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SCHÄFER / THOMPSON (HG.)
SPIEL
Pädagogik – Perspektiven
FERDINAND SCHÖNINGH
ALFRED SCHÄFER / CHRISTIANE THOMPSON
(HG.)
SPIEL
FERDINAND SCHÖNINGH
Umschlagabbildung:
Pieter Bruegel der Ältere,
„Die Kinderspiele“ (1560, Bildausschnitt)
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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und alterungsbeständigem Papier 嘷
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© 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen
ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.
Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 978-3-506-77603-7
Inhaltsverzeichnis
Spiel – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Alfred Schäfer, Christiane Thompson
7
I. Das Spiel als ‚unwirkliche Wirklichkeit‘ . . . . . . . . . . . . .
II. Vom Kult zur ‚Versöhnung im schönen Schein‘ . . . . . .
III. Zur Entgrenzung des Spielerischen in der
fortgeschrittenen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Zu den Beiträgen dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
17
Sich verausgabende Spieler und andere vereinnahmende
Falschspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Spiel zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in
ästhetischen Lebensformen
Gabriele Weiß
I. Das Spielfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Spielende Figuren: Spieler und Spielverderber . . . . . . .
III. Der Falschspieler zwischen Spieler und
Spielverderber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Entgrenzte Grenze – das Leben als Spiel . . . . . . . . . . . .
V. Im Spiel der Möglichkeiten ohne Verwirklichung . . . .
VI. Spielverderber, Falschspieler und Spieler im
Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kunst und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Übermensch und das spielende Kind
Carl-Peter Buschkühle
I.
II.
III.
IV.
V.
Kultur des Spektakels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kunst auf dem Weg zur Oberfläche . . . . . . . . . . . . . . . .
Kunst und andere Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Spiel der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Spiel des Künstlers und das künstlerische
Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
28
35
35
41
45
47
53
57
63
66
69
76
79
83
6
INHALTSVERZEICHNIS
VI. Polares Wechselspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII. Kunst und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII. Spielerisches Lernen im künstlerischen Projekt . . . . . .
85
86
88
Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Spiel, Mimesis, Performativität
Christoph Wulf
99
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Spiel und Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Historische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rituale in der gegenwärtigen Gesellschaft . . . . . . . . . . .
Die Berliner Ritual- und Gestenstudie . . . . . . . . . . . . . .
Rituale als performative Handlungen . . . . . . . . . . . . . . .
Mimetisches Lernen praktischen Wissens
in Ritualen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII. Zentrale Funktionen von Ritualen . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
103
104
105
107
111
115
118
124
Die Ludifizierung des Sozialen durch Digitale Räume . . . . . . 129
Jens Holze, Dan Verständig
I.
II.
III.
IV.
V.
Einleitendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Spielbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Spiel in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Spiel – analog und digital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
130
138
145
153
Kultur – Spiel – Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Zur Konstitution von Kultur in und als Spiel
Steffen Wittig
I. Die formalen Kennzeichen des Spiels . . . . . . . . . . . . . . 159
II. Der „heilige Ernst“ des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
III. Kultur als Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Spiel – eine Einleitung
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
Im Herbst 1996 erlangte ein neues Elektronikspielzeug unvorhergesehene und weltweite Popularität: das so genannte „Tamagotchi“,
ein „virtuelles Küken“, das nach dem Schlüpfen der Hege und Pflege seines Besitzers bzw. seiner Besitzerin bedarf. Das Tamagotchi
ist ein Spielzeug mit den Eigenschaften von Lebewesen. Es zeigt
Bedürfnisse wie Hunger und Durst, es verlangt nach Zuwendung
und entwickelt eine „eigene Persönlichkeit“. Sollten die Bedürfnisse
des Kükens nicht befriedigt werden, „stirbt“ es. Mit der Reset-Taste
wird ein „neues“ Küken „geboren“ und das Spiel kann von vorn beginnen. Ein Spieltag entspricht einem Lebensjahr des Tamagotchi.
Ursprünglich von einer japanischen Spielzeugfirma für die Zielgruppe der Kinder – und insbesondere der Mädchen – ab 8 Jahren
entwickelt, entgrenzte sich sehr schnell die Gruppe der Spielenden:
Das digitale Ei mobilisierte die umfassendste Spielergruppe von „499 Jahren“ und das obwohl das Spiel einen hohen und unkontrollierbaren Zeiteinsatz erforderte. Das Neue am Tamagotchi war die
Entgrenzung des Spielzeitraums, da sich das Spiel in der Echtzeit
des Lebens seiner Besitzer und Besitzerinnen vollzieht. Mit einem
Tamagotchi piept es an allen erdenklichen Orten: Am Arbeitsplatz
und zu Hause, in Schulen und Kindergärten waren die Spielenden
gefordert, ihr Tamagotchi medizinisch zu versorgen, es zu disziplinieren oder seine „Häufchen“ zu entfernen.
Am Beispiel des Tamagotchi lassen sich sehr gut die Diskussionen
nachvollziehen, welche um die Bedeutung des Spiels in gegenwärtigen Gesellschaften und damit auch um ihre pädagogische Bedeutung geführt werden. Spielen und insbesondere digitalen Spielen
wird nachgesagt, dass sie die Gefahr eines Wirklichkeitsverlusts mit
sich bringen. Solche Vorwürfe wurden in Bezug auf die Tamagotchis
wiederholt artikuliert: Die Spielenden würden immer mehr aus den
realen Lebenvollzügen herausgelöst und damit letztlich unfähig zu
sozialen Kontakten. Die Gefahr einer gestörten sozialen Entwicklung
8
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
von Kindern und Jugendlichen brachte der Kölner Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Ulrich Schmitz so auf den Punkt: „Für
die Kinder selbst, je jünger sie sind, führt der Besitz eines Tamagotchi zu einem viel zu frühen Abschied von Hoffnungen, Träumen,
Mythen, Sagen und Legenden, die durch den Einsatz kalter Technik
abgelöst werden.“1 In dieser Äußerung wird das Tamagotchi als Zerstörer jenes Schonraums verstanden, auf den eine romantisch verstandene Kindheit gegenüber einer entzauberten und technisierten
Gesellschaft angewiesen ist. Egal nun ob die simulierte digitale Welt
des Tamagotchi als Zeichen der heutigen Zeit oder ob diese als Gegensatz zur wirklichen Welt konzipiert wird: Immer geht es bei den
hier artikulierten Befürchtungen um die Gefahr, ein angemessenes
Verhältnis zur Realität zu verlieren und sich in einer „Scheinwelt“
einzurichten.
