5.4 Paretisches Schielen 5.4.1 Allgemeine Operationsprinzipien Die Häufigkeit paretischer Schielformen im operativen Krankengut beträgt 10 – 20 %, darunter 26 % Okulomotoriusparesen, 30 % Trochlearisparesen, 28 % Abduzensparesen und 16 % Retraktionssyndrome (125). Merke Bei Augenmuskelparesen soll die Operation nicht vor Ablauf von 12 Monaten durchgeführt werden. Frühere Eingriffe sind auf konventionelle Eingriffe zu beschränken. Der Operationszeitpunkt ist vor allem abhängig von Art und Ursache der Augenmuskellähmung. Der Entschluss zur Operation soll erst dann fallen, wenn sicher ist, dass durch nichtoperative Therapie kein dauerhaftes und ausreichendes binokulares Einfachsehen erreichbar ist und die Aussicht auf eine Spontanremission nicht mehr besteht. Bei einer Spontanremission erfolgt die Besserung relativ schnell. Es gibt Fälle, bei denen während mehrerer Monate die Schielwinkel unverändert bleiben, um dann innerhalb von Tagen zu verschwinden. Der Verlauf einzelner Untersuchungsparameter in den ersten Wochen der Augenmuskelparese lässt kaum Rückschlüsse auf den langfristigen Verlauf zu. Bei vaskulär bedingten Trochlearisparesen ist nach 6 Monaten eine Besserung kaum noch zu erwarten, traumatische Abduzensparesen können aber noch nach 12 Monaten verschwinden. Die Regel, nicht vor Ablauf von 12 Monaten zu operieren, hat sich bewährt. Wenn Ausnahmen von dieser Regel (z. B. auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten) gemacht werden, sollten die operativen Verfahren auf konventionelle Methoden beschränkt werden. Einerseits könnten konventionelle Eingriffe (Rücklagerungen, Vorlagerungen/Resektionen) rückgängig gemacht werden, falls die wiederkehrende normale Muskelfunktion wider Erwarten durch die zu früh durchgeführte Operation gestört wurde, andererseits bewirken sie keine neuen Einschränkungen der Motilität, wie sie bei Transpositionen unvermeidlich sind. Die Frage, welcher Schaden durch eine vorzeitige Operation entsteht, ist strittig. Wahrscheinlich kann normales Binokularsehen nach einer konventionellen Augenmuskeloperation und darauf folgender Spontanremission die normale Funktion aufrechterhalten. Dann wäre eine vorzeitige Operation zwar unschädlich, aber überflüssig. In Die Injektion von Botulinumtoxin (s. Kap. 5.6) kann als temporäre Maßnahme erwogen werden, wenn der Zeitpunkt bis zu einer Operation überbrückt werden soll (226). In dieser Wartezeit könnte die Botulinumtoxininjektion den Schielwinkel und die Diplopie auf ein erträgliches Maß reduzieren. 5 Wirkungsprinzipien der Operation Drei verschiedene Wirkungsprinzipien der operativen Behandlung des paretischen Schielens werden unterschieden: ● Operationen zur Verbesserung der Stellung des paretischen Auges, ● Operationen nach dem Prinzip der Gegenparese am nichtparetischen Auge, ● Ansatzverlagernde Operationen (Muskeltranspositionen). A. Graefe (88, S. 80ff) versteht unter der „substituierenden Operation“ die Vorlagerung des paretischen Muskels. Sie sei nicht imstande, die kontraktile Kraft zu normalisieren, könne aber die Wirkung der verminderten Kraft durch Änderung des Angriffspunkts verbessern. Die Rücklagerung des Antagonisten bezeichnet er als „äquilibrierende Operation“, weil sie ein neues Gleichgewicht herstellt zwischen der verminderten Kraft des paretischen Muskels und der seines Antagonisten. Das heute „Prinzip der Gegenparese“ genannte Operationsprinzip nennt A. Graefe die „kompensierende Operation“. Merke Konventionelle Operationen zur Verbesserung der Stellung des paretischen Auges sind im weitaus größten Teil aller Augenmuskelparesen ausreichend. Das Wirkungsprinzip der operativen Verbesserung der Stellung des paretischen Auges verfolgt das Ziel, den Bulbus in eine günstigere Nullstellung zu bringen und ihm aus dieser Stellung heraus befriedigende Beweglichkeit zu ermöglichen (▶ Abb. 5.21). Dieses Ziel kann erreicht werden durch eine Verkürzung (Resektion, Vorlagerung, Faltung) des paretischen Muskels und eine Rücklagerung (Verlängerung) seines Antagonisten. Es ist 593 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.4 Paretisches Schielen jedem Fall muss aber eine vorzeitige Muskeltransposition vermieden werden. Muskeltranspositionen bewirken immer auch Funktionsveränderungen der transponierten Muskeln, die möglicherweise bei einer Spontanremission nicht kompensiert werden können. Eine frühe Operation kann gerechtfertigt sein, wenn gewichtige Argumente (z. B. dringlicher Wunsch des Patienten, drohender Verlust des Binokularsehens bei Kindern) dafür sprechen und der Patient sich in Kenntnis aller Vor- und Nachteile für dieses Vorgehen entscheidet. naheliegend, wegen der höheren Effektivität beide Eingriffe gleichzeitig durchzuführen. Die kombinierte Operation ist die Methode der Wahl immer dann, wenn das Blickfeld des paretischen Auges die Primärposition einschließt und in Primärposition des nichtparetischen Auges ein großer primärer Schielwinkel besteht. Auch in Fällen mit eingeschränkter passiver Exkursionsfähigkeit, wenn eine kausale Therapie der Läsion nicht möglich ist (z. B. nach verschleppten Orbitafrakturen, traumatischen Muskelläsionen) verspricht die kombinierte Operation am paretischen Auge den größten Erfolg. Bei Operationen nach dem Prinzip der Gegenparese am nichtparetischen Auge handelt es sich um die Schwächung des kontralateralen Synergisten des gelähmten Muskels mit dem Ziel, das Fusionsblickfeld in eine günstigere Blickrichtung zu verlagern oder sogar zu vergrö- monok. Blickfeld (o.d.) ßern. Der Wirkungsmechanismus besteht einerseits darin, die Augenmuskelparese in eine „artifizielle Blicklähmung“ zu überführen (d. h. eine Verkleinerung des sekundären Schielwinkels), andererseits bei Führung des nichtparetischen Auges eine dem Gesetz von Hering entsprechende Innervationssteigerung des paretischen Muskels mit Verminderung der Innervation seines Antagonisten zu erzielen (d. h. eine Verminderung des primären Schielwinkels). Die prinzipiell logische Operationsmethode ist die Myopexie nach Cüppers, also eine Verkürzung der Abrollstrecke des kontralateralen Synergisten. Sie ist auch die wirksamste zur Erzeugung einer Gegenparese. Sie sollte vor allem eingesetzt werden, wenn das monokulare Blickfeld des paretischen Auges erheblich über die Primärstellung hinausreicht und in Primärstellung des nichtparetischen Auges nur ein kleiner primärer Schielwinkel besteht (▶ Abb. 5.21). Auch eine Rücklagerung des kontralateralen Synergisten wirkt als Gegenparese, ihr paretischer Effekt ist aber geringer und ihr Fusionsblickfeld +15° +0° 0° +45° kombinierte Konvergenzoperation 0° +5° +0° +30° Fadenoperation (M. rect. med. o. s.) 0° +25° +0° +55° Muskeltransposition (o.d.) 0° Abb. 5.21 Operationsindikation bei verschiedenen Ausprägungen einer Parese (als Beispiel dient eine rechtsseitige Abduzensparese). Prä- und postoperativ ist jeweils auf der linken Seite das monokulare Blickfeld des rechten Auges (die monokular nicht erreichbaren Blickrichtungen sind blau markiert), auf der rechten Seite das Fusionsblickfeld (die Einschränkung des Fusionsblickfelds ist blau markiert) dargestellt. Oben: kombinierte Konvergenzoperation. Für die kombinierte Operation am betroffenen Auge spricht: a) eine Einschränkung des monokularen Blickfelds, wobei die Primärstellung erreicht wird, b) der große Schielwinkel (15°) in Primärstellung des linken Auges. Mitte: Operation nach dem Prinzip der Gegenparese. Für die Myopexie am kontralateralen Synergisten des paretischen M. rectus lateralis spricht: a) die geringe Einschränkung des monokularen Blickfelds, b) der kleine Schielwinkel (5°) in Primärstellung des linken Auges, c) die große Schielwinkelzunahme bei Rechtsblick. Unten: Muskeltransposition. Für die primäre Muskeltransposition spricht die große Einschränkung des monokularen Blickfelds, wobei die Primärstellung nicht erreicht wird. 594 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Augenmuskeloperationen 5.4 Paretisches Schielen Zusammenfassung Operation bei Paresen Die Operation am paretischen Auge ist um so mehr zu bevorzugen, ● je deutlicher die Exkursionseinschränkung des paretischen Auges, ● je größer der Schielwinkel im gesamten Blickfeld ist. Das Operationsprinzip der Gegenparese ist umso vorteilhafter, ● je besser die Exkursionsfähigkeit des paretischen Auges, ● je kleiner der Schielwinkel in Primärstellung, ● je größer die Inkomitanz dieses Schielwinkels ist. Beide Operationsprinzipien setzen eine Restfunktion des paretischen Muskels voraus. Sie sind also nur bei Paresen empfehlenswert, nicht aber bei Paralysen. Im Einzelfall ist abzuklären, welchem Operationsprinzip der Vorzug zu geben ist oder in welcher Weise verschiedene Prinzipien kombiniert werden. Die genannten Operationen werden immer dann ausreichen, wenn der paretische Muskel bei monokularer Exkursion das Auge noch bis in die Primärstellung bewegen kann. Merke Bei Paresen der geraden Augenmuskeln erreicht das monokulare Blickfeld die Primärposition, bei Paralysen nicht. Diese Definition der Parese – Paralyse gehorcht strengen pathophysiologischen Kriterien nicht. Ein M. rectus lateralis, der den Bulbus bis auf 5° vor die Primärposition bewegen kann, hat zwar den größten Teil seiner