SWR2 Aula

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Der zündende Funke im Kopf
Geheimnis Kreativität
Von Rainer M. Holm-Hadulla
Sendung: Sonntag, 15. November 2015
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
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Ansage:
Mit dem Thema: "Der zündende Funke im Kopf – Geheimnis Kreativität".
Wir wissen zwar viel über die Produkte von Genies, seien es nun Gemälde, Sonaten,
Romane oder Plastiken. Aber wir wissen immer noch wenig darüber, wie Kreativität
entsteht und genau funktioniert, wie die psychologischen, die genetischen und
neurowissenschaftlichen Grundlagen aussehen, warum der eine äußerst kreativ, der
andere aber immer nur mittelmäßig ist. Professor Rainer Holm-Hadulla,
Kreativitätsforscher und Professor für Psychotherapeutische Medizin an der
Universität Heidelberg, zeigt und analysiert die vielen Gesichter der Kreativität.
Rainer M. Holm-Hadulla:
Kreativität ist in aller Munde: Wir hören, dass wir sie von der frühen Kindheit bis ins
hohe Alter fördern sollen. Das Schöpferische ist nicht länger den Künsten
vorbehalten, sondern auch in Politik und Wirtschaft sind kreative Problemlösungen
gefragt. Selbst die Alltagsgestaltung wird zur kreativen Aufgabe. Wie wir unseren
morgendlichen Espresso trinken, ob wir ihn eilig herunterschütten und einen sauren
Magen bekommen oder ob wir seinen Duft einatmen, an den Traum aus der
vergangen Nacht denken oder an das Lächeln eines lieben Menschen: Das ist
gelebte Kreativität, sie ist ein Lebenselixier. Diese alltägliche Kreativität unterscheidet
sich von außergewöhnlicher Kreativität durch einen Umstand: Außergewöhnliche
Kreativität führt zu Werken, die auch für Andere bedeutungsvoll sind.
Allerdings sind die Vorstellungen, wie Kreativität entsteht, oft unklar. Es wird leicht
ignoriert, dass sie Licht- und Schattenseiten hat. Sie stellt sich nicht von selbst ein
und löst oft Spannungen aus, die schwer erträglich sein können. Man muss sie sich
erarbeiten und viele Hindernisse auf dem Weg zu einem schöpferischen Leben
bewältigen. Auch wird gerne übersehen, dass sich kreative Prozesse in
Wissenschaft und Kunst, Ökonomie und Politik sowie im Alltagsleben erheblich
unterscheiden. Deswegen möchte heute ich das derzeit verfügbare
neurobiologische, psychologische und kulturelle Wissen zusammenfassen und
daraus Konsequenzen für die praktische Förderung der Kreativität ziehen.
Die am häufigsten zitierte Definition der Kreativität bezieht sich auf die "Erschaffung
neuer und brauchbarer Formen". Daraus folgt, dass Kreativität eine Eigenschaft
lebender Systeme ist, die sich in einem beständigen Austausch mit ihrer Umwelt
befinden. In diesem dynamischen Austauschprozess entwickeln und verändern sie
ihre Form. Dabei sind sie inneren und äußeren Zerstörungsprozessen ausgesetzt.
Dies ist auch eine kulturelle Leitidee. Eine kurze kulturgeschichtliche Überlegung
verdeutlicht, dass das Schöpferische nicht aus spannungsloser Muse entspringt,
sondern aus einem Kampf zwischen widerstreitenden Mächten. In Mythen,
Religionen und Weisheitslehren, in denen sich Menschen über sich selbst und ihre
Stellung in der Welt verständigten, erscheint das Schöpferische als Kampf zwischen
konstruktiven und destruktiven Regungen. Ich habe dies in meinem Buch "Kreativität
zwischen Schöpfung und Zerstörung" ausführlich beschrieben. Zum Beispiel
bekämpft im alten Ägypten der Mensch durch Arbeit und religiöse Rituale eine
beständige Gravitation zum Chaos. In China verbindet sich mit Konfuzius die
Vorstellung, dass beständige menschliche Aktivität notwendig sei, um die Tendenz
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zum sozialen und sittlichen Verfall zu verhindern. In den indischen Hochkulturen ist
die Leitidee vorherrschend, dass widerstreitende Mächte die Welt in Bewegung
halten. In der Bibel gibt es nicht nur einen Gott, der das Seiende erschafft, sondern
auch ein zerstörerisches Prinzip, verkörpert im Teufel. Goethe fasst dies mit feiner
Ironie zusammen: "Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen/ Er liebt sich
leicht die unbedingte Ruh/ Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu/ Der reizt und
wirkt und muss als Teufel schaffen". Das Kreative wird also nicht nur als schöne
Gabe, sondern als Ausdruck eines ewigen Konflikts aufgefasst.
