— 5 Aus sprachästhetischen Gründen – um das »große I« oder umständliche Formulierungen (zum Beispiel »Leserinnen und Leser«) zu vermeiden – wird in diesem Buch sowohl das generalisierte Femininum als auch das generalisierte Maskulinum verwendet, wenn Männer und Frauen gleichermaßen gemeint sind. 18 DIE NATUR IN DER SOZIOLOGIE zu einer allgemeinen Gesellschaftsdiagnostik bewegte und sich expliziter als in seinen früheren Arbeiten mit politischen Theorien auseinandersetzt. Das Kapitel stellt zunächst Prämissen und zentrale Begriffe Latours vor und erläutert dann seine Interpretation der Krise der Moderne. Anhand eines seiner Hauptwerke – Das Parlament der Dinge (Latour 2001) – werden Argumentationslinien und Grundthesen der politischen Theorie Latours diskutiert. Der von ihm vorgestellte Entwurf einer »politischen Ökologie« weist – neben einem inflationären Gebrauch von Metaphern und begrifflichen Unschärfen - eine Reihe von problematischen Verkürzungen und Vereinseitigungen auf. Latour kritisiert die Moderne und die ihr zugrundeliegende Verfassung mit der Trennung von Wissenschaft und Politik, Natur und Gesellschaft, Werten und Tatsachen, schließt aber in seine Kritik jedoch Kapitalismus, Sexismus und Rassismus nicht mit ein. Er scheint in jedem Beitrag zur Zerstörung der Idee der Natur als einer von der Gesellschaft strikt zu trennenden und Objektivität garantierenden Sphäre einen politischen und normativen Fortschritt in Richtung Demokratisierung und Gerechtigkeit zu sehen. Diese logische Verknüpfung bleibt ebenso diffus wie die materielle Basis der von ihm entworfenen Verfassung. Am Ende des Beitrags steht ein Fazit, das die wichtigsten Einsichten und Ergebnisse der Untersuchung zusammenfasst. Gesellschaftskörper und Organismuskonzepte. Zur Bedeutung von Metaphern in der soziologischen Theorie untersucht die Rolle von Metaphern, insbesondere der Organismusmetaphorik, für die soziologische Theoriebildung. Den Bezugspunkt meiner Überlegungen bildet Susanne Lüdemanns Habilitationsschrift Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären (2004). Zunächst stelle ich die Grundlinien der dort annoncierten »Kritik soziologischer Theoriebildung mit literaturwissenschaftlichen Mitteln« (Lüdemann 2004: 9) genauer vor. Eine zentrale Rolle spielen dabei Überlegungen von Hans Blumenberg zur Erkenntnis begründenden Bedeutung von Metaphern und der Begriff des gesellschaftlichen Imaginären von Cornelius Castoriadis. Im nächsten Teil sollen zwei Leitmetaphern genauer untersucht werden, die Lüdemann zufolge die Sozialphilosophie und die Soziologie entscheidend geprägt haben: die Metapher des sozialen Körpers einerseits und die des Gesellschaftsvertrags andererseits. Der dritte Abschnitt würdigt die Komplexität und Mehrdeutigkeit der organologischen Metaphorik. Schließlich argumentiere ich, dass es die Dichotomie von Natürlichkeit und Künstlichkeit, von Organismus und Vertrag, zu destabilisieren gilt, statt sie affirmativ fortzusetzen. Dabei greife ich auf EINLEITUNG 19 Intuitionen von Cornelius Castoriadis zur prinzipiellen Offenheit und ontologischen Unbestimmtheit des Gesellschaftlichen und auf Roberto Espositos Entwurf einer anderen Politik der Gemeinschaft zurück, die die vorherrschenden identitären Konzepte des Gemeinschaftlichen kritisch reflektiert. Der Schlussteil diskutiert den zeitdiagnostischen Befund, dass aktuelle Gesellschaftsbeschreibungen häufig die Metapher des Netzwerks anstelle der Körpermetaphorik verwenden. Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht der Begriff der genetischen Diskriminierung, der seit den 1990er Jahren fester Bestandteil der wissenschaftlichen Literatur zu den sozialen, ethischen und rechtlichen Implikationen der Genomforschung ist. Er bezeichnet die ungerechtfertigter Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund vermuteter oder tatsächlich vorhandener genetischer Eigenschaften. Genetische Diskriminierung: Empirische Befunde und konzeptionelle Probleme gibt zunächst einen Überblick über die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Studien in diesem Forschungsfeld, um die Vielfalt von Formen und Erfahrungen genetischer Diskriminierung darzustellen. Der Beitrag unterscheidet zwischen drei Analysedimensionen. Wird genetische Diskriminierung vornehmlich auf organisationale Mechanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses begrenzt, schlage ich einen erweiterten Begriff vor, der darüber hinaus auch Praktiken interaktioneller Diskriminierung sowie Formen institutioneller Diskriminierung erfasst. Der dritte Teil fasst die wichtigsten Untersuchungsergebnisse zusammen und zeigt, dass eine systematische Analyse das Augenmerk auch auf das Zusammenspiel und die Verschränkung von genetischen und nicht-genetischen Diskriminierungspraktiken richten muss. Seit den 1990er Jahren setzen Deutschland und viele andere Staaten DNA-Analysen zur Regelung des Familiennachzugs in Einwanderungsverfahren ein. Vor diesem Hintergrund geht der gemeinsam mit Torsten Heinemann verfasste Beitrag Verdächtige Familien. Gesellschaftliche Implikationen von DNA-Abstammungsgutachten in Einwanderungsverfahren der Frage nach, wie sich der Einsatz von DNA-Analysen in diesem Feld auf das gesellschaftliche Verständnis von Familie und Verwandtschaft auswirkt und welche sozialen und politischen Probleme damit verbunden sind. Einführend geben wir einen Überblick über das Recht auf Familiennachzug in der europäischen und deutschen Gesetzgebung und untersuchen die historische Entstehung und rechtliche Nutzung von DNA-Tests in Einwanderungsverfahren. Der Schwerpunkt des Artikels liegt auf der Darstellung der Situation in Deutschland, um an einem besonders prägnanten Beispiel die