Depressive Störungen

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135
15.1 ·
15
Depressive Störungen
15.1
Gesamtbehandlungsplan – 136
15.2
Antidepressiva und Psychotherapie – 137
15.3
Akuttherapie mit Antidepressiva – 140
15.4
Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe
mit Antidepressiva – 141
15.5
Ungenügende Response, Therapieresistenz und
chronische Depression – 143
15.6
Andere Medikamente und Verfahren zur
Depressionsbehandlung – 146
15.7
Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen
15.7.1
15.7.2
15.7.3
15.7.4
15.7.7
15.7.8
Depressive Episode und rezidivierende depressive Störung
Dysthymie und Double Depression – 149
Minor Depression und unterschwellige Depression – 149
Rezidivierende kurze depressive Episoden
(»recurrent brief depression« nach DSM-IV) – 149
Atypische Depression – 149
Saisonal abhängige affektive Störung
(SAD, Winterdepression) – 149
Suizidalität – 150
Depression bei körperlichen Erkrankungen – 150
15.8
Depression und Stress – 151
15.9
Behandlung depressiver Störungen im Kindes- und
Jugendalter – 151
15.10
Checkliste
15.7.5
15.7.6
– 153
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Kapitel 15 · Depressive Störungen
Die Vielfalt von Symptommustern, die bei depressiven Störungen auftreten können, führte zu Unterteilungen, die jeweils deskriptiv bestimmte Aspekte
des depressiven Syndroms hervorheben, z. B. den
Längsschnitt (unipolar–bipolar, Dysthymie, »recurrent brief depression«, Rapid Cycling), die aktuelle
klinische Symptomatik (gehemmt, ängstlich–agitiert,
atypisch, melancholischer Subtyp), den Schweregrad
(leichte, mittelschwere, schwere depressive Episode,
mit oder ohne psychotische Merkmale, Major Depression, Minor Depression) oder das Auftreten im Rahmen anderer Störungen (bei Schizophrenien, Alkoholabhängigkeit, Demenz). Die wichtigsten Symptome
der depressiven Episode werden in 7 Abschn. 15.7.1
beschrieben.
Es werden zunächst die allgemeinen Richtlinien
der Pharmakotherapie der Depression dargestellt. Im
Anschluss werden in 7 Abschn. 15.7 spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen für die einzelnen
Untergruppen der depressiven Störung beschrieben.
Die Depressionen bei körperlichen Erkrankungen
nehmen einen immer breiteren Raum ein. Unter
7 Abschn. 15.8 werden auch die Zusammenhänge zwischen Stress und Depression, die in der biologischen
Psychiatrie sehr wichtig geworden sind, besprochen,
obwohl eine akzeptierte Pharmakotherapie für Dauerstress zur Prävention der Depression noch nicht existiert.
Die Pharmakotherapie der akuten Suizidalität wird im Rahmen der Notfalltherapie (7 Kap. 34)
besprochen. Der Komplex Nebenwirkungen von
Antidepressiva und Suizidalität steht in 7 Kap. 5; unter
7 Abschn. 15.7.7 finden sich Hinweise zur Suizidprophylaxe.
zu sein (7 Abschn. 4.1). Während sich die bisherigen
Untersuchungen zu Kandidatengenen aber primär auf
die Aminhypothesen der Depression bezogen, werden die neuen Untersuchungen am gesamten Genom
hypothesenfrei vorgenommen (Barden et al. 2006).
Die hirnmorphologischen Veränderungen sind bei
der Depression nicht so evident wie bei der Schizophrenie (7 Kap. 30). Sie finden sich diskret im präfrontalen Kortex, im limbischen System und im Hippocampus. Diese Störungen werden mit den Affekt- und
Antriebsstörungen depressiver Patienten in Zusammenhang gebracht.
Schließlich finden sich bei einer überwiegenden
Anzahl Depressiver eine Hyperaktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems (HPAAchse) (Holsboer 2000). Eine glucokortikoidbedingte
Volumenreduktion des Hippocampus ist aber nicht
bewiesen (Müller et al. 2001). Über die Dysregulation der HPA-Achse hinaus gibt es Hypothesen zu einer
gesteigerten zentralen Thyreotropin-Releasing-Hormon (TRH)-Sekretion und auch einer Störung des
somatotropen Systems.
Mögliche Hypothesen zu neurochemischen Veränderungen werden, soweit sie auch die Psychopharmakotherapie betreffen, im 7 Abschn. 5.2 (Wirkungsmechanismus der Antidepressiva) besprochen.
Die neurobiologische Forschung bei depressiven
Störungen hat aber trotz dieser vielen Ansätze noch
nicht dazu geführt, dass kausal relevante Systeme
identifiziert werden konnten (Holsboer 2008). So gibt
es auch bis heute keinen »biologischen Marker« der
zur Spezifizierung der Diagnose der Depression einen
Beitrag liefern könnte.
Neurobiologie der Depression. Eindeutig weisen die
15.1
Zwillings- und Adoptionsstudien auf eine genetische
Komponente der affektiven Erkrankung hin, besonders das unterschiedliche Erkrankungsrisiko bei Erstgradangehörigen von unipolar und bipolar Erkrankten im Vergleich zu Kontrollkollektiven aus der Bevölkerung (2,5- zu 7-fach). Auch fallen die Konkordanzraten bei monozygoten Zwillingspaaren mit etwa 50%
zu 80% (unipolar versus bipolar) unterschiedlich aus.
Gerade der letzte Befund gibt Anlass zu der Hypothese, dass über die genetischen Ursachen hinaus auch
Umweltfaktoren für die Genese der Depression eine
entscheidende Rolle spielen. In der letzten Zeit konnten Kandidatenregionen auf verschiedenen Chromosomen (4, 12, 18, 21, 22, X), besonders allerdings bei
der bipolaren affektiven Störung, identifiziert werden. Interessant scheinen bei diesen Untersuchungen
die positiven Befunde am Serotonintransportergen
Für viele Patienten ist der notwendige Einsatz einer
Pharmakotherapie zur Behandlung einer depressiven Störung nicht von vorneherein verständlich. Die
Pharmakotherapie ist immer noch mit vielen Vorurteilen behaftet. Die Vermittlung eines Krankheitsmodells durch den Arzt oder Psychologen, das für den
Patienten verständlich und akzeptabel ist und das
den Einsatz einer medikamentösen Behandlung psychischer Beschwerden erklärt, ist unerlässlich. Dies
gilt besonders dann, wenn eine langfristige Behandlung mit Antidepressiva notwendig wird, um die
Compliance zu erhöhen und Rückfälle zu vermeiden
(7 Abschn. 15.4).
Es bietet sich an, das prägnante Krankheitsmodell
einer »Stoffwechselstörung« zu vermitteln. Biochemische Veränderungen sind mit dem Auftreten von
Gesamtbehandlungsplan
137
15.2 · Antidepressiva und Psychotherapie
depressiven oder manischen Symptomen verbunden
und machen den Einsatz von Medikamenten zur symptomatischen, aber effektiven Therapie notwendig. Bei
diesem Modell kann auf die Analogie zur Behandlung
eines Diabetes mellitus oder einer essenziellen arteriellen Hypertonie verwiesen werden, wo ebenfalls eine
symptomatische, aber effektive medikamentöse Therapie eingesetzt wird, deren Akzeptanz bei den Patienten in der Regel gut ist.
Ein solches Krankheitsmodell behindert auch den
psychotherapeutischen Zugang zu einem Patienten
nicht, wenn man mit ihm die verschiedenen Aspekte
seines Störungsbildes bespricht. Während durch die
medikamentöse Therapie der biologische Aspekt der
Störung symptomatisch, aber effektiv behandelt wird,
kann etwa eine kognitive Verhaltenstherapie den Patienten zunehmend in die Lage versetzen auf der Ebene seiner Gedanken und des Verhaltens möglichst
großen therapeutischen Nutzen aus der erzielten klinischen Besserung zu ziehen und so den Behandlungserfolg aktiv zu verstärken.
Es ist wichtig, psychoedukative Elemente in die
professionelle Therapie der Depression gerade dann
zu integrieren, wenn eine längerfristige Therapie
erfolgen muss. Dabei sollen Patient und Angehörige mit dem typischen Verlauf der Erkrankung und
den möglichen Behandlungsstrategien in einer Erhaltungs- und Langzeittherapie vertraut sein. Therapiealternativen können in Familiengesprächen diskutiert
werden. Die notwendige Medikation mit ihren möglichen Nebenwirkungen und Risiken bei Kombination mit anderen Medikamenten muss dem Patienten
bekannt sein. Die individuellen Frühsymptome einer
neuen depressiven Episode werden besprochen. Patient und Angehörige müssen den Weg kennen, wie der
Therapeut über die ersten Warnsymptome informiert
werden kann.
Es gibt Hinweise, dass auch ein Problemlösetraining, das durch Nichtspezialisten durchgeführt werden kann, bei depressiven Patienten wirksam ist
(Mynors-Wallis et al. 2000). Es ist bei leichten Erkrankungen eine Alternative, wenn psychotherapeutische
Verfahren nicht zur Verfügung stehen.
Verschiedene Übersichten bestätigen, dass kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Bibliotherapien (selbständige Bearbeitung eines Arbeitsbuches
zur Überwindung der Depression) verglichen mit
Wartebedingungen klinisch und statistisch bedeutende
Effekte erzielen (McKendree-Smith et al. 2003). Auch
ein über 10 Wochen gehendes spezifisches Gruppenprogramm bei unterschwelligen bis leichten Depressionen war einer lediglich unterstützenden Maßnahme
hochsignifikant überlegen (Hautzinger 2001).
15.2
15
Antidepressiva und
Psychotherapie1
Besonderes Augenmerk wurde in den letzten Jahren
auf den Wirksamkeitsvergleich von Antidepressiva
und Psychotherapieverfahren gelegt.
In der Akut- und Erhaltungstherapie können
angewandt werden: die medikamentöse Therapie, die
Psychotherapie als Einzel-, Gruppen- oder Paartherapie und eine Kombination beider. Betont werden in
diesen Empfehlungen die Therapien, die die höchsten
Evidenzgrade beim Wirksamkeitsnachweis erlangt
haben oder das günstigste Nutzen-Risiko-Verhältnis
besitzen. Zur Anwendung spezifischer Psychotherapien und deren Evidenzstufen s. »Leitlinien: Psychotherapie Affektiver Störungen« (de Jong-Meyer et al.