Funktionsfähigkeit eingebüßt, ist aber nicht paralytisch. Die sichere Unterscheidung zwischen Parese und Paralyse ist klinisch nicht möglich. Für die Operationsindikation ist die genannte klinische Einteilung aber ausreichend. Demgegenüber stellen Augenmuskelparalysen den Operateur vor wesentlich größere Probleme. In diesen Fällen zeigt der paretische Muskel keine oder nur eine sehr geringe Funktion. Bei einer Abduzensparalyse kann das Auge kaum aus dem inneren Lidwinkel herausbewegt werden. Die vorgenannten Operationsmethoden müssen in diesen Fällen erfolglos bleiben, denn ein paralytischer Muskel wird auch einen umgelagerten Bulbus nicht bewegen können und eine Innervationssteigerung wird den Muskel nicht erreichen. Paralysen, und nur diese, erfordern die Muskeltransposition als Ultima Ratio (▶ Abb. 5.21). Sie ist nur selten notwendig. Die Wirksamkeit anderer technischer Verfahren konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Die muskuläre Neurotisation paralytischer Augenmuskeln verfolgt das Ziel, über die Aufnähung eines ungeschädigten Muskels den paralytischen Muskel wieder zu reinnervieren. So wird die Neurotisation eines paralytischen M. rectus lateralis durch den aufgenähten M. obliquus inferior beschrieben (4). Falls diese Neurotisation erfolgt, würde der Effekt darin bestehen, dass der M. rectus lateralis sich dann kontrahiert, wenn der M. obliquus inferior innerviert wird. Ein brauchbarer Operationserfolg würde sich dadurch nicht ergeben. 5 Auch der Ersatz eines gelähmten Augenmuskels durch elastische Implantate wurde vorgeschlagen. Obwohl nach diesen Prozeduren erhebliche Vernarbungen eintreten, können sie sinnvoll sein, wenn wegen der Grunderkrankung mit weiteren Augenmuskelparesen gerechnet werden muss, die eine Transposition dieser Muskeln obsolet erscheinen lassen (zusammenfassende Literatur in 154, 156). Operationsergebnisse Die Ergebnisse der operativen Behandlung von Augenmuskelparesen sind weitgehend von der Art und dem Ausmaß der Parese abhängig. Die operativen Schielwinkelreduktionen entsprechen den Werten beim nichtparetischen Schielen umso mehr, je geringer die Sekundärveränderungen sind. Die Angabe von Durchschnittswerten kann wegen der großen individuellen Unterschiede (partielle Paresen/Paralysen, kombinierte Lähmungen, Kontrakturen) nur sehr ungenau sein. Bei gleichzeitigen Blicklähmungen können die Operationseffekte erheblich von den gewohnten Werten abweichen. Bei Paresen der geraden Augenmuskeln, bei denen das monokulare Blickfeld noch deutlich über die Primärstellung hinausreicht, kann das Fusionsblickfeld häufig soweit vergrößert werden, dass das Gebrauchsblickfeld diplopiefrei ist. Damit verbunden ist die Verbesserung einer Kopfzwangshaltung. Die Operationseffekte entsprechen in diesen Fällen denen beim nichtparetischen Schielen weitgehend. Bei Paralysen der geraden Augenmuskeln sind die Ergebnisse schlechter. Kombinierte Operationen üblicher Dosierung (z. B. 5 mm Rücklagerung/8 mm Resektion) am betroffenen Auge verbessern den Zustand selten dauerhaft. Demgegenüber kann eine große Rücklagerung (über 10 mm) des Antagonisten den Funktionsverlust des 595 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Einfluss auf den Schielwinkel in Primärstellung größer als der einer Myopexie. Ähnliches gilt für die kombinierte Operation am nichtparetischen Auge, die in der Regel nur als Zweiteingriff eingesetzt wird. Sie ist sinnvoll, wenn nach einer Operation am paretischen Auge dessen Exkursionsfähigkeit gut ist, aber noch ein erheblicher Schielwinkel besteht. Augenmuskeloperationen Merke Bei Augenmuskelparesen kann operativ das Fusionsblickfeld häufig soweit vergrößert werden, dass das Gebrauchsblickfeld diplopiefrei ist. Bei Augenmuskelparalysen ist meist nur ein kleines Fusionsblickfeld erreichbar. Bei Paresen der schrägen Augenmuskeln, bei denen präoperativ das monokulare Blickfeld nicht eingeschränkt ist, sind die Operationseffekte ähnlich wie beim nichtparetischen Vertikalschielen. Bei Paresen der schrägen Augenmuskeln ist es fast immer möglich, wenigstens Diplopiefreiheit im Gebrauchsblickfeld herzustellen. Die Schielwinkelreduktionen bei einer Paralyse sind geringer und vor allem weniger dauerhaft. Die Abgrenzung einer Paralyse von einer Parese der schrägen Augenmuskeln ist schwierig. Da die geraden Vertikalmotoren wesentlichen Anteil an Elevation und Depression auch in Adduktion (s. S. 67) haben, kann das monokulare Blickfeld auch bei der Paralyse eines schrägen Augenmuskels sehr groß sein. Übersteigt die Vertikaldeviation (in Adduktion von 25°) oder die Zyklodeviation einen Winkel von 20°, ist mindestens eine aus- geprägte Parese anzunehmen. Beidseitige Trochlearisparesen weisen nicht selten Zyklodeviationen bis zu 40° auf. 5.4.2 Operation bei Abduzensparese Ziel der Operation ist die Verbesserung der Abduktionsfähigkeit des betroffenen Auges. Gelingt diese, werden auch die Kopfzwangshaltung zur Erhaltung des Binokularsehens und der konvergente Schielwinkel bei erzwungener Kopfgeradehaltung vermindert und das Fusionsblickfeld vergrößert. Es ist selbstverständlich, dass die Differenzialdiagnose ein Retraktionssyndrom ausschließen muss (▶ Tab. 5.7). Operationsindikation Die Operationsindikation erfordert zuerst die Auswahl des Operationsprinzips (▶ Abb. 5.21). Bei einer Abduzensparese mit großem Schielwinkel ist die Veränderung der Stellung des paretischen Auges durch kombinierte Konvergenzoperation zu empfehlen. Die Dosierung erfolgt so, dass 1 mm Gesamtoperationsstrecke etwa 1,5 – 2,0° Schielwinkelreduktion entsprechen. Zugrunde gelegt wird der primäre Schielwinkel. Besteht gleichzeitig eine Blicklähmung, ist die Dosierung der kombinierten Konvergenz-Operation deutlich zu vermindern. Zusammenfassung Wahl des Operationsprinzips bei Abduzensparese ● Je größer der Schielwinkel, umso höher die Dosierung der kombinierten Operation, ● je größer die Inkomitanz, umso höher die Dosierung der Gegenparese. Tab. 5.7 Differenzialdiagnose Abduzensparese – Retraktionssyndrom. Abduzensparese Retraktionssyndrom Anamnese plötzlicher Beginn angeborene Störung Kopfzwangshaltung meist über 20° meist 0 – 15° Abduktion eingeschränkt eingeschränkt Adduktion/Konvergenz mindestens normal eingeschränkt Bulbuslage geringe Propulsion bei Abduktionsversuch Retraktion bei Adduktionsversuch Vertikaldeviation keine oft beim Versuch der Adduktion* Lidspalte erweitert in Abduktion verengt in Adduktion * Häufig Hypertropie bei Adduktionsversuch oberhalb der Horizontalen und Hypotropie bei Adduktionsversuch unterhalb der Horizontalen (▶ Abb. 2.6). 596 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. paralytischen Muskels teilweise ausgleichen, allerdings unter Verlust an Exkursionsfähigkeit in Zugrichtung des rückgelagerten Muskels. Diese Duktionseinschränkung lässt selten ein großes Fusionsblickfeld zu, sodass das Fusionsblickfeld nach Transpositionen größer ist als nach einer großen Rücklagerung des Antagonisten. Folge einer großen Rücklagerung des Antagonisten ist oft zwar eine wesentliche Verbesserung von Schielwinkel und Kopfzwangshaltung, selten aber deren Beseitigung. Muskeltranspositionen stellen häufig binokulares Einfachsehen ohne oder mit einer kleinen Kopfzwangshaltung her. Der Nachteil der Transpositionsverfahren an geraden Augenmuskeln ist neben der aufwendigeren Technik das häufigere Auftreten von Vertikaldeviationen. 5.4 Paretisches Schielen Die kombinierte Konvergenzoperation kann mit einer Operation nach dem Prinzip der Gegenparese kombiniert werden, um die Inkomitanz des Schielwinkels im Seitblick zu vermindern. Hierbei ist eine Myopexie (bei kleinerem Schielwinkel) oder eine Rücklagerung (bei größerem Schielwinkel) am kontralateralen M. rectus medialis empfehlenswert. Operationen nach dem Prinzip der Gegenparese können primär eingesetzt werden oder als korrigierender Zweiteingriff nach kombinierter Operation. Im Regelfall wird man den Effekt der Operation am paretischen Auge abwarten, um die Operation nach dem Prinzip der Gegenparese in einer zweiten Sitzung durchzuführen. Diese Reihenfolge berücksichtigt, dass für den Patienten die psychologische Hürde der Operation leichter zu nehmen ist, wenn er zuerst an seinem „kranken“ Auge operiert wird. Die Dosierung der Myopexie am kontralateralen M. rectus medialis sollte 13 mm betragen, wenn ein Effekt im Gebrauchsblickfeld angestrebt wird. Die Dosierung einer Rücklagerung des M. rectus medialis oder einer kombinierten Konvergenzoperation als Gegenparese erfolgt so, dass 1 mm Gesamtoperationsstrecke etwa 1,5 – 2,0° Schielwinkelreduktion entsprechen. Zugrunde gelegt wird der sekundäre Schielwinkel (also der Prismenbetrag, der vor dem nichtbetroffenen Auge zu binokularem Einfachsehen ohne Kopfzwangshaltung führt). Merke Methode der Wahl ist: ● bei Abduzensparesen die kombinierte Operation zur Verbesserung der Stellung des paretischen Auges, eine Operation nach dem Prinzip der Gegenparese oder eine Kombination beider Prinzipien, ● bei Abduzensparalysen die primäre Muskeltransposition. Wird bei Prüfung der monokularen Exkursion die Primärposition nicht erreicht, ist eine Abduzensparalyse anzunehmen, bei der eine kombinierte Augenmuskeloperation in der Regel nicht ausreicht. Eine Paralyse ist gleichbedeutend mit einem völligen Funktionsverlust. Während bei einer frischen Abduzensparalyse der Schielwinkel noch klein ist, kann nach eini- gen Monaten der Bulbus nicht mehr aus dem inneren Lidwinkel herausbewegt werden. Für die klinische Einordnung und die Festlegung der Operationsindikation genügt es, sich an der Abduktionsfähigkeit zu orientieren. Selbst wenn der Bulbus noch aus dem inneren Lidwinkel 10° oder 20° heraus bewegt werden kann, vermutlich also noch eine minimale Restfunktion besteht, ist es empfehlenswert, die operativen Maßnahmen wie bei einer Paralyse zu planen. Kombinierte Operationen am betroffenen Auge sind technisch einfach, weisen aber Nachteile auf, die sich aus der Notwendigkeit hoher Dosierungen ergeben. Resektionen des paralytischen M. rectus lateralis bis 20 mm zeigen oft keine langfristige Wirkung. Die große Rücklagerung des M. rectus medialis (um mehr als 10 mm) kann dagegen den Funktionsverlust des paralytischen Muskels teilweise äquilibrieren, allerdings unter Verlust an Adduktionsfähigkeit, der größer ist als nach einer Transposition (128). Die kombinierte Operation mit hoher Dosierung ist aber naheliegend, falls eine Muskeltransposition zu riskant erscheint (nach Voroperation, bei Monophthalmus, früherer intraokularer Erkrankung, Lagophthalmus usw.). 