Das kognitive Modell des Menschen: Denken und Problemlösen PD Dr. Ralph Hansmann 1 „Cogito ergo sum“ R. Descartes (1596-1650) Was ist das Gedächtnis? „Ein aktives System zur Verschlüsselung (Enkodierung), zur Speicherung und zum Abruf und Transfer von Informationen“ (Zimbardo 1999) 2 Grundstrukturen des Gedächtnisses 1. Sensorisches Gedächtnis / sensorische Register 2. Kurzzeitgedächtnis / Arbeitsgedächtnis 3. Langzeitlich verfügbares Gedächtnis - Deklaratives Wissen - Operatives / (prozedurales) Wissen - Bewertungswissen 3 1. Sensorisches Gedächtnis / sensorisches Register Ø Sinnesspezifische “Ultrakurzzeit”-Gedächtnisse (UKZG) Ø Ikonisches Gedächtnis (visuell), sehr grosse Kapazität, Speicherdauer nur ca. 0.5 sec. Ø Echoisches/ echoartiges Gedächtnis (auditiv) bis ca. 2 sec. Ø Direkte Speicherung, keine eigentliche inhaltliche Verarbeitung; Aber: selektive Übertragung ins Kurzzeitgedächtnis Ø Es gibt auch jeweils ein UKZG für Gerüche und den Tastsinn -> „Jeder Sinn hat sein eigenes UKZG“ 4 Experimenteller Nachweis und Speicherdauer des ikonischen UKZG 5 Experimenteller Nachweis und Speicherdauer des ikonischen UKZG Teilweises berichten je einzelner Zeilen – Signalton bestimmt Zeile (hoher, mittlerer, tiefer Ton) uv -> Zeit Stimulus – Signalton Av -> Behaltensleistung 6 Experimentall variiert wurde die zeitliche Verzögerung (= uv) des Tonsignals zur Anzeige der Zeile nach Ausblendung der Reizvorlage -> av = aggregierte Behaltensleistung Beweisführung durch die Methode des teilweisen Berichtens (Sperling, 1960) 7 2. Kurzzeitgedächtnis / Arbeitsgedächtnis § Kapazität des Kurzzeitgedächtnis (KZG) Ø Ø nur ca. 7 Informationseinheiten* nur bis ca. ohne 20 Sekunden (ohne Wiederholung/ Elaboration) § Proaktive & retroaktive Hemmung, Spurenzerfall § Wie verbessert man den Transfer ins LZG? *Miller, G. A. (1956). The magic number seven plus or minus two: Some limits on our capacitiy for processing information. Psychological Review, 63, 81-97. 8 Bsp. Wortlisten lernen § § § § § § § § § Esel Maus Fuchs Zebra Phönix Nilpferd Ziege Schlange Ameise 9 Was beeinflusst den Transfer vom KZG ins LZG? § Proaktive Hemmung: Speicherung eines Wortes interferiert mit Speicherung/Transfer nachfolgender Worte § Retroaktive / retrograde Hemmung: Speicherung eines Wortes interferiert mit Speicherung/Transfer vorheriger Worte § Hemmung durch ähnliches Material am grössten Gut behalten werden: -> Erste Elemente (keine proaktive Hemmung) -> 1, 2 -> Letzte Elemente (keine retrograde Hemmung; geringerer zeitlicher Spurenverfall) -> besondere Elemente (geringe Ähnlichkeit) -> 5 Prognose: - Viele erinnern ca. 7 Elemente (typische KZG-Kapazität) - Fuchs, Zebra (3, 4), Nilpferd, Ziege (6, 7) werden weniger erinnert 10 Lernen vor dem zu Bett gehen? -> wenige neue, nachfolgende Eindrücke -> wenig retroaktive Hemmung -> gute Erinnerungsleistung Weitere Strategien für besseren KZG -> LZG Transfer § oberflächliches Wiederholen, erhaltendes Memmorieren mit innerer phonologischer Schleife -> gut zur Verlängerung der Verweildauer der Information im KZG geeignet, aber nicht sonderlich effektiv zur Verbesserung der langzeitlichen Erinnerung Effektiver: § Chunking -> Zusammenfassung zu grösseren Informationseinheiten § Elaborierendes Verarbeiten -> In Bezug setzen der Information zu Elementen des LZG -> Herstellen von „Bedeutsamkeit !!!“ der Info. 11 Bsp. 1: Chunking (-> Zusammenfassung,“Klumpenbildung“, Gruppierung) & elaborierendes Verarbeiten (Verknüpfung mit LZG-Inhalten) Wie schnell/gut können Sie sich die folgende Ziffernfolge einprägen? 1, 9, 4, 5, 1, 9, 3, 9, 1, 9, 1, 8, 1, 9, 1, 4, 1, 8, 7, 1, 1, 8, 7, 0 12 Häufig passen jedoch die Daten nicht so gut )-: -> aber, man kann versuchen einen Satz zu bilden. Bsp. 2 - Chunking von „Pi“: 3,14159265358979… Kodierung der Zahl in einem Satz: How, I need a drink alcoholic in nature after the heavy lectures involving quantum mechanics … Aufgabe: Bilde eine Satz zum Memmorieren der Eulerschen Zahl e = 2,718 Bsp.: „Du spielst ein Haustier.