2007).
Unter den spezifischen psychotherapeutischen
Verfahren sind die kognitive Verhaltenstherapie
(KVT) und die Interpersonelle Psychotherapie (IPT)
auf ihre Wirksamkeit als Monotherapien oder in
Kombination mit Psychopharmaka bei Depressionen
am besten untersucht. Der Therapiefokus der IPT liegt
auf der Bewältigung psychosozialer Stressoren; in der
Praxis ist allerdings die Verfügbarkeit gering. Einzelne Wirksamkeitsnachweise liegen für die psychodynamische Kurzzeittherapie und die Gesprächstherapie vor; sie haben aber für die mögliche Therapie der
Depression auch in Kombination mit Antidepressiva
keine Bedeutung erlangt.
Es liegen inzwischen weit über 90 kontrollierte
Therapiestudien dazu vor (de Jong-Meyer et al. 2007).
KVT bzw. IPT erreicht nicht nur bessere Ergebnisse in
der Akutbehandlung im Vergleich zu Warte-, Placebo- oder unterstützenden bzw. Clinical-ManagementBedingungen, sondern sie führt auch oft zu vergleichbaren Effekten wie eine psychopharmakologische
Behandlung. Allerdings kommen die Ergebnisse nicht
immer zu demselben Schluss.
Grundlegende Studien
In einer großen Studie zur Akutbehandlung der
Depression erhielten Patienten IPT, KVT, Imipramin
oder Placebo (»clinical management«) (Elkin et al.
1989). Nach 16 Wochen zeigte sich eine signifikante
Überlegenheit der Imipramingruppe gegenüber der
1
Wegen des großen Forschungsumfangs zur Kombinationstherapie bei den depressiven Störungen, wird
dieses Kapitel, in Abweichung von der Gliederung der
Kapitel 16-33, an den Anfang gestellt und ausführlich
besprochen.
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Kapitel 15 · Depressive Störungen
alleinigen Psychotherapiebehandlung bei Patienten
mit einer schweren Depression.
Im Gegensatz dazu konnte in einer Vergleichsstudie (Hollon et al. 1992), in welcher depressive Patienten mit Imipramin, KVT oder einer Kombinationstherapie behandelt wurden, kein signifikanter Unterschied in der Wirksamkeit von Imipramin oder KVT
gezeigt werden. Auch zeigte sich keine signifikante
Überlegenheit der Kombinationstherapie (Hautzinger
u. de Jong-Meyer 1996).
DeRubeis wertete in einer Metaanalyse aus dem
Jahre 1999 (DeRubeis et al. 1999) 4 vergleichbare kontrollierte Studien aus, u. a. die Elkin- und die HollonStudie. Hierbei kam er zu dem Ergebnis, dass auch
bei schweren depressiven Episoden keine signifikante
Überlegenheit der Pharmakotherapie gegenüber der
Psychotherapie festzustellen sei. In einer Metaanalyse von 6 kontrollierten Studien (Casacalenda et al.
2002) zeigte sich bei leicht bis mittelschwer depressiven Patienten kein signifikanter Wirksamkeitsunterschied zwischen Psychotherapie (IPT oder KVT) und
Antidepressiva.
Eine Kombinationsbehandlung aus antidepressiver Medikation und IPT oder KVT allerdings zeigte
sich in einer Megaanalyse von 6 Vergleichsstudien
einer alleinigen Psychotherapie bei schweren Depressionen überlegen (Thase et al. 1997).
Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie in der
Akuttherapie
Die Studien erlauben zusammenfassend den Eindruck, dass in der Akuttherapie eine Kombination
aus KVT und Antidepressiva einen synergistischen
Behandlungseffekt haben (Kocsis et al. 2003), dies
umso mehr, desto schwerer die Depression ist. Bei
schweren Depressionen finden sich klare additive
Effekte der Kombination vs. Psychotherapie alleine
und Medikation alleine (Thase et al. 1997).
Nach einer neuen Studie bei 200 schwer depressiven Patienten mit KVT über 16 Wochen ist KVT
allerdings nur dann so erfolgreich wie ein Antidepressivum, wenn der Psychotherapeut exzellent ausgebildet ist (DeRubeis et al. 2005).
Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie in der
»second-step-therapy«
Es wurde in der STAR-D-Studie (Thase et al. 2007)
gezeigt, dass bei mittelschwerer Depression, bei der
der SSRI Citalopram allein nicht wirksam war, die
Augmentation bzw. Kombination (sonstige Strategien
7 Kap. 15.4) in einem zweiten Therapieschritt mit dem
Antidepressivum Bupropion oder dem Anxiolytikum
Buspiron 3 Wochen früher wirksam war als die Kom-
bination mit KVT. Vermehrte Nebenwirkungen wurden unter der Medikation im Vergleich zur KVT nicht
gesehen. Bei einfachem Wechsel (also nicht unter Augmentation) von dem zuerst gegeben Antidepressivum
Citalopram auf Bupropion, Sertralin, Venlafaxin oder
KVT konnte kein Unterschied im Wirkungseintritt
gesehen werden.
Die Studie zeigt, dass bei mittelschwerer Depression, bei der im ersten Therapieschritt Citalopram nicht
wirksam war, im zweiten Schritt sowohl andere Antidepressiva als auch KVT wirksam sind. Zeitlich vorteilhaft gegenüber KVT sind dann allerdings in dieser Studie Bupropion und Buspiron in der Augmentation.
Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie in der
Erhaltungstherapie und Rückfallprophylaxe
Neben der Akuttherapie haben sich psychotherapeutische Verfahren auch im Rahmen der Erhaltungstherapie und der Rückfallprophylaxe als wirksam erwiesen. Die Wirksamkeit scheint allerdings von der Rezidivneigung der Patienten beeinflusst zu werden. In
der großen Studie der Arbeitsgruppe aus Pittsburgh
waren die Erfolge in der Rezidivprophylaxe von Patienten mit hoher Rezidivneigung unter Imipraminbehandlung signifikant besser als unter allen Therapieformen ohne den Einsatz des Antidepressivums
(Kupfer et al. 1992).
In einer kürzlich veröffentlichten Studie der gleichen Arbeitsgruppe (Frank et al. 2007) wurde bei
leichter bis mittelschwerer Depression unter einer
IPT-Erhaltungstherapie einmal pro Monat ein guter
prophylaktischer Effekt gesehen (Beobachtung über
1–2 Jahre). In dieser Studie konnte aber auch gezeigt
werden, dass bei den Patienten, bei denen zunächst
eine Pharmakotherapie mit einem Antidepressivum
zur Remission notwendig war, eine spätere IPT-Monotherapie für die Rezidivprophylaxe unzureichend war.
Nach den Katamneseergebnissen mehrerer großer kontrollierter Studien liegt ein wesentlicher Vorteil
der Psychotherapie in ihrer längerfristigen Effektivität. Bei psychotherapeutischen Verfahren gibt es Hinweise, dass eine erfolgreiche Therapie auch nach ihrer
Beendigung einen rezidivprophylaktischen Effekt
haben kann (Klein et al. 2004; Vos et al. 2004).
Die Akutbehandlung mit KVT bzw. IPT (allein
oder in Kombination mit Medikamenten) senkt die
Rückfallraten im Nachbehandlungsintervall deutlicher als medikamentöse Akutbehandlung allein
(26% vs. 64% im 1-Jahres-Follow-up) (DeRubeis u.
Crits-Christoph 1998).
Es wurde kürzlich gezeigt, dass es bei Beendigung
der KVT bei 30,8% der Patienten zu einem Rückfall
139
15.2 · Antidepressiva und Psychotherapie
kommt, dagegen bei Absetzen des Antidepressivums
bei 76,2% (Hollon et al. 2005).
In einer kontrollierten Studie bei älteren Patienten
mit rezidivierender depressiver Störung zeigte sich
eine signifikant geringere Rückfallrate innerhalb von
3 Jahren unter IPT sowie ein synergistischer Effekt zur
antidepressiven Medikation mit Nortriptylin (90%ige
Rückfallrate bei Placebo, bei IPT und Placebo 64%,
bei Nortriptylin 43%, bei Nortriptylin und IPT 20%)
(Reynolds et al. 1999).
Wichtig
KVT und IPT sind sinnvolle Therapieansätze zur
Prävention weiterer depressiver Episoden auch
bei Patienten mit einem erhöhten Rückfallrisiko.
Der medikamentöse Behandlungserfolg ist in
der Rezidivprophylaxe in der Regel nur so lange
gegeben, wie die Pharmakotherapie fortgeführt
wird. Die Antidepressiva sollten allerdings auch
weiter verordnet werden, wenn sie anfänglich zu
einer Remission geführt haben. Die psychotherapeutischen Verfahren haben wahrscheinlich auch
nach ihrer Beendigung einen rezidivprophylaktischen Effekt.
15
renden depressiven Symptomen trotz antidepressiver
Behandlung, konnte für die Kombinationsbehandlung aus KVT und Antidepressiva im Vergleich zu
einer Antidepressiva- Monotherapie gezeigt werden.
(47% vs. 29%) (Paykel et al. 1999).
In einer neuen Langzeitstudie von der gleichen
Autorengruppe, aber über 6 Jahre, allerdings zeigt sich
ein Vorteil für die KVT nur in den ersten 3 Jahren.
Über diesen Zeitraum hinaus verschwindet der Vorteil für KVT im Vergleich zum »klinischen Management«, um Rückfälle zu verhindern (Paykel et al.
2005). Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zu der
Arbeit von Fava et al. 2004 bei einem ähnlichen Therapieziel. Der Unterschied liegt darin, dass Fava et al.
die Antidepressiva nach Remission abgesetzt hatten,
während bei Paykel et al. diese weitergegeben werden konnten (es waren 60%). Auch war der Anteil von
chronisch Depressiven bei Fava et al. geringer. Beide
Studien zeigten die Bedeutung von KVT in den ersten
Jahren. Über den Vorteil einer fortgesetzten Therapie
mit Antidepressiva und/oder einer Auffrischungstherapie (»booster session«) und/oder eines »klinischen
Management« ist bei dieser Patientengruppe nach diesen beiden Studien noch nicht entschieden.