5 Merke Wenn bei maximaler Abduktionsinnervation die Mittellinie nicht erreicht wird, ist eine primäre Muskeltransposition empfehlenswert. Bei Abduzensparalysen ist die primäre Muskeltransposition empfehlenswert. In der Literatur werden unterschiedliche operative Techniken (28, 104, 119, 128, 156, 195, 204, 237, 239) angegeben, unter denen neben der Originalmethode von Hummelsheim (1907) (109, 110, 111), die Modifikationen von O´Connor (1919, 1935) (212, 213) und Jensen (1964) (nach 28, 211) bekannt sind (▶ Abb. 5.22). Bei den erstgenannten Verfahren werden jeweils Teile der geraden Vertikalmotoren oder auch die gesamten Augenmuskeln zur Insertion des M. rectus lateralis hin verlagert. Die Methode von Jensen besteht in einer Verbindung des gelähmten M. rectus lateralis mit den geraden Vertikalmotoren, deren Zugwirkung über den M. rectus lateralis auf den Bulbus übertragen werden soll. Die umfangreiche Literatur über verschiedene Transpositionsverfahren enthält leider nur selten vergleichbare Angaben über die postoperativen Ergebnisse. Häufig wird zwischen Retraktionssyndromen und Abduzensparesen nicht unterschieden oder es werden die Ergebnisse bei Paresen und Paralysen vermischt. Fast immer fehlen Angaben zu Schielwinkeln, monokularem Blickfeld, Fusionsblickfeld oder Kopfzwangshaltung, sodass der Literaturvergleich brauchbare Schlüsse bezüglich der operati- 597 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Bei kleinem Schielwinkel in Primärposition und deutlicher Zunahme des Schielwinkels im Seitblick kann eine Operation nach dem Prinzip der Gegenparese allein ausreichend sein. In Abhängigkeit vom Schielwinkel und dem Ausmaß der Inkomitanz wird sie am nichtbetroffenen Auge als Rücklagerung oder Myopexie des M. rectus medialis durchgeführt. Augenmuskeloperationen Hummelsheim O'Connor O'Connor Jensen von Adduktion und Vertikalduktion (▶ Abb. 5.24). Dieser Motilitätsdefekt muss bei einer Abduzensparalyse in Kauf genommen werden. Es besteht auch die Gefahr, dass bei einigen Transpositionsverfahren die Blutzufuhr zu den Vorderabschnitten des Auges erheblich vermindert wird. Die Gefahr einer Ischämie der Vorderabschnitte (s. S. 553) des Auges ist umso größer, je mehr vordere Ziliararterien bei der Operation unterbunden werden. Das Risiko einer Vorderabschnittischämie ist besonders groß, wenn der Transposition bereits andere Operationen vorausgingen oder andere Muskeln gleichzeitig operiert werden (18). Abb. 5.23 Muskeltransposition bei Abduzensparalyse. Im eigenen Krankengut durchgeführte Modifikation der Originalmethode nach Hummelsheim (116, 119, 125, 128). Die Operation erfolgt nach radiären Bindehautschnitten (rot markiert) ohne Limbusschnitt wie bei Obliquus-Operationen (s. ▶ Abb. 5.1). ven Wirkung der verschiedenen Operationsverfahren nicht zulässt. Mithilfe einer Muskeltransposition ist es fast immer möglich, Schielwinkel und Kopfzwangshaltung wesentlich zu vermindern. Diesem Vorteil stehen aber Nachteile und Risiken entgegen. Eine Muskeltransposition (bei Abduzensparese) bewirkt immer auch eine Einschränkung 598 Ziel einer Transposition ist, den Bulbus in der Primärposition elastisch zu halten. Die Wirkung der Transposition resultiert wohl aus mehreren Komponenten: Die zum M. rectus lateralis verlagerten Muskelanteile entwickeln wegen der neuen Insertion ein abduzierendes Drehmoment. Es ist naheliegend, dass die Verlagerung der gesamten Vertikalmotoren gegenüber der partiellen Verlagerung wirkungsvoller und technisch leichter durchzuführen ist. Andererseits ist die Anzahl der unterbundenen Blutgefäße geringer, wenn nur eine Verlagerung der lateralen Hälften durchgeführt wird. Eine Teilung der Muskeln mindert also die Gefährdung der Trophik des Auges, traumatisiert aber den Muskel und kann Blutungen und kurzfristige Vertikaldeviationen bewirken. Ebenso ist es einfacher, die zu transponierenden Teile der Vertikalmotoren nur auf dem M. rectus lateralis zu verbinden (204), wobei die Operationswirkung wie bei der Operation nach Jensen vermutlich darauf beruht, dass Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Abb. 5.22 Unterschiedliche Verfahren der Muskeltransposition bei Abduzensparalyse (109, 110, 111, 212, 213). 5 Abb. 5.24 Einschränkung der Motilität nach Muskeltransposition am linken Auge (mod. Operation nach Hummelsheim). Hebung und Senkung sind nur wenig eingeschränkt, Adduktion und Abduktion dagegen deutlich. die gesamten Vertikalmotoren auf der lateralen Bulbusseite einander angenähert werden. Eine Rücklagerung des M. rectus medialis wird häufig deshalb durchgeführt, weil die myogene Kontraktur des M. rectus medialis für irreversibel gehalten wird. Tatsächlich lässt aber die Spannung des M. rectus medialis (wie nach der Revision einer Tenotomie) innerhalb von Tagen nach, wenn die Transposition wirksam genug ist. Diese Rücklagerung ist aber unvermeidbar, wenn der Bulbus intraoperativ bei der Prüfung der passiven Motilität nicht in die Primärposition bewegt werden kann. Merke Mit der Wirksamkeit einer Transpositionsmethode steigt oft auch die Wahrscheinlichkeit einer unerwünschten Nebenwirkung. Grundsätzlich ist bei der Operationsindikation nicht nur zu bedenken, welche Methode die wirksamste ist, sondern auch, ob die wirksamere und damit riskantere Methode notwendig ist. Bei der Auswahl der Operationsmethode ist der Nutzen der Transposition gegen die Risiken abzuwägen. Gleichzeitige Eingriffe an anderen Augenmuskeln sind möglichst zu unterlassen. Eine gleichzeitige Resektion des paralytischen M. rectus lateralis muss unterbleiben, da der Effekt ohnehin meist nicht andauert. Sie ist darüber hinaus schädlich, weil die Blutgefäße dieses Muskels unterbunden werden. Merke ● ● Wenn eine Muskeltransposition notwendig ist, muss sie primär durchgeführt werden. Die Anzahl der operierten Muskeln ist möglichst gering zu halten. Eine gleichzeitige Lateralis-Resektion ist zu unterlassen. Eine zusätzliche Medialis-Rücklagerung wird möglichst vermieden. Im eigenen Krankengut hat sich bei Paralysen eines geraden Augenmuskels folgende Operationstechnik bewährt (▶ Abb. 5.23, ▶ Abb. 5.24, ▶ Abb. 5.25, ▶ Abb. 5.26, ▶ Abb. 5.27): ● Nach radiären Bindehautschnitten über dem oberen und unteren äußeren Quadranten werden die lateralen Hälften des M. rectus superior und des M. rectus inferior über eine Strecke von 15 mm abgetrennt und mit jeweils 2 Fäden angeschlungen. Ein Limbusschnitt ist nicht notwendig, weil der M. rectus lateralis nicht freigelegt werden muss. Nachdem der M. rectus lateralis mit der darüberliegenden Bindehaut auf einen Schielhaken genommen wurde, lassen sich die beiden Trans- 599 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.4 Paretisches Schielen Augenmuskeloperationen ● ● Die Medialis-Rücklagerung kann durch eine Botulinumtoxininjektion (s. Kap. 5.6) ersetzt werden. Dieses Verfahren wird auch empfohlen, um vor einer Transposition die myogene Kontraktur des M. rectus medialis zu lösen. Diese Maßnahme erleichtert die Transposition, erschwert aber die intraoperative Dosierung. In Analogie zum Lateralis-Splitting bei Okulomotoriusparalyse wurde bei Abduzensparalyse ein Splitting des M. rectus medialis angegeben (179). Ein solches Vorgehen ist sicher wirksam, es stellt sich aber Frage, ob dieses Vorgehen angemessen ist. Die übliche Transposition erhält die Adduktion weitgehend, während ein Splitting des M. rectus medialis diese Adduktion erheblich einschränkt. Die Indikation sollte sehr zurückhaltend gestellt werden. Bei einer gleichzeitigen Blicklähmung oder einer internukleären Medialisparese (INO) zur Gegenseite (also bei einer Einschränkung der Abduktion und Adduktion eines Auges) sollte die Transposition wesentlich niedriger dosiert (z. B. durch Verzicht auf die Unterkreuzung der Transponate) oder auf die Transposition verzichtet werden. Zwar besteht auch in diesen Fällen ein großer konvergenter Schielwinkel mit einer