Die Bewältigung dieses Konflikts geschieht in einem Wechselspiel zwischen aktivem
Gestalten und passivem Geschehen-Lassen. Creavit – er schuf – das erste Verb der
Bibel, intoniert die Vorstellung von Kreativität als Schöpfungsakt, der individuell,
unabhängig und einzigartig ist. Diese Vorstellung hat sich besonders in der
westlichen Welt zu einer Leitidee entwickelt: Geniale Menschen schaffen – vom
göttlichen Funken beseelt oder den Musen geküsst – außergewöhnliche Werke.
Wortgeschichtlich klingt in Kreativität aber noch eine andere Vorstellung an:
Crescere, das so viel wie Wachsen und Geschehen-Lassen bedeutet. Menschen
sind nicht nur durch ihre einzigartige Aktivität schöpferisch, sondern fügen sich durch
ihr kreatives Tun in einen natürlichen und gesellschaftlichen Prozess ein. Im
Gegensatz zu westlichen Idealen der kreativen Individualität und Originalität herrscht
zum Beispiel im Alten China die Vorstellung, dass sich Kreativität in einem kollektiven
und imitatorischen Prozess ereignet. Nicht der ist ein erfolgreicher Künstler,
Gelehrter oder Politiker, der individuell und originell ist, sondern derjenige, der sich
am besten in die Tradition einfügt und der Gemeinschaft unterordnet. Philosophisch
ist die Dialektik von aktivem Tun und passivem Geschehen-Lassen in der westlichen
Welt spätestens seit Heraklit einflussreich. Die Vergänglichkeit gewohnter
Ordnungen wird nicht nur als bedrohlich erlebt, sondern verheißt auch Entwicklung
und Fortschritt.
Neurobiologisch weiß man heute Folgendes: Embryonen und Säuglinge empfangen
beständig Eindrücke aus ihrer Innen- und Außenweltwelt. Diese Reize werden nicht
nur passiv gespeichert, sondern das Gehirn entwickelt sich in einer dynamischen
Interaktion mit der Umwelt. Es ist keine metaphorische Übertreibung zu sagen, dass
jedes Baby seine Welt komponiert. Aus der Säuglingsforschung wissen wir, wie
wichtig für die Entwicklung des werdenden Selbst das Angeschaut- und körperliche
Beantwortet-Werden ist. Diese frühen Anerkennungsprozesse sind von lebenslanger
Bedeutung. Sie sind allerdings niemals vollkommen und Frustrationen führen, wenn
sie nicht zu stark ausgeprägt sind, zu kreativen Aktivitäten.
Neuronale Netzwerke entstehen durch die Selbstorganisation des Gehirns in engem
Zusammenspiel mit der körperlichen Innenwelt und sozialen Umwelt. Dabei werden
Ereignisse neuronal geordnet und als Erinnerungen abgespeichert. Im kreativen
Prozess werden diese Ordnungen, ohne die nichts Neues entstehen kann, labilisiert
und neu kombiniert. Wahrnehmen, Erinnern, Denken, Phantasieren und Träumen
sind kreative Prozesse, die die Reifung des Gehirns stimulieren und in enger
Wechselwirkung mit einer fördernden Umwelt stehen. Selbst im hohen Alter lässt
sich nachweisen, dass kreative Tätigkeiten die Hirnfunktion anregen und die
neuronale Plastizität begünstigen.
Neurobiologisch lässt sich Kreativität als "Neuformierung von vorgegebenen
Informationen" definieren. Diese Informationen müssen neuronal gespeichert sein,
damit sie neu und originell kombiniert werden können. Es genügt nicht, wenn sie
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irgendwo im Internet vorhanden sind. Selbst das Singen eines einfachen Lieds
benötigt musikalische Kenntnisse und sprachliche Fähigkeiten, die erlernt und aus
neuronalen Erinnerungssystemen abrufbar sind.