Wichtig
Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie der
chronischen Depression (Therapieresistenz)
Die Studien erreichen bisher insgesamt kein hohes
Evidenzniveau.
Die wichtigste Studie mit 681 Patienten verglich
über 12 Wochen psychologische Therapien mit Antidepressiva (SSRI). Angewandt wurde das »Cognitive Behavioral Analysis System for Psychotherapy« (CBASP). In dem Verfahren werden behaviorale, kognitive und interpersonelle Strategien integriert.
Die Remissionsraten lagen für CBASP bei 33%, für
SSRI bei 29%, dagegen bei Kombination der beiden
Therapien bei 48%. Der additive Effekt der Kombinationstherapie ist signifikant (Keller et al. 2000). In
den Studien war ein Vorteil für CBASP besonders für
Angstsymptomatik, sexuelle Dysfunktion und Verbesserung des sozialen Funktionsniveaus zu erkennen.
Patientinnen mit Kindheitstraumata (körperlicher oder sexueller Missbrauch, früher Elternverlust,
familiäre und soziale Vernachlässigung) profitierten
besonders von der Psychotherapie. In dieser Gruppe
schnitt Pharmakotherapie schlechter, die Kombinationstherapie aber etwas besser als CBASP alleine ab
(Nemeroff et al. 2003).
Einen langfristigen Benefit und eine signifikant
geringere Rückfallrate bei Patienten mit persistie-
Es spricht nach der jetzigen Studienlage bei chronischer Depression aber alles für eine Fortsetzung der Therapie mit Antidepressiva und nach
einer ersten KVT für eine »booster session« nach
2–3 Jahren.
Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie der
Depression im höheren Lebensalter
Es besteht ein Mangel an kontrollierten psychotherapeutischen Studien im höheren Lebensalter. Die KVT
wurde am häufigsten untersucht; sie zeigt sich kurz
(4 Monate) und längerfristig (1 Jahr) Kontrollgruppen überlegen (Hautzinger u. Welz 2004).
Auch die Reminiszenztherapie (d. h. Lebensrückblicktherapie, diese beinhaltet Bearbeitung aller
Lebensabschnitte mitsamt ihren Höhen und Tiefen)
scheint wirksam zu sein (de Jong-Meyer et al. 2007;
Bohlmeijer et al. 2003). In einer neuesten Studie bei
Patienten über 70 Jahre allerdings war über einen Zeitraum von 2 Jahren Paroxetin (plus »clinical management«) der IPT (plus Placebo) und Placebo (plus IPT)
signifikant überlegen (Reynolds et al. 2006).
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Kapitel 15 · Depressive Störungen
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Fazit
Antidepressiva und Psychotherapie im Vergleich –
Bewertung
5 Bei der Akuttherapie der leichten Depression
ist zunächst KVT allein (z. B. Kurztherapie bis zu
8 Sitzungen über 12 Wochen) oder IPT indiziert. Voraussetzung ist die Verfügbarkeit einer spezifischen
Psychotherapie; wenn sie nicht gegeben ist oder
wenn ein Erfolg durch Psychotherapie nicht gesehen
wird, sollten SSRI verordnet werden.
5 Handelt es sich aber um die Akuttherapie einer
leichten Depression mit einer mindestens mittelschweren Depression in der Vorgeschichte, sollte
gleich eine Kombination aus SSRI und KVT (z. B. bis zu
20 Sitzungen über 9 Monate) erwogen werden.
5 Bei der Akuttherapie der schweren Depression sollte
man gleich mit einem SSRI oder mit einem dualen
Antidepressivum beginnen. Eine zusätzliche Psychotherapie ist nach einer Studie nur dann sinnvoll, wenn
der Psychotherapeut exzellent ausgebildet ist.
5 Bei der chronischen Depression, unzureichendem
Therapieerfolg bzw. Therapieresistenz ist die
Kombinationstherapie anzustreben. Der nachhaltige
zusätzliche Wert der KVT im Vergleich zu Antidepressiva allein in der Langzeittherapie bis zu 3 Jahren ist
evident. Auch eine große Studie weist bei der chronischen Depression auf eine notwendige Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie hin.
5 Auch bei der rezidivierenden Depression mit einem
Rückfall unter Antidepressiva ist die zusätzliche KVT
indiziert.
5 Bei der Rezidivprophylaxe sollte KVT oder IPT möglichst in Kombination mit einem Antidepressivum
(ggf. auch Lithium) eingesetzt werden. Die Rückfallrate wird gesenkt. Wenn eine Remission unter einem
Antidepressivum (mit oder ohne gleichzeitige IPT)
erreicht wurde, ist zur Fortführung der Therapie auch
weiterhin das Antidepressivum (neben der IPT) nötig;
eine alleinige IPT reicht nicht aus.
5 Bei chronischen Depressionen ist zu erwägen,
2–3 Jahre nach erstmaliger KVT eine »booster session« anzusetzen.
5 Psychotherapeutische Verfahren können bei Depressionen im höheren Lebensalter eine sinnvolle
Ergänzung zur Therapie mit Antidepressiva sein.
Akuttherapie mit
Antidepressiva
5 Eine zuverlässige Vorhersage eines individuellen
Therapieerfolgs bei einem bestimmten Antidepressivum ist auch heute noch nicht möglich.
5 In der Regel beobachtet man unter einer Behandlung mit einem Antidepressivum eine allmähliche Besserung im Zeitverlauf. Voraussetzung ist
eine kontinuierliche antidepressive Pharmakotherapie in einer ausreichend hohen Dosierung.
5 Bei der Mehrzahl der Behandlungen ist damit
zu rechnen, dass sich ein ausreichender Therapieerfolg (mindestens 50%-Abnahme der
depressiven Symptomatik) erst im Verlauf der
ersten 4 Wochen, manchmal auch erst nach 6–
8 Wochen ausbildet. In diesem Zeitraum treten
häufig zunächst Nebenwirkungen, danach erst
vom Patienten wahrgenommene antidepressive
Effekte auf.
5 Der Patient sollte über diesen charakteristischen
Verlauf informiert werden, um den Therapieerfolg nicht durch vorzeitige Beendigung der Medikation zu gefährden und die Compliance zu
sichern.
5 Es ist darauf zu achten, dass auch die leichte
depressive Episode erfolgreich behandelt wird,
denn das Risiko, an einer schweren Depression zu erkranken, ist für Patienten mit leichten
Depressionen fünfmal höher als bei Gesunden.
Ziel der Akuttherapie ist die Remission (7 Abschn. 15.5).
Wirkungseintritt
5 Gut verträgliche Substanzen, die rasch aufdosiert
werden können, führen in den ersten zwei Wochen zu einem schnelleren Wirkungseintritt. Für
Venlafaxin und Mirtazapin wurde ein solcher
Effekt in kontrollierten Studien beschrieben (Szegedi et al. 2003; Katz et al. 2004). Nach 4 Wochen
gibt es aber keine Unterschiede mehr zwischen
diesen beiden und anderen Antidepressiva.
5 Bei älteren Patienten kann der Wirkungseintritt
länger dauern.
5 Je nach dem pharmakologischen Wirkprofil des
Antidepressivums können einzelne Symptomkomplexe des depressiven Syndroms unterschiedlich schnell auf die Therapie ansprechen. Unter
Mirtazapin besserten sich Schlafstörungen, Agitation und somatische Beschwerden im Behandlungsverlauf schneller als unter SSRI.
141
15.4 · Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe mit Antidepressiva
15
Erhaltungstherapie und
Rezidivprophylaxe mit
Antidepressiva
Wichtig
15.4
5 Studien zeigen, dass der individuelle Besserungsverlauf in den ersten beiden Behandlungswochen für die klinische Praxis von
großer, bislang nicht genutzter Bedeutung
ist und den späteren Behandlungserfolg zu
prädizieren erlaubt.
5 Eine klinische Besserung von mindestens
20% der gesamten depressiven Symptomatik
innerhalb der ersten 2 Behandlungswochen
stellt einen hochsensitiven Prädiktor eines
späteren Therapieerfolgs dar.
5 Dies bedeutet in der Praxis, dass die Therapiestrategie bereits nach 2 Wochen überprüft werden sollte. Wenn innerhalb dieser
Zeit keine Abnahme eines »Depression-Summenscores« von mindestens 20% beobachtet wird, sollte eine neue Behandlungsstrategie erwogen werden (7 Abschn. 15.5).
5 Allerdings ist eine frühe Response von 20%
keine Garantie für eine langanhaltende Besserung bei jedem depressiven Patienten.
Patienten mit einer depressiven Episode entwickeln
in mehr als 50% der Fälle im Verlauf weitere Episoden, bei 10–20% kommt es zu einen Diagnosenwechsel hin zur bipolaren Störung (unipolarer Verlauf, . Abb. 15.1; zu bipolaren Verläufen 7 Kap. 29).
Bei mindestens jedem 5. Patienten klingt die depressive Symptomatik nicht vollständig ab, es persistieren subsyndromale Bilder, die den Patienten wesentlich beeinträchtigen. Etwa 15% der Patienten mit einer
affektiven Störung suizidieren sich im Krankheitsverlauf und bei 50% kommt es im Laufe der Erkrankung
zu einem Suizidversuch.
Im Verlauf der – auch gut eingestellten – depressiven Erkrankung kann es immer wieder zu kurzen,
milden depressiven Einbrüchen (»blips«) kommen.
Sie bedürfen keiner medikamentösen Strategieänderung. Der Patient sollte darüber informiert sein.
Definition
Zur Therapieplanung unipolarer Verläufe werden
unterschieden:
5 Akuttherapie
5 Erhaltungstherapie
5 Rezidivprophylaxe
Akuttherapie
Ziel: Remission
Erhaltungstherapie
Ziel: Erhaltung
der Remission
6-12 Monate
(sonst höheres
Rückfallrisiko)
Rezidivprophylaxe
Ziel: Verhinderung
neuer Episoden
1 Jahr u. länger
(sonst höheres
Rezidivrisiko)
Euthymie
Rückfall
Rezidiv
Zeit
Beginn der Behandlung
. Abb. 15.1. Verlaufsschema
bei unipolarer Depression mit
Risiken des Rückfalls oder Rezidivs.