erheblichen Abduktionseinschränkung, sodass die Primärposition nicht erreicht wird, die eingeschränkte Kraft des M. rectus medialis reicht aber nicht aus, um die abduzierende Wirkung der Transposition zu äquilibrieren, sodass die Gefahr der Überkorrektion groß ist. Besteht die Gefahr, dass nach operativer Versorgung einer Abduzensparalyse auch noch eine Okulomotoriusparese entstehen könnte (beispielsweise nach subtotal operiertem intrakraniellen Neoplasma), würde eine Transposition nach Hummelsheim wirkungslos werden. In diesen seltenen Fällen ist die Verwendung eines Silikonbands zur elastischen Fixation des Bulbus zu erwägen (154, 156). Falls nach vorausgegangener konventioneller Operation an den geraden Horizontalmotoren wegen mangelnden Effekts eine Revisionsoperation notwendig ist, sollte wegen des Ischämierisikos auf eine Transposition verzichtet und die unvermeidbare Adduktionseinschränkung einer weiteren Medialis-Rücklagerung in Kauf genommen werden. Eine erneute Resektion des gelähmten Abb. 5.25 Patientin mit linksseitiger Abduzensparalyse. Präoperativ großer primärer Schielwinkel (oben links). Das linke Auge kann nicht bis zur Mittellinie abduziert werden (oben rechts), weist aber noch eine sehr geringe Restfunktion auf. Nach Muskeltransposition (mod. Operation nach Hummelsheim) besteht am 1. postop. Tag (Mitte) und nach 3 Monaten (unten) im Geradeausblick kein Schielwinkel mehr mit einem Fusionsblickfeld von 25° um die Primärposition. 600 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ● ponate kreuzweise unter dem M. rectus lateralis durchziehen. Diese Transposition wird durch die Instillation von Gleitsubstanzen in den Spaltraum zwischen M. rectus lateralis, Tenon-Kapsel und Bulbus erheblich erleichtert. Die Transponate werden neben der Insertion des M. rectus lateralis skleral fixiert. Bei einer gleichzeitigen Rücklagerung des M. obliquus inferior muss dieser auf die orbitale Seite des M.-rectus-inferiorTransponats gelegt werden, um beiden Muskeln eine möglichst ungestörte Funktion zu ermöglichen. Beim Knüpfen der Fäden kann es zu erheblichen Augeninnendruckerhöhungen kommen. Diese werden (wie bei der Okulopression) innerhalb von Minuten ausgeglichen, erfordern aber in seltenen Fällen eine Funduskopie, um notfalls die Fadenknüpfung zu verzögern. Die postoperativ bei der Funduskopie wie ein Plombenwall imponierende Einschnürung durch die Transponate verschwindet nach Tagen. Bei dieser Technik werden also nur 2 Aa. ciliares anteriores (bzw. 4 bei gleichzeitiger Rücklagerung des M. rectus medialis) durchtrennt, während die Gefäße in den verbliebenen Muskelhälften vermutlich zwar kurzfristig abgeknickt, aber nicht dauerhaft verschlossen werden. Wenn die Transponate nicht unter dem M. rectus lateralis hindurchgeführt, sondern neben dem Muskel fixiert werden, ist die Operation leichter durchführbar, aber weniger effektiv. a b c Abb. 5.26 a–d Patientin mit beidseitiger Abduzensparalyse. a Links: maximale Abduktion des rechten Auges bei Rechtsführung. Rechts: maximale Abduktion des linken Auges bei Linksführung. b Präoperativ großer Schielwinkel. Beide Augen können die Mittellinie nicht erreichen, sodass die Fixation nicht ohne Kopfzwangshaltung (oben) aufgenommen werden kann. c Nach beidseitiger Muskeltransposition (mod. Operation nach Hummelsheim, am linken Auge mit, am rechten ohne gleichzeitige Medialis-Rücklagerung) besteht postoperativ (1. bzw. 3. postop. Tag) im Geradeausblick kein Schielwinkel. d Nach 3 Monaten verfügt die Patientin bei Fernblick über ein kleines Fusionsblickfeld, beim Nahblick sind dazu Prismen erforderlich. 5 d oben unten Abb. 5.27 Patient mit beidseitiger Abduzensparalyse. Oben: Präoperativ großer Schielwinkel (Mitte). Beide Augen können nicht bis zur Mittellinie abduziert werden (rechts und links), sodass die Fixation ohne Kopfzwangshaltung nicht aufgenommen werden kann. Unten: Nach beidseitiger Muskeltransposition (mod. Operation nach Hummelsheim, am rechten Auge mit, am linken ohne gleichzeitige Medialis-Rücklagerung) besteht nach 3 Monaten im Geradeausblick kein Schielwinkel mehr. Der Patient verfügt über ein Fusionsblickfeld, das um die Primärposition 10° in den Rechts- und Linksblick reicht. An dem guten Ergebnis ist vermutlich die geringere Einschränkung der präoperativen Abduktionsfähigkeit (vergl. ▶ Abb. 5.26) des linken Auges beteiligt, das präoperativ im Linksblick nicht völlig im Lidwinkel verharrt. 601 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.4 Paretisches Schielen Augenmuskeloperationen Falls der Effekt einer Transposition nicht ausreicht, kann eine Medialis-Rücklagerung am nicht betroffenen Auge als korrigierender Zweiteingriff eingesetzt werden (144). Dabei werden vor allem die monokularen Blickfelder beider Augen äquilibriert („artifizielle Blicklähmung“). Die Ergebnisse der operativen Behandlung von Abduzensparesen/-paralysen sind erheblich vom Ausmaß der Schädigung abhängig. Bei Abduzensparesen kann durch kombinierte Operationen zur Verbesserung der Stellung des paretischen Auges bzw. durch Operationen nach dem Prinzip der Gegenparese das Fusionsblickfeld wesentlich vergrößert werden. Ein diplopiefreies Gebrauchsblickfeld ist meist erreichbar. Die Schielwinkelreduktion erreicht 0,8 – 1,0°/ mm Gesamtoperationsstrecke bei reiner Rücklagerung oder Resektion und 1,5 – 2,0°/mm bei kombinierter Augenmuskeloperation. Auch eine Beseitigung der Kopfzwangshaltung wird fast immer erreicht. Bei Abduzensparalysen sind die Ergebnisse schlechter. Kombinierte Operationen am betroffenen Auge mit hohen Dosierungen verbessern den Zustand oft nicht dauerhaft (128, 156, 243). Eine wesentliche Verbesserung von Schielwinkel und Kopfzwangshaltung ist erreichbar, nicht aber eine völlige Beseitigung. Die Ergebnisse nach Muskeltranspositionen sind in der Literatur nicht einheitlich und offenbar sehr von der benutzten Technik abhängig (119, 128, 156, 265). Mit Muskeltranspositionen ist nach eigener Erfahrung häufig ein zwar kleines, aber sehr nützliches Fusionsblickfeld ohne oder mit einer klei- nen Kopfzwangshaltung erreichbar (128). Die Ergebnisse nach Muskeltranspositionen sind meist stabil. Bei beidseitigen Abduzensparalysen sind die Ergebnisse bezüglich der Kopfzwangshaltung bei monokularer Sehweise gut, auch die kosmetische Verbesserung ist befriedigend, binokulares Einfachsehen in alle Blickentfernungen oder gar bei Blickexkursionen ist dagegen ein seltener Erfolg. 5.4.3 Operation bei Retraktionssyndrom Ein der Abduzensparese verwandtes Krankheitsbild, das Retraktionssyndrom von Stilling-Türk-Duane (RS), erfordert ein anderes Vorgehen und deshalb eine Differenzialdiagnose beider Krankheitsbilder. Gemeinsam ist beiden die Einschränkung der Abduktion, das RS zeigt aber eine vom RS-Typ abhängige Kopfzwangshaltung (▶ Abb. 5.28), eine Einschränkung der Adduktion, darüber hinaus Retraktion, Vertikaldeviation und Lidspaltenverengung beim Versuch der Adduktion. Während bei der Abduzensparese vorrangiges Ziel der Operation die Verbesserung der Abduktionsfähigkeit ist, ist es beim RS die Verbesserung der schielwinkelvermeidenden Kopfzwangshaltung. Bei der Operationsindikation muss die Verwechslung eines RS mit einer erworbenen Abduzensparese vermieden werden (▶ Tab. 5.7). Für die Planung einer Operation ist der Wert einer elektromyografischen Untersuchung gering, weil an verschiedenen Stellen desselben Muskels unterschiedliche elektromyografische Befunde erhoben (108, 189) und verschiedenen klinischen Ausprägungen des RS keine bestimmten elektromyografischen Befunde zugeordnet werden können. Eine Typeneinteilung, die auf der Kopfzwangshaltung basiert, erleichtert dagegen die Operationsindikation. linkss. RS Rechtsdrehung beids. RS rechtss. RS Linksdrehung rechtss. RS Rechtsdrehung linkss. RS Linksdrehung 602 Abb. 5.28 Seitenlokalisation und Kopfzwangshaltung beim Retraktionssyndrom nach Stilling-Türk-Duane. Das linksseitige RS mit Kopflinksdrehung ist mit 58 % die weitaus häufigste Ausprägung des RS (135). Rot markiert sind RS des linken Auges. Rechtsgeneigte Schraffur bedeutet Kopfrechtsdrehung, links geneigte Kopflinksdrehung. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Muskels ist zwar bezüglich der Trophik ungefährlich, verspricht aber wenig Erfolg. Falls man sich (z. B. bei jugendlichen Patienten) doch für eine sekundäre Transposition entscheidet, muss mindestens ein Zeitabstand von 6 – 12 Monaten eingehalten werden. 5.4 Paretisches Schielen Merke Das häufigste Retraktionssyndrom ist das linksseitige mit Kopflinksdrehung. Merke Bei deutlicher Retraktion sind Resektionen zu vermeiden. Erforderlich ist die mechanische Entlastung der Horizontalmotoren durch Rücklagerung. Bei sehr großer Kopfzwangshaltung, geringer Retraktion und fehlender Vertikaldeviation kann eine zusätzliche Resektion des M. rectus lateralis hilfreich sein. In allen Fällen mit wesentlicher Retraktion muss aber vor resezierenden Muskeleingriffen gewarnt werden, weil langfristig die Gefahr einer Verstärkung der Retraktion groß ist. Myopexien zur Verbesserung der Vertikaldeviation sind selten nötig. Die Operationsstrecken sind von der Größe des primären Schielwinkels abhängig. 