Neben gespeichertem Wissen und Können benötigt kreatives Denken und Handeln
aus neurobiologischer Sicht ruhige Freiräume, in denen das Erlernte neu kombiniert
werden kann. Im Ruhemodus des Gehirns finden selbstorganisierende Prozesse
statt, die gespeicherte Information zu neuen Mustern kombinieren. Dieser Modus
geht oft mit Unlustgefühlen einher, besonders, wenn die erwartete Lösung noch nicht
gefunden ist. Lustgefühle und Flow stellen sich erst ein, wenn diese Spannungen
überwunden werden und zu neuen und brauchbaren Ergebnissen führen. Dies ist
eine neurobiologische Entsprechung zu der vielbeschriebenen Erfahrung, dass
kreative Tätigkeiten nicht nur Spaß machen, sondern mit Anstrengung und oft auch
inneren Zerreißproben verbunden sind.
Die psychologische Kreativitätsforschung unterscheidet nun fünf Grundlagen der
Kreativität: Begabung, Wissen, Motivation, Persönlichkeitseigenschaften und
Umgebungsbedingungen.
Erstens: Begabungen, sie lassen sich nicht züchten, sondern man muss sie
entdecken. Das gelingt nur, wenn Spielräume zu ihrer Entfaltung vorhanden sind.
Formale oder kristallin genannte Intelligenz ist nicht unwichtig. Andere bedeutsame
Faktoren sind besondere Denkstile, zum Beispiel flüssiges Denken sowie spezielle
Talente. Das subtile Zusammenspiel von konzentriertem mit assoziativem Denken
bei der Realisierung von Begabungen geschieht meist unbewusst. Es kann aber
auch, z. B. durch Achtsamkeitsübungen gezielt trainiert werden.
Ohne Wissen und Können werden keine neuen Werke erschaffen. Allerdings hängt
deren Bedeutung von den spezifischen Erfordernissen der kreativen Domänen ab.
Mathematische Höchstleistungen sind schon in frühen Lebensphasen möglich,
komplexe kulturwissenschaftliche Werke benötigen viel Wissen und werden
deswegen oft erst im mittleren und höheren Lebensalter erschaffen. Je komplexer
das Werk, desto wichtiger ist ein gutes Gedächtnis. Auch psychologisch ist es
offensichtlich, dass nur das in Erinnerungssystemen Gespeicherte kreativ neu
kombiniert werden kann. Dies bestätigen kulturelle Erfahrungen: Mozart verfügte
über ein wunderbares Gedächtnis für musikalische Formen, Goethe konnte schon
als Kind Predigten frei rezitieren und Picasso war ein Meister im akribischen
Kopieren des einmal Gesehenen. Deswegen ist die Schulung des Gedächtnisses so
wichtig. Es ist eine narzisstische Illusion zu glauben, dass Kreativität aus dem Nichts
entstehe. Deswegen sind gerade auch außergewöhnlich Kreative besonders fleißig.
Als dritte psychologische Grundlage der Kreativität folgt nach Begabung, Wissen
bzw. Können die Motivation. Das intrinsische Interesse, die d. h. die Motivation, sich
einer Sache leidenschaftlich um ihrer selbst willen zu widmen, ist ein
Schlüsselbegriff. Durch viele Untersuchungen wurde bestätigt, dass die Erfüllung
einer anspruchsvollen Aufgabe in sich eine größere Befriedigung darstellt als äußere
Belohnung. Um sich auf eine Aufgabe einzulassen, muss man es ertragen können,
sich selbst zu vergessen. Die Fähigkeit allein zu sein, um Einfälle geduldig
auszuarbeiten, leitet über zu den kreativen Persönlichkeitseigenschaften.
In biografischen Analysen kreativer Individuen fällt immer wieder ein Wechselspiel
von Eigensinn und Anpassungsfähigkeit auf. Albert Einstein ist eines von vielen
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Beispielen, die ich in dem Buch "Kreativität – Konzept und Lebensstil" beschrieben
habe. Er konnte abwechselnd konzentriert, um nicht zu sagen akribisch arbeiten und
sich dann wieder träumerisch seinen Einfällen überlassen. Auch bei Dichtern,
bildenden Künstlern und Musikern findet sich ein eigentümliches Wechselspiel von
Neugier und Offenheit gegenüber Eigensinn und Abschottung. Widerstandsfähigkeit,
in der modernen Psychologie als Resilienz bezeichnet, ist ein wesentliches
Charakteristikum kreativer Persönlichkeiten. Entwicklungspsychologisch wissen wir,
dass sich Widerstandsfähigkeit ohne – lösbare – Stresserfahrungen nicht entwickelt.