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Kapitel 15 · Depressive Störungen
Wichtig
Indikation für eine Rezidivprophylaxe
Ziel einer antidepressiven Therapie ist das Erreichen einer Vollremission. Depressive Residualsymptome sind ein hohes Risiko für einen Rückfall. Deswegen sind Erhaltungstherapie und die
Rezidivprophylaxe bei einem phasenhaften Verlauf in der Regel indiziert. Auch bei einer ersten
depressiven Episode sollte eine Erhaltungstherapie über mindestens 6 Monate erfolgen.
Erhaltungstherapie
5 Nach der Akuttherapie beginnt die Erhaltungstherapie. In dieser Phase, für die eine Länge von
6 Monaten und bis zu einem Jahr diskutiert wird,
soll einem Rückfall vorgebeugt werden. Restsymptome sollten nicht mehr vorhanden sein (es ist
davon auszugehen, dass typische unbehandelte
depressive Episoden 6 Monate lang andauern).
5 Es ist wichtig, dass die Dosierung, die in der
Akuttherapie zum Erfolg geführt hat, auch beibehalten wird.
5 Der Behandlungserfolg sollte in mindestens 2monatigen Konsultationen kontrolliert werden.
Wichtig
5 Eine mindestens 6-monatige Erhaltungstherapie kann beendet werden, wenn keine
weitere Episode anamnestisch bekannt ist
oder eine leichte Episode mehr als 5 Jahre
zurückliegt.
5 Eine Erhaltungstherapie darf nicht beendet
werden, wenn die Akuttherapie nicht zur
vollständigen Remission geführt hat.
Rezidivprophylaxe
Die Rezidivprophylaxe der unipolaren Depression
setzt nach erfolgreicher Akut- und Erhaltungstherapie ein. Sie dauert mindestens 3 Jahre, oft auch lebenslang.
5 Die Weiterführung einer Pharmakotherapie mit
Antidepressiva sollte immer die Grundlage der
Rezidivprophylaxe sein.
Die Indikation für eine Rezidivprophylaxe ist
gegeben, wenn
5 eine dritte Episode aufgetreten ist;
5 zwei Episoden in 5 Jahren aufgetreten sind;
5 über eine weitere schwere Episode innerhalb
der letzten 3 Jahre berichtet wird;
5 eine weitere Episode und eine positive Familienanamnese einer bipolaren Störung oder
einer rezidivierenden Depression bestehen.
Die Indikation wird weiter erhärtet, wenn
5 zusätzlich die Störung vor dem 30. Lebensjahr begann;
5 gleichzeitig eine »Doppeldepression«
(7 Abschn. 15.7.2) oder eine Angststörung
vorhanden ist;
5 noch Restsymptome während der Erhaltungstherapie verblieben sind.
5 Für den Erfolg sind eine gute Psychoedukation
und Compliance entscheidend. Der Hintergrund
einer langfristigen medikamentösen Behandlung
nach Abklingen der subjektiven Beschwerden
muss dem Patienten sorgfältig erläutert werden,
um die Compliance zu sichern. Dem Patienten
muss spätestens jetzt ein tragfähiges Krankheitsmodell vermittelt werden, das ihm eine Erklärung für die Notwendigkeit langfristiger Medikamenteneinnahme bei bereits überwundenen psychischen Beschwerden gibt (7 Abschn. 15.1).
5 Die rezidivprophylaktische Wirkung der Antidepressiva wurde durch einige prospektive Langzeitstudien belegt. Die bekannteste randomisierte Studie (Kupfer et al. 1992) zeigte einen klaren Vorteil für Imipramin im Vergleich zu IPT
bei der rezidivierenden Depression. In einer neuen methodisch gut durchdachten Studie mit
299 Patienten mit mindestens 3 depressiven Episoden in den vergangenen 4 Jahren lag die Zahl
der Rückfälle unter dem SSRI Sertralin (50 und
100 mg) signifikant mit 16% unter Placebo mit
33% (Lepine et al. 2004). In einer ähnlichen Studie mit 139 rezidivierenden unipolaren depressiven Patienten hatten 27% unter dem SSRI Escitalopram und 65% unter Placebo einen Rückfall.
Auch unter einer Mirtazapin- bzw. VenlafaxinLangzeittherapie kam es zu selteneren Rückfällen
in anderen Studien.
15.5 · Ungenügende Response, Therapieresistenz und chronische Depression
5 Lithium (7 Kap. 6) ist bei unipolarem Verlauf
den Antidepressiva ebenbürtig, besonders gibt es
gute Hinweise, dass das Suizidrisiko unter Lithium sinkt. Aus Gründen der Verträglichkeit und
Praktikabilität wird Lithium aber im Routinefall
seltener als Antidepressiva bei dieser Indikation
angewandt. Der Lithiumspiegel sollte zwischen
0,6 und 0,8 mmol/l liegen.
5 Da bei einer langfristigen Behandlung das
Nebenwirkungsprofil für die Compliance eine
große Rolle spielt, sind die Vorteile der neueren
Antidepressiva gegenüber den trizyklischen Antidepressiva (TZA) in dieser Indikation besonders
zu nutzen.
Die Rezidivprophylaxe sollte in einem 2- bis 3-monatigen Abstand kontrolliert werden.
Cave
5 Es gibt immer wieder diskutiert, ob Antidepressiva im Rahmen einer Langzeittherapie
Manien induzieren können. Für TZA ist dies
gesichert; deshalb sollen sie in der Rezidivprophylaxe nicht gegeben werden.
5 Für die SSRI sieht man das Risiko, Manien bei
der unipolaren Depression zu induzieren,
zzt. als geringer an (7 Kap. 6 für die bipolare
Depression).
Psychotherapie zur Rezidivprophylaxe
(7 Abschn. 15.2)
KVT (zum Teil auch IPT) zeigten sich in der Rückfallprophylaxe in mehreren Studien der medikamentösen Therapie insgesamt entweder überlegen oder
gleichwertig, auch additive Effekte sind beschrieben
(de Jong-Meyer 2007).
Rezidivprophylaxe mit neuem Rezidiv
5 Wenn es im Rahmen der Rezidivprophylaxe
mit einem Antidepressivum zu einem Rezidiv
kommt, ist abzuwägen, ob eine Lithiumprophylaxe zusätzlich eingeleitet werden soll. Bei wiederholtem Rezidiv und bei Versagen einer Prophylaxe mit einem Antidepressivum in Kombination mit Lithium kann auch Lithium zusätzlich mit
Carbamazepin kombiniert werden.
5 Der depressive Patient sollte die für ihn typischen
Symptommuster genau kennen, damit schnell
eine neue Strategie bei einem Rezidiv entwickelt
werden kann. Der Patient sollte aber auch darüber informiert sein, dass leichte depressive Symp-
143
15
tome im Verlauf einer unipolaren Erkrankung
häufig sind und durch psychotherapeutische
Intervention in der Regel schnell abgefangen werden können
15.5
Ungenügende Response,
Therapieresistenz und
chronische Depression
Über 30% der depressiven Patienten profitieren klinisch nicht in ausreichendem Maße von einem ersten
Therapieversuch von 8 Wochen mit einem Antidepressivum; d. h. es ist nicht zu der gewünschten Remission gekommen. Auch nach einem zweiten Versuch tritt
bei einem Teil dieser Nonresponder keine Remission
ein. Schließlich verbleibt auch nach mehreren Therapieversuchen eine Restgruppe chronisch Depressiver
von ca. 15%.
Definition
Remission. Das eigentliche Ziel einer antidepressiven Therapie ist das Erreichen der Symptomfreiheit (Schweregradskala, z. B. Hamilton-Skala ≤7)
sowie der Wiederherstellung des psychosozialen
Funktionsniveaus.
Response. In klinischen Studien wird eine Response als eine mindestens 50%-Reduktion der
depressiven Symptomatik, gemessen anhand einer Schweregradskala, definiert.
Partielle Response und Non-Response. Von einer partiellen Response spricht man, wenn die
erreichte Besserung nach etwa 4- bis 6-wöchigen
Behandlung zwischen 25 und 50% beträgt.
Non-Response liegt also vor, wenn in diesem
Zeitraum weniger als 25% Besserung eintreten
(. Abb. 15.2).
Therapieresistenz. Für eine Therapieresistenz
gibt es bislang keine einheitliche Definition. Als
Minimalkonsens sollte von Therapieresistenz
dann gesprochen werden, wenn zwei verschiedene Antidepressiva mit unterschiedlichen Wirkprofilen jeweils nach 4–6 Wochen Behandlung in
ausreichender Dosis wirkungslos waren.
Je nach erreichter Besserung und der Anzahl der
erfolglosen Behandlungsversuche können unterschiedliche Strategien sinnvoll sein. Eine empirisch
abgesicherte Reihenfolge der im Folgenden beschriebenen Therapiestrategien gibt es aber bislang nicht.
144
Kapitel 15 · Depressive Störungen
. Abb. 15.2. Grade der Besserung bei der unipolaren Depression. (Aus Benkert u. Hippius
2007)
1
2
R e m is s i o n
E u t h y m ie
3
R e s p o n se
4
50%
P a r t ie l le
R e s p o n se
5
Non R e s p o n se
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9
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11
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14
15
16
17
18
19
20
25%
Z e it
B e g in n d e r B e h a n d l u n g
5 Stellt sich in den ersten beiden Behandlungswochen eine partielle Response ein, kann zunächst
mit der begonnenen Behandlung fortgefahren
werden. Bleibt sie aus, kann schon früh im
Behandlungsverlauf von einer relativ geringen
Chance, in den nächsten 2–4 Wochen noch eine
Response bzw. Remission zu erreichen, ausgegangen werden (7 Abschn. 15.3, Wirkungseintritt).
5 Bei Vorliegen einer Non-Response oder Therapieresistenz sollte zunächst die Compliance des
Patienten, etwa durch Messung des Plasmaspiegels, sowie die Diagnose überprüft werden. Eine
vertiefte Psychoedukation und konsequente Psychotherapie ist anzustreben. Als Begleittherapien
sind Bewegungs- und Lichttherapie, ggf. auch
schon der Schlafentzug (s. unten) frühzeitig einzusetzen (. Abb. 15.3).
