Autismus • Aus dem Griechischen αὐτός= „selbst“, • Störung der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung des Gehirns. • Durch ihre Unfähigkeit zu selektieren > tiefgreifende Entwicklungsstörungen • So z.B. das Ausbleiben des Nachahmungstrieb • Um nicht überflutet zu werden >Abschottung > und reagieren extrem überselektiv. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 1 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 2 Geschichte des Störungsbildes • Charakteristisch ist eine schwere & tiefgreifende Beeinträchtigung mehrere Entwicklungsbereiche: • 1911: Eugen Bleuler beschreibt „Autismus“ als Grundsymptom der Schizophrenie • 1943 beschreiben Leo Kanner und 1944 Hans Asperger unabhängig von einander autistische Störungsbilder bei Kindern • z.B. soziale Interaktion, • Kommunikation, • stereotyper Verhaltensweisen, Interessen uns Aktivitäten • Gekennzeichnet durch Abweichung der Entwicklungsstufe & vom Intelligenzalter Eugen Bleuler Leo Kanner Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 3 Klassifikation Hans Asperger Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 4 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Leo Kanner (1944): 3 Formen kindlicher Psychose • Frühkindlicher Autismus • Kindliche Schizophrenie • Desintegrative Psychose (Dementia infantilis, Heller-Syndrom) Spezifische Diagnosen in ICD und DSM • • • • • Erst in ICD-10 und DSM-IV werden tiefgreifende Entwicklungsstörungen von kindlichen Psychosen differentialdiagnostisch abgegrenzt Frühkindlicher Autismus Atypischer Autismus Asperger Syndrom Rett Syndrom (nur bei Mädchen, > 5 Monate) Desintegrative Störung des Kindesalters • Unterschiedliche Entwicklungspfade Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 5 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 6 1 F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen • • • • • • • • Epidemiologie • Verhältnis männlich: weiblich > 3.7:1 • Betroffene Mädchen meist deutlich schwerer beeinträchtigt • Früher: Annahme drei Viertel geistig behindert • Heute: bis zu 29%-60% durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz F84.0 Frühkindlicher Autismus F84.1 Atypischer Autismus F84.2 Rett-Syndrom F84.3 Andere desintegrative Störung des Kindesalters F84.4 überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien F84.5 Asperger-Syndrom F84.8 Sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen F84.9 Tiefgreifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten (Frombonne,2003;Tidmarsh und Volkmar,2003) • Für Asperger Syndrom sehr unterschiedliche Zahlen • Weniger Mädchen bei Asperger Syndro 7 Epidemiologie Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 8 Epidemiologie • Anstieg der Prävalenzzahlen zu verzeichnen Studien der Jahre 1966-2001 Autismus 10/10000 Asperger Syndrom 2.5/10000 PDDNOS 15/10000 PDD 27.5/10000 Tiefgreifende Entwicklungsstörung E. Fombonne, J. Autism and Developmental Disorders, 33, 365-382, 2003 Folie von H.-C. Steinhausen, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zürich Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 9 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 10 Autismuswelle? Die Gründe für höhere Prävalenz • Verbesserter Informationsstand und Aufmerksamkeit von Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Eltern • Neues diagnostisches Instrumentarium (ADI, ADOS, ...) • Erfolgreichere Forschungsmethoden • Frühere und sicherere Diagnostik des Autismus • Einbezug von Kindern und Jugendlichen aus dem autistischen Verhaltensspektrum Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten FRÜHKINDLICHER AUTISMUS 11 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 12 2 Diagnosekriterien nach ICD-10/DSM-IV Weitere Merkmale ICD-10 DSM-IV 1. Qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen (z.B. unangemessene Einschätzung sozialer und emotionaler Signale; geringer Gebrauch sozialer Signale) 1. Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion (z.B. bei nonverbalen Verhaltensweisen wie Blickkontakt, etc; Beziehungsaufnahme zu Gleichaltrigen; Ausdruck von Gefühlen) 2. Qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation (z.B. Fehlen eines sozialen Gebrauchs sprachlicher Fertigkeiten; Mangel an emotionaler Resonanz auf verbale und nonverbale Annäherungen durch andere Menschen; Veränderungen der Sprachmelodie) 2. Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation (z.B. verzögerte oder ausbleibende Sprachentwicklung; stereotyper oder repetitiver Gebrauch der Sprache; Fehlen von entwicklungsgemässen Rollen- und Imitationsspielen) 3. Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster (z.B. starre Routine hinsichtlich alltäglicher Beschäftigungen; Widerstand gegen Veränderungen) 3. Beschränkte repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten 4. Unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Ess-Störungen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen 4. Beginn vor dem 3. Lebensjahr und Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit 5. Manifestation vor dem 3. Lebensjahr Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 13 1. Qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Interaktionen 14 • Mangelhafte Integration sozialer, emotionaler und kommunikativer Verhaltensweisen • Deutlich reduziertes Verständnis von Emotionen und sozialen Situationen (Fehlen von Reaktionen auf Emotionen anderer Menschen, sozial unangemessenes Verhalten) • Unfähigkeit, seiner Entwicklungsstufe entsprechende Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen (komplette Kontaktverweigerung, aggressives Verhalten oder rein funktionale Beziehungen und auf wenige Interessen reduzierte gemeinsame Beschäftigungen) 15 1. Qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Interaktionen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 16 2. Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation • Herstellen einer gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit (Joint Attention) gelingt nicht • Auffälliges Spielverhalten: • Vor dem Sprachbeginn Fehlen des Lallens/Brabbelns im Tonfall von Sprache • Bei 50% der autistischen Kinder keine oder sehr verspätet entwickelte Sprache ohne kommunikativen Charakter • Fehlen des sozialen Gebrauchs vorhandener sprachlicher Fähigkeiten • Kein Verständnis von einfachen Fragen, Anweisungen oder Witzen • Echolalie (echohaftes Wiederholen von Gesagtem) • Kein interaktives Spielen • Kein symbolisches Spiel auf einer So-tun-als-ob-Ebene • Keine sozialen Rollenspiele mit anderen Kindern (kooperatives soziales Fiktions- /Illusionsspiel) • Benutzung des Spielzeugs oft zweckentfremdet • Vorwiegendes Interesse an Teilen von Spielsachen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 1. Qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Interaktionen • Meist in den ersten Lebensmonaten durch fehlende Kontaktaufnahme zur Mutter bemerkbar • Blickkontakt des Kindes ist nicht vorhanden, inkonsistent oder erscheint wie ein „Hindurchblicken“ • Soziales Lächeln deutlich reduziert • Beeinträchtigung im Gebrauch nonverbaler Verhaltensweisen (Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik) Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • 60-80 % der autistischer Kinder sind geistig behindert • 20 % sind lernbehindert • 17 % zeigen IQ an Grenze zu geistiger Behinderung • Lediglich 3 % zeigen durchschnittlich IQ High functioning-Autismus (HFA) • Autismus mit hohem Funktionsniveau • Höheres kognitives Funktionsniveau • Abgrenzung zu Asperger Störung schwierig 17 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 18 3 2. Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation • • • • 3. Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster Grammatikalische Fehler Pronominale Umkehr Neologismen (Erfinden neuer Wörter) Auffällige Stimme: wenig melodisch, inadäquate Betonung von Wörtern oder Satzteilen, Sprachmelodie gleichbleibend, Sprechrhythmus erscheint „abgehackt“ Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Tendenz, große Teile alltäglicher Aufgaben starr und routiniert auszuführen; Beharren auf das genaue Einhalten von gewohnten Abläufen (z.B. jeden Tag genau denselben Weg in die Schule gehen) • Ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis nach Gleicherhaltung der dinglichen Umwelt (z.B. Widerstand und Kummer wegen der neuen Gardinen, einem anderen Sitzplatz am Tisch,…) • Störungen der Reaktion auf Sinnesreize 19 3. Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster • Zweckentfremdung von Spielzeug • Umschriebene Ängste (z.B. Hundephobie) • Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus 21 Wichtig: Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 22 Differentialdiagnose I • • • • Es gibt kein unbedingt notweniges Symptom, nur eine Symptomvielfalt • • • • Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 20 Weitere Symptome • Motorische Stereotypien (z.B. Augenbohren, Flattern der Hände vor den Augen, rasches Pendeln mit dem Kopf, Schlagen auf die Ohren, sich selbst kratzen oder beißen, wiegende oder schaukelnde Bewegungen, Oberflächen von Objekten befühlen oder daran riechen) • Stereotype Beschäftigungen z.B. mit Daten, Fahrplänen, meteorologischen Fakten, FußballStatistiken, … • Spezifisches Interesse an unwichtigen Teilaspekten von Objekten (z.B. sich drehende Räder an Spielzeugautos) Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 23 Asperger- Syndrom (F84.5) Rett- Syndrom (F84.2) Intelligenzminderung (F70-F72) Umschriebene Entwicklungsstörung der rezeptiven Sprache (F80.2) Schizophrenie (F20) Reaktive Bindungsstörung (F94.1) oder Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2) Mutistische Störungen oder Angststörungen Borderline- Persönlichkeitsstörung Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 24 4 Differentialdiagnose II • • • • • • • Komorbidität I Elektiver Mutismus Aphasien (Sprachverlust) desintegrative Psychosen geistige Behinderung Sprachentwicklungsverzögerungen Sinnesdefekte Deprivationsschäden Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Epilepsie (20-30% der Autisten betroffen, Beginn in der späten Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter) • Mittelschwere geistige Behinderung (bei ca. 75% der Autisten IQ 35-50) • ADS/ADHS • Chromosomenanomalien • Fragiles-X-Syndrom (erbliche kognitive Behinderung durch genetische Veränderung auf dem X-Chromosom) 25 Komorbidität II 26 Komorbidität III • Tuberöse Sklerose (genetische Erkrankung, die zu Fehlbildungen und Tumoren des Gehirns, Hautveränderungen und meist gutartigen Tumoren in anderen Organsystemen führt; die Folge sind epileptische Anfälle und kognitive Behinderungen) • Tourette- Syndrom (neuropsychiatrische Erkrankung, die durch das Auftreten von Tics charakterisiert ist) • Prosopagnosie (Gesichtsblindheit; Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen) Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Irlen-Syndrom (Wahrnehmungsverarbeitungsstörung und Überempfindlichkeit gegenüber Umweltreizen und Seheindrücken) • Depressionen, Psychosen, Phobien, Zwangsstörungen, Essstörungen, Schlafstörungen 27 Verlauf Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 28 Verlauf bis in das Erwachsenenalter • Persistenz über die gesamte Lebensspanne; Symptomatik variiert mit der Entwicklung • Wichtige Indikatoren für eine Prognose: • Entwicklungsabhängige Variabilität der Kernsymptome • Nur graduelle Verbesserung des Kontakt- und Sozialverhaltens • Basale Kommunikationsstörung, Stereotypien, Selbststimulation, eingeschränkte Interessen und Kontaktfähigkeit bleibt • Sprachentwicklung für Prognose sehr bedeutsam • Der IQ • Schweregrad der Störung • Entwicklungsstand der Sprache (insbesondere Ausmaß der kommunikativen Sprachfunktion) • Dauer der Echolalie-Phase • Entwicklungsstand des Spielverhaltens • Schulerfolg • gute Intelligenzausstattung (IQ>80) und gut entwickelte Sprachfähigkeit um das fünfte/sechste Lebensjahr sprechen für eine gute Prognose Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 29 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 30 5 ASPERGER SYNDROM Asperger-Syndrom (Autistische Psychopathie) Störung der Beziehungsfähigkeit mit: • Auffälligkeiten des Blickkontaktes • Mangel an Expressivität, fehlendem Einfühlungsvermögen • isoliertem