Das Verhältnis von Spiel und Gesellschaft wird aber auch so artikuliert, dass das Spiel eine ergänzende oder kompensatorische und
also positive Funktion erfüllt. So wird im Spiel eine Vorbereitung auf
das eigentliche Leben gesehen. Das Tamagotchi zum Beispiel ermögliche Kindern zu lernen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.2 Ein anderes Motiv kann das der Erholung oder der Kompensation gegenüber dem harten (schulischen) Alltag sein.
Möglicherweise trägt ja der Einsatz von Spielen (in und außerhalb
des Unterrichts) dazu bei, dass Schüler und Schülerinnen motivierter oder auch effektiver lernen? Artikuliert wird auch die Vermutung,
dass sich Kindern und Jugendlichen aufgrund der Affektion und
Involviertheit in Spielen eher die Bedeutsamkeit von Gelerntem als
etwas erschließt, das für sie selbst wichtig ist. Spiele erscheinen demnach als didaktisches Instrument oder gar als Form des Pädagogischen.
Dass es sich beim Spiel um ein eminente „Form“ des Pädagogischen handelt, ist häufig im Kontext der Kindheit und frühen Kindheit geäußert worden. Friedrich Fröbel, auf den Praxis und Selbstverständnis der „Kindergärten“ zurückgehen, sah im Spiel jene
Lernform, welche die Kindheit auszeichnet: „Spielen, Spiel ist die
höchste Stufe der Kindesentwicklung, der Menschenentwicklung
dieser Zeit; denn es ist freitätige Darstellung des Inneren, die Dar1
2
Zitiert nach einem Artikel von Christiane Schulzki-Haddouti in ihrem Artikel
„Tamagotchi reinkarniert“ im Online-Magazin „Telepolis“ (vgl. http://www.heise.
de/tp/artikel/1/1281/1.html, Zugriff am 30. September 2013).
So wird das z.B. in einem Blogeintrag über „Hamsterfreunde“, einem Spiel von
Nintendo, von einem Nutzer angepriesen (http://www.ciao.de/Petz_Hamsterfreunde_Nintendo_DS__Test_8541087, Zugriff am 12. Dezember 2013).
SPIEL – EINE EINLEITUNG
9
stellung des Inneren aus Notwendigkeit und Bedürfnis des Inneren
selbst, was auch das Wort Spiel selbst sagt“ (Fröbel in Lange 1863, S.
33f.). Nach Fröbel erschließen sich (kleine) Kinder die Welt spielerisch, gemäß der ihnen natürlich zukommenden Weise.3 Eine zunehmend leistungs- und outputorientierte Lernvorstellung mit vorabdefinierten Zielen und Kompetenzdimensionen muss dann als
Einschränkung des kindlichen Wesens und seiner Entwicklung im
und durch Spiel gesehen werden.
Zugleich wird jedoch auch eine Vereinbarkeit von Spiel und Leistungsorientierung in Aussicht gestellt. Die Befriedigung, die das
Kind aus dem freien Spiel ziehe, könne womöglich durch jene ergänzt werden, die aus der Bewältigung von Aufgaben und einem
gesteigerten Können erwachse. Außerdem solle man nicht so tun,
als sei die Einrichtung der Kindergärten durch Fröbel frei von einer
pädagogischen Instrumentalisierung des Spiels. Dessen Spielgaben4
seien immerhin so etwas wie die Hinführung zum Einblick in einen
göttlich verbürgten Kosmos, in dem das Spiel selbst schon einen Ort
habe. Gegenüber einer solchen metaphysischen Instrumentalisierung des Spiels sei doch die Orientierung an gesellschaftlichen und
individuellen Kompetenzprofilen eher zu befürworten.5
Ohne an dieser Stelle auf die vielfältigen Positionierungen des
Spiels im gesellschaftlichen Leben im Hinblick auf die Reichweite
und Legitimität der Argumente eingehen zu können, lässt sich zunächst feststellen, dass die pädagogische Bedeutsamkeit des Spiels
und dessen Abstützung durch metaphysische, anthropologische,
entwicklungstheoretische und gesellschaftsbezogene Argumente
letztlich immer auf funktionale Gesichtspunkte rekurriert. Immer
wieder rückt das Spiel in die Position eines Instruments ein, durch
das der Wert des Spiels begründet wird. Es sollen pädagogische
3
4
5
Eine andere argumentative Lagerung der Bedeutung des Spiels für die Bildung
des Selbst hat George Herbert Mead (1968) entworfen. Aus seiner sozialbehavioristischen bzw. pragmatistischen Sicht wird dem Kind über Rollenspiele und
komplexere Spiele möglich, die Vorstellungen der anderen für sich darzustellen,
zu organisieren und sich hierzu zu verhalten.
Fröbel bestimmte pädagogisch bedeutsame „Spielgaben“, wie z.B. den Ball, der
in seiner Geformtheit als Symbol des Alls gilt (vgl. Ballauff 1973, S. 117). Das Tamagotchi mit seiner Eierform wird nicht zu den pädagogischen Spielgaben gerechnet.
Eine andere Perspektive auf die Bedeutung des Spiels geben Jens Holze und Dan
Verständig in ihrem Beitrag. Sie heben aus einer modernisierungstheoretischen
Perspektive die Möglichkeit der Selbstregulation von Spielen in einer von Ungewissheit und Kontingenz geprägten Gesellschaft hervor. Dabei zeichnen sich die
Spiele in digitalen Räumen durch höhere Freiheitsgrade im Vergleich zu ‚traditionellen‘ Spielen aus.