5 Der Algorithmus der . Abb. 15.3 bezieht sich auf
einen ersten Behandlungsschritt mit Antidepressiva. Bei fehlender Remission oder sogar Verschlimmerung der Symptomatik unter einer KVT
oder IPT im ersten Behandlungsschritt ist rechtzeitig ein Antidepressivum parallel einzusetzen.
Zwar ist der Zeitpunkt empirisch nicht festgelegt,
sollte nach einem Zeitraum von 4 bis 8 Wochen
aber spätestens erfolgt sein.
5 Es gibt einen additiven Effekt der Kombination
aus Antidepressiva und Psychotherapie, insbesondere bei Patienten mit belastenden Konflikten
in der Anamnese (7 Abschn. 15.2).
Häufigste Strategien
5 Meistens wird bei fehlender Response die Dosis
erhöht. Diese Strategie kann manchmal erfolgreich sein, ist aber durch Studien nur für TZA,
MAO-Hemmer und Venlafaxin belegt. Die
Bestimmung der Plasmakonzentration des TZA
kann eine relative Unterdosierung aufdecken
(7 Kap. 2). Eine Dosiserhöhung unter SSRI ist in
der Regel nicht mit besseren Behandlungsergebnissen verknüpft.
5 Bei fehlender Response wird oft auch das Antidepressivum gewechselt. Es sollte dann ein Antidepressivum mit einem anderem Angriffspunkt im
ZNS gewählt werden, z. B. nach erfolgloser Gabe
eines SSRI ein Antidepressivum mit überwiegender NA-Rückaufnahmehemmung. Allerdings
wird dann beim Wechsel auf ein drittes Antidepressivum nur noch eine geringe Remissionsrate
gesehen (Fava et al. 2006).
Kombinationsstrategien mit zwei
Antidepressiva
Darunter wird der gleichzeitige Einsatz von zwei Antidepressiva mit nachgewiesener antidepressiver Wirksamkeit in jeweiliger Monotherapie verstanden.
145
15.5 · Ungenügende Response, Therapieresistenz und chronische Depression
15
Therapieerfolg unter Antidepressiva
unzureichend
Optimierung der Behandlung:
Compliance überprüfen
Plasmaspiegelkontrolle
Diagnose überprüfen
Psychoedukation
vertiefen
Bewegungstherapie
Lichttherapie
Schlafentzug
Wenn keine Besserung, zusätzliche Optionen:
Konsequente
Psychotherapie
Wechsel des AD
Dosiserhöhung
erwägen
Kombination:
SSRI/Venlafaxin +
Mirtazapin
Augmentation:
AD + Lithiuma
AD + SD-Hormone
AD + AAP
Keine Besserung
EKB
. Abb. 15.3. Wichtigste Maßnahmen bei unzureichendem
Therapieerfolg. AD Antidepressivum, PT Psychotherapie, SE
Schlafentzug, SD-Hormone Schilddrüsenhormone, AAP aty-
Wichtig
Die komplexen pharmakologischen Wirkungen
geben heute immer früher Anlass, zwei Antidepressiva zu kombinieren. Ausschlaggebend sind
zwei Gründe:
5 Der oft komplementäre pharmakologische
Wirkmechanismus des Antidepressivums öffnet neue Response-Chancen, z. B. verstärkte
Serotoninrückaufnahmehemmung durch einen SSRI und gleichzeitigen präsynaptischen
α2-Antagonismus durch Mirtazapin. Durch
die Blockade des 5-HT2A-Rezeptors (Mirtazapin) wird die therapeutische Wirkung der
SSRI wahrscheinlich verstärkt. Dies gilt auch
für Venlafaxin.
5 Das Wirkspektrum zweier Antidepressiva
kann eine breitere psychopathologische
Symptomatik abdecken, z. B. Antriebssteigerung durch Venlafaxin und gleichzeitige
Schlafförderung durch Mirtazapin.
pische Antipsychotika, a 7 Abschn. »Augmentations-und
Kombinationsstrategien«. (Aus Benkert u. Hippius 2007)
5 Auch wenn man nach Versagen eines SSRI einen
zweiten SSRI verschreibt, besteht eine Chance auf
Response von 50%.
5 Kombinations- bzw. Augmentationsstrategien im
Vergleich zu KVT (7 Abschn. 15.2).
Augmentationsstrategien
Unter Augmentation versteht man die zusätzliche
Verordnung einer Substanz, für die, wenn sie allein
eingenommen wird, keine antidepressive Wirksamkeit besteht.
Lithium. Bei der am besten belegten Augmentati-
onsstrategie werden Lithiumkonzentrationen, wie
bei der Phasenprophylaxe (0,6–0,8 mmol/l), angestrebt (7 Kap. 6). Es wird ein synergistischer Effekt
über die serotonerge Transmission angenommen. Ein
Therapieerfolg kann nach 2–4 Wochen erwartet werden. Die Kombination SSRI und Lithium führte bei
50% der Patienten nach 1–2 Wochen (selten nach
6 Wochen) zu einer Response. Gesicherte Prädiktoren
fehlen bislang. Ergebnisse einer Studie sagen aus, dass
146
1
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20
Kapitel 15 · Depressive Störungen
eine erfolgreiche Lithiumaugmentation mindestens
1 Jahr fortgeführt werden soll.
Schilddrüsenhormone. In
einigen kontrollierten
Studien war die Gabe von T3 (L-Trijodthyronin) zu
einem TZA bei therapieresistenten Patienten, auch
bei euthyreoter Stoffwechsellage, erfolgreich. Auch
zusätzliches Thyroxin (T4) in supraphysiologischen
Dosen kann zum Therapieerfolg führen. Empfohlen
werden kann diese Augmentation am ehesten bei subklinischem Hypothyreodismus (hohes TSH, normale
Schilddrüsenhormone).
Atypische Antipsychotika. Es gibt zunehmend posi-
tive Berichte, die für den Einsatz dieser Gruppe mit
Antidepressiva sprechen.
Elektrokrampftherapie. Sie ist nach wie vor eine Therapiestrategie mit gut belegter Wirksamkeit bei Therapieresistenz. Während diese Therapie in den USA sehr
frühzeitig bei Therapieresistenz eingesetzt wird, gilt
sie im deutschsprachigen Raum oft als Ultima Ratio
(. Tab.. 15.3).
15.6
Andere Medikamente
und Verfahren zur
Depressionsbehandlung
Zur Depressionsbehandlung können, neben Antidepressiva und Psychotherapie, noch weitere Verfahren
und Medikamente zur Anwendung kommen.
Benzodiazepine
5 Es gibt keine Belege für eine spezifische antidepressive Wirkung von Benzodiazepinen. Es wurde aber in einer Metaanalyse über die Kombination von Benzodiazepinen mit Antidepressiva im
Vergleich zur alleinigen Therapie mit Antidepressiva ein deutlicher Vorteil für die Kombination
beschrieben.
5 Zum kurzfristigen Einsatz in Kombination mit
Antidepressiva sind Benzodiazepine bei starker
Unruhe, Angst, Suizidalität und Panikattacken
gut geeignet. Nach 2–4 Wochen sollten sie ausgeschlichen werden.
5 Bei stark gehemmt-depressiven Patienten mit
Stupor und Mutismus ist Lorazepam das Mittel
der Wahl (7 Abschn. 8.4.1).
Antipsychotika
5 Es gibt jetzt einige Studien, die auch eine antidepressive Wirkung der atypischen Antipsychotika
bei Depressionen ohne psychotische Merkmale
belegen. Für ihre Eignung als Add-on-Therapie
gibt es immer mehr Hinweise.
5 Atypische Antipsychotika haben in der Therapie bei depressiven Störungen im Rahmen schizophrener und schizoaffektiver Störungen schon
jetzt einen wichtigen Stellenwert (7 Kap. 7), als
Monotherapie bei einer Depression sind sie nicht
indiziert.
Hormone
5 Ein Einsatz von Östrogenen kann bei Frauen
in der Menopause erfolgversprechend sein.
Bei Frauen ohne depressive Anamnese zeigte
sich eine 2,5-fache höhere Assoziation für eine
Depression in der Menopause im Vergleich zur
Prämenopause (Freeman 2006). Frauen mit
bekannter postpartaler Depression sind offenbar
sensitiv für psychotrope Effekte von Östrogenen
und Gestagenen. Der Einsatz einer Östrogensubstitution in Kombination ist bei diesen Patientinnen erwägenswert, als Monotherapie aber
meist nicht ausreichend.
Grundsätzlich scheint die Remissionsrate bei
zusätzlicher Hormonherapie einer alleinigen Therapie mit Antidepressiva überlegen zu sein (Thase
2005). Allerdings muss auf die laufende Diskussion über das erhöhte Risiko des Einsatzes von
Hormonen bei der Frau hingewiesen werden. Ein
Einsatz kommt nur in enger Zusammenarbeit mit
dem Gynäkologen in Frage.
5 Schilddrüsenhormone haben ihren Einsatz in
der Augmentationstherapie bei Therapieresistenz
(7 Abschn. 15.6).
5 Testosteron zur Stimmungsregulation ist weiter sehr umstritten und kann derzeit bei Männern wegen der Gefahr der Induktion manischer
Symptome und der Gefahr des Zellwachstums
(besonders Prostatakarzinom) nicht empfohlen
werden. Eine neue Studie zeigt, dass bei Frauen
die Libido durch Testosteron nicht gesteigert wird
und eine andere Studie, dass bei älteren Männern Dehydroepiandrosteron (DHEA) und niedrige Dosen Testosteron im Vergleich zu Placebo ohne Wirkung auf die Lebensqualität (»Antiaging«) waren.
Schlafentzug
5 Der Schlafentzug ist bei vielen Patienten eine
sinnvolle Zusatztherapie zur Gabe von Antidepressiva. Da ca. 50% der Patienten vom Schlafentzug profitieren können, ist ein solcher Therapieversuch, besonders bei zunächst unzureichender
147
15.7 · Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen
15
Wirkung des Antidepressivums, lohnend. Der
Effekt ist unmittelbar am Folgetag beobachtbar;
er hält allerdings meist nur kurzfristig an.
