Auf der Suche nach Mehrheiten? - Forschungsjournal Soziale

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Strategieschwerpunkt
Auf der Suche nach Mehrheiten?
Anmerkungen zur Lage der SPD ein Jahr vor der Bundestagswahl 2013
Gerd Mielke
Ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl
werden allmählich die Konstellationen sichtbar, auf die sich die Parteien im kommenden Wahlkampf werden einstellen müssen.
Dabei prägen Widersprüchlichkeiten das Bild.
Auf der einen Seite ist es zu einem förmlichen Zusammenbruch der 2009 noch so imposanten Regierungsmehrheit gekommen.
Schon seit dem Sommer 2010 ist die schwarzgelbe Koalition in allen Umfragen auf knappe 40 Prozent abgeschmolzen. Alle Landtagswahlen seit 2009 erbrachten für SchwarzGelb herbe Niederlagen. Die vor wenigen
Jahren noch so imposante Riege christdemokratischer Landesfürsten dünnte dramatisch
aus; christdemokratische Ministerpräsidenten
sind nur noch dort im Amt, wo sie sich auf
die Hilfe der SPD in Großen Koalitionen
stützen können.
Auf der anderen Seite hat die Schwäche
von Angela Merkels Regierungsbündnis
bisher noch keine Wechselstimmung aufkommen lassen. Zwar zeichnet sich seit längerem in den Umfragen eine stabile Mehrheit von rund 60 Prozent der Wähler ab,
die sich für eher linke Parteien entscheiden
und also SPD, Grüne, Linke oder die Piraten wählen, aber die SPD als größte Oppositionspartei konnte bislang aus dieser Mehrheit keine handlungsfähige politische Mehrheit gegen Schwarz-Gelb schmieden. Wie
die Union haben sich auch die Sozialdemokraten noch nicht von ihrem verheerenden
Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl erholt; nur selten kamen sie seither an die
30-Prozent-Marke heran. Die SPD hat zwar
bei den Landtagswahlen seit 2009 kontinuFORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012
ierlich Boden gut gemacht und eine ganze
Reihe von Staatskanzleien zurückerobert.
Allerdings lassen diese sozialdemokratischen
Siege bislang noch keine Erfolg versprechende Strategie für einen Sieg und für einen
Politikwechsel bei der anstehenden Bundestagswahl erkennen. Die absolute Mehrheit
in Hamburg, die rot-grünen Mehrheiten in
Bremen, Mainz und Düsseldorf, die Großen Koalitionen in Schwerin und Berlin oder
gar das rot-grüne Bündnis mit dem SSW in
Kiel folgen jeweils unterschiedlichen landespolitischen (Koalitions-)Logiken, die nur mit
erheblichen Abstrichen auf die Bundesebene übertragen werden können.
Was muss also geschehen? Drei Fragen
sind zu klären: In welche Konfliktstruktur
wird auch die Bundestagswahl 2013 eingelagert sein? Wie lässt sich Wählerschaft auf
der linken Hälfte des Parteienspektrums
mobilisieren? Und schließlich drittens: Welche Mehrheit will die SPD ansteuern?
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Bei der Darstellung tagespolitischer Streitfragen wird fast immer ausgeblendet, dass
dem deutschen Parteienwettbewerb eine erstaunlich stabile Konfliktstruktur unterliegt.
Die Kompetenzprofile der Parteien, vor allem aber die Erwartungen der Wählerschaft
sind auf zwei elementare Gegensätze hin ausgerichtet, die seit vielen Jahrzehnten ein Koordinatensystem bilden, in dem sich die
Wähler sehr genau zurechtfinden. Das ist
zum einen der beherrschende, sozio-ökonomische Gegensatz zwischen Marktfreiheit
und Wohlfahrtsstaatlichkeit, zum andern der
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etwas schwächer ausgeprägte, kulturelle
Gegensatz zwischen einer libertären, der
Moderne zugewandten und einer traditionellen bzw. autoritären Geisteshaltung. Diesen
beiden Konfliktachsen lassen sich fast alle
tagespolitischen Streitfragen zuordnen, und
die Wähler interpretieren sie auch vor diesem Hintergrund. Die historisch gewachsenen Spannungslinien werden auf diese Weise bis in die Gegenwart hinein – so nennt es
die Wahl- und Parteienforschung – aktualisiert (dazu Mielke 2001).