10
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
Ziele erreicht werden, die über das Spiel hinausgehen. Das Spiel
selbst hat keinen pädagogischen Wert. Dieser muss ihm verliehen
werden. Und dies geschieht entweder so, dass man ihm eine funktionale Bedeutung für Selbst- oder Identitätsbildungsprozesse zuschreibt oder dadurch, dass es als Instrument oder Form in eine
pädagogische Vermittlungspraxis bzw. Entwicklung eingebaut wird.
Gegen die funktionale Perspektive ist immer wieder ins Feld geführt worden, dass dem Spiel ein Eigenwert zukommt. Weit über
kindliche Prozesse der Weltaneignung hinaus ist dem Spiel – seit
Friedrich Schiller – eine gegenüber dem Ernst der gesellschaftlichen
Wirklichkeit eigene Bedeutsamkeit zuzugestehen.6 Diese liegt nicht
zuletzt darin, dass hier die „Wirklichkeitsgewissheit“ der gesellschaftlichen Welt aufgehoben ist, ohne dass das Spiel dadurch nur
„unwirklich“ würde. Die faszinierende Welt des Spiels, welche die
Spielenden in ihren Bann zieht, verfügt – bei aller Freiheit von den
Imperativen gesellschaftlicher Wirklichkeit – über Regeln, die einen
autonomen und intakten Wirklichkeitsraum verbürgen.
Dass dieser Wirklichkeitsraum zugleich auch „unwirklich“ bleibt,
zumindest wenn man ihn an den gesellschaftlich durchgesetzten
Wirklichkeitsvorstellungen7 misst (siehe z.B. die Konsequenz und
Verantwortlichkeit des Handelns), hat der Philosoph Eugen Fink als
die philosophische Herausforderung des Spiels bezeichnet: Das Unwirkliche des Spiels stellt ein „seltsames Ineinander von ‚Sein‘ und
‚Schein‘“ dar (Fink 1960, S. 32). Damit wird das Konzept der Wirklichkeit wie auch das der Wahrheit von Aussagen über die Wirklichkeit in Frage gestellt. Umgekehrt eröffnet sich die Frage, wie „Unwirkliches“ entsteht, wie in einer sozialen Praxis „Schein“ hergestellt
werden kann – ein Schein, der nicht nur eine subjektive Illusion ist,
sondern eine wirkliche Verbindlichkeit mit sich bringt.
Diese ersten spieltheoretischen Überlegungen lassen sich in der
folgenden These verdichten: Spiele sind Wirklichkeiten, in denen es
– bei aller inhaltlichen Verschiedenheit – um die Wirklichkeit der
Wirklichkeit geht. Das Spiel steht, anders gesagt, in einem eigentüm6
7
Carl-Peter Buschkühle wird in seinem Beitrag zum vorliegenden Band für den
Bereich des Kunstunterrichts eine Möglichkeit andeuten, in der sich (im Anschluss an Joseph Beuys) die spielerische Freiheit künstlerischen Schaffens mit
einer pädagogischen Intention verbinden soll.
Ein gutes Beispiel für diese unwirkliche Wirklichkeit ist der Tod des Tamagotchis,
der in der Logik des Spiels wirklich, in der Logik gesellschaftlicher Deutungszusammenhänge von Leben und Tod unwirklich ist. Die Ambivalenz der unwirklichen Wirklichkeit des Spiels setzt sich dann fort in der Einrichtung eines ‚Tamagotchi-Friedhofs‘ im Netz, auf dem die „hinterbliebenen“ Spielenden ihren
Tamagotchis eine Gedenkseite einrichten.
SPIEL – EINE EINLEITUNG
11
lichen Verhältnis zu den selbstverständlichen Gewissheiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Im Folgenden soll im ersten Teil diese
These erläutert werden, und es sollen die Implikationen dieser These ausgearbeitet werden (I.). Von hier aus, dem eigentümlichen Verhältnis des Spiels zur Wirklichkeit, lässt sich entwickeln, wie und
wieso das Spiel mit kultischen Handlungen in Beziehung gesetzt
wird und es den Rang einer ästhetisch-subversiven Praxis erhält (II.).
Der dritte Teil der Einleitung widmet sich dann der Frage, inwieweit
sich das Spielerische denn in den gegenwärtigen Kontingenzkulturen ‚entgrenzt‘ habe (III.). Für diese These mögen nicht nur bestimmte Theorieentwicklungen sprechen, die den Anteil des Imaginären an unseren Wirklichkeitsvorstellungen betonen.8 Möglich ist
auch der Verweis auf aktuelle Entwicklungen wie die Finanz- und
Wirtschaftskrise, die letztlich durch ein Börsenspiel hervorgerufen
wurde. Wie aber dieses Spiel im Verhältnis zur Idee ästhetischer
Subversion zu sehen ist und insgesamt gesellschaftlich einzuschätzen ist, stellt eine offene und herausfordernde Frage dar. Die Einleitung schließt mit einer Zusammenfassung der Beiträge des Bandes
(IV.).
I. Das Spiel als ‚unwirkliche Wirklichkeit‘
In Spielen finden sich vielfältige Bezüge auf das, was gesellschaftlich
mit Zustimmung als wirklich im Sinne von ernsthaft, verantwortlich
und mit Konsequenzen verbunden verstanden wird. Spiele werden
den Bezug auf diese Wirklichkeit nicht los. Im Verhalten gegenüber
dem Tamagotchi realisieren sich Vernachlässigung oder Fürsorge in
Entsprechung zu gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten. Dieses Ineinanderfallen von Spielverhalten und gesellschaftlichen Verhaltungen ist in Rollenspielen, in denen soziale Funktionen nachgespielt werden, besonders augenfällig. Andere Spiele beziehen sich
auf die effektive Bewältigung von Aufgaben, wobei der Wettstreit
oder das Glück leitend ist – oder aber auch deren Kombination.9
8
9
Diese These einer Entgrenzung und damit einer gewissen Nivellierung des utopischen Potentials des Spiels vertritt Neuenfeld (2005) in einer historischen Rekonstruktion, die von Kant, Schiller und Novalis ausgehend über die Sprachspieltheorie Wittgensteins bis hin zum dekonstruktiven Spiel der Bedeutungen bei
Derrida führt.