5 Folgendes Vorgehen ist empfehlenswert: Bei RS mit Kopfzwangshaltung in Adduktion: Rücklagerung des M. rectus medialis um bis zu 7 mm bei einem Schielwinkel bis zu 15° und um bis zu 10 mm bei größerem Schielwinkel. Eine präoperative Prüfung der Konvergenz und der Diplopiefreiheit beim Nahblick mit Prismen ist unumgänglich. ● Bei RS mit Kopfzwangshaltung in Abduktion: Rücklagerung des M. rectus lateralis um bis zu 7 mm bei bei einem Schielwinkel bis zu 15° und um bis zu 10 mm bei größerem Schielwinkel. ● Bei einem RS, das durch eine erhebliche Retraktion und Vertikaldeviation imponiert, sollte eine gleichzeitige Rücklagerung beider Horizontalmotoren vorgenommen werden, deren Ausmaß sich nach der Richtung der Kopfzwangshaltung richtet. Bei erheblicher Vertikaldeviation kann in sehr seltenen Fällen eine Myopexie an den Horizontalmotoren hilfreich sein. ● Operationsindikation Eine kausale Therapie des Retraktionsyndoms ist nicht möglich. Ziel der Operation kann nicht die Veränderung der Innervation sein, sondern nur die Milderung der Folgen. Ziele der Operation sind eine möglichst kleine Kopfzwangshaltung bei Fern- und Nahblick und eine Verminderung von Vertikaldeviation, Retraktion und Lidspaltenveränderung. Merke Hauptziel einer Operation ist die Verringerung einer Kopfzwangshaltung. Die eingeschränkte Abduktionsfähigkeit ist kein Grund zur Operation. Der Literatur sind verschiedene Konzepte operativer Therapie zu entnehmen (43, 58, 78, 130, 135, 162, 184, 258). Da alle Symptome einschließlich der Vertikaldeviation durch die wegen fehlender Dehnbarkeit des M. rectus lateralis erhöhte Spannung der Horizontalmotoren erklärt werden können (136, 254, 256, 258, 266), ist die Entlastung dieser Augenmuskeln vordringliches Ziel einer operativen Maßnahme. Fast alle Autoren bevorzugen die Rücklagerung der Horizontalmotoren. Schon Stilling (272) und Duane (58) warnen vor resezierenden Eingriffen, weil sie die Retraktion verstärken würden. Scott (258) schlägt vor, bei deutlichen Vertikaldeviationen Myopexien an den Horizontalmotoren durchzuführen. Die Ergebnisse der operativen Therapie sind abhängig von der Ausprägung der einzelnen Symptome (135). Der Schielwinkel für Ferne und Nähe kann bei über 80 % auf unter 10° verringert werden, in über 60 % sogar auf unter 5°. Ebenso gut sind die Ergebnisse bezüglich der Kopfzwangshaltung. Über 70 % der operierten Fälle zeigen nach 6 Monaten eine Kopfzwangshaltung bei Fernblick von weniger als 10°, in der Regel mit geringerer Kopfzwangshaltung bei Nahblick. Auch Retraktion, Lidspaltenverengung und Vertikaldeviation werden durch die Operation wesentlich gebessert. Die zufrieden stellenden Operationsergebnisse rechtfertigen nicht den Einsatz sehr viel invasiverer Augenmuskelchirurgie, insbesondere der Muskeltranspositionen, der Rücklagerungen mit y-Spaltung oder einer Muskelfixation am Periost (230, 273, 287). 603 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Es werden unterschieden (135): ● Retraktionssyndrom mit Kopfzwangshaltung in Adduktion des betroffenen Auges. Diese Patienten zeigen eine Esotropie bei Kopfgeradehaltung (konvergentes RS nach Lang) (178). In dieser Gruppe sind linksseitige RS wesentlich häufiger als rechtsseitige und stellen mit 58 % die weitaus häufigsten RS. ● Retraktionssyndrom mit Kopfzwangshaltung in Abduktion des betroffenen Auges. Diese Patienten zeigen eine Exotropie bei Kopfgeradehaltung (divergentes RS nach Lang) (178) und besonders häufig eine ausgeprägte Vertikaldeviation (▶ Abb. 5.28, s. auch ▶ Abb. 2.6). In dieser Gruppe sind rechtsseitige RS ebenso häufig wie linksseitige. Augenmuskeloperationen Die Okulomotoriusparese bietet unter allen Augenmuskelparesen die größten Probleme, weil einerseits sehr viele Augenmuskeln an einem oder sogar an beiden Augen betroffen sein können und andererseits sehr häufig andere Augenmuskellähmungen, insbesondere eine Trochlearisparese, gleichzeitig bestehen. Das Spektrum reicht von einer partiellen Okulomotoriusparese, z. B. einer geringen Parese eines einzelnen Muskels über die Parese mehrerer Muskeln an einem oder beiden Augen, die komplette Okulomotoriusparese (bei der zwar alle Muskeln eines Auges betroffen, aber nicht immer völlig gelähmt sind) bis zur totalen Okulomotoriusparalyse mit völligem Funktionsverlust aller Augenmuskeln, die vom N. oculomotorius innerviert sind. Bei der Aufklärung, der Schilderung der Erfolgsaussichten einer Transposition und bei der Indikation ist große Zurückhaltung angebracht. Der Entschluss zur Operation fällt leichter, wenn bei einer Okulomotoriusparese zwar mehrere Augenmuskeln gelähmt sind und ein störend großer Schielwinkel besteht, aber keine komplette Ptosis. Die störende Diplopie legt dann eine operative Schielwinkelverkleinerung nahe. Bei einer vollständigen Ptosis ist die Transposition nur dann sinnvoll, wenn der Patient in Kenntnis der Vor- und Nachteile eine Operation wünscht und bereit ist, nach der Augenmuskeloperation einen Ptosisbügel zu verwenden, was selten der Fall ist. Nur nach diesem Versuch sollte eine Operation der Ptosis erwogen werden, die wegen des fehlenden Bell-Phänomens nicht ungefährlich ist. Merke Merke Unter allen Augenmuskelparesen hat die Okulomotoriusparese die schlechteste Prognose. Diese ist umso schlechter, je mehr Augenmuskeln von einer Parese oder gar einer Paralyse betroffen sind. Falls bei einer Okulomotoriusparese auch eine Ptosis besteht, erfolgt die Augenmuskeloperation vor der Ptosisoperation. Operationsindikation Wegen der äußerst verschiedenen klinischen Ausprägung der Okulomotoriusparesen ist die Indikationsstellung wesentlich komplizierter als bei allen anderen Paresen. Keinesfalls darf eine Zyklotropie übersehen werden. Besteht sie, muss ihre Beseitigung in die Operationsindikation eingehen. Bei einigen Formen der Okulomotoriusparese sind Eingriffe an beiden Augen erforderlich, manchmal in mehreren Sitzungen, um nicht zu viele vordere Ziliararterien gleichzeitig zu unterbinden. Merke Bei Unterbrechung zu vieler Ziliararterien kann eine trophische Störung der Vorderabschnitte resultieren. Zur Vermeidung dieser Komplikationen sind Operationen an mehr als 2 geraden Augenmuskeln kontraindiziert. Bei Revisionsoperationen gilt eine Wartezeit von 6 Monaten als empfehlenswert. An diesen Grenzen scheitert oft die konventionelle operative Versorgung kompletter Okulomotoriusparesen und erst recht die der Paralysen. Gleichzeitige Operationen an den schrägen Augenmuskeln sind nicht schädlich, weil 604 deren Gefäße an der Durchblutung der Vorderabschnitte des Auges keinen wesentlichen Anteil haben (244). Besteht bei einer Okulomotoriusparese auch eine Ptosis, sollten die Augenmuskelparesen aus folgenden Gründen zuerst versorgt werden: ● Falls die Augenmuskeloperation das Ziel der Doppelbildfreiheit in einem ausreichenden Fusionsblickfeld verfehlt, kann auf die Ptosisoperation verzichtet werden. Trotz aller ästhetischen Nachteile ziehen die meisten Patienten eine Ptosis der ständigen Diplopie vor. ● Bei einer Okulomotoriusparese ist die Elevation eingeschränkt. Durch die Minderung des Bell-Phänomens kann das Risiko einer Ptosisoperation erheblich sein. Dieses Risiko lässt sich besser einschätzen, wenn nach operativer Verbesserung der Schielstellung wenigstens zeitweise ein Ptosisbügel getragen wird. ● Falls eine der meistgefürchteten Komplikationen der Augenmuskeloperation, eine Störung der arteriellen Blutversorgung der Vorderabschnitte des Auges, auftritt, ist diese wesentlich besser zu beherrschen bei einem guten (wenn auch leider zu guten!) Lidschluss als bei einer partiellen Lidschlussminderung, die zu den Komplikationen der Ptosischirurgie zählt. Bei der Okulomotoriusparese ist die Injektion von Botulinumtoxin (s. Kap. 5.6) selten indiziert, weil der Antagonist oft ebenfalls gelähmt ist. Die artifizielle Funktionsminderung des einzigen funktionierenden Augenmuskels (M. rectus lateralis) könnte eine Protrusio hervorrufen. Bei einer Parese eines einzelnen geraden Augenmuskels ist die operative Technik einfach: Operationen zur Veränderung der Bulbusstellung werden durchgeführt als Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 5.4.4 Operation bei Okulomotoriusparese 5.4 Paretisches Schielen 5 kombinierte Operationen am gelähmten Muskel und seinem ipsilateralen Antagonisten. Auch hier erfolgt die Dosierung entsprechend einer Schielwinkelreduktion von 1,5° pro mm Gesamtoperationsstrecke. Ist der Effekt dieser Operation unzureichend, kann eine weitere Operation nach dem Prinzip der Gegenparese am anderen Auge durchgeführt werden, entweder als Rücklagerung des kontralateralen Synergisten (bzw. als kombinierte Operation) oder als Myopexie. Eine Myopexie am M. rectus inferior sollte mit Zurückhaltung indiziert werden, weil die Vergrößerung des Fusionsblickfelds mit einer Einschränkung der Depression erkauft wird. Darüber hinaus kann dabei die Innervation des M. obliquus inferior geschädigt werden (s. S. 55). Zusammenfassung Operationsindikation bei Okulomotoriusparese Parese eines geraden Augenmuskels → kombinierte Operation Paralyse eines geraden Augenmuskels → Muskeltransposition Parese/Paralyse des M. obliquus inferior → kombinierte Operation an den Mm.obliqui Okulomotoriusparese mit Fehlregeneration → Prinzip der Gegenparese