Rückzug, ausgeprägtem Egozentrismus • ungewöhnlich und eingeschränkten intellektuellen Interessen sowie Bindungen an Objekten • Motorische Ungeschicklichkeit • Auffälligkeiten in der Sprechstimme • Hans Asperger • 18. Februar 1906 in Hausbrunn bei Wien; • † 21.Oktober 1980 in Wien • war ein österreichischer Kinderarzt, der als erster das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom beschrieb Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 31 Asperger-Syndrom (Autistische Psychopathie) 32 Differentialdiagnose II Differentialdiagnose zum frühkindlichen Autismus • späterer Beginn der Beziehungsstörung geringerer Schweregrad der Beziehungsstörung • normale Sprachentwicklung • oft hohe Sprachkompetenz • durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz • zwanghaft-pedantische Persönlichkeitszüge Wird später als frühkindlicher Autismus diagnostiziert Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Abgrenzung zu anderen autistischen Störungen v.a. High-functioning Autismus • Schizoiden Persönlichkeitsstörung • Zwangsstörung • Zwanghafte Persönlichkeitsstörung • Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom 33 Zahlenbuch des 5jährigen Max (Asperger Syndrom) Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 34 Kormorbilität & Verlauf • Erhöhtes Risiko für: • Schizophrene Erkrankung, psychotische Depression, bipolare Störungen • Häufig: Zwangsstörungen, Tourette-Syndrom, • Aufmerksamkeitsstörung, • Kinder: ADHD • Erwachsene: eher Symptome f. Depression Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Folie 35 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 36 6 Verlauf bis in das Erwachsenenalter Klinische Diagnostik • Im Erwachsenenalter Abmilderung der Symptomatik • Basale Störung bleibt aber im Kern erhalten • Deutliche bessere Intergration im Vergleich zu frühkindlichem Autismus • Vorgeschichte & Beobachtung in verschiedenen Situationen • Interviews, Skalen und Beobachtungsverfahren liegen vor z. B: „Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndom“ • Neben spezifischen psych. Klassifikationen (ICD-10 & DSM-IV) • Sollten folgende Bereiche diagnostisch abgeklärt werden: • Kormobidität, Verlauf, Einschätzung des allgemeinen Entwicklungsstandes, kognitive Fähigkeiten, körperlich Neurologische Untersuchung & monekulargenetische Untersuchung Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 37 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 38 „Marburger Beurteilungsskala zum AspergerSyndom“ • Screening- Verfahren im hohen Funktionsniveau • Alter:6-24 Jahre • MBAS erwies sich als reliabel & valide (KampBecker et al., 2005) ÄTIOLOGIE TIEFGREIFENDE ENTWICKLUNGSSTÖRUNG Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 39 „Kühlschrankeltern“ (Bruno Bettelheim) Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 40 Ätiologie • Autismus als Gefühlstrauma • Eltern (insbesondere die Mutter) können nicht auf Bedürfnisse ihres Kindes eingehen • Kind zieht sich innerlich zurück und wird autistisch, um sich vor seinen Eltern zu schützen. Therapie: • Trennung des Kindes von der Mutter und Erziehung im Heim • • • • • • Genetische Faktoren Assoziierte körperliche Erkrankungen Hirnschädigungen bzw. Hirnfunktionsstörungen Biochemische Anomalien (sehr uneinheitlich) Kognitive Störungen Störungen der Sprachentwicklung und emotionale Auffälligkeiten (Empathie-Störung) Bettelheim, B. (1967).The empty fortress: infantile autism and the birth of the self. New York: The Free Press. Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Folie 41 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 42 7 Vereinfachtes Schema zur Ätiologie autistischer Störungen • Familienuntersuchungen: genetische Faktoren/Umweltfaktoren assoziierte körperliche Erkrankungen anatomische Anomalien, Hirnschädigungen, Hirnfunktionsstörungen biochemische Anomalien (Hyperserotoninämie, Funktionsstörungen anderer Transmittersysteme) Genetische Untersuchungen I • Zahlreiche Hinweise auf familiäre Häufung des frühkindlichen Autismus • Geschwister haben Erkrankungsrisiko von 3% (60- bis 100 mal häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung) starke genetische Grundlage von Autismus Störung der kognitiven Entwicklung und der Sprachentwicklung autismustypische Symptomatik: • Interaktionsstörung • Kommunikationsstörung • Stereotype Verhaltensmuster • Nicht nur das Vollbild autistischer Störungen kommt in Familien gehäuft vor, sondern auch einzelne Merkmale, die aber nicht dem Vollbild entsprechen (z.B. kognitive Defizite, stereotype Verhaltensweisen, Kontaktstörungen) es liegt ein breiter Phänotyp zugrunde Störung der affektiven Entwicklung Remschmidt (2007) Autismus. In: Herpertz-Dahlmann et al. (Hrsg.) Entwicklungspsychiatrie. Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 43 Genetische Untersuchungen II Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 44 Hirnschädigungen/Hirnfunktionsstörungen • Zwillingsstudien: • Strukturelle Abweichungen in verschiedenen Hirnregionen autistischer Menschen (Abnormalitäten des Großhirns, des limbischen Systems, im Cerebellum und der unteren Olive) • Diskutiert wird auch ein Modell unzureichender neuronaler Vernetzung diverser cerebraler Areale • Außerordentlich hohe Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen (bis zu 90%) und eine außerordentlich geringe bei zweieiigen Zwillingen • Ebenso starke Differenzen zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen im Hinblick auf gleichzeitig vorhandene kognitive und soziale Defizite es liegt eine polygene Vererbung vor (vermutlich mit Beteiligung von 6-10 Genen) Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 45 Neuropsychologische Defizite Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 46 Neuropsychologische Defizite II • Intelligenzstruktur • Schwache zentrale Kohärenz • HAWIK: Kinder mit frühkindlichem Autismus haben eine Tendenz zu guten Leistungen bei Subskalen zur Messung visuell-räumlicher Fähigkeiten und mechanischer Gedächtnisstrukturen • Bei Kindern und Jugendlichen mit Asperger enorme Diskrepanz zwischen dem Verbal-IQ, der deutlich höher ausfällt und dem Handlungs-IQ • Es werden weniger Kontexte von Gegenständen und Objekten wahrgenommen, sondern einzelne isolierte Details • Exekutive Funktionen • Planungsprozesse, Vorausschau, zielgerichtetes problemorientiertes Handeln bei autistischen Menschen deutliche Defizite in diesen Bereichen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 47 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 48 8 Theory of Mind (ToM) Puppen Szene mit Sally und Ann • Fähigkeit, die Welt aus dem Blickwinkel des anderen zu sehen • Störungen der Theory-of-Mind: Autisten haben Schwierigkeiten, den psychischen Zustand anderer Personen (z.B. deren Wünsche, Intentionen, Überzeugungen, Meinungen) zu erkennen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Geistig behinderte und gesunde Kinder antworten „im Korb“ • Autistische Kinder antworten „in der Schachtel“ 49 Zentrale Kohärenz Folie 50 Störung affektiver Entwicklung und kognitiver Prozesse • Wahrnehmung und Denken sind bei gesunden Menschen durch zentrale Kohärenz geprägt • Angeborene Störung im affektiven Kontakt • Eingeschränkte Möglichkeit, körperlichen Ausdruck unterschiedlicher Befindlichkeitszustände wahrzunehmen (Kanner, Hobson) • Schwierigkeiten in der Erkennung, Verarbeitung und Verknüpfung unterschiedlicher Ausdrucksformen ein und desselben Gefühls • Reize werden in ihrem Bezugssystem zu anderen Reizen und Informationen gesehen • Menschen mit Autismus richten Wahrnehmung einzelne oder auch isolierte Details • Gut im Auffinden von versteckten Figuren... • Interpretation von sozialen Situationen erheblich eingeschränkt, da ganzheitliche, kontextabhängige Sichtweise notwendig Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Störung der Informationsverarbeitung • Einschränkung exekutiver Funktionen 51 Theoretische Konzepte und Hirnfunktionen bei autistischen Störungen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr.Herpertz-Dahlmann Margarete Bolten et al. (Hrsg.) Entwicklungspsychiatrie. Remschmidt (2007) Autismus. In: 52 „Autismusspezifische“ Therapie Theory of Mind • Mentalisierungsschwäche • Empathieschwäche • Verständnisschwäche für Metaphorik (Ironie, Witze) • Verständnisschwäche für soziale Situationen Exekutive Funktionen • Defizit im Vorausplanen • Defizit im zeitlichen Strukturieren • Flexibilitätseinschränkung • Initiierungsschwäche Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Da die Ursache autistischer Störungen nicht bekannt ist, gibt es derzeit auch keine kausalen Behandlungsansätze • Aufgrund der vielfältigen Symptomatik sind umfassende Behandlungsansätze sinnvoll • Ziel der Therapie: Zentrale Kohärenz • Bruchstückhafte Informationsverarbeitung • Detailorientierung • Kontexterfassungsschwäche • Sinnerfassungsschwäche • Abschwächung der Symptome • Auf- und Ausbau von Fähigkeiten, um ein eigenständiges Leben zu ermöglichen • Leider kann bislang keine Therapie für sich beanspruchen, den Autismus zu heilen Remschmidt (2007) Autismus. In: Herpertz-Dahlmann et al. (Hrsg.) Entwicklungspsychiatrie. Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 53 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 54 9 „Autismusspezifische“ Therapie „Autismusspezifische“ Therapie • Wichtig: • Multimodaler Therapieplan (verschiedene Methoden zu einem ganzheitlichen Behandlungsansatz individuell kombiniert) • Eine autismusspezifische Therapie ist immer eine Langzeittherapie • Aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur Generalisierung müssen die Fähigkeiten in vielen realen Situationen geübt werden • Möglichst früher Beginn und hohe Strukturierung • Zahlreiche Wiederholungen • Möglichst in einem „reizarmen“ Raum (da übermäßige Empfindlichkeit, Defizite in der Wahrnehmung) • Verbale Äußerungen möglichst kurz, klar und eindeutig • Viele Visualisierungen • das gesamte Umfeld (Eltern, Familien, Kindergarten, Schule) in den Behandlungsplan einbeziehen Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Frühförderung • Verhaltenstherapeutische Maßnahmen • Körperbezogene Verfahren (z.B. Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie ) • Pädagogische Programme • Medikamentöse Therapie 55 „Autismusspezifische“ Therapie 56 Therapieinhalte • Ausführliche Diagnostik, individuelles Profil der Stärken und Schwächen erstellen • Beratung der Eltern: • Entlastung von Schuldgefühlen • Emotionale und praktische Belastungen klären • Informationen über Ursachen, Symptomatik, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten • Selbsthilfeeinrichtungen • Da Ausmaß der Symptome, die Defizite und die vorhandenen Fähigkeiten bei jedem Patienten unterschiedlich ausgeprägt • individueller Therapieplan, angepasst an die jeweiligen Bedürfnisse des jeweiligen Patienten und dessen Familie • Klare, eindeutige und einfühlsame Beratung der Eltern • Schule: • Eltern müssen ein adäquates Störungskonzept vermittelt bekommen • Entlastung von Schuldzuweisungen an die Eltern • Eltern als Co-Therapeuten Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten • Lehrer informieren und beraten • Mitschüler informieren und beraten 57 Therapieinhalte Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 58 Therapie: Wirksame Behandlungskomponenten • Verhaltensorientierte Strategien mit individualisierter Analyse und Beteiligung der Familie • Die wirksame Vermittlung von kommunikativen Fertigkeiten reduziert zahlreiche fehlangepasste Verhaltensweisen (z.B. Wutausbrüche, repetives Verhalten) • Zwanghaftes und ritualisiertes Verhalten ist nicht nur eine Ursache vieler Verhaltensprobleme, sondern reduziert auch Angst und kann für Motivation und Belohnung eingesetzt werden. • Globale Therapieinhalte bei der Behandlung der autistischen Störungen: Sprachanbahnung Förderung lebenspraktischer Fähigkeiten Förderung sozialer Kompetenzen Förderung kommunikativer Kompetenzen Erweiterung der Handlungskompetenzen Förderung der Wahrnehmung und der Wahrnehmungsverarbeitung • Bearbeitung der emotionalen Problematik und Förderung der Identitätsfindung • Bearbeitung sekundärer Verhaltensprobleme • • • • • • P. Howlin, ECAP, 6, 55-72, 1997 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 59 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 