Der französische Philosoph und Soziologe Roger Caillois spricht in einer berühmten Unterscheidung von vier Spieltypen, darunter agon (Wettkampf) und alea
(Zufall). Vgl. Caillois 1982, S. 21ff.
12
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
Wieder andere Spiele laden zum Eintritt in ein fiktives Universum
ein, das historische oder auch Zukunftsszenarien umfassen kann:
Man spielt Rollen als Ritter, Fabelwesen u.ä.10 Die Wirklichkeitsbezüge des Spiels können also aus den unterschiedlichsten Szenarien
stammen. Sie können sich auch auf systemische Bedingungen unseres Zusammenlebens richten: Das Spiel „Monopoly“ ist nur ein
prominentes Beispiel hierfür. Das von Frederic Vester 1980 erfundene Umweltspiel „Ökolopoly“ lehnt sich in der Namensgebung an
das Vorherige an, thematisiert aber die komplexen Vernetzungen
von „Produktion“, „Umweltbelastung“, „Lebensqualität“ etc. in modernen Gesellschaften.
Das Fiktive des Spiels liegt nun nicht primär in einer verzerrten
Wahrnehmung der entsprechenden Wirklichkeiten. So als wäre diese Wahrnehmung einfach unterkomplex, mit Klischees beladen oder
inkohärent, als würde sie sich beispielsweise aus medialen Inszenierungen, wie z.B. Comics oder Filmen speisen. Dies ist sicherlich
auch der Fall, gilt aber genauso in der ‚wirklichen Welt‘. Wie vielfältig gezeigt worden ist, setzt sich in einer durch Massenmedien bereicherten Welt die Alltagssicht aus Versatzstücken, Klischees, Typisierungen, Bildern und Halbwissen zusammen.11 Dann kann sich
daran nicht das Fiktive des Spiels binden. Ein gehöriges Maß an
Einbildungskraft ist im Spiel wie in der Wirklichkeit erforderlich.
‚Unwirklich‘, ‚unernst‘ oder fiktiv scheint das Spiel eher dadurch
zu sein, dass die Wirklichkeit selbst nicht zu einem strukturierenden
Moment des Spiels wird. Spiele folgen also nicht der Logik jener vorgestellten Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen. Das, was in dieser
Referenz-Wirklichkeit als notwendig gilt, als unabdingbar, wenn das
System oder bestimmte Rollenkonstellationen funktionieren sollen,
muss hier nicht gelten. Wenn das Tamagotchi stirbt, ist das eher
undramatisch. Mit den Notwendigkeiten der Wirklichkeit, auch der
10
11
Caillois bezeichnet diese Spiele als mimicry (vgl. ebenda S. 27f.). Seine vierte
Gruppe von Spielen bildet „ilinx“, das Erlangen eines rauschhaften Zustands, für
den durchaus auch Stimulantien wie Drogen eingenommen werden können. Das
Eingenommen- und Hineingezogen-Werden ins bzw. vom Spiel ist ein generelles
Bestimmungsmoment im Spiel (vgl. Pfaller 2007).
Adorno (2003) hat in seinen kulturkritischen Schriften die Affektgeladenheit von
Bildern und deren Undurchdringlichkeit für das Denken zum Thema gemacht.
Bezogen auf den Tourismus hat Rojek (1997) hat aufgezeigt, dass und wie die
Sicht auf besuchte Orte und Menschen sich aus Verweisen, Versatzstücken von
Bildern, mythischen Referenzen, Stereotypen und Allerweltsformeln zusammensetzen, aus denen (kontextrelativ) ein Bild der Welt aufgebaut wird. Solche Bilder
sind immer interessiert, sie dienen der Selbstaffektion ebenso wie der Bestätigung
eines kognitiven Souveränitätsgestus.
SPIEL – EINE EINLEITUNG
13
Differenz von Leben und Tod, kann gespielt werden: Im Spiel bilden
sie eher einen Bezugspunkt, der relativ frei ausgestaltet, re-interpretiert oder auch verändert werden kann. Instrumentelle Logiken mit
entsprechenden Erfolgskriterien oder auch zu erfüllende soziale
Konventionen werden im räumlich und zeitlich eingegrenzten Spielraum zum Gegenstand freier Verfügung.
Die Logik einer stringenten Abfolge ist außer Kraft gesetzt. Mit
dem Drücken der Reset-Taste schlüpft ein neues digitales Küken,
das man nun anders erziehen kann. Es ist demnach möglich, immer
wieder neu anzufangen und die Ausgangsbedingungen zu variieren.
Es sind solche Freiheitsspielräume, die auch eine weitere ‚Ernsthaftigkeit‘ der sozialen Wirklichkeit suspendieren. Dass Spiele „außerhalb der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden stehen, dass sie diesen Prozess vielmehr unterbrechen“, hat
der niederländische Kulturwissenschaftler Johan Huizinga in seiner
bedeutsamen Studie „Homo ludens“ herausgestellt (Huizinga 2004,
S. 17). Gemeint ist allerdings nicht nur die Unterbrechung von Bedürfniskreisläufen unter dem Diktat der Lebenserhaltung, sondern
auch die Suspension moralischer Konsequenz und Verantwortungszuschreibung.