Parese zweier benachbarter gerader Augenmuskeln → Zügeloperation komplette Okulomotoriusparalyse → Obliquus-SehnenSplitting, Lateralis-Splitting Bei einer Okulomotoriusparese mit Fehlregeneration kann das Prinzip der Gegenparese indiziert sein. Wenn ein großes monokulares Blickfeld des betroffenen Auges mit Exodeviation und Ptosis in Abduktion einhergeht, kann die kombinierte Divergenzoperation am nichtbetroffenen Auge alle Symptome vermindern (▶ Abb. 5.29). Ebenso ist das Prinzip der Gegenparese bei Parese des M. rectus superior mit partieller Ptosis nützlich. In diesen Fällen sollte eine Myopexie am kontralateralen M. rectus superior mit oder ohne gleichzeitige Rücklagerung durchgeführt werden. Die Dosierung richtet sich nach der Prismenstärke, die (vor das nichtparetische Auge gehalten) zu der gewünschten Stellung des paretischen Auges führt. Die Myopexie von 13 mm am M. rectus superior bewirkt eine Verminderung der Vertikaldeviation in Primärposition um max. 5° mit größerer Wirkung im Aufblick. Die Hebungseinschränkung des operierten Auges ist der Preis für die Verbesserung des Fusionsblickfelds bzw. des Schielwinkels und kann zumeist akzeptiert werden. Dieses Vorgehen wird auch bei der kongenitalen Heberparese gewählt, nötigenfalls mit einer kombinierten Operation an den Vertikalmotoren des betroffenen Auges. Bei der Paralyse eines einzelnen geraden Augenmuskels oder, wenn die genannten Eingriffe nicht erfolgreich waren, ist eine Muskeltransposition angezeigt (▶ Abb. 5.30). Die Operation ähnelt der bei Abduzensparalyse (▶ Abb. 5.23). Bei der Transposition muss die Topografie der schrägen Augenmuskeln berücksichtigt werden. Bei einer Paralyse des M. rectus medialis wird das aus dem M. rectus superior gewonnene Transponat unter (bulbusseitig) der Sehne des M. obliquus superior durchgezogen, in analoger Weise wird bei der Paralyse des M. rectus superior verfahren, bei einer Paralyse des M. rectus inferior wird der zu transponierende Teil des M. rectus lateralis unter (bulbusseitig) dem M. obliquus inferior geführt. Eine isolierte Parese/Paralyse des M. obliquus inferior kommt fast nie vor und muss immer von einem BrownSyndrom (s. S. 453) abgegrenzt werden. Die Operation bei Parese des M. obliquus inferior dient vor allem der Beseitigung der Zyklotropie. Wenn eine der Vertikalde- 605 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Abb. 5.29 Patientin mit linksseitiger partieller Okulomotoriusparese und Fehlregeneration. Operation nach dem Prinzip der „Gegenparese“. Oben: im Linksblick deutliche Ptosis, im Rechtsblick geringe Ptosis. Mitte: Zustand nach kombinierter Divergenzoperation am rechten Auge. Unten: Zustand 3 Monate nach der Operation. Augenmuskeloperationen 25°). Operationen bei großen Diskrepanzen zwischen Vertikal- und Zyklodeviation erfolgen in Kombination mit partiellen Ansatzverlagerungen (▶ Abb. 5.16). Abb. 5.30 Patientin mit erheblicher Hypotropie des linken Auges nach Entfernung des M. rectus superior wegen eines Orbitatumors. Oben: präoperativer Schielwinkel. Unten: Zustand nach Transposition von M. rectus medialis und M. rectus lateralis zur Insertion des M. rectus superior. Es besteht noch ein Horizontalwinkel, der mit einem Prisma ausgeglichen ist und später andernorts operiert wurde. viation entsprechende Zyklodeviation besteht, ist immer die Operation an den Mm. obliqui anzuraten. Eine Vorlagerung des M. obliquus inferior mit oder ohne Resektion ggf. in Kombination mit einer Rücklagerung des M. obliquus superior ist in der Regel ausreichend. Die Gesamtoperationsstrecke wird so gewählt, dass 1 mm Gesamtoperationsstrecke etwa 1,5° Schielwinkel entsprechen (gemessen als Vertikaldeviation in Adduktion von In seltenen Fällen besteht eine Parese zweier benachbarter gerader Augenmuskeln ohne Beteiligung des M. obliquus inferior, also auch ohne Zyklotropie. Bei der Auswahl des operativen Verfahrens sollte bedacht werden: ● Da die kombinierte Divergenzoperation mit kombinierter Vertikaloperation am betroffenen Auge wegen der Gefahr einer Vorderabschnittischämie ausscheidet, müssen diese Eingriffe auf beide Augen verteilt werden. Der Nachteil dieses Vorgehens besteht in der großen Zahl zu operierender Augenmuskeln und darin, dass auch das nichtbetroffene Auge operiert werden muss. ● Bei der Zügeloperation (121) (▶ Abb. 5.31, ▶ Abb. 5.32) werden die beiden normal funktionierenden geraden Augenmuskeln so umgelagert, dass sie die Funktion der gelähmten Augenmuskeln teilweise übernehmen. Die Operation an nur 2 geraden Augenmuskeln vermindert sowohl Horizontal- als auch Vertikaldeviation um jeweils mehr als 15° und kann eine wesentliche Verschiebung des Fusionsblickfelds mit entsprechender Verbesserung einer Kopfzwangshaltung bewirken. Die Operation sei am Beispiel einer Parese des M. rectus medialis mit Parese des M. rectus inferior erläutert: Nach radiären Bindehautschnitten im medial-oberen und im medial-unteren Quadranten wird der M. rectus superior Abb. 5.31 Zügeloperation bei Okulomotoriusparese (Parese zweier benachbarter gerader Augenmuskeln) des linken Auges. Zügeloperation nach Kaufmann (121), dargestellt am Beispiel einer linksseitigen Parese des M. rectus medialis und des M. rectus inferior bei intakten anderen geraden Augenmuskeln. Links: Verlagerung des M. rectus superior zum M. rectus medialis (dabei muss das Transponat unter der Sehne des M. obliquus superior hindurchgezogen werden) und des M. rectus lateralis zum M. rectus inferior (dabei muss das Transponat unter der Sehne des M. obliquus inferior hindurchgezogen werden) und Refixation hinter dem Äquator. Rechts: Verbindung beider Transponate und Refixation im unteren nasalen Quadranten hinter dem Äquator. Dieses Verfahren steigert die Effektivität der Zügeloperation. 606 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Der Ersatz der Operation am M. obliquus inferior bzw. seinem Antagonisten durch Operation an den geraden Augenmuskeln (desselben oder des anderen Auges) ist nur zu empfehlen, wenn die Gefahr postoperativer Diplopie nicht besteht, d. h. bei angeborenen Paresen mit sicherer Exklusion oder organisch bedingtem Verlust des Sehvermögens. 5.4 Paretisches Schielen Die alleinige Rücklagerung des M. rectus lateralis (sogar bei einer Rücklagerungstrecke von bis zu 15 mm) reicht in der Regel nicht aus und bewirkt wegen der Funktionsminderung des einzigen noch funktionierenden geraden Augenmuskels eine Protrusio bulbi. Falls bei komplexen Lähmungen wegen der Vielzahl zu operierender Muskeln die Eingriffe für das Auge zu gefährlich erscheinen oder der Patient eine Operation am nichtbetroffenen Auge verweigert, bleibt nur die Möglichkeit der Muskel- bzw. Sehnentransposition, umso mehr, wenn andere Eingriffe erfolglos geblieben sind. Bei kompletter Okulomotoriusparese sind Transpositionen vorteilhaft, weil weniger Augenmuskeln operiert werden als bei konventionellen Operationen. Abb. 5.32 Patient mit linksseitiger partieller Okulomotoriusparese. Zügeloperation. Oben: Parese des M. rectus medialis und des M. rectus inferior. Unten: 6 Monate nach Zügeloperation (Verlagerung des M. rectus superior und des M. rectus lateralis in den medial unteren Quadranten). an seiner Insertion angeschlungen und abgetrennt. Der Muskel wird unter der Sehne des M. obliquus superior und unter dem M. rectus medialis durchgezogen. Der M. rectus lateralis wird nach einem radiären Bindehautschnitt im lateral-unteren Quadranten ebenfalls desinseriert, hinter der Insertion des M. obliquus inferior herumgeführt und auf der Bulbusseite des M. obliquus inferior und des M. rectus inferior ebenfalls in den medial-unteren Quadranten verlagert. Beide Transponate werden miteinander verbunden und dort in 20 mm Limbusabstand skeral fixiert. Der zum M. rectus medialis hin verlagerte M. rectus superior verliert zugunsten der Adduktion an hebender Wirkung und der zum M. rectus inferior verlagerte M. rectus lateralis abduziert weniger, senkt aber das Auge mehr. Da diese Verlagerungen gegensinnig erfolgen, entsteht keine Zyklotropie. Bei einer gleichzeitigen Parese anderer benachbarter gerader Augenmuskeln wird ein analoges operatives Vorgehen gewählt, wobei die Topografie der schrägen Augenmuskeln zu beachten ist. Bei (partiellen) Paresen mehrerer vom N. oculomotorius innervierter Augenmuskeln erfolgt die Indikationsstellung entsprechend den o. a. Prinzipien als Kombination konventioneller Operationen (Vor-/Rücklagerungen, Faltungen). Es kann nötig sein, die Operation auf mehrere Sitzungen zu verteilen, um nicht zu viele vordere Ziliararterien gleichzeitig zu unterbinden. Die operative Veränderung der Stellung des paretischen Auges reicht häufig nicht aus, sodass auch Operationen nach dem Prinzip der Gegenparese am anderen Auge notwendig werden. 