Damit kommen wir zu den kreativen Umgebungsbedingungen. Eine günstige
Umgebung erlaubt die Entfaltung von Talenten, indem sie Strukturen zur Verfügung
stellt, in denen Wissen und Fertigkeiten erworben werden können. Gleichzeitig bietet
sie Freiräume, in denen das Gelernte neu kombiniert werden kann. Dabei helfen
anerkennende Begleiter. Mit dem aus der frühen Kindheit stammende und bis ins
hohe Alter sich erhaltende Bedürfnis nach Anerkennung ist nicht das Streben nach
oberflächlicher Belobigung, sondern der elementare Wunsch nach Bindung und
Resonanz gemeint. Mozart, Goethe und Picasso fanden diese Resonanz reichlich.
Ihre Mütter und Väter gaben ihnen emotionalen Rückhalt, stellten aber auch
erhebliche Anforderungen. Die Pädagogik schwankt seit ihrem Beginn zwischen
strukturierender Erziehung und freier Entwicklung. Von beidem ist es leicht zu wenig
oder zu viel. Deswegen müssen Eltern, Kitas, Schulen und die weiteren
Bildungseinrichtungen das Gleichgewicht zwischen Struktur und Freiraum für jeden
immer wieder neu austarieren. Das gilt auch für die individuelle Arbeitsorganisation.
Selbstverständlich setzen sich auch viele Talente in widrigen
Umgebungsbedingungen durch. Die Pop-Ikone Madonna erlebte als kleines
Mädchen, wie ihre Mutter während der sechsten Schwangerschaft an Brustkrebs
erkrankte und kurz nach der Geburt des Kindes starb. Die damals fünfjährige
Madonna reagierte auf ihr schweres Schicksal mit leidenschaftlichem Tanztraining,
weil sie nicht anders überleben konnte. In "Like a Prayer", einem ihrer ersten Songs,
transformiert sie kreativ ihren Schmerz in eine frühkindliche Näheerfahrung. "Life is a
mystery, everyone must stand alone" – Leben ist ein Rätsel, jeder steht allein. Aber
wenn du meinen Namen rufst, fühle ich mich zu Hause. Es ist wie ein kleines Gebet,
ich kniee nieder, bin bei Dir und kann Deine Kraft spüren. Du klingst wie ein
seufzender Engel und es ist als würde ich fliegen …"
Die Verwandlung von Verzweiflung und Chaos in Poesie, Wissenschaft oder
praktische Tätigkeit ist ein die Kulturgeschichte prägendes Thema. Aus einer tiefen
Depression erwacht, dichtet Rilke "Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen
Anfang, den wir gerade noch ertragen können". Selbst die extrovertierte Rebellion
eines Mick Jagger ist getragen von der melancholischen Verarbeitung von
Enttäuschung und Schmerz: In "Paint it black" besingt er die schwarze Melancholie,
und in Songs wie "Love in vain" verleiht er, getragen von sehnsüchtigen BluesAkkorden, Liebesschmerzen Ausdruck wie es die großen Dichter vor und nach ihm
getan haben. Die Transformation leidvoller Erfahrungen in Text und Musik
ermöglichen anerkennende Begleiter. Bei Mick Jagger waren es zunächst die Eltern,
später sein Künstlerfreund Keith Richard und Musen wie Marianne Faithful.
Nachdem ich die Grundlagen Begabung, Wissen, Können, Motivation,
Persönlichkeitseigenschaften und Umgebungsbedingungen beleuchtet habe, möchte
ich nun den kreativen Prozess schildern. Dieser lässt sich in fünf Phasen
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untergliedern, und zwar: Vorbereitung, Inkubation, Illumination, Realisierung und
Verifikation.