Die Parteien haben ihr Profil im Blick auf
diese beiden Konfliktachsen gewonnen. Bei
dem Gegensatz zwischen Marktfreiheit und
Wohlfahrtsstaatlichkeit werden die beiden extremen Positionen von der FDP und der Linken eingenommen; Union und SPD liegen
dazwischen, sie sind aber dennoch jeweils deutlich dem marktliberalen oder dem wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten Lager zuzuordnen. Auf
der kulturellen Konfliktachse stehen sich an
den Extremen die Union und die Grünen gegenüber, die SPD, die Linke und die FDP nehmen hier eher gemäßigte Positionen ein. Auch
die Piraten werden übrigens ganz klar vor diesem Hintergrund wahrgenommen. Mit ihren
Forderungen nach umfassender Transparenz
und Teilhabe knüpfen sie an ein Leitmotiv an,
das auch die Grünen in den ersten Jahren ihres
Aufstiegs unter dem Stichwort der „Basisdemokratie“ ins Spiel brachten.
Die Konflikte um den Umbau des deutschen Wohlfahrtsstaats, die in den Kontroversen um Hartz IV oder die Gesundheitsreformen zum Ausdruck kommen, bilden mithin
im Kern eine stärkere Annäherung der SPD
vom Pol der staatlich abgesicherten und garantierten Wohlfahrtsstaatlichkeit an den Pol der
Marktfreiheit ab. Die Debatten um die Integration der Zuwanderer oder um ein verändertes Frauen- und Familienbild drehen sich auf
der anderen Konfliktachse um eine eventuelle
Annäherung der Unionsparteien an den libertären, auf die Moderne ausgerichteten Pol.
Ganz offensichtlich haben sowohl die SPD
unter Gerhard Schröder, Franz Müntefering
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und ihren Nachfolgern an der Parteispitze als
auch die Union unter Angela Merkel und ihrer Führungsriege die Probleme unterschätzt,
die sich bei den Positionsverschiebungen ihrer
Parteien in diesem politischen Koordinatensystem ergeben würden. Was den Führungseliten
von SPD und Union als plausible oder „alternativlose“ Reformpolitiken erschien, wurde von
weiten Teilen der Anhängerschaft als Preisgabe von Traditionsbeständen und als Identitätsverlust empfunden und löste Entfremdung und
Stimmenverluste aus. So büßte die SPD ihre
noch 1998 so großartige Position im Parteiensystem Zug um Zug ein und wurde am Ende
durch den Aufstieg der Linken und die Schlappe bei der Bundestagswahl 2009 bestraft. Die
Union durchläuft diesen Prozess eines durch
„Reformen“ ausgelösten Niedergangs seit
Merkels Kanzlerschaft; ein Ende ist noch nicht
abzusehen.
Eine Renaissance der SPD setzt eine
zumindest teilweise und vor allem auch in
der Wählerschaft erkennbare Korrektur der
„Reformen“ voraus. Auf diese Weise könnte
die SPD die Schrammen an ihrem Markenkern einer staatlich garantierten Politik der
sozialen Gerechtigkeit wenigstens in Ansätzen ausbessern. Es käme also für die SPD
darauf an, ihre Hegemonie als Partei der
Wohlfahrtsstaatlichkeit zurückzuerobern und
wieder zum verlässlichen Bezugspunkt der
Wähler zu werden. Hierfür wäre eine gezielte Akzentuierung des Verteilungs- und Wohlfahrtsstaatskonflikts notwendig, allein auch
schon um zu verhindern, dass Nebenkriegsschauplätze und nachrangige Konflikte, wie
die im diskursiven Umfeld der Piraten, die
politische Arena beherrschen.
Eine derartige Kurskorrektur ist jedoch
ein schwieriges Manöver; allein auf die Schwäche von Schwarz-Gelb zu hoffen, wird für
eine Kompensation der Verluste während des
letzten Jahrzehnts nicht ausreichen.