Zwar können moralische Maßstäbe in Spielverläufe einbezogen
werden. Diese bleiben aber insofern vermittelt bzw. eingeklammert,
als sie etwas darstellen, über dessen Bedeutung aus der Logik des
Spiels bzw. seines Ablaufs noch einmal eine Verständigung möglich
ist. Spielerische Wirklichkeiten sind gemessen am Ethos gesellschaftlicher Verantwortungszuweisung und moralischer Autonomie-Vorstellungen als solche eher a-moralisch.12 Der Begriff des Amoralischen ist demnach nicht mit dem Unmoralischen zu
verwechseln. Nicht die Negation moralischer Regeln ist das Spezifische, sondern ihre Einklammerung und Aussetzung, so dass sich
Freiheitsgrade für Selbstpositionierungen ergeben.
Spiele sind dabei nicht frei in einem chaotischen Sinne. Die Freiheit des spielerischen Handelns unterliegt selbst Regeln. Es sind die
Regeln, die den Raum des Spiels von anderen Wirklichkeiten abgrenzen. Sie schaffen einen Binnenraum des Spiels gegenüber den Forderungen des Alltags – einen Raum, innerhalb dessen der gesellschaftliche Druck wegfällt und der einer Beschäftigung Platz macht,
12
Der Beitrag von Steffen Wittig im vorliegenden Band hebt dieses Verhältnis des
Spiels zur gesellschaftlichen und ‚ernsten‘ Wirklichkeit hervor. Huizinga betont:
„Das Spiel liegt außerhalb der Disjunktion Weisheit-Torheit, es liegt aber auch
ebenso gut außerhalb der von Wahrheit und Unwahrheit und der von Gut und
Böse“ (Huizinga 2004, S. 15).
14
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
die ihren Zweck in sich selbst hat. Vor diesem Hintergrund wird
verständlich, warum Spielwelten von der „Hektik des Alltags“ abgegrenzt werden und als „Oase des Glücks“ bezeichnet werden (Fink
1957, S. 23).
In seiner Studie diskutiert Johan Huizinga den Geltungscharakter
jener Regeln, welche die Grenzen zwischen zweckbestimmter Außenwelt und zweckfreiem Binnenraum abstecken. Den Regeln des
Spiels kommt unbedingte Geltung zu: Teilnehmende, die sich nicht
an die Regeln halten, können als Spielverderber ausgeschlossen werden; denn sie provozieren mit ihrem Tun eine Auflösung der Grenzen und damit des Spiels selbst. Es sind die Regeln, welche die
Konstitution der Beteiligten als Spielende ermöglichen. Dabei gilt
indes, was für alle anderen sozialen Wirklichkeiten gilt: Auch noch
die strengsten Regeln regeln nicht die Bedingungen ihrer Anwendung.13 Es eröffnen sich Spielräume, anhand derer darüber gestritten
werden kann, ob man der Regel überhaupt und wenn, ob man ihr
denn auf eine adäquate Weise gefolgt sei. Die geordnete Welt des
Spiels schließt den Streit nicht aus. Wichtig dabei ist es zu sehen,
dass sich dieser Streit nicht zuletzt um die Wirklichkeit des Spiels
dreht. Wenn dieser Streit eskaliert, kann die Wirklichkeit des Spiels
enden. Man kann auseinander gehen oder neu anfangen.
Die Unwirklichkeit des wirklichen Spiels lässt sich vor diesem
Hintergrund auf eine doppelte Weise bestimmen. Auf der einen Seite
erscheint das Spiel zwar im Hinblick auf die ernsthafte gesellschaftliche Wirklichkeit als unwirklich, aber zugleich ist diese gesellschaftliche Wirklichkeit, die Ernsthaftigkeit gegenwärtiger, vergangener
oder zukünftiger Lebensverhältnisse als das anwesend, auf das sich
die spielerische Übersetzung bezieht. Im Unernst des Spiels ist der
Ernst des Lebens als abwesender anwesend. Auf der anderen Seite
sucht die Unwirklichkeit des Spiels aber auch noch dessen immanente Wirklichkeit heim. Die Befreiung von den Notwendigkeiten und
Begierden, den Interpretationsschablonen und Normalisierungen
des täglichen Lebens verweist ebenso wie die angesprochene A-Moralität des Spiels darauf, dass die Spielwirklichkeit auf eine Begründung angewiesen ist, die das Spiel aus sich selbst heraus nicht leisten
kann. Die Unbedingtheit der Regeln mag dafür ebenso als Indikator
13
Im Beitrag von Gabriele Weiß zu diesem Band werden die Spielenden in einem
Spannungsfeld situiert, in dem sich dem Spiel verfallene Spieler und der Spielverderber gegenüberstehen. Damit ist das Verhältnis des Spielenden zur Ordnung
des Spiels so ausgelotet, dass seine Freiheitsspielräume zur Geltung kommen
können. Weiß ruft als dritte Figur den Falschspieler auf, der sich einerseits an die
Regeln hält, diese aber andererseits auch zu seinen Gunsten manipuliert.
SPIEL – EINE EINLEITUNG
15
gelten wie auch die damit verbundene Möglichkeit, das Spiel jederzeit
zu beenden. In der ersten Perspektive auf die unwirkliche Wirklichkeit des Spiels scheint dessen Unwirklichkeit letztlich nicht vollkommen abgelöst von einer Wirklichkeit denkbar zu sein.14 Die zweite
Perspektive markiert demgegenüber den Punkt, dass die immanente
Wirklichkeit des Spiels auch im Spielen selbst vom Akzent der Unwirklichkeit heimgesucht wird.
Im Spiel werden nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit und
deren Standards überschritten; das Wirkliche wird auch in der Wirklichkeit des Spiels zum Problem. Und dies liegt nicht zuletzt daran,
dass im Spiel die gängigen Maßstäbe für das, was als wahr und richtig gelten soll, zwar aufgerufen und gleichzeitig doch zur Disposition
gestellt werden. Wenn im Spiel eigene Wahrheiten und Kriterien für
das Richtige vorhanden sind, die als solche die Wirklichkeit des Spiels
verbürgen sollen, so weiß doch jeder Spielende, dass eben diese Kriterien nur unwirkliche Kriterien sind – solche für eine ‚Spielwelt‘.