Die Vorbereitungsphase beinhaltet den Erwerb des für eine kreative Erneuerung
notwendigen Wissens und Könnens. Sie unterscheidet sich in verschiedenen
kreativen Domänen erheblich. Ein Gedicht kann man schon mit 18 Jahren schreiben,
das sprachliche Vermögen ist meist ausreichend, um seinen Emotionen kreativen
Ausdruck zu verleihen. Um eine wissenschaftliche Innovation hervorzubringen, muss
man hingegen lange studieren, im geeigneten Forschungslabor unter geeigneten
Bedingungen jahrelang arbeiten. Erst dann kann man den Artikel schreiben, der
möglicherweise zu einem kreativen wissenschaftlichen Mosaikstein wird. Diese
Einsicht muss man ertragen können. Ähnlich lange Wege müssen politisch aktive
Persönlichkeiten gehen. Die künstlerische Kreativität ist in dieser Hinsicht meist
leichter, in anderen Hinsichten aber auch schwieriger, z. B. in der nächsten Phase,
der Inkubation.
Fast alle Kinder sind spontan kreativ. Sie phantasieren, bilden schon als Säuglinge
eigene Töne, später malen sie und basteln. Um etwas Außergewöhnliches zu
produzieren, gerät man jedoch in Spannung. Man stößt auf Schwierigkeiten und
scheitert gelegentlich Manchen gelingt es, die Spannung des Noch-Nicht, häufig
unterstützt von verständnisvollen Begleitern, zu ertragen und sich der kreativen
Inkubationsphase auszusetzen. In ihr entwickelt sich das Gelernte unbewusst zu
neuen Formen, etwas Neues und Brauchbares wird ausgebrütet. Unterbricht man
diese mitunter quälende Suchbewegung durch mediale Ablenkung oder sucht die
Spannung durch übermäßigen Alkohol oder Drogen zu manipulieren, wird die
kreative Inkubationsphase, die von einem ungestörten neuronalen Ruhemodus
abhängig ist, unterbrochen oder gar zerstört. Deswegen ist für die kreative
Entwicklung sowohl der kompetente Umgang mit Medien als auch das Bewusstsein
wichtig, dass es keine Kreativität fördernde Drogen gibt. Kreative Leistungen
kommen nicht wegen, sondern – manchmal – trotz Drogenkonsums zu Stande.
Die dritte Phase, die kreative Illumination, verbindet man gerne mit dem "Heureka"
und "Aha-Erlebnis". Sie wird häufig überschätzt. Neue Ideen entstehen ständig, die
meisten bleiben unbewusst. Es kommt darauf an, den geeigneten Einfall
auszuwählen und auf die anderen zu verzichten. Noch wichtiger ist, die ausgewählte
Inspiration auch auszuarbeiten. Dies geschieht in der vierten, der
Realisierungsphase.
Die Realisierungsphase ist zumeist die schwierigste. Die Ideenproduktion ist für viele
kein Problem, aber der Verzicht auf die Beschäftigung mit anderen Dingen und die
konzentrierte Arbeit verlangen Geduld. Wir wissen, dass es Zeit benötigt, um in einen
Zustand des Arbeits-Flow zu kommen. In dieser Spannung ist es verführerisch, sich
ablenken zu lassen, z. B. schnell einmal die Mails zu checken oder im Internet zu
surfen. Dabei geht das Thema verloren und wir kommen nicht weiter. Große Studien
zeigen, dass die Abnahme von kreativem Denken in den letzten zwanzig Jahren mit
dysfunktionalem Mediengebrauch korreliert. Außergewöhnlich Kreative können die
Spannungen der anstrengenden Realisierungsphase ertragen und sich diszipliniert
auf die kreative Herausforderung einlassen. Goethe fasste das wieder einmal
prägnant zusammen: Es gibt kein Genie ohne produktiv fortwirkende Kraft. Kreative
Talente, die nicht diszipliniert arbeiten und den kreativen Stress durch übermäßigen
Alkohol und Drogen lindern, scheitern früh: Tragische Beispiele sind Amy Winehouse
und Jim Morrison.