5 Die Behandlung erfolgt meist in Serien (1- bis 2mal pro Woche). Die Patienten wachen entweder die ganze Nacht oder die zweite Nachthälfte
durch. Die Durchführung in Gruppen erleichtert
das Wachbleiben.
5 Während der Schlafentzugsnacht und am Folgetag darf keine (auch nicht vorübergehende)
Schlafperiode eintreten.
onen (therapieresistente Depression) ist es alleiniger Pharmakotherapie überlegen. Der Vorteil
der EKB liegt im raschen Therapieerfolg.
5 Wichtigste Indikationen sind die schwer
gehemmte Depression (auch mit Suizidalität), die
Depression mit psychotischen Merkmalen und
die therapieresistente Depression.
5 Die Behandlung erfolgt, bevorzugt stationär, in
Serien von 6–12 Sitzungen.
5 Die EKB wird in der Regel parallel zu der begleitenden antidepressiven Therapie eingesetzt.
Lichttherapie
Repetitive transkranielle
Magnetstimulation
5 Die Patienten werden täglich einer Lichtquelle mit artifiziellem weißem Licht ausgesetzt. Der
Wirkmechanismus ist noch ungeklärt; es wird
eine Normalisierung (»phase advance«) von zirkadianen Rhythmen, die in der Depression verzögert sein sollen, postuliert. Die Response bei
der »seasonal affective disorder« (SAD) tritt
innerhalb von 1–4 Wochen ein. Mehrere kontrollierte Studien zeigen die antidepressive Wirkung
der Lichttherapie bei SAD, die der Wirkung von
Antidepressiva entspricht.
5 Ein einstündiger täglicher Spaziergang am Morgen über mehrere Wochen soll einen ähnlichen
Effekt haben.
5 Durchführung: Je nach Stärke der künstlichen
Lichtquelle erfolgt eine Exposition über 30–
120 min täglich (bei 10.000 Lux 30 min, bei
2500–6000 Lux 60–120 min), bevorzugt morgens
zwischen 6 und 8 Uhr, über 2–4 Wochen.
5 Vor Beginn der Lichttherapie ist eine augenärztliche Kontrolle anzuraten. Es kann zu Beginn
über Kopfschmerzen, Sehstörungen, überanstrengte Augen, Übelkeit und Müdigkeit geklagt
werden. Sehr selten sind leichte manische Symptome. Lichttherapie soll nicht mit photosensiblen Medikamenten (TZA, Hypericum, Phenothiazine) gleichzeitig gegeben werden.
Bewegungstherapie
5 Es gibt eine Reihe neuer Befunde, die einen genuinen antidepressiven Effekt für regelmäßige körperliche Aktivitätsprogramme beschreiben.
Elektrokrampfbehandlung
5 Die Elektrokrampfbehandlung (EKB) ist ein
Behandlungsverfahren, dessen Wirksamkeit und
Verträglichkeit bei sachgemäßer Durchführung
gut belegt ist (die Entstehung struktureller zerebraler Läsionen wurde bei sachgemäßer Anwendung nicht beobachtet); in bestimmten Indikati-
5 Die repetitive transkranielle Magnetstimulation
(rTMS) ist ein nichtinvasives Verfahren, bei dem
kortikale Neurone mit kurzdauernden Magnetfeldern hoher Intensität stimuliert werden. Die
bisherigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass
repetitive Stimulationen des (bevorzugt linken)
präfrontalen Kortex antidepressive Wirkungen,
möglicherweise über eine Erhöhung des serotonergen Tonus, haben können. Ausmaß und
Dauer der antidepressiven Wirkung ist gering.
rTMS ist nicht zugelassen; es besteht kein Narkoserisiko. Eine Indikation ist, wenn überhaupt,
eher bei leichten bis mittelschweren Depressionen gegeben.
Vagusnervstimulation
5 Nach operativer Implantation eines Schrittmachers (Narkoserisiko!), der an den linken N. vagus angeschlossen wird, erfolgt eine intermittierende repetitive Stimulation, die über Mittelhirnstrukturen zu limbischen und kortikalen Arealen geleitet werden soll. Es wird vermutet, dass
es durch die Stimulation zu einer Normalisierung
dieser hyperaktiven Areale kommt. Trotz einiger
erfolgversprechender Ergebnisse ist die Vagusnervstimulation zur klinischen Anwendung noch
nicht ausgereift.
15.7
Spezielle
pharmakotherapeutische
Empfehlungen
Nur die Besonderheiten, die über die allgemeinen
Empfehlungen hinausgehen, werden bei jeder Diagnose beschrieben.
148
15.7.1
1
2
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5
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20
Kapitel 15 · Depressive Störungen
Depressive Episode und
rezidivierende depressive
Störung
Die depressive Episode kann im Rahmen einer unioder bipolaren affektiven Störung auftreten. Oft treten zusätzlich die Merkmale eines somatischen Syndroms auf. Synonym wird der Begriff melancholischer
Typ verwandt. Das Syndrom entspricht dem früheren
Konstrukt der endogenen Depression. Nach der ICD10 müssen bei Vorliegen des somatischen Syndroms 4
der folgenden 8 Merkmale vorhanden sein:
5 Interesseverlust oder Verlust an normalerweise
angenehmen Aktivitäten
5 Mangelnde Fähigkeit, auf freundliche Umgebung
oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren
5 Frühmorgendliches Erwachen; zwei oder mehr
Stunden vor der gewohnten Zeit;
5 Morgentief
5 Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit
5 Deutlicher Appetitverlust
5 Gewichtsverlust
5 Deutlicher Libidoverlust
In diesem Kapitel wird die Therapie der unipolaren Depression besprochen (bipolare Depression
7 Kap. 6).
Die Schwerpunkte der Therapie folgender Diagnosen finden sich in 7 Abschn. 15.2:
5 leichte depressive Episode (F32.0)
5 mit somatischem Syndrom (F32.01)
5 mittelgradige depressive Episode (F32.1)
5 mit somatischem Syndrom (F32.11)
5 schwere depressive Episode ohne psychotische
Symptome (F32.2)
Die Therapie der schweren depressiven Episode mit
psychotischen Symptomen (»wahnhafte Depression«)
(F32.3) wird in 7 Abschn. 30.2.9 beschrieben.
Die Pharmakotherapie einer einzelnen depressiven Episode oder einer wiederholten Depression im
Rahmen einer rezidivierenden Depression ist identisch. Die Erhaltungstherapie bzw. die Rezidiviprophylaxe wird dann allerdings verschieden gestaltet
(7 Abschn. 15.4).
Unterschiedliche Wirksamkeit von Antidepressiva
bei der depressiven Episode
Die vielen randomisierten Studien der letzten Jahre
ermöglichen es, Unterschiede herauszuarbeiten. Mehr
prospektive Studien müssen die Befunde aber noch
absichern:
Wichtig
5 Aufgrund des günstigeren Nebenwirkungsund Risikoprofils sind SSRI und die neuen
dualen Antidepressiva den TZA vorzuziehen.
Auch ist das Risiko, eine Manie zu induzieren,
bei TZA größer.
5 Zwischen SSRI und TZA gibt es keine Wirkunterschiede.
5 SSRI haben auch im Vergleich zu den neuen
Antidepressiva etwas geringere Nebenwirkungen.
5 SSRI sind geringfügig weniger wirksam im
Vergleich zu Substanzen mit direkter Beeinflussung von mindestens 2 Monoaminsystemen (Mirtazapin, Venlafaxin). Eine Ausnahme
ist Escitalopram; es ist der selektivste SSRI.
Dies zeigt sich nicht nur beim schnelleren
Wirkungseintritt sondern auch beim andauernden Effekt und der Remissionsrate.
5 Beim schweren melancholischen Typ wurde
ein Vorteil von Venlafaxin gegenüber SSRI
gesehen.
Hinweise für differenzielle Wirksamkeit bei besonderen Symptomkonstellationen sind nur in Ansätzen vorhanden. Die sedierend-schlafanstoßende
Komponente (z. B. bei Mirtazapin, Amitriptylin)
kann man sich bei ängstlich-agitierter Ausprägung der Depression, zunutze machen. Jedoch
wirken auch nichtsedierende Antidepressiva (z. B.
SSRI und MAO-Hemmer) angstreduzierend. Die
initiale Sedierungspotenz ist weitgehend auf den
Histamin-H1-Rezeptorantagonismus zurückzuführen.
Komorbiditäten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen
5 30% der Patienten mit unipolarer Depression
haben eine zusätzliche Angsterkrankung (einschließlich Panikstörung und posttraumatische
Belastungsstörung). Eine spezielle Antidepressivapräferenz besteht nicht. Allerdings sollte man
die Antidepressivadosis, wie bei den Angsterkrankungen, langsam aufdosieren.
5 Ein Drittel der depressiven Patienten gibt eine
zumindest vorübergehende Abhängigkeitsproblematik oder Drogenmissbrauch (7 Kap. 11 und 28)
an. Beide Erkrankungen werden parallel behandelt.
5 Komorbide Persönlichkeitsstörungen verschlechtern nach einer Metaanalyse die »Outcome«-Rate
149
15.7 · Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen
bei Depressionen um das Doppelte; bis auf Elektrokonvulsionstherapie (EKT) war die Besserungsrate schlecht (Newton-Howes 2006).
15.7.2
Dysthymie und Double
Depression
Die dystyme Störung ist ein chronisch-depressives
Syndrom, meist leichter Ausprägung. Die Schwere
einer depressiven Episode wird nicht erreicht. Es können sich wochenlange Perioden der Besserung in den
chronischen Verlauf einschieben. Tritt ein aktuelle
depressive Episode hinzu (bei 40%), spricht man von
der sog. Double Depression; sie ist sehr therapieresistent. Je länger eine depressive Symptomatik anhält,
umso ungünstiger ist der Behanlungsverlauf. Psychotherapie 7 Abschn. 15.5.
5 Die Wirksamkeit von Antidepressiva, in gleicher
Dosierung wie bei der depressiven Episode, ist
bei der Dystymie gesichert. SSRI sind aufgrund
ihrer Verträglichkeit besonders geeignet. Die
Behandlung sollte über 2–3 Jahre erfolgen.