Dass die Kriterien des Spiels nur für eine ‚Spielwelt‘ gelten, hat
Dietmar Kamper dahin geführt, das Problem der Aufstellung von
Spielregeln im Lichte der Begründung der sozialen Wirklichkeit des
Spiels zu betrachten: „Da es für das Erfinden von Regeln keine Regeln gibt, hängt das Spiel buchstäblich in der Luft, ist es ein ‚Grund
im Abgrund‘, der den Menschen die Dinglichkeit der Dinge zwischen der bloßen Wahrnehmung und dem schönen Schein erst
nachträglich sichert“ (Kamper 1991, S. 116). Es existiert demnach
keine Referenz, von der aus Spielelemente oder Spielzüge ihren
selbstverständlichen Ort hätten. Auch wenn Spielentwickler sich bei
ihrer Tätigkeit an Erfahrungen und Maßgaben orientieren, so stellt
sich das Erfinden eines Spiels als komplexe versucherische Praxis
dar, in der Elemente, Züge, Ziele etc. immer wieder verschoben
werden. Der von Kamper genannte Abgrund kann aber auch nachträglich aufscheinen, z.B. wenn im Spiel festgestellt wird, dass die
Spielenden bislang unterschiedlichen Regeln gefolgt sind. Die Existenz einer fremden Regel verunsichert die Spielwirklichkeit oder kann
diese sogar auflösen.
Die Spielwirklichkeit bringt eine Suspension der Geltung der sozialen Wirklichkeit mit sich. Und dies hat nicht den Grund, dass Spiele sich kritisch auf die soziale Wirklichkeit beziehen müssten, wie
14
Von verschiedenen Autoren sind die Analogieformen zwischen (früher) vorherrschenden Arbeitsorganisationen einer Gesellschaft und ihren beliebtesten aktuellen Spielformen hervorgehoben worden (Pfaller 2007). Damit wird ebenfalls die
Spur von Bezug und Abgrenzung zwischen Wirklichkeit und Spiel aufgenommen.
16
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
das in dem jüngst entwickelten Computerspiel „Phone Story“15 unternommen wird. Unabhängig davon, ob Spiele sich affirmativ oder
kritisch auf die soziale Wirklichkeit beziehen, suspendieren sie Letztere, indem sie Möglichkeitsräume entwerfen, die die Geltungskraft
des Gegebenen einklammern. Die Möglichkeitsräume nehmen also
die Geltung der eigenen Wirklichkeitsbedingungen des Spiels im
Hinblick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zurück: Spiele reflektieren die Kontingenz, die Grundlegungsproblematik sozialer Ordnungen und korrespondierender Selbstverständnisse. Die Reflektion
dieser Kontingenz ist indes nicht als kognitiver Vorgang zu begreifen. Es handelt sich vielmehr um einen praktischen16 Vollzug: durch
das Hervorbringen (mimetischer) Übersetzungen (vgl. Gebauer
1997), Verschiebungen, durch die Irrealisierung ihrer gesellschaftlichen Bezüge und durch einen Vollzug, in dem sich Virtuelles und
Reales die Waage halten.
Das Spiel lässt sich also im doppelten Sinn als eine ‚unwirkliche
Wirklichkeit‘ kennzeichnen. Auf der einen Seite hat das Spiel eine
eigene Wirklichkeit, die gleichsam mitlaufend von ihrer Unwirklichkeit heimgesucht wird. Auf der anderen Seite stellt sich die Spielwirklichkeit (mit Blick auf ihr Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit) als
eine Unwirklichkeit dar, die für die Spielenden wirklich ist und bleibt.
Nähe und Distanz, Bindung und Lösung der Spielenden scheinen
unter diesen Voraussetzungen, so verwirrend dies ist, gleichzeitig notwendig zu sein, damit die unwirkliche Wirklichkeit des Spiels zustande kommt. Die verbindliche Wirklichkeit des Spiels muss von den
Spielenden hervorgebracht werden, obwohl sie um dessen Unwirklichkeit wissen. Auch wenn diese Wirklichkeit erst im praktischen
Vollzug konstituiert wird, so ist doch auch dem praktischen Vollzug
selbst die Wahrnehmung eines bloßen ‚Als-ob‘ eingeschrieben.
Im Spiel bildet sich eine Wirklichkeit – trotz Täuschung, Illusion,
‚schönem Schein‘. Darin liegt auch eine Bindungskraft an das Spiel,
welche die Spielenden in ihren Bann zieht: Das Spiel „fesselt. Es
bannt, das heißt: es bezaubert“ (Huizinga 2004, S. 19, i. O. kursiv).
Das Spiel versetzt die Spielenden in eine andere Welt. Obwohl sie
„selbst zugleich wissend und betrogen“ (ebd., S. 33) sind, obwohl sie
um den eigenen Anteil an der Herstellung des Zaubers wissen, dem
15
16
Dieses Spiel kritisiert die Produktionsbedingungen von Apple-Smartphones. Arbeiter, die sich vom Fabrikdach stürzen, sind im Spiel mit einem Sprungtuch
aufzufangen – eine Anspielung auf Selbstmorde von ausgebeuteten Arbeitern und
Arbeiterinnen in einer Zulieferfirma von Apple im chinesischen Shenzhen.
Der praktische Vollzug, das körperliche Einbezogensein, bildet einen wichtigen
Einsatzpunkt des Beitrags von Christoph Wulf in diesem Band.
SPIEL – EINE EINLEITUNG
17
sie erliegen, erscheint den Spielenden die unwirkliche Wirklichkeit
des Spiels „wirklicher als die Wirklichkeit“ (Gebauer/Wulf 1998, S.
203). Huizinga spricht daher von der Wirklichkeit des Spiels als einer
sakralisierten, einer heiligen Wirklichkeit.
