Auf dem Weg in die digitale Katharsis Das Musiktheaterkollektiv AGORA hat für eine ­ Spiel­zeit sein Laboratorium an der Bayerischen Staatsoper ­aufgeschlagen, um die Kunstform Oper unter die Lupe zu nehmen. Mit [catarsi] schickt die Gruppe das Publikum der Festspiel-­Werkstatt durch die Mikrostruktur von Beethovens Fidelio hindurch in eine digitale Katharsis. AGORA im Postpalast: Claudia Irro, Benjamin David, Benedikt Brachtel und Valentin Köhler Uraufführung [catarsi] 61 61 In der Antike bezeichnete „Agora“ den zentralen Marktplatz einer Stadt, der zugleich als sozialer Versammlungs­ ort der griechischen Polis fungierte. Nicht zufällig wählte das Musik­ theaterkollektiv, das in der Spielzeit 2016/17 für ein Jahr an der ­Bayerischen Staatsoper arbeitet, den Namen ­AGORA: „Es geht um die Aktivie­ rung der Oper als Begegnungsstät­ te“, betont die Kostümbildnerin Clau­ dia Irro, und Benedikt Brachtel, der musikalische Kopf der Gruppe, er­ gänzt: „Zwar gibt es noch reale Marktplätze, aber die gesellschaft­ lichen Debatten verschieben sich zu­ nehmend in den virtuellen Raum und verändern damit auch das künstle­ rische Leben.“ Wie sich dieser Wan­ del auf den Begegnungsort Oper aus­ wirkt, demonstriert das Kollektiv mit den vier Teilen seiner Reihe ­Prozessor, die ihm Rahmen der Festspiel-Werk­ statt mit [catarsi] zu Ende geht. Zunächst nannte sich das Musik­ theaterkollektiv „In.The.Lab“ – und auch dieser Name hat program­ matischen Wert: Die fünfköpfige Gruppe versteht die eigene künstle­ rische Arbeit als musiktheatrales La­ boratorium, in dem die Trägerstoffe der Oper isoliert und unter die Lupe genommen werden: Wort und Spra­ che, Klang und Musik, Szene und Aufführung. „Uns interessieren Ex­ perimentalanordnungen mit dem Fo­ kus auf Formatfragen, die über die vierte Wand und das Prinzip der Guckkastenbühne hinausreichen“, erklärt Brachtel. Ihm ist die Inte­ gra­tion neuer Technologien wichtig, um das multimediale Gesamtkunst­ werk Oper in die digitale Jetztzeit zu ­ überführen. Dennoch hat das ­Kollektiv einen Klassiker als Unter­ suchungsobjekt seiner Prozessor-­ Forschungsreihe gewählt: Ludwig van Beethovens Fidelio, den die Künstler in ihrem Labor sezieren und neu zusammensetzen. Bewusst wer­ de dabei, so Brachtel, eine „unreine Adaption“ – also eine weniger werk­ getreue als diskursive Interpretation – gewählt, um „eine neue Sichtweise 62 auf das Genre“ zu entwickeln und gemeinsam mit den Zuschauern den Fokus auf die Mikrostrukturen des Werkes zu lenken. Ein musiktheatrales Laboratorium: Fidelio wird unter die Lupe genommen In Prozessor I standen visuelle und performative Perspektiven im Fokus. Zeitgleich zur Fidelio-Aufführung im Großen Haus baute AGORA auf der Probebühne der Staatsoper eine Pa­ rallelwelt auf. Mit Apps auf Tablets und Smartphones bewegte sich das Publikum durch ein Labyrinth, das die Grenzen von Bühne und Audito­ rium verwischte. Durch verschiedene Rückkopplungen mit der Aufführung auf der Hauptbühne – unter ande­ rem durch eine Direktübertragung des Klangs sowie die Möglichkeit, individuell aus verschiedenen Kame­ raperspektiven zu wählen – entstand ein Panoptikum, in dem die (Re-)Ak­ tion des Publikums selbst Teil des theatralen