Die Wählerwanderungsbilanzen bei den letzten Landtagswahlen zeigen, dass selbst angesichts der massiven Ansehensverluste der Linken in den letzten beiden Jahren nur ein Teil
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der dorthin abgewanderten Wähler wieder zur
SPD zurückkehrt. Die Mehrheit bleibt auf
Distanz und verharrt in skeptischer Wahlenthaltung. Ein wesentlicher Grund für die schleppende Erholung der Sozialdemokraten liegt in
den unklaren Signalen, die von dem derzeitigen SPD-Führungstrio ausgehen. Während der
Parteivorsitzende Sigmar Gabriel zumindest um
eine rhetorische Mobilisierung gegen das Regierungslager bemüht ist, halten sich Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier nobel zurück. Beide sind Exponenten der „Reformpolitik“ der Schröder-Jahre; und sie verkörpern den
während der Großen Koalition an der SPDSpitze etablierten Konsens mit der Merkel-Linie eines durch vermeintliche Sachzwänge getarnten Neo-Liberalismus. Eine auch nur symbolische Distanzierung von Hartz IV und der
Agenda-Politik und damit ein Startsignal für
eine breite und gezielte linke Bündelung gegen den Politikansatz von Schwarz-Gelb, also
für eine Strategie, die Francois Hollande und
seine Sozialisten in Frankreich mit Erfolg umgesetzt haben, ist von Steinbrück und Steinmeier eher nicht zu erwarten, käme diese Distanzierung doch immer auch einer Selbstkritik
gleich. So verfügt die SPD derzeit nur sehr
bedingt über eine Parteiführung, mit der sie
die Unzufriedenheit der Mehrheit von Wählergruppen mobilisieren und bündeln könnte.
Sie steht also vor einem Dilemma: Einerseits
hängen die Mobilisierungschancen entscheidend von einer Profilierung auf dem Themenfeld staatlich gestützter sozialer Gerechtigkeit
ab, andrerseits gibt es in dem Führungstrio
gegen eben diese politische Linie erhebliche
Vorbehalte.
Die Aufhebung dieser Mobilisierungsblockade wird zudem durch das Sperrfeuer der
geballten Medien-Artillerie verhindert. Eine
Phalanx konservativer und liberaler Leitartikler wacht über die Fortführung der „Reformpolitik“ der Schröder-Jahre und gibt entsprechend Steinbrück und Steinmeier medialen
Feuerschutz. Hier findet – übrigens auch
diesmal in konsequentem Gegensatz zu der
großen Mehrheit in der Bevölkerung – die beFORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012
Gerd Mielke
geisterte mediale Zustimmung für die „Reformen“ Gerhard Schröders, durch welche die
Sozialdemokraten am Wählermarkt so schwer
in Bedrängnis gerieten, ihre ungebremste Fortsetzung (dazu auch Spreng 2010).
2
Auch bei der kommenden Bundestagswahl
wird wohl die „asymmetrische Demobilisierung“ eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielen. Mit diesem Stichwort wurde 2009 die
Wahlkampfstrategie Angela Merkels und der
Union beschrieben, die jede Polarisierung
und Konfrontation vermied und so „auf
Samtpfoten an die Macht“ gelangte. Dahinter
verbirgt sich ein in der Wahlforschung seit
langem bekannter, in den letzten Jahren
allerdings zu neuer Bedeutung gelangter Sachverhalt. Wahlen können immer auch durch
Wahlbeteiligungsunterschiede in der Wählerschaft entschieden werden, weil die Wahlbeteiligung nicht zufällig über die einzelnen
Wählersegmente streut, sondern in den unterschiedlichen Parteianhängerschaften großen, mit dem Sozialstatus verbundenen
Schwankungen unterliegt.