Indem es sich auf die soziale Wirklichkeit zugleich bezieht und
diese in ihrer Bedeutung relativiert, bringt das Spiel einen Raum
hervor, der eine Wahrheit verspricht, die in der sozialen Wirklichkeit
nicht zu erreichen ist. Die Verzauberung durch das Spiel lässt zwar
Zweifel zu; dennoch führt das nicht dazu, dass die Spielenden das
Versprechen der Transzendenz des Bestehenden im Vollzug des
Spiels in Frage stellen. Von hier aus wird verständlich, wieso das
Spiel in die Nähe zu kultischen oder religiösen Handlungen gerückt
wird, so zum Beispiel in der bekannten Studie von Huizinga (Huizinga 2004, S. 27ff.). Spielerische Handlungen werden mit einem
„heiligen Ernst“ (ebd.) ausgeführt, der die Spielenden ergriffen hat.
Der folgende Abschnitt versucht, der Spur einer kultischen Inszenierung ein Stück weit zu folgen, um diese dann mit der ästhetischen
Spieltheorie in Verbindung zu bringen.
II. Vom Kult zur ‚Versöhnung im schönen Schein‘
Wie ist der heilige Ernst, die Verzauberung der Spielenden und ihre
affektive Bindung bzw. Einbindung, möglich, wo die Spielenden
doch um den imaginären Charakter des Spiels wissen? In seiner
Huizinga-Interpretation gibt Robert Pfaller die folgende Antwort: Es
ist gerade das Wissen der Spielenden um den imaginären Charakter
des Spiels, um seine jede ‚realistische‘ Erklärung und Begründung
überschreitende Dimension, die zu einer affektiven Bindung führt.
Gerade weil man weiß, dass die Spiel-Wirklichkeit keine Wirklichkeit
darstellt, entsteht die Möglichkeit einer Bezauberung durch eine Illusion, die unter rationalen Gesichtspunkten unmöglich ist – aber
vielleicht doch nicht ganz (Pfaller 2002, S. 54).17 Es ist das ‚bessere
Wissen‘, das die Illusion in die Schwebe zwischen Unmöglichkeit
und Möglichkeit versetzt (ebd., S. 44).
An diesem Punkt liegt es nahe, auf die Ritualtheorie Victor Turners
einzugehen. Im Anschluss an van Gennep (1986)18 unterscheidet
17
18
Pfaller entwickelt seine Perspektive im Anschluss an den Psychoanalytiker Octave
Mannoni.
Die einschlägige Studie „Übergangsriten“ von Arnold van Gennep erschien zuerst
1909.
18
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
Turner (1969) drei Phasen von Ritualen, die sich am ehesten an
Übergangsritualen zeigen lassen. In einer ersten Phase erfolgt eine
(häufig gewaltsame) Loslösung der Novizen, die etwa in einen Initiationsprozess eintreten, aus ihrer gewohnten Umgebung. Sie verlassen das soziale Ordnungsgefüge und damit die Ordnung selbstverständlicher Beziehungen. Sie werden an einen räumlich separierten
Ort gebracht. Hier beginnt die zweite Etappe des Übergangsprozesses,
von Turner „Schwellenphase“ oder „liminale Phase“ genannt. In diesem vom Alltag getrennten Raum haben die sozialen Regeln, die
Erwartungsbeziehungen, die Pflichten und Bedingungen sozialen
Respekts keine Geltung mehr. Sie bilden demgegenüber einen Bezugspunkt, der subvertiert wird. Man verlangt von den Novizen, dass
sie sich über diese Regeln hinwegsetzen, gegen sie verstoßen. Zugleich handeln auch diejenigen, die als Eingeweihte diesen Prozess
strukturieren, auf eine Weise, die keinerlei Erwartungssicherheit aufkommen lässt. Alles kommt darauf an zu zeigen, dass jede verlässliche, jede rational auszurechnende Ordnung aufgehoben ist: An diesem Ort zählen die sozial akzeptierten Begründungen nicht mehr.
Dies ist der Ort, an dem die Novizen mit dem Heiligen in einen meist
furchterregenden Kontakt kommen. Eben dieses Heilige verleiht ihnen eine neue Identität – eine Identität, die etwas anderes ist als jene
soziale Identität, die man im sozialen Gefüge innehat.19 Die Novizen
werden schließlich etwa lernen, Masken zu tragen, die von Initiierten
gefertigt wurden, und damit das Heilige auch im Rahmen kultischer
Veranstaltungen zu re-präsentieren. In der dritten Phase kehren die
nun Initiierten in die soziale Gemeinschaft zurück.
Betrachtet man nun etwa kultische Inszenierungen, in denen das
Heilige, die jenseitigen Mächte, in der Form von Masken re-präsentiert wird bzw. werden, so könnte zunächst die Vermutung aufkommen, dass es sich bei diesen Veranstaltungen allein um eine Inszenierung für jene handelt, die um das Geheimnis des Kults nicht
wissen. Das Geheimnis besteht in dieser Lesart nur darin, dass die
Masken von Menschen gemacht sind: Die anderen – Frauen und
Kinder etwa – wissen darum nicht und sie können getäuscht werden.
Ihre Angst wird zum Mittel sozialer Kontrolle. In dieser Sichtweise
wissen die Männer um die Illusion des Kultspiels, glauben aber
selber nicht daran.20
19
20
Vgl. hierzu auch die Darstellungen bei Herdt/Keesing 1982; Schäfer 1999 und
2004; Tuzin 1980.
Huizinga diskutiert diese Sichtweise und verweist darauf, dass die ethnologische
Forschung eine solche Vorstellung schon lange verabschiedet habe (vgl. Huizinga
2004, S. 28ff.).
SPIEL – EINE EINLEITUNG
19
Dies ist nun aber gerade nicht der Fall. Obwohl die Männer darum
wissen, dass sie die Masken selbst gefertigt haben, dass es sich also
letztlich nur um ein von ihnen bearbeitetes Stück Holz oder ein gefertigtes Kostüm handelt, bildet der Maskentanz auch für sie mehr
als eine spaßhafte Repräsentation der heiligen Kräfte. Sie gehen
davon aus, dass sie diese Kräfte, die sich jeder sozialen Ordnung
entziehen, nicht einfach nur zur Darstellung bringen. In der von
ihnen getanzten Maske kommt dieses Imaginäre nicht nur zur Erscheinung, sondern es ist in dieser Erscheinung präsent. Es ist diese
Präsenz des Imaginären, die in ihrem Auftritt wirksam ist, die einen
„heiligen Ernst“ hervorruft.