60 10 Therapie: Wirksame Behandlungskomponenten Therapietechniken: Frühförderung • Strukturierte Lehrprogramme mit Betonung visueller Reize und Materialien, um eine vorhersehbare und leicht verständliche Umwelt zu schaffen und die Verwirrung und Belastung durch verbale Hinweisreize zu minimieren • Entwicklung sozial-kommunikativer und spielerischer Aktivitäten, speziell mit Gleichaltrigen • Frühdiagnose und Beratung der Eltern • Familienorientierung (anstelle ausschliesslicher Kindzentrierung) Hoffnung für Eltern • Programme muss in das Familienleben integrierbar sein, ohne extreme Opfer zu verlangen • Ausgehend von individuellen Entwicklungsprofil des Kindes wird durch gezielte Übungsmaßnahmen die Entwicklung kontinuierlich verbessert • Bestandteile: Methoden der Verhaltenstherapie und sensorische Integrationsförderung • Kinder profitieren am meisten, wenn die Förderung möglichst früh beginnt(zwischen 2-4 Jahren), intensiv genug ist (mind. 15 Stunden/Woche) und die Dauer ausreichend ist (mind. 1-2 Jahre) P. Howlin, ECAP, 6, 55-72, 1997 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 61 Therapietechniken: Verhaltenstherapie • Methoden: • Klassisches und operantes Konditionieren unter Nutzung von Verstärkern und aversiven Reizen • Prompting (Hilfestellung geben), Shaping (Verhaltensformung), Fading (schrittweise Rücknahme von Hilfestellungen) • Imitations- und Modelllernen • Vorausgehende Interventionen zur präventiven Beeinflussung abweichenden Verhaltens (z.B. Umgebungsänderung, visuelle Ablenkung, Frühförderung, sportliche Aktivitäten) • Nachfolgende Interventionen zur Beeinflussung bestimmten Zielverhaltens (z.B. Abbau stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens, Beeinflussung von Schlafstörungen, depressiver Verstimmungen oder Angstzuständen) • Interventionen zur Entwicklung von Fähigkeiten (z.B. Förderung von Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten, sozialer Fertigkeiten, Selbstmanagementmaßnahmen, Einüben lebenspraktischer Fähigkeiten) • Bei Patienten mit Asperger-Syndrom: • Nutzung der kognitiven Verfahren zur Analyse und Organisation der eigenen Denkprozesse, Herausarbeiten von Zusammenhängen oder Bewältigung von Alltagsproblemen • Z.B. Verhaltenstraining mit Rollenspiel und Feedback 63 Die Lovaas Methode Applied Behavioral Analysis Methode Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 64 Die Lovaas Methode • Wird nicht nur von Experten, sondern auch Eltern und anderen Bezugspersonen durchgeführt • Findet im häuslichen Umfeld und hochfrequent statt (50 Stunden und mehr / Woche) • Dauer 2 Jahre und länger • Operantes Konditionieren und Nutzung von Belohnern und aversiven Reizen • Prompting (Geben von Hilfestellungen) • Shaping (Verhaltensformung) • Fading (schrittweises Zurücknehmen von Hilfestellung) Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 62 Therapietechniken: Verhaltenstherapie • Therapie der Wahl, sehr bewährt und vielfach evaluiert Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 65 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 66 11 Therapietechniken Medikamentöse Therapie Therapietechniken Medikamentöse Therapie • Wirkt auf bestimmte Begleitsymptome ein (z.B. aggressives, selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien, Hyperaktivität, Angstzustände, Depressionen) • Ziel: „Therapiefähigkeit“ der Patienten verbessern Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten Take home messages 67 Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 68 30 Minuten Pause • Tiefgreifende Entwicklungsstörungen: Fehlende Kompetenz, spezifische kognitive, sprachliche und motorische Fähigkeiten zu erwerben. • Autistische Störungen: • Qualitative Beeinträchtigung der verbalen und nonverbalen Kommunikation • Qualitative Beeinträchtigung der reziproken sozialen Interaktion • Eingeschränkte Interessen (Spezialinteressen) und repetitive Verhaltensmuster • Auftreten der Störung vor dem 3. Lebensjahr • Ungewöhnliches sensorisches Empfinden Vorlesung Klinische Kinder – und Jugendpsychologie, Dr. Margarete Bolten 70 12