Viele Studien zeigen: Wahlbeteiligung
(hierzu v.a. Steinbrecher/Rattinger 2011)
hängt in hohem Maß vom persönlichen Interesse und der Informiertheit sowie von dem
Gefühl der Wähler ab, dass Parteien und Politiker auf die Einflussversuche durch die
Bürger reagieren. Diese individuellen Gefühle
für politische Wirksamkeit sind wiederum
stark von Faktoren wie formaler Bildung und
Sozialstatus abhängig; deshalb gehen Wähler mit formal höherer Bildung und entsprechend höherem Sozialstatus in der Regel eher
zur Wahl als Wähler aus der unteren Hälfte
der Statuspyramide. Verlaufen also Wahlkämpfe eher lautlos und schleppend, ohne Polarisierung und Mobilisierung, geht es also vermeintlich „um nichts“, so sinkt die Wahlbeteiligung ab, und es profitieren davon in aller Regel die Parteien, deren Anhänger den
Schichten mit höherer Bildung und höherem
Sozialstatus zuzurechnen sind. Dies erklärt
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im eigentlichen Wortsinne die Statusvorteile
bürgerlicher Parteien etwa bei Kommunal-,
Landtags- oder Europawahlen: Ihre Wähler
gehen – fast – immer zur Wahl. Aus dieser
Regel folgt auch, dass Parteien mit einer großen Anhängerschaft in der unteren Hälfte
der Statuspyramide – also auch die SPD – in
Wahlkämpfen besonders stark auf Polarisierungs- und Mobilisierungsstrategien angewiesen sind, um ihr Wählerpotential auch tatsächlich an die Urnen zu bringen. Mithin
führt mangelnde Polarisierung zu der besagten „asymmetrischen Demobilisierung“.
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Hatte 2009 ganz offensichtlich die Union
diese Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ gezielt eingesetzt, so drohen für
die SPD im kommenden Bundestagswahlkampf die Gefahren einer unfreiwilligen Demobilisierung der eigenen Anhängerschaft vor
allem durch die koalitionspolitischen Perspektiven. Hier befindet sich die SPD in einer misslichen Lage; denn aus dem Spektrum
von insgesamt vier linken Parteien – SPD,
Linke, Grüne und Piraten – hat sie allein die
politische Zusammenarbeit mit den Grünen
ins Auge gefasst. Die beiden anderen werden als politische Partner nicht in Betracht
gezogen. Damit scheidet nach den letzten
Umfragen ein Stimmenanteil von circa 1215 Prozent der Wähler aus den sozialdemokratischen Koalitionsüberlegungen gegen
Schwarz-Gelb aus. Mit anderen Worten:
Eventuelle Fehlschläge, die zu anderen linken Parteien gewanderten Wähler direkt zurück zu gewinnen, können nicht über Koalitionen kompensiert werden.
Allerdings ist eine rot-grüne Mehrheit nach
den demoskopischen Befunden des letzten
Jahres nicht sehr wahrscheinlich; die Piraten
haben hier eine neue Vetomacht erlangt. Ent-
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sprechend werden nun andere, über die Lagergrenzen hinweg reichende Bündnisse ventiliert: eine erneute Große Koalition oder
eine so genannte „Ampel-Koalition“ mit den
Grünen und der FDP. Beide Koalitionsvarianten haben freilich ihre Tücken. Das innerparteiliche Trauma der letzten Großen Koalition mit ihrem bitteren Ende der schlimmen Wahlniederlage wirkt bei den Sozialdemokraten noch nach; die Aussicht auf vier
weitere Jahre als Juniorpartner Angela Merkels wird die Wahlkampfmoral gewiss nicht
befeuern. Aber auch die „Ampel“ ist derzeit
kein reizvolles Modell, selbst wenn die Liberalen die Fünf-Prozent-Hürde überspringen
sollten, was durchaus fraglich erscheint. Die
FDP ist mit ihrer Ausrichtung marktradikalen Zuschnitts seit dreißig Jahren der ideologische Gegenpol schlechthin zur SPD, und
entsprechend ist die Ausstrahlungskraft dieser Koalitionsperspektive gering.
Ein Jahr vor der Bundestagswahl herrscht
also eine gewisse Unübersichtlichkeit. Wie
will die SPD sich in die Konfliktstruktur
des deutschen Parteiensystems einordnen?
Wie kann sie der Gefahr der Demobilisierung ihrer Anhänger entgegenwirken? Und
wie kann sie verhindern, dass unklare Mehrheits- und Koalitionsperspektiven die Siegeszuversicht dämpfen? Fest steht jedenfalls:
Die große gesellschaftliche Mehrheit jenseits von Schwarz-Gelb will sich bislang
nicht in eine handlungsfähige politische
Mehrheit unter SPD-Führung schmieden
lassen. Es steht den Sozialdemokraten noch
ein hartes Jahr bevor; man muss sich etwas
einfallen lassen.
Gerd Mielke ist Professor am Institut für
Politikwissenschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Kontakt: mielke@politik.
uni-mainz.de
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