5 Bei kompletter Okulomotoriusparese sind die langfristigen Ergebnisse der konventionellen Augenmuskelchirurgie unbefriedigend. Die großen Schielwinkel bei Okulomotoriusparesen stellen den Operateur deshalb vor große Probleme, insbesondere, wenn vorausgegangene konventionelle Augenmuskeloperationen auf Dauer erfolglos geblieben sind. Ziel der operativen Behandlung muss sein, den Bulbus in Adduktion und nach hinten zu ziehen. Solange dauerhaft verträgliche elastische Materialien zur Implantation nicht zur Verfügung stehen, bleibt nur die Möglichkeit einer Muskel- oder Sehnentransposition. Für eine Transposition stehen nur der M. obliquus superior und der M. rectus lateralis zur Verfügung, um bei einem Funktionsausfall von 4 Augenmuskeln eine Verbesserung der Augenstellung zu erreichen. Die Transpositionen dieser Muskeln können einzeln durchgeführt oder kombiniert werden. Merke Okulomotoriusparesen gehen oft mit einer gleichzeitigen Trochlearisparese einher, sodass beide Rotatoren ausgefallen sind und keine Zyklotropie auffällt. Falls keine Parese des M. obliquus superior besteht, kann die Zugkraft dieses Muskel operativ genutzt werden. Bei Okulomotoriusparese ohne Trochlearisparese besteht dagegen eine erhebliche Inzyklodeviation (funduskopisch erkennbar an der Verrollung der Papillen-Makula-Achse). Durch diese Inzyklodeviation kann der M. rectus lateralis zum Heber werden. In diesen Fällen kann eine weite Rücklagerung des M. rectus lateralis mit gleichzeitiger Transposition der Sehne des M. obliquus superior sinnvoll sein, für die 2 unterschiedliche Methoden zur Verfügung stehen: 607 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Merke ● ● Abb. 5.33 Obliquus-superior-Transposition nach WienerPeter bei Okulomotoriusparese. Lösung der Sehne aus der Trochlea und Verlagerung an die Insertion des M. rectus medialis (217, 282). Eine Transposition mit Trochleaspaltung (▶ Abb. 5.33) wurde von Wiener (282), Peter (217, 218) und anderen (75, 242, 245) vorgeschlagen. Dabei wird die Trochlea eröffnet, die gesamte Sehne des M. obliquus superior aus der Trochlea entfernt und am Oberrand der Insertion des M. rectus medialis angelagert. Diese Transposition bewirkt ein außenrollendes Drehmoment. Eine andere Transpositionstechnik hat sich als Obliquus-superior-Sehnensplitting (OSS) (s. ▶ Abb. 5.34) bewährt. Der Vorteil dieser Transpositionstechnik liegt darin, dass sie relativ gefahrlos ist, weil die Sehne des M. obliquus superior keine Gefäße führt. Das gilt auch dann, wenn mehrere Operationen an anderen Muskeln bereits vorausgingen. Diese Transpositionstechnik verursacht keine Zyklotropie, sondern setzt die gesamte Kraft des M. obliquus superior zur Verminderung von Hypotropie und Exotropie ein. Die komplette Sehne des M. obliquus superior wird an der Insertion abgetrennt und bis zur Trochlea in 2 Hälften geteilt (▶ Abb. 5.34). Die hintere Hälfte wird nach Resektion um 10 mm am lateralen Rand der Insertion des M. rectus superior, die vordere Hälfte am unteren Rand der Insertion des M. rectus medialis skleral fixiert (116, 119). Abb. 5.34 a–c Obliquus-superior-Sehnen-Splitting (OSS) bei Okulomotoriusparese (Parese aller NIII-innervierten Augenmuskeln ohne Trochlearisparese). M.-obliquus-superior-Sehnensplitting nach Kaufmann: Die Sehne des M. obliquus superior wird komplett desinseriert. Nach Teilung der Sehne wird das hintere Transponat am lateralen Rand der M.-rectus-superior-Insertion und das vordere Transponat am unteren Rand der Insertion des M. rectus medialis reinseriert (116, 119). a Ansicht von vorn. b Sehne des M. obliquus superior vor der Operation. c Postoperative Lage der transponierten Sehnenhälften. 608 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Augenmuskeloperationen 5.4 Paretisches Schielen Das OSS ist allein nicht in der Lage, die großen Schielwinkel bei einer kompletten Okulomotoriusparese zu beseitigen. Es vermindert Horizontal- und Vertikalschielwinkel um höchstens 15°. Wirkungsvoller ist es, das OSS mit einem Lateralis-Splitting zu verbinden. Die Wirkung der Operation beruht teilweise darauf, dass der verlagerte M. rectus lateralis postoperativ an einer nasalen Insertion nach hinten zieht und eine „adduzierende“ Wirkung entfaltet. Diese Zugrichtung erfordert Anpassungen der passiven orbitalen Gewebe (M. intermuscularis, Check-Ligamente, Rand der Tenon-Pforte) und kann Irritationen der Vortex-Venen bewirken. Merke Wenn bei Okulomotoriusparese Hypotropie und Inzyklotropie fehlen, ist eine gleichzeitige Trochlearisparese wahrscheinlich. In diesen Fällen ist ein Obliquussuperior-Sehnensplitting nicht indiziert. ● ● Eine Verlagerung des gesamten M. rectus lateralis (komplette Lateralis-Transposition) in den nasal-oberen Quadranten wurde von Taylor (274, 275) vorgeschlagen. Gräf u. Mitarb. (97) berichten über gute Ergebnisse mit kompletter Lateralis-Transposition, weisen aber darauf hin, dass bei Verlagerung des kompletten M. rectus lateralis in den nasal-unteren Quadranten eine inzykloduktorische Nebenwirkung entsteht. Die zykloduktorische Nebenwirkung soll das LateralisSplitting (LS) (122) (▶ Abb. 5.35) vermeiden. Beim LS wird der Muskel geteilt. Die Hälften werden auf der nasalen Bulbusseite im oberen bzw. unteren Quadranten refixiert, um unerwünschte Wirkungen auf die Vertikal- und Zyklodeviation möglichst zu verhindern. Nach diagonalen, radiären Bindehautschnitten in beiden oberen und unteren Quadranten wird der M. rectus lateralis freigelegt, bis in die Tenon-Pforte geteilt und desinseriert. Die obere Hälfte wird unter dem M. rectus superior und unter (bulbusseitig) der Sehne des M. obliquus superior durchgezogen und im oberen, nasalen Quadranten neben der Vortex-Vene skeral fixiert. Die untere Hälfte des M. rectus lateralis wird in entsprechender Weise auf der bulbären Seite des M. obliquus inferior und des M. rectus inferior hindurchgeführt und im unteren, nasalen Quadranten neben der Vortex-Vene skeral fixiert. Abb. 5.35 Lateralis-Splitting bei Okulomotoriusparese (Parese aller NIII-innervierten Augenmuskeln, auch mit Trochlearisparese). Lateralis-Splitting nach Kaufmann (122): Teilung des M. rectus lateralis und Verlagerung der Transponate in den medial-oberen und den medial-unteren Quadranten, wo sie hinter dem Äquator fixiert werden (Ansicht von hinten). 5 Der postoperative Befund nach LS zeigt keine wesentliche Zyklotropie und keine wesentliche Veränderung der Bulbuslage in der Orbitaachse, also keine Protrusio bulbi. Merke Das Lateralis-Splitting ist eine Operation an nur einem Augenmuskel und nur mit einem geringen Ischämierisiko verbunden. Der Eingriff ist nur bei Paralysen indiziert, wenn andere Methoden nicht Erfolg versprechend sind. Im eigenen Krankengut konnte mit dem LS an 22 Fällen (präoperativer Schielwinkel -25° bis -60°) dieser Winkel um 30 – 40° vermindert werden (auf +10° bis -15°), wobei in einigen Fällen ein kleines, aber nutzbares Fusionsblickfeld erreicht wurde. Der Eingriff bewirkt keine wesentliche Zyklotropie. Der Effekt auf den Horizontalwinkel ist erheblich, aber nicht dosierbar und musste in einigen Fällen korrigiert werden. Irritationen des Bulbus traten nicht auf oder waren reversibel (126). Das LS bewirkt eine erhebliche Verminderung der Exotropie und bietet den großen Vorteil, auch dann einsetzbar zu sein, wenn Operationen an anderen Muskeln bereits gescheitert sind, ist aber nach Rücklagerung des M. rectus lateralis nicht mehr durchführbar. Die Operation sollte mit einem OSS kombiniert werden, wenn keine Trochlearisparese vorliegt. LS und OSS vermindern lediglich den Schielwinkel und ermöglichen keine brauchbare Motilität. Es entsteht bestenfalls ein kleines Fusionsblickfeld (▶ Abb. 5.36, ▶ Abb. 5.37, ▶ Abb. 5.38). 609 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Wenn Hypotropie und Inzyklotropie fehlen, also eine Okulomotoriusparese mit Trochlearisparese besteht, ist es empfehlenswert, eine Transposition des M. rectus lateralis durchzuführen, also diesen Muskel so zu verlagern, dass er den Bulbus nicht mehr abduziert, sondern möglichst adduziert und in die Orbita hineinzieht. Auch hier stehen 2 prinzipiell unterschiedliche Operationsmethoden zur Verfügung. Augenmuskeloperationen Merke Obliquus-superior-Sehnensplitting und Lateralis-Splitting vermindern den Schielwinkel, ermöglichen aber keine brauchbare Motilität. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Einerseits erfordert die komplette Okulomotoriusparalyse die größten und kompliziertesten Operationen und weist die schlechteste funktionelle Prognose auf. Andererseits ist der Operationswunsch dieser Patienten oft sehr groß. Bei Paresen einzelner Augenmuskeln oder bei inkompletten Okulomotoriusparesen mit günstiger Kombination einzelner Paresen sind gute Ergebnisse erreichbar. Dagegen sind die Ergebnisse meist mäßig bei kompletten Paralysen. Während es mit teilweise komplizierten Eingriffen oft gelingt, den Schielwinkel erheblich zu verringern, erreicht man nur selten Doppelbildfreiheit in einem befriedigenden Bereich. Gerade bei diesen Eingriffen ist die Wahrscheinlichkeit einer Funktionsverbesserung und einer Schielwinkelverkleinerung gegenüber dem operativen Aufwand abzuwägen. Abb. 5.36 Patientin mit linksseitiger Okulomotoriusparese. Lateralis-Splitting. Oben: Motilität des linken Auges nach oben und unten erheblich eingeschränkt. Im Rechtsblick nur geringe Adduktionsfähigkeit des linken Auges. Unten: Zustand nach LateralisSplitting am linken Auge (1. postop. Tag). 