Der heilige Ernst beruht letztlich darauf, dass die Unterscheidung
zwischen dem, was man selbst als ‚Wissender‘ zum Gelingen des
Auftritts beiträgt, und dem, was gleichsam ‚durch die eigene Darbietung hindurch‘ sich vollzieht, die eigentliche Bedeutung dieses Gelingens hervorbringt. Der heilige Ernst ist dann gerade an das Wissen
um die Paradoxie einer Repräsentation gebunden, die nach sozialen
Regeln (also wirklich) verläuft, in der aber gleichzeitig das präsent
bleibt, was nach sozialen Regeln unmöglich und unfassbar ist.21 Als
Träger einer Maske, als Spieler einer heiligen Rolle, ist man nicht
einfach man selbst als jemand, der in der sozialen Wirklichkeit zu
verorten ist; zugleich geht der Spieler aber auch nicht einfach in der
‚illusionären‘ Rolle auf. Die Maske, die der Spieler trägt, ist nicht das
eigene Selbst, und zugleich lässt sich nicht sagen, dass sie nicht doch
das eigene Selbst ist.22 Es ist das Wissen des Eingeweihten, das die
Aufführung in einer Schwebe zwischen Glauben und Nicht-Glauben, zwischen Realität und Illusion hält. – Gerade dadurch wird ein
heiliger Ernst hervorgebracht, der in dieser Form von den NichtEingeweihten, den im Alltag Befangenen nicht geteilt werden kann.
Die Sakralisierung, die den heiligen Ernst herbeiführt, beruht auf
dem Wissen um eine Illusion, deren ‚unwirkliche Wirklichkeit‘ nicht
auszuschließen ist. Dabei muss es sich nicht um Geister oder unmögliche Wirklichkeiten handeln: Auch Wahrscheinlichkeitsrechnungen (vgl. Esposito 2007) oder hochkomplizierte mathematische
Modelle, wie sie etwa in die Börsenspekulation eingehen, haben
diesen Effekt. Auf der Grundlage des bereitgestellten Wissens kann
die vermeintlich gegebene Wirklichkeit im Namen einer illusionären, einer ‚unwirklichen Wirklichkeit‘ in die Schwebe gebracht wer21
22
Vgl. zu dieser Paradoxie der Repräsentation am Beispiel eines Voodoo-Maskenkultes Schäfer 2004, S. 123ff.
Margaret Thompson Drewal fasst dies in die Formel, die Maske sei „not me, not
not me“ (Drewal 1992, S. 90).
20
ALFRED SCHÄFER | CHRISTIANE THOMPSON
den, so dass mit durchaus heiligem Ernst entsprechende Einsätze
gemacht werden können. Mit diesen Einsätzen versucht man im
Hinblick auf die ‚unwirkliche Wirklichkeit‘ des Vermuteten, des Erhofften und Befürchteten einen Stand zu gewinnen, von dem man
weiß, dass er (trotz aller rationalen Risikokalkulation) nicht von einem selbst abhängt – aber vielleicht doch ein wenig.
Huizinga geht nun davon aus, dass zwar alle spielerischen Handlungen, die mit der (gebrochenen) Hingabe an das Spiel erfolgen,
‚heilige Handlungen‘ sind, dass aber aus dieser formalen Gleichheit
mit kultischen Handlungen nicht folgt, dass alle Spiele als kultische
Handlungen zu verstehen sind (Huizinga 2004, S. 28). Für ihn liegt
das Spiel seinen kultischen Ausformungen voraus und vermag diese
zu übersteigen.
Victor Turner hat diese Entwicklung als eine der Ästhetisierung des
Kultischen gefasst: An die Stelle der angedeuteten liminalen Phase sei
unter modernen Bedingungen ein liminoides Spiel mit den Grenzen
von Wirklichem und Unwirklichem getreten, wie Turner an den Entwicklungen des modernen Theaters zeigt (Turner 1995). Wenn man
die Gemeinsamkeit von liminalem und liminoidem Zustand darin
sieht, dass es sich um eine distanzierte ‚Entwirklichung‘ des Subjekts
handelt, dann lässt sich der Unterschied wohl am ehesten daran
festmachen, dass sich der ‚Zauber‘ der liminoiden Phase in einer
Dezentrierung des sozialen Selbst zeigt. Es geht, konkret formuliert,
darum, souveräne Verfügungsfantasien zu überwinden und sich der
Wirklichkeit eines unwirklichen Geschehens zu überlassen.23 Die
Überwindung der sozialen und gleichzeitig anthropologischen Bestimmtheit des Selbst bildet schon bei Schiller den Bezugspunkt für
eine Theorie des Spiels, die dieses Selbst zu einer unwirklichen Wirklichkeit und gerade darin zu seiner eigentlichen Wahrheit führen soll.
In seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“
geht Schiller von einem anthropologischen Modell aus.24 In diesem
wird der Mensch durch zwei unterschiedliche ‚Triebe‘ bestimmt,
deren Logiken sich wechselseitig ausschließen. Dies führt einerseits
dazu, dass die jeweilige Befolgung einer dieser Logiken zur Vereinseitigung und damit zum Verfehlen des vollen Menschseins führt.
Andererseits ist es für den Menschen ausgeschlossen, aus eigener
Kraft – etwa durch die Kraft der Reflexion oder der Vernunft – die
Dualität seiner beiden Antriebe zu versöhnen.
23
24
Turner verweist hier auf das von Mihaly Csikszentmihalyi (1974) untersuchte
„Flow-Erlebnis“ (vgl. Turner 1995, S. 88.).
Schiller 1973. Vgl. dazu Schäfer 2009, S. 264-282, und Ensslin 2006.
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