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Die fünfte Phase des kreativen Prozesses, die Verifikation, bezeichnet die Bewertung
und Veröffentlichung des Produkts. Auch sie kann krisenhaft sein, wenn wir nicht die
Resonanz und Anerkennung finden, die wir benötigen. Mangel an Anerkennung,
aber auch Angst vor dem eigenen Erfolg und dem Neid der anderen führen zum
Rückzug. Oberflächlicher Hedonismus, z. B. durch Cannabiskonsum, ist beliebt, um
diesen Spannungen auszuweichen. Der Preis ist hoch, die Kreativität leidet, aber
man merkt es nicht.
Die Kreativitätsentwicklung bedarf je nach Lebensalter unterschiedlicher Anreize und
Umgebungsbedingungen. Im Säuglings- und Kleinkindalter sind sichere Bindungen
und Zuwendung von elementarer Bedeutung. Bei sicheren Bindungen beginnen
Kinder schon früh in ihrem Leben frei und eigenständig zu phantasieren und zu
spielen. Sie benötigen hierfür geschützte Freiräume und kompetente Anerkennung.
Kompetente Anerkennung ist die beste Begabungsförderung: Sie unterbreitet
angemessene Angebote und fördert die sichtbar werdenden Talente. Der liebevolle
und anerkennende Blick der Mutter und anderer Betreuungspersonen ist ein
wesentliches Stimulans der kreativen Entwicklung. Diese verinnerlichten
Beziehungserfahrungen werden später weiterentwickelt und modifiziert.
Die Pubertät ist eine Phase des kreativen Umbruchs, die junge Menschen und ihre
Umgebung häufig vor Zerreißproben stellt. So wie sich das Gehirn neu organisiert,
Nervenfasern alte Strukturen verlieren und neue aufbauen, so bildet sich das
körperliche und soziale Selbst in neuer Weise. Auch in dieser Phase geht es darum,
Begabungen, Wissbegierde und Motivationen flexibel zu fördern. Die Freiräume für
eigensinnige Intuition wie auch diszipliniertes Lernen müssen immer wieder neu
ausbalanciert werden. Das setzt sich fort in Ausbildung und Studium und kulminiert
im reifen Erwachsenenalter in einem Übermaß an Verpflichtungen: Die berufliche
Karriere wird geschmiedet, Beziehungen werden verbindlicher und Familien
gegründet. In dieser Zeit verlieren Personen häufig ihre kindliche Spielfreude und
ihre adoleszentäre Originalität. Sie werden persönlich gefestigter und sozial
integrierter, zahlen jedoch oft den Preis, dass ihre kreativen Ressourcen versiegen.
Wenn es gut läuft, finden sie jedoch Freiräume und können diese auch nutzen.
Das Älter-Werden sollten wir nicht nur als einen Verlust von körperlichen und
geistigen Fähigkeiten auffassen. Es ist eine Chance, die schöpferischen
Dimensionen des Lebens achtsam zu genießen. Untersuchungen zeigen, dass ältere
Menschen häufig zufriedener sind als junge. Sie können die Wirklichkeit mit ihren
traurigen und schönen Seiten gelassener verarbeiten. Kreatives Altern geht mit
verbesserter neuronaler Plastizität und gesteigertem Wohlbefinden einher.
Außerdem sind komplexe Werke wie z. B. Opern erst im fortgeschrittenen Alter
möglich. Wenn Guiseppe Verdi und Richard Wagner wie Jannis Joplin und Jimmy
Hendrix bereits mit 27 Jahren gestorben wären, wüsste man heute kaum etwas von
ihnen. Sie haben zwar früh begonnen, ihre großen Werke aber erst in mittlerem
Lebensalter erschaffen und dann noch jenseits der sechzig zu weiterer künstlerischer
Vollendung gefunden. Mein philosophischer Lehrer Hans-Georg Gadamer hat seine
besten Aufsätze zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr geschrieben.