5 Eine Vergleichsstudie mit 94 dystymen Patienten
zeigte eine Responserate nach 16 Wochen für den
SSRI Sertralin von 58%, für die Kombination Sertralin und IPT von 57%, für IPT von 35% und
für unterstützende Psychotherapie von 31%. Die
Autoren ziehen den Schluss, dass dysthyme Patienten von der Pharmakotherapie einen größeren
Vorteil, als von der Psychotherapie haben (Markowitz et al. 2005).
15.7.3
Minor Depression und
unterschwellige Depression
Die Minor Depression hat einen geringeren Ausprägungsgrad; es sind weniger Diagnosekriterien erfüllt.
Beide Begriffe werden synonym gebraucht.
5 Der Nutzen von Antidepressiva ist bei der Minor
Depression umstritten. SSRI scheinen wirksam
zu sein.
15.7.4
Rezidivierende kurze
depressive Episoden
(»recurrent brief depression«
nach DSM-IV)
Die wiederkehrende kurzzeitige depressive Störung,
mit einer zwar sehr kurzen, aber oft sehr schwerer
Symptomatik bis hin zur Suizidalität, wird manchmal
15
auch zu den unterschwelligen Depressionen gezählt,
sollte aber wegen der schwierigen Behandlungsmöglichkeit eine Sonderstellung einnehmen. Bislang ist
keine befriedigende antidepressive Pharmakotherapie etabliert. Psychologische Intervention ist in jedem
Falle indiziert.
Rapid Cycling 7 Abschn. 5.4.
15.7.5
Atypische Depression
Bei der atypischen Depression ist die affektive Schwingungsfähigkeit erhalten geblieben. Weiterhin sollten
(nach DSM-IV) zwei der folgenden Symptome für
eine Diagnose vorhanden sein:
5 vermehrter Appetit oder Gewichtszunahme,
5 erhöhtes Schlafbedürfnis,
5 ausgeprägtes körperliches Schweregefühl mit
Müdigkeit und
5 eine Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung.
Die atypische Depression ist eng mit dem weiblichen
Geschlecht assoziiert.
5 SSRI sind die Mittel der Wahl bei der atypischen
Depression. Die ebenfalls wirksamen MAOHemmer sind bei dieser Indikation zu risikoreich.
5 Es gibt erste klinische Hinweise für eine alternative (oder additive) Wirksamkeit der KVT (Jarett
et al. 1999).
5 Eine wichtige Hypothese besagt, dass es sich bei
der atypischen Depression um eine Form der
bipolaren affektiven Störung II handelt. Deshalb
sollte bei der Diagnose einer atypischen Depression besonders sorgfältig nach Symptomen einer
bipolaren Störung gesucht werden.
15.7.6
Saisonal abhängige
affektive Störung (SAD,
Winterdepression)
Die phasischen Stimmungsschwankungen stehen in
Abhängigkeit von den Jahreszeiten, meist mit depressiven Episoden im Winter. Es kommt oft zu atypischer
Symptomausprägung (Hypersomnie, Hyperphagie
mit Kohlenhydratheißhunger).
5 Es wird eine serotonerge Dysfunktion postuliert;
SSRI werden empfohlen.
5 Eine Indikation zur Lichttherapie ist gegeben
(7 Abschn. 15.6), auch mit SSRI gleichzeitig.
5 Eine pathophysiologische Rolle konnte Melatonin
nicht zugeschrieben werden.
150
Kapitel 15 · Depressive Störungen
15.7.7
1
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5
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7
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11
12
13
Suizidalität
Wichtig
Zur Behandlung der akuten Suizidaltät 7 Kap. 34, Notfallpsychiatrie.
5 Für Lithium (7 Kap. 6) wird ein suizidprotektiver Effekt bei langfristiger Therapie in mehreren
Studien unabhängig von Alter und Geschlecht
berichtet.
5 Bei schwerer Suizidalität kann auch EKB
(7 Abschn. 15.6) erwogen werden.
5 Öffentlichkeitsarbeit und Fortbildung hatte einen
positiven Effekt (Hegerl et al. 2006).
15.7.8
Depression bei körperlichen
Erkrankungen
5 Depressive Störungen stellen einen behandlungsbedürftigen und prognostisch relevanten Komplikationsfaktor bei körperlichen Erkrankungen
dar, weil eine begleitende Depression die Prognose der körperlichen Erkrankung verschlechtern
kann (McConnel et al. 2005).
5 Besonders intensiv wurde dieser Zusammenhang
bei Herzerkrankungen und Schlaganfall untersucht; depressive Symptome nach Herzinfarkt
oder zerebralen Ischämien (»post-stroke depression«) verschlechtern oft die Prognose und Rehabilitationserfolge.
5 Es gibt Studien, die für einen rechtzeitigen Einsatz von Antidepressiva bei Herzinfarkt und
Schlaganfall sprechen (Taylor et al. 2005; Glassmann 2005). Allerdings ist eine Senkung der
Mortalität durch SSRI bisher nicht nachgewiesen.
5 Es gibt hohe Evidenzen zum engen, wahrscheinlich ursächlichen Zusammenhang
zwischen Depression (und Dauerstress) und
körperlichen Folgekrankheiten, besonders
Herz-Kreislauf-Erkrankungen (mit Arteriosklerose und Hypertonie); ein Zusammenhang mit Diabetes Typ 2 und Osteoporose
wird diskutiert (. Abb. 15.4).
5 Bei mittelschweren bis schweren Depressionen nach einem Herzinfarkt sind SSRI zu
empfehlen.
5 Wenn Diabetes und Depression zusammen auftreten, sind SSRI zu empfehlen. TZA sind wegen
der möglichen Gewichtszunahme zu meiden.
5 Auch die Depression bei Parkinson-Erkrankung
ist häufig. Es werden neurochemische Gemeinsamkeiten diskutiert. Trimipramin und Clomipramin sollten wegen der dopamin-antagonistischen Komponente gemieden werden. SSRI
sind die Mittel der Wahl.
5 Die Depression ist oft mit der Demenz assoziiert
(10–30%); die Depression kann den Beginn einer
Demenz anzeigen. Davon abzugrenzen ist die
depressive Pseudodemenz bei affektiven Erkrankungen mit kognitiv-mnestischen Defiziten.
5 SSRI sind die Mittel der ersten Wahl bei einer
demenzassoziierten Depression. Sie verbessern
auch Verhaltensauffälligkeiten und Alltagsaktivitäten, allerdings nicht die Kognition.
14
15
Dauerstress
Depression
Fehlregulation der
Stresshormon-Achse
Imbalanz des
Symphatikus-ParasymphatikusSystems
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5 Viszerale Adipositas
5 Erhöhte Insulinresistenz
5 Hypertonie
Störung der
Hämostase
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Pulsfrequenz ↑
Ventrikuläre Arrythmie ↑
Herz-Frequenz-Variabilität ↓
QT-Variabilität ↑
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Erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
. Abb. 15.4. Zusammenhang zwischen
Dauerstress/Depression und Folgekrankheiten. (Nach Benkert 2005)
151
15.8 · Depression und Stress
5 Die Behandlung mit TZA im Alter ist besonders
risikoreich (u. a. Herzrhythmusstörungen) und
sollte vermieden werden.
5 Bei vielen Hauterkrankungen (Akne, Psoriasis, Urtikaria) wird eine Komorbidität mit der
Depression gesehen. Antidepressiva sind wirksam. Die H1-Blockade (bei Amitriptylin) kann
man bei Pruritus und Urtikaria auch ohne
depressive Symptomatik nutzen.
15.8
Depression und Stress
Wie eng Dauerstress und Depression zusammenhängen, wurde schon an den gemeinsamen körperlichen
Folgekrankheiten gezeigt (7 Abschn. 15.7). Aber die
depressiven Symptome (und die Angstsymptome)
sind auch von den Stressreaktionen auf der körperlichen Ebene, der Verhaltensebene und der kognitivemotionalen Ebene kaum auseinander zu halten und
schließlich sind die Stress- und die Depressionsphysiologie auf vielen Abschnitten identisch (Holsboer
2000). Man muss davon ausgehen, dass bei der Depression – zumindest für den großen Teil der Depression,
die durch Stress verursacht oder durch Stress ausgelöst ist – primär eine Kontrollstörung der Stressphysiologie vorliegt (Benkert 2005). Es werden dafür verantwortlich gemacht:
5 Die stressinduzierte Corticotropin-releasingHormon- (CRH-)Hyperaktivität und der vermehrter Kortisolumlauf bei fehlregulierter HPAAchse; CRH selbst führt bei Tieren zu depressionsähnlichem Verhalten und Angstzuständen.
5 Das durch Stress konstant aktivierte noradrenerge/adrenerge System, das zu Arousalund Vigilanzsteigerung und schließlich gesteigertem Angstverhalten führt. Dauerstress führt
schließlich zur Erschöpfung des Noradrenalinsystems. Die noradrenerge Hypoaktivität geht mit
motorischer Verlangsamung, kognitiver Hemmung und emotionaler Verarmung einher und ist
schließlich von einer Depression nicht mehr zu
unterscheiden. Noradrenalinaktivierende Antidepressiva könnten kompensatorisch eingesetzt
werden.
5 Eine Dysfunktion des Serotoninrezeptorsystems.
Allerdings sind die Zusammenhänge komplexer, als wir sie von der Serotoninhypothese der
Depression (7 Kap. 5.2) (und der Angst) kennen.
Unter anderem senken erhöhte Kortisolspiegel
die Serotoninsynthese. Hypothetisch könnten,
wie bei der Depression und den Angststörungen,
15
SSRI auch bei Dauerstress therapeutisch wirksam sein.
5 Wahrscheinlich kommt es auch zu einer verminderten Ausschüttung des gefäßerweiternden
Transmitters Stickoxid.