“ 13 3. Langzeitlich verfügbares Gedächtnis 3.1 Deklaratives Wissen a) Semantisches Gedächtnis Merkmalsmodell “feature model” Vogel Ø hat Federn Ø Flügel Ø zwei Augen Ø Schnabel und Ø legt Eier 14 3.1 Deklaratives Wissen a) Semantisches Gedächtnis Semantische Netzwerke: Netzwerkmodell für Begriffs-Schemata 15 16 3.1 LZG – Deklaratives Wissen a) Semantisches Gedächtnis Prototypenansatz (Rosch, 1978) -> Begriffs-Schema (z.B. für „Tasse“) durch typische Vertreter bestimmt. -> Zuordnung zum Schema basiert auf Ähnlichkeit zum Prototyp 17 3.1 LZG - Deklaratives Wissen b) Episodisches Gedächtnis - autobiographische Informationen - Erfahrungen (“Erleben“) - Erlebnisse, Geschichten, in zeit- und kontextbezogener Kodierung - „Skripte“ als Schemata für Ereignisse (z.B. Skript für „Besuch in einem Restaurant) 3.2 LZG – Prozedurales Wissen Deklarativ -> (a+b)2=a2+2ab+b2 Operativ: -> (a+b)2=(a+b)*(a+b) = aa+ab+ba+bb= a2+2ab+b2 Operativ: Auto fahren können, Ski-fahren, Lesen können, Fertigkeiten -> Implizites, oft schwer verbal beschreibbares Wissen 18 Prozess- und Strukturmodell des Gedächtnissystems bzw. des Denken und Problemlösens Sensorisches Register [Herausfiltern von Merkmalen] [Mustererkennung] [Aufmerksamkeit] Speicherung: direkte Repräsentation Kapazittät: gross Dauer: kurz (visuell 0,5 sec; auditive bis zu 2 sec) Verlust aufgrund von: Verstreichen der Zeit, Verdrängung durch neues Material Langzeitgedächtnis (LZG) Kurzzeitgedächtnis (KZG) Arbeitsgedächtnis Bewusste Verarbeitungsprozesse Chunking Erhaltendes Wiederholen Elaboriertes Wiederholen Wissenstrukturen Prozedural (Fertigkeiten) Deklarativ (Fakten) Innerer Reiz (Gedanken) Episodisch Semantisch Reaktion Speicherung: akustisch, visuell, semantisch Kapazität: gering (7±2 Chunks) Erweiterung nicht möglich, jedoch kann der Umfang der Chunks vergrössert werden Dauer: vorübergehend (bis zu 20 sec) ohne Wiederholen Verlust aufgrund von: Interferenz, fehlendes Wiederholen, auch Verstreichen der Zeit Speicherung: semantische Netzwerke (organisiert, bedeutungstragend) Kapazität: theoretisch unbegrenzt Dauer: möglicherweise die ganze Lebensspanne Verlust aufgrund von: unangemessener Enkodierung, Verstreichen der Zeit, Interferenz, fehlende Konsolidierung, motiviertes Vergessen, Misslingen des Abrufs 19 Abb.7.7 Flussdiagramm eines hypothetischen Gedächtnissystems (Zimbardo, 1995, S. 334) 4. Problemlösen 4.1 Definition Problem: Ein Problem ist dadurch gekennzeichnet, dass a) ein Ausgangszustand vorliegt, welcher b) in einen erwünschten Zielzustand überführt werden soll, wobei jedoch c) Schwierigkeiten, Hindernisse oder Barrieren existieren, die einer direkten und momentanen Überführung des Ausganszustandes in den Zielzustand im Wege stehen. 20 4.2 TOTE-Modell (Test-Operate-Test-Exit) Modellannahme: Mensch als einfaches, intentionales, kybernetisches Modell/Regelsystem (Miller, Galanter & Pribram, 1960) Input + Test (Ist-SollVergleich) Exit Operate 21 Notwendiges Wissen für TOTE - Faktenwissen, Operatives Wissen, Bewertungswissen Deklaratives Wissen / Faktenwissen Operatives Wissen / Heuristiken / Operatoren / prozedurales Wissen Bewertungswissen / evaluative Struktur -> Wann (unter welchen Bedingungen) ist eine Lösung gut? -> Test ->Exit? 22 4.3 Einige Begriffe beim Problemlösen § Aufgabe (Oberbegriff: nicht jede Aufgabe ist ein Problem) § Problem § Ill-defined Problem § Algorithmus § Heuristik § Kreatives Problemlösen 23 Aufgabe Ausgangs- und Zielzustand bekannt, Anwendung bekannter Problemlösemechanismen geschlossenes Problem Bekannter bzw. eindeutig definierter Ausgangs- und Zielzustand, zur Problemlösung müssen teilweise neue Methoden entwickelt werden. Ill-defined Problem (z.B.: komplexe Umweltprobleme) Ausgangszustand