Die Konsequenzen für die Förderung von Kreativität möchte ich abschließend
zusammenfassen: Kreativitätsförderung geschieht immer in einem Wechselspiel von
strukturiertem Lernen und freiem Gestalten. Disziplin kann über Motivationstiefs
hinweghelfen und die Widerstandfähigkeit stärken. Achtsamkeit für individuelle
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Eigentümlichkeiten ist wichtig. Schon kleine Kinder haben originelle Denkstile, die
man ihnen bitte nicht austreiben sollte. Das sich selbst steuernde System des
Gehirns ist so kostbar, dass wir es nicht manipulieren, sondern frei funktionieren
lassen sollten. Deswegen ist es wichtig, uns gegen einen Überfluss von
Informationen, die wir nicht verarbeiten können, zu schützen. Jede wichtige
Erfahrung benötigt Nachdenken und Nachempfinden. Dies geschieht im Ruhemodus
des Gehirns oder anders ausgedrückt in der gelassenen Aufmerksamkeit der
Psyche. Beim freien Assoziieren und Träumen, beim Spazierengehen, Joggen und
Schwimmen und in sonstigen Freiräumen kann das bestehende Wissen am besten
neu kombiniert werden. Für die Realisierung des Neuen und Brauchbaren sind
anerkennende Umgebungen nötig. Das beginnt mit einfühlsam interessierten Eltern
und kompetenten Erziehern. Sie geben Strukturen vor, lassen aber auch Freiräume
für originellen Eigensinn, selbst wenn sie diesen nicht nachvollziehen können. Der
neunjährige Albert Einstein wurde von seinem Kindermädchen als der "Depperte"
bezeichnet, weil er verträumt auf der Couch liegend darüber nachsann, warum die
Kompassnadel nach Norden zeigt. Später erlaubten ihm sein Eigensinn, aber auch
das erlernte Wissen und seine Disziplin, sich die euklidische Geometrie selbständig
zu erarbeiten.
Wir sollten unsere Kinder nicht überfordern, aber auch den Mut haben, ihnen Zeiten
der Eigeninitiative abzuverlangen, in denen sie ihre Erfahrungen ungestört von
Außenreizen durch Lesen, Malen, Musizieren und Bewegung verarbeiten. Das gilt
auch für Erwachsene, denn Erziehen bedeutet Sich-Selbst-Erziehen. Dazu gehört
auch die Bekämpfung von Kreativitätskillern: Mangelnde Strukturen und fehlende
Anleitungen, destruktive Kritik und ständige Medienpräsenz. Bill Gates, der
unverdächtig ist, etwas gegen moderne Medien zu haben, wurde einmal gefragt, ob
er seinen Kindern Computer geben würde. Er antwortete, dass er ihnen zunächst
Bücher anbiete. Bewegung, Literatur, Musik, bildende Kunst und Wissenschaft sind
lebenswichtig, um Geschehnisse zu verarbeiten, damit Sie uns nicht überfluten.
Kreativität ist spannungsreich, aber auch heilsam. Sie spielt mit dem Chaos und stellt
immer wieder emotionale und intellektuelle Ordnungen her, ein Spiel, das wir als
schön erleben. Dann kommt etwas zustande und wir können den Augenblick
genießen. Allerdings stellt sich dieses Gefühl ästhetischer Erfüllung nur für mehr
oder minder kurze Augenblicke ein. Es muss immer wieder neu entdeckt werden.
Kreative Lebenskunst entsteht, wenn wir das Wechselspiel von Freuden und Leiden
annehmen und durch konzentriertes Arbeiten und freies Spielen immer wieder neu
gestalten. Goethe drückt dies am Ende seines Gedichts "Selige Sehnsucht"
folgendermaßen aus: "Und solang’ du dies nicht hast,/ Dieses: stirb und werde!/ Bist
du nur ein trüber Gast/ Auf der dunklen Erde".
*****
Prof. Dr. med. Rainer M. Holm-Hadulla studierte Medizin und Philosophie in
Marburg, Rom und Heidelberg und arbeitete als Arzt an der an der Psychiatrischen,
Psychosomatischen und Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg, wo er auch
eine wissenschaftliche und Lehrtätigkeit hatte. Seit 1986 ist er Leitender Arzt der
Psychosozialen Beratungsstelle des Studentenwerks und lehrt und forscht an der
Universität Heidelberg. Er ist Mitglied mehrerer Fachgesellschaften, darunter bei der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie (DGPPN)
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und der Deutschen Psychoanalytische Vereinigung (DPV). Wissenschaftliche
Schwerpunkte: Beratung, Coaching, Kreativität.
Internetseite: www.holm-hadulla.de
Bücher (Auswahl):
– Integrative Psychotherapie, Verlag Klett-Cotta, 2015.
– Die vielen Gesichter der Depression (Hg., zus. mit A. Draguhn), Universitätsverlag
Winter, 2015.
– Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht,
2011.
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