Zum Thema der Bedeutung des Serotoninrezeptors
ist im Jahre 2003 die Arbeit von Caspi et al. (2003)
erschienen. Sie legt gleichzeitig empirische Daten
zur Interaktion von Genotyp, Umwelt und Depression vor. Die Autoren konnten nachweisen, dass die
Kurzform des Promotors des 5-HT-Transporte-Gens
(s/s) für die veränderte Stresssensitivität verantwortlich ist. Individuen mit diesen 2 kurzen Allelen (s/
s) entwickelten im Gegensatz zu Individuen mit langen Allelen (l/l) signifikant häufiger depressive Symptome auf mehrere stressreiche Lebensereignisse. Es
wird vermutet, dass der l/l-Genotyp weniger stressempfindlich gegen Stressoren ist. Die Befunde sind im
Kern mehrfach bestätigt.
Burnout-Syndrom
Das Erschöpfungssyndrom oder Burnout-Syndrom
hat seine Ursachen im Dauerstress mit den gleichen
Risiken für Folgekrankheiten, besonders den HerzKreislauf-Erkrankungen. Menschen in helfenden
Berufen sind besonders gefährdet. Die Klassifikation
erfolgt in der ICD-10 in einer Z-Kategotie (Probleme
verbunden mit Schwierigkeiten bei der Lebensgestaltung). Im Vordergrund stehen:
5 Körperliche Erschöpfung mit Energiemangel, chronische Müdigkeit, Schwächegefühl und
somatoforme Störungen
5 Emotionale Erschöpfung mit Depression, innerer
Leere und Reizbarkeit
5 Geistig Erschöpfung mit Leistungseinbußen, Kreativitätsmangel und dem Gefühl der Sinnlosigkeit
5 Soziale Erschöpfung mit sozialem Rückzug, dem
Empfinden ausgesaugt zu werden und dem Risiko, dass sich der Dauerstress im Arbeitsbereich
auch auf andere Lebensbereiche (Familie, Partnerschaft) überträgt.
Psychologische Therapien (Stressbewältigung) stehen im Vordergrund. Eine Pharmakotherapie ist nicht
etabliert. Ein »Off-label«-Versuch mit Antidepressiva
kann indiziert sein.
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Kapitel 15 · Depressive Störungen
Behandlung depressiver
Störungen im Kindes- und
Jugendalter
Bei Kindern und Jugendlichen mit depressiven Störungen sind entwicklungs- und altersabhängige Symptome zu beachten. Gerade bei Kindern wird man
meistens den Verlauf abwarten müssen, um die Diagnose sicherstellen zu können. Kinder mit depressiven
Störungen weisen häufig eine Verleugnungstendenz
und ein großes Schamgefühl auf. Auch gesunden Kindern fällt es teilweise schwer, sich über ihre Befindlichkeit zu äußern. Deshalb ist die Beobachtung von nonverbalen Signalen, z. B. im Spiel-, Ess- und Schlafverhalten, wichtig. Je nach Alter bzw. Entwicklungsstand
unterscheidet sich die Symptomatik teilweise erheblich. Im Gegensatz zu den depressiven Störungen im
Erwachsenenalter, sind bei Kindern und Jugendlichen
chronische Störungen, mit zunehmender und abnehmender Symptomatik, die mit langen Krankheitsepisoden, hohen Rückfallraten und großen psychosozialen Einschränkungen einhergehen, häufig (Pine et al.
1999; Schulte-Markwort u. Forouher 2005).
Pharmakotherapie und Psychotherapie
Genauso wie im Erwachsenenalter gilt bei depressiven
Syndromen im Kindes- und Jugendalter, dass bei mittelgradigen und schweren depressiven Episoden sowie
dann später während der Erhaltungstherapie und
Rezidivprophylaxe eine Kombination aus antidepressiver Pharmakotherapie und Psychotherapie erfolgen
sollte. In der Akutphase schwerer depressiver Syndrome ist die medikamentöse Therapie führend.
Verschiedene Übersichten (Reinecke et al. 1998;
Michael u. Crowley 2002; Compton et al. 2004; Mufson
et al. 2004) bestätigen die Wirksamkeit von Psychotherapie (vor allem KVT, doch auch IPT) gegenüber
verschiedensten Kontrollbedingungen, sowie auch
gegenüber antidepressiver Pharmakotherapie.
5 Eine große Studie an 493 Jugendlichen mit Major
Depression über 12 Wochen zeigte aber, dass mit
dem Antidepressivum Fluoxetin höhere Remissionsraten (60%) als mit KVT (43%) erzielt werden
konnten; es waren beide aktive Therapien deutlich wirksamer als Placebo (35% Remissionsrate).
Das beste Ergebnis wurde jedoch mit der Kombination von Fluoxetin und KVT (71% Remission)
erzielt, was auch im Hinblick auf die Suizidalität
galt. Es wird diskutiert, dass Fluoxetin möglicherweise eine wirksame Sonderstellung bei der antidepressiven Pharmakotherapie von Kindern und
Jugendlichen einnimmt (March et al. 2004). Dies
geht auch aus der Metaanalyse von Whitting-
ton et al. (2004) hervor. Dort wird Fluoxetin als
einzig wirksames SSRI bei Kindern und Jugendlichen herausgestellt. Fluoxetin ist deshalb seit
kurzem ab dem Alter von 8 Jahren bei mittelgradigen bis schweren Episoden einer Major Depression in Kombination mit Psychotherapie zugelassen (7 Abschn. 5.12).
Nichtmedikamentöse biologische
Therapieverfahren
Die nichtmedikamentösen, biologischen Therapieverfahren der Depression wurden nur teilweise bei Kindern und Jugendlichen untersucht. Für den Schlafentzug zeigen sich bei jugendlichen Patienten ähnliche Ergebnisse wie für Erwachsene. Naylor et al.
(1993) entzogen 17 psychiatrisch erkrankten jugendlichen Patienten für 36 h den Schlaf. Sie fanden, dass
die schwer depressiven Jugendlichen sich signifikant
hinsichtlich der depressiven Symptomatik besserten,
während depressive Patienten in Remission oder psychiatrische Kontrollpatienten sich verschlechterten.
Im Gegensatz zu Erwachsenen blieb der Effekt nach
der Erholungsnacht bestehen.
In einer doppelblind placebokontrollierten Studie
konnten Swedo et al. (1997) zeigen, dass es bei Kindern und Jugendlichen mit SAD zu einer signifikanten
Stimmungsverbesserung unter Lichttherapie kam.
Seit der initialen Administration der EKT bei
Jugendlichen ist diese Behandlung kontrovers betrachtet worden. Insgesamt werden EKT bei Kindern und
Jugendlichen nur sehr selten angewandt und machen
nur ca. 1% aller EKT aus. Die Responserate ist aber
generell sehr hoch.
Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) ist bei Kindern und Jugendlichen so gut
wie nicht untersucht, es finden sich nur einige Fallberichte.
Die Vagusnervstimulation ist nur bei Kindern
und Jugendlichen mit Epilepsie untersucht. Bei diesen
Studien konnte unter der Vagusnervstimulation auch
eine Verbesserung der Stimmung festgestellt werden
(Martinez et al. 2005).
Bei therapieresistenten depressiven Syndromen
im Jugendalter kommen auch Augmentationsstrategien wie die zusätzliche Behandlung mit Lithium
oder Schilddrüsenhormonen, medikamentöse Kombinationstherapien oder die zusätzliche Anwendung
der oben beschriebenen nichtmedikamentösen, biologischen Therapieverfahren in Betracht (Sharan u.
Saxena 1998).
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Viele Patienten stehen Psychopharmaka skeptisch gegenüber, insbesondere bei schweren
Depressionen sind sie aber unverzichtbar. Welche
Möglichkeiten zur Förderung der Compliance im
Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans kennen
Sie?
Wie ist bei der Behandlung der schweren Depression eine Kombinationstherapie von Psychotherapie (KVT, IPT) und Antidepressiva anhand
der derzeitigen wissenschaftlichen Datenlage zu
beurteilen?
Welche der modernen Antidepressiva sind bei
der leichten Depression zu bevorzugen, welche
bei der schweren Depression?
Welche Antidepressiva zeigen einen schnellen
Wirkungseintritt in den ersten beiden Wochen?
Welche Bedeutung hat eine individuelle Besserung von ca. 20% in den ersten beiden Wochen
für den weiteren Behandlungsverlauf?
Einzelne Symptomkomplexe einer Depression
können, je nach pharmakologischem Wirkprofil
des Antidepressivums, unterschiedlich schnell
auf die Behandlung ansprechen. Welche Beispiele kennen Sie?
Wie ist das Risiko für ein Rezidiv nach einer
ersten depressiven Episode einzuschätzen? Was
bedeutet das für die pharmakologische, aber
auch für die psychotherapeutische Behandlung?
Was verstehen sie unter dem Begriff »Erhaltungstherapie«, wie lange sollte sie fortgeführt
werden?
8. Wann sollte bei einer unipolaren depressiven
Störung eine medikamentöse Rezidivprophylaxe
durchgeführt werden? Welche Rolle spielen
psychotherapeutische und psychoedukative
Interventionen?
9. Welche Möglichkeiten der Rezidivprophylaxe bei
der unipolaren depressiven Störung kennen Sie?
10. Welche Behandlungsoptionen gibt es, wenn ein
erstes Antidepressivum nicht zu ausreichendem
Therapieerfolg führt?
11. Was versteht man unter dem Begriff der Augmentation, welche Möglichkeiten kennen Sie?
12. Welche Rolle spielen Benzodiazepine in der
Depressionsbehandlung, welche Stärken haben
sie, wo liegen Gefahren?
13. Was antworten Sie einem Patienten, wenn er
befürchtet unter einem Antidepressivum eine
Abhängigkeit zu entwickeln?
14. Welche Zusatztherapien neben der medikamentösen und der psychotherapeutischen Behandlung von depressiven Störungen gibt es?
15. Bei schweren körperlichen Erkrankungen treten
gehäuft depressive Störungen auf; eine Depression wiederum begünstigt körperliche Folgekrankheiten. Welche Beispiele kennen Sie?
16. Als ein Risikofaktor für die Entstehung einer
Depression wird Dauerstress diskutiert, welche
Befunde kennen Sie?
17. Welche Therapie gilt als erste Wahl bei Kindern
und Jugendlichen mit mittelgradigen und
schweren depressiven Episoden?
http://www.springer.com/978-3-540-47957-4
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