610 5.4 Paretisches Schielen Merke Der differenzialdiagnostische Ausschluss eines dekomp. Strab. sursoadductorius ist erforderlich, weil ● die Trochlearisparese weiterer neurologischer Abklärung bedarf, ● wegen einer möglichen Spontanremission mit der Operation abgewartet werden muss. Der Bielschowsky-Kopfneige-Test beweist die Trochlearisparese nur, wenn er in Kopfhebung und -senkung durchgeführt wird und die Vertikaldeviation in Kopfhebung wesentlich größer ist (149). Beweisend für die Trochlearisparese ist die paresetypische Inkomitanz vor allem in Adduktion des betroffenen Auges und das Fusionsblickfeld in Elevation (s. Abb. 3.97, Abb. 3.98). 5 Merke Die beidseitige Trochlearisparese wird häufig übersehen, weil eine deutliche Vertikaldeviation fehlt. Fehlende Diplopie bei Prüfung mit einem Fixierlicht schließt eine beidseitige Trochlearisparese nicht aus! Abb. 5.37 Patient mit rechtsseitiger Okulomotoriusparese. Lateralis-Splitting. Oben: Präoperativ deutliche Exotropie mit Hypotropie des rechten Auges. Mitte: Zustand nach LateralisSplitting am rechten Auge (3. postop. Tag). Unten: Zustand 6 Monate postoperativ. Fusionsblickfeld von 15°, aber mit einer Kopfrechtsdrehung zum Ausgleich der geringen Überkorrektion des Horizontalschielwinkels. 5.4.5 Operation bei Trochlearisparese Die Operationsindikation bei Trochlearisparese erfordert vor allem den differenzialdiagnostischen Ausschluss des wesentlich häufigeren dekompensierten Strabismus sursoadductorius (▶ Tab. 5.8). Präoperativ muss danach gefahndet werden, ob eine beidseitige Trochlearisparese vorhanden ist. Sie ist wohl die am häufigsten übersehene Augenmuskelparese. Tückisch ist, dass die beidseitige Trochlearisparese in keiner Blickrichtung sichtbare, große Schielwinkel aufweist, da die Senkungseinschränkung des rechten und linken Auges sich teilweise aufheben. Bei einer beidseitigen Trochlearisparese resultieren oft maximale Vertikalschielwinkel von 5°, die bei der oberflächlichen Prüfung der Führungsbewegungen übersehen werden können (s. S. 151, s. auch Abb. 2.1, Abb. 3.100, Abb. 3.101). Auch bei der üblichen Prüfung mit Abdecktest oder BagoliniStreifenglas an einem Maddox-Licht wird die Störung nicht erkannt, weil das runde Fixierlicht keine verrollte Diplopie auslöst. Das Fusionsblickfeld ist immer sehr klein und liegt im Aufblick, sodass eine typische Kopfzwangshaltung (Kopfsenkung) besteht. Leitsymptom der beidseitigen Trochlearisparese ist die Diplopie ohne großen Vertikalschielwinkel. Eine beidseitige Trochlearisparese gilt als wahrscheinlich, wenn es im Seitblick zu einem Vorzeichenwechsel der Vertikaldeviation kommt, wenn die Zyklotropie wesentlich größer ist als die Vertikaldeviation, wenn die Zyklotropie 15 – 20° übersteigt oder ein V-Symptom von mehr als 10° vorliegt (127, 146, 147, 149). Die Zyklotropie bei einseitiger Trochlearisparese überschreitet selten 15°, ist bei beidseitiger aber meist deutlich größer. 611 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Es ist empfehlenswert, sich alte Fotos vorlegen zu lassen, auf denen bei DSS die Kopfzwangshaltung meist schon sichtbar ist. Augenmuskeloperationen b c d Abb. 5.38 a–d Patientin mit linksseitiger Okulomotoriusparese. Lateralis-Splitting. a Motilität des linken Auges nach oben und unten erheblich eingeschränkt. Im Rechtsblick nur geringe Adduktionsfähigkeit des linken Auges. b Zustand nach Lateralis-Splitting am linken Auge (1. postop. Tag). c Nach 3 Monaten besteht im Geradeausblick kein Horizontalschielwinkel, aber eine geringe Hypotropie und eine mäßige Ptosis des linken Auges, deretwegen eine weitere Operation geplant wird. d Zustand am 2. Tag nach Rücklagerung des M. rectus superior (8 mm) am rechten Auge zur Verkleinerung der Vertikaldeviation und Erweiterung der linken Lidspalte. Tab. 5.8 Differenzialdiagnose Trochlearisparese – dekompensierter Strabismus sursoadductorius. 612 Trochlearisparese Dekompensierter Strabismus sursoadductorius Beschwerden plötzlicher Beginn über Jahre zunehmend Kopfhaltung Neigung zur gesunden Seite, oft mit Kopfsenkung, bewusst Neigung zur gesunden Seite, abends zunehmend unbewusst größte Vertikaldeviation in Adduktion, bei Abblick größer in Adduktion bei Abblick und Aufblick etwa gleich groß Fusionsblickfeld größer in Elevation größer in Abduktion vertikale Fusion in der Regel bei frischer Parese gering in der Regel groß Zyklodeviation (subj. Messung über über Diplopie/Konfusion) etwa so groß wie die größte Vertikaldeviation, nach diagn. Okkl. unverändert in der Regel kleiner als die größte Vertikaldeviation, nach diagn. Okkl. oft größer Zyklodeviation (obj. Messung, z. B. Perimetrie/Funduskopie) etwa so groß wie subjektiv gemessene Zyklodeviation oft größer als subjektiv gemessene Zyklodeviation subj. Horizontale bei frischen Paresen der Zyklodeviation entsprechend geneigt nicht geneigt Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. a 5.4 Paretisches Schielen Eine beidseitige Trochlearisparese ist wahrscheinlich, wenn ● verrollte Diplopie ohne äußerlich auffälligen Schielwinkel vorliegt, ● die Zyklodeviation > 15 – 20° beträgt, ● im Seitblick ein Vorzeichenwechsel der Vertikaldeviation vorhanden ist. Operationsindikation Die Operationsindikation muss berücksichtigen, dass neben der Verbesserung der auffälligen Vertikaldeviation vor allem die Verminderung der Zyklotropie mit entsprechender Kopfzwangshaltung das Operationsziel ist. Bei der Diagnose ist deshalb unumgänglich, möglichst genauen Aufschluss über das Defizit der einzelnen Teilkomponenten (Zyklo-, Vertikal-, Horizontaldeviation) des M. obliquus superior zu erhalten. Eine diagnostische Okklusion (1 – 2 Tage) ist empfehlenswert (s. dekompensierter Strabismus sursoadductorius, s. S. 587, S. 589). Die Literatur enthält zahlreiche Vorschläge zur operativen Behandlung der Trochlearisparese (1, 5, 15, 26, 68, 119, 127, 142, 146, 147, 148, 149, 237, 252, 253). Die operative Veränderung der Stellung des paretischen Auges wird durchgeführt als Vorlagerung24 bzw. Faltung des M. obliquus superior oder als Rücklagerung des M. obliquus inferior (s. ▶ Abb. 5.5). Diese Operationsmethoden verbessern Zyklodeviation und Vertikaldeviation und sind deshalb Eingriffen an den geraden Vertikalmotoren vorzuziehen. Die kombinierte Obliquus-Operation (Vorlagerung/Faltung des M. obliquus superior mit gleichzeitiger Rücklagerung des M. obliquus inferior) ist effektiver und bewirkt eine Reduktion der Vertikaldeviation in Adduktion von etwa 1,5 – 2°/mm Gesamtoperationsstrecke (124, 146, 147, 148, 149). Die kombinierte Operation an den schrägen Augenmuskeln erlaubt geringere Verkürzungen der Sehne des M. obliquus superior und vermindert die Gefahr eines „postoperativen Brown-Syndroms“. Merke Ein „postoperatives Brown-Syndrom“ (s. S. 565) ist Folge einer zu großen Verkürzung der Sehne des M. obliquus superior. Verkürzungen um mehr als 10 mm (d. h. Faltungen um mehr als 2 × 5 mm) sollten vermieden werden. Empfehlenswert ist folgendes Vorgehen: Methode der Wahl bei Trochlearisparese ist die Faltung des M. obliquus superior und die Rücklagerung des M. obliquus inferior. Operationen nach dem Prinzip der Gegenparese (Rücklagerung oder Myopexie am kontralateralen M. rectus inferior) sind als Ersteingriff nicht zu empfehlen, weil sie die Zyklotropie und die dadurch verursachte Kopfneigung wenig beeinflussen. Bei einseitiger Trochlearisparese und einer Vertikaldeviation bis max. 10 – 12° (in Adduktion von 25°) sollte eine Rücklagerung des M. obliquus inferior (oder eine Faltung der M.-obliquus-superior-Sehne) durchgeführt werden. Bei einer Vertikaldeviation von mehr als 12° ist eine kombinierte Obliquus-Operation (Rücklagerung des M. obliquus inferior und gleichzeitige Faltung der M.-obliquus-superior-Sehne) vorzuziehen (s. ▶ Abb. 5.5). Rücklagerung oder Vorlagerung bedeutet Verlagerung in Muskelzugrichtung, nicht Änderung des Limbusabstands. 5 Reine Vorderrandchirurgie zur Verbesserung einer Zyklodeviation zeigt eine geringere Reduktion der Vertikaldeviation entsprechend dem verlagerten Anteil an der gesamten Muskelbreite. Reine Vorderrandchirurgie mit Ansatzverlagerung (102) wird bei beidseitigen Trochlearisparesen eingesetzt, um den am meisten störenden Fehler, die Zyklotropie, zu vermindern (5, 15, 102, 252). Bei diesem Verfahren kann ein V-Symptom zurückbleiben mit einer störenden Esotropie im Abblick, die dann eine beidseitige Rücklagerung des M. rectus medialis erfordern kann. Merke Die Verkürzung der Sehne des M. obliquus superior und die Rücklagerung des M. obliquus inferior sind bezüglich ihrer Effektivität hinsichtlich der Vertikaldeviation (0,8 – 1,0°/mm) gleichwertig, die Rücklagerung des M. 24 obliquus inferior ergibt aber einen dauerhafteren Effekt. Die Effektivität dieser Eingriffe bezüglich der Zyklodeviation ist etwas geringer (26). Bei beidseitiger Trochlearisparese sollte auch die Operation primär beidseits durchgeführt werden. Die Operationsdosierung wird an dem Ausmaß von Zyklotropie und V-Symptom ausgerichtet. Bei einer Vertikaldeviation bis zu 6° (in Adduktion von 25°), einer Zyklotropie bis zu 16° und einem V-Symptom bis zu 12° genügt die beidseitige Rücklagerung des M. obliquus inferior (oder Faltung der M.-obliquus-superior-Sehne), wobei die gesamte Operationsstrecke an beiden Augen mit 1 mm/° für die Zyklotropie bemessen wird. Bei größeren Deviationen sind 613 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Merke