kann nur vage beschrieben werden, das Ziel ist nicht vollständig bzw. eindeutig beschreibbar, es ist nicht klar, welcher Typ von Barriere zu überwinden ist. Ausgangszustand Zielzustand Anwendung bekannter Lösungsmechanismen Zielzustand Ausgangszustand Barriere Zielzustand Ausgangszustand Barriere 24 Algorithmus Unter Algorithmus versteht man eine formalisierte Regel, die sich als geordnete Sequenz von Operationen darstellen lässt. Die Anwendung eines Algorithmus führt bei gleichen Eingangsformen stets zum gleichen Ergebnis Heuristik Unter Heuristik oder heuristischem Lösungsverfahren versteht man solche Vorgehensweisen, die “unsystematisch aber clever” sind. Heuristiken (Heurismen) sind sozusagen “Daumenregeln” (rules of thumb), die in vielen oder gar den meisten Fällen zum gewünschten Ergebnis führen, gelegentlich aber auch zu keiner Lösung, oder zu einer falschen. 25 Beispiele für eine Typen von Problemen § Anagrammprobleme Wie viele verschiedene Worte können aus diesen Buchstaben gebildet werden? G-L-A-R–E § Analogieprobleme Dach : Haus = ? : Mensch § Reihenbildung – induktives Schlussfolgern 1.) 2, 4, 6, 8,... 2.) 13, 12, 14, 11, 15, 10, 16 ? 26 Kartenproblem (Wason, 1960) 27 Scheckproblem (analog zu “Wason-Kartenproblem”) Wenn ein Scheck einen Betrag über sfr. 400.- hat, muss er auf der Rückseite eine Unterschrift besitzen. 300.- 700.- F. Müller Welche Karten müssen umgedreht werden, um sicher zu wissen, ob die Regel verletzt wird? 28 Kreatives Problemlösen 29 4.4 Tipps für kreatives Problemlösen Ø Beschränkung durch bzw. auf das Vorgegebene. Ø Über das vorgegebene Hinausgehen. – Welche Aspekte sind in der Aufgabenstellung bzw. im Problemraum offen? (Aufgaben A, B) Ø Informationsüberlastung durch irrelevante Aspekte des Problemraums Ø Aufgabe C -> Streichhölzer, Faden und eine Kerze sind überflüssig -> Element lenken von der Lösung ab Ø Funktionelle Gebundenheit des Denkens bzw. von Elementen des Problemraums; Voreinstellungseffekte, (Denk)Routinen Ø C, D -> Streichholzschachtel als Standfläche statt Behälter; Hammer als Pendel anstatt als Werkzeug verwenden 30 Bedeutung der kognitiven Repräsentation des Problems bzw. Problemraums Bsp. „Mönchsrätsel“ Ein tibetanischer Mönch bricht an einem Tag morgens im Tal auf und erreicht Abends ein Kloster auf dem Berg. Am darauf folgenden Tag bricht er morgens genau zur gleichen Uhrzeit auf, nimmt genau denselben Weg wie beim Aufstieg für den Abstieg und ist dann bereits am Nachmittag wieder im Tal. Beweisen Sie (gegebenfalls), das er am zweiten Tag also beim Abstieg sich an einem Punkt der Wegstrecke genau zur selben Tages- bzw. Uhrzeit befindet wie am Tage davor beim Aufstieg. (vgl. Zimbardo, 1996, S. 297) 31 Anstatt nur die Karten mit „A“ und „3“ umzudrehen, wählen Leute häufig auch die Karte „4“. Statt die regel zu überprüfen. Sie suchen also nach positiven Beispielen für die Regel. 32 Lösungen: Kreatives Problemlösen Mönchsproblem: Denken Sie an zwei Mönche, welche am selben Tag auf- bzw. absteigen, was zur Frage analog ist. -> Das diese sich auf demselben Weg irgendwann Treffen ist klar . 33 Prinzipien von Chunking & Elaboration in Bsp. 1 und 2 Bsp. KZG/LZG 1: 1, 9, 4, 5, 1, 9, 3, 9, 1, 9, 1, 8, 1, 9, 1, 4, 1, 8, 7, 1, 1, 8, 7, 0 Chunking: Gruppierung, Aufteilung in Jahreszahlen 1945, 1939, 1918, 1914, 1871, 1870 Vertiefendes Elaborieren: Verknüpfung mit Wissen aus dem LZG -> Jahreszahlen von Kriegsanfang, Kriegsende der drei letzten (grossen) deutschen Kriege Bsp. KZG/LZG 2: Anzahl Buchstaben jedes Wortes im Satz repräsentiert die Ziffer in der entsprechenden Ziffernfolge von Pi. -> Sätze werden in Gruppen (Bedeutungseinheiten -> Chunks) in semantischen Netzwerken gespeichert. Sätze mit Bedeutung sind besser im LZG speicher- und abrufbar als (scheinbar) sinnlose Zahlenfolgen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit ! 34