Geschehens wurde. Mit dieser Anordnung integrierte sich AGORA „als geladener und gedul­ deter Fremdkörper“ in die B ­ ayerische Staatsoper. Ein solches „Einnisten in eine Institution“ benennt ­AGORA als maßgeblich für die eigene Arbeit: „Wir schätzen die Reichweite, die Ressourcen und besonders das Fach­ wissen der Bayerischen Staatsoper“, erläutert Benedikt Brachtel den An­ satz. Das Anliegen ist kein Marsch durch die Institutionen, sondern mit der Institution Oper: „Unsere Arbei­ ten stellen den Versuch dar, das Mu­ siktheater zu ergänzen und auszu­ weiten.“ Das Kollektiv interessiert sich we­ niger für Oberflächen als für die Strukturen und Funktionsweisen des Musiktheaters. Deshalb stand auch im zweiten Teil der Prozessor-Reihe nicht die Aufführung von Fidelio als fertigem Werk im Fokus, sondern seine Erarbeitung: Das Publikum er­ lebte die Auseinandersetzung eines Tenors mit der Partie des Florestan und damit das spannungsvolle Ver­ hältnis eines Darstellers zu seiner Partie. Der auf einer Drehbühne ex­ ponierte Sänger bot dem Publikum mit analogen Mitteln wechselnde Per­ spektiven und betonte damit das Un­ fertige und Prozesshafte als künst­ lerischen Akt, den sich AGORA auch in Prozessor III auf die Fahnen schrieb. Hier wurde der Klang-Kör­ per Orchester in Szene gesetzt, bevor in der Festspiel-Werkstatt der Münchner Opernfestspiele der vier­ te und letzte Streich folgt, der die Fäden der Forschungsreihe zusam­ menführt: [catarsi]. Digitale Katharsis: „Was folgt“ Mit dem Titel [catarsi] greift A ­ GORA ein weiteres assoziationsreiches Phä­ nomen auf: „Katharsis“ bezeichnet die Läuterung der Seele als Wirkung des antiken Trauerspiels sowie in der Psychologie die Befreiung von seelischen Konflikten. Mit dieser Namensgebung zielt das Musikthea­ terkollektiv auf die emotional reini­ genden Effekte der Oper. [catarsi] wird in der Lesart der Gruppe zum utopischen Sehnsuchtsort, der Rea­ lität und Virtualität, analogen und digitalen Ausdruck als zwei Seiten einer Medaille ausstellt und in den zwei Welten des Fidelio kollidieren lässt: Das Publikum folgt mal Flo­ restan in die virtuellen Welten seiner Träume, mal ist es gemeinsam mit Leonore auf dem Weg, ihn aus sei­ nen scheinbar autistischen Visionen in die Realität zurückzuholen. Dafür wird der Werkstatt-Spielort Postpa­ last vom Publikum erkundet, der Zu­ schauer überquert ständig die Grenz­ linie z­ wischen vorgestellter Welt und Text Anna Schürmer Beethovens Musik trifft an der imaginären G ­ renze von Alt und Neu auf die Klangvisionen Benedikt Brachtels, der sich als „Bartellow“ einen Namen in der elektronischen Clubszene gemacht hat. Sein feinsinniger, von rauschenden Frequenzen durchzogener Sound hat keine Angst vor treibenden Rhythmen und minimalen ­Repetitionen, überraschenden Glitches und scheinbar zufälligen Klangereignissen. Rubrikentitel 63 63 Beobachterposition. Spiel und Re­ präsentation kreuzen sich in installa­ tiven Anordnungen, die die Rolle des ­Publikums infrage und auf die Probe stellen, indem die klassische ­Bühnensituation auch durch einen technologisch erweiterten Orchester­ klang durchbrochen wird. Die Klänge eines zwölfköpfigen Instrumentalensembles werden durch ein 4D-Spatialsoundsystem und vi­ suelle Projektionsflächen architek­ tonisch geformt. Beethovens Musik trifft an der imaginären Grenze von Alt und Neu auf die Klangvisionen Benedikt Brachtels, der sich als „­Bartellow“ einen Namen in der elek­ tronischen Clubszene gemacht hat. Sein feinsinniger, von rauschenden Frequenzen durchzogener Sound hat keine Angst vor treibenden Rhyth­ men und minimalen Repetitionen, überraschenden Glitches und schein­ bar zufälligen Klangereignissen. Frei von ästhetischen Dogmen lässt seine unhierarchische Musikauffassung alte Stoffe neben elektronischen Klängen bestehen. Damit entspricht er den medialen Vorgaben der Digitalisie­ rung, die jedem immer und alles zur Verfügung stellt: „Der Komponist wird zum Selektor, dem die Aufgabe zufällt, Sinn herauszufiltern.“ Bene­ dikt Brachtel weiß um die Funktio­ nen und Möglichkeiten des Digita­ len, die das Selbstverständnis des Musiktheaters als multimediales ­ Gesamtkunstwerk im Kern be­ ­ treffen: Virtualität, Hybridität und neue Technologien versteht er als öffnende Erweiterungen der Kunst­ form Oper. Claudia Irro vergleicht die For­ schungsreihe Prozessor und speziell [catarsi] mit einem Katalysator – also einem chemischen Stoff, der eine Re­ aktion bewirkt. Und auf Rückwir­ kungen zielt auch das Musiktheater­ kollektiv AGORA – nicht nur mit Blick auf die oben beschriebene (Re-) Aktivierung des Publikums, sondern auch in der künstlerischen Kollek­ tivarbeit: „Bei uns denkt etwa der ­Bühnenbildner auch über musika­ 64 lische und der Komponist ebenso über dramaturgische Entscheidungen nach“, erklärt Irro, „so kommt man zu anderen Ergebnissen“ – und dem selbstgesteckten Ziel näher, das „Phänomen Oper in Bezug auf ­ ­Institutionalisierung, auditive und visuelle Rezeptionsweisen durch den Zuschauer sowie Narrativität und Aktualität zu untersuchen“. Das Spielzeitthema Was folgt ergibt sich aus Sicht von A ­ GORA nicht zuletzt aus einer ­affektiven Berührung des Publikums, das bei [catarsi] durch eine musiktheatrale Katharsis ­geschickt wird. AGORA ist ein 2015 entstandenes Musik­­­thea­terkollektiv, dem derzeit die Künstler ­Benedikt Brachtel, Anna Brunnlechner, ­B enjamin David, Claudia Irro und Valentin Köhler angehören. Die mehr­jährige Arbeit der einzelnen Mitglieder von AGORA an ­etablierten Theaterinstitutionen ebenso wie in der Freien Szene beeinflusst ihre Frage­ stellungen und Auseinander­setzungen rund um das Repertoire und die Form des zeit­ genössischen Musiktheaters. In der Spielzeit 2016/17 entwickelte das K ­ ollektiv an der ­B ayerischen Staatsoper ­unter dem Titel ­Prozessor eine vierteilige ­Reihe, die mit ­[catarsi] abgeschlossen wird. Anna Schürmer studierte Geschichte, ­Musikwissenschaften und Literatur in Berlin. Sie forscht zur elektronischen und digitalen Musik des 21. Jahrhunderts – u. a. in ihrer ­Eigenschaft als Mitglied der ERC-Forschergruppe „The Principle of Disruption“ – und ­arbeitet regelmäßig für Funk- und ­Print­medien, u. a. die neue musik­zeitung und den Deutschlandfunk. FESTSPIEL-WERKSTATT [catarsi] AGORA Musiktheaterkollektiv Uraufführung am Mittwoch, 28. Juni 2017, Postpalast an der Hackerbrücke Weitere Termine im Spielplan ab S. 212 Fotos Stefan Loeber Rubrikentitel 65 65