Theorie des Spiels der Theorie

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Hans Günter Holl
Theorie des Spiels der Theorie
In memoriam Karl Markus Michel
1.
dienten lediglich als Triebkräfte für die
„Einst hatte Gott einen fröhlichen Spötter lieb,
unermüdliche Lebensarbeit – und
jetzt aber ist die Welt ernst geworden.“ Dieser
apokryphe Wandspruch eines zeitgenössischen
mühten sich redlich, neue Prinzipien oder
Philosophen
Orientierungspunkte anstelle der alten zu
scheint
ziemlich
genauer
Ausdruck einer kulturellen Stimmung oder
etablieren,
besser: Verstimmtheit zu sein, auch wenn die
diagnostizierten.
verwendeten Begriffe im einzelnen nicht
Ihnen allen ist ein Wesenszug gemeinsam, der
besonders genau anmuten. Gott, die Welt, ernst
die
– diese drei Kürzel sind allesamt höchst
neunzehnten Jahrhundert insgesamt beherrscht
problematisch geworden, und obendrein stehen
hat: Sie haderten mit dem überkommenen
sie
Begriff der Transzendenz, trieben das Denken
in
einem
wechselseitigen
Begründungszusammenhang,
der
als
immer
deren
wissenschaftliche
weiter
wahrscheinlich gelten läßt, daß mit dem Tod
Verabsolutierung
Gottes
verknüpften
auch
die
Welt
als
einheitliches
Zusammenbruch
es
in
die
der
dadurch
sie
Gebärde
des
Richtung
einer
Immanenz
und
sehr
eng
mit
Konstrukt der Theorie zusammenbrach; und
innerweltlichen Belangen, mit irgendwelchen
wer würde es angesichts dieser Bodenlosigkeit
Formen des handfest Realen oder sogar der
wagen, ernsthaft von Ernst zu sprechen?
alltäglichen
Lebenspraxis.
Durch
diesen
***
Prozeß, der bereits im siebzehnten Jahrhundert
Die Krise der westlichen Kultur, die alle ihre
machtvoll einsetzte, aber erst im neunzehnten
ehemals
erscheinenden
seinen Höhepunkt erreichte, verlor das Denken
Grundbegriffe, Werte und Prinzipien in einen
insgesamt etwas von seiner Freiheit, wurde es
mörderischen Strudel gerissen hat, beruhte
so nahtlos ins Gefüge der Weltlichkeit
natürlich
verstrickt,
selbstverständlich
nicht
auf
der
willkürlichen
daß
sich
jeder
öffentlich
Zerstörungswut jener kritischen, schneidenden
ausgesprochene Gedanke wie vor einem
Geister, die jede Krise hervorbringt und denen
allmächtigen Tribunal zu verantworten hatte,
man sie oft aus purer Hilflosigkeit und
und angesichts dieser Entwicklung nimmt es
Verzweiflung
es
nicht Wunder, daß die äußere Zensur im Lauf
Schopenhauer oder Nietzsche, Feuerbach oder
der Zeit nur noch die Alibifunktion beibehielt,
Marx, Darwin oder Freud, um nur einige
von der durchgängigen inneren, die ohnehin
herausragende Denker zu nennen, die ganze
viel sicherer wirkt, abzulenken.
Welten zum Einsturz gebracht haben: Sie alle
Adorno hat das, zusammen mit Horkheimer,
waren zutiefst betroffen von den eigenen
am Ende der Dialektik der Aufklärung
Entdeckungen – Stolz und Originalitätssucht
drastisch genug formuliert:
zur
Last
legt.
Sei
„Man wird für den Gedanken zur Rechenschaft
herausragender, tonangebender Denker und
gezogen, als sei er die Praxis unmittelbar. In Europa
den Inhalten bzw. Neigungen ihres Denkens.
gibt es fast kein Land mehr, wo man für einen
„Die Probleme der bürgerlichen Ideologen in der
lapsus linguae nicht erschossen würde. Nicht bloß
Arbeiterbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts
das Wort, das die Macht unmittelbar treffen will,
rührten aus diesem Mangel an Selbst-Distanz her.
sondern
tastend,
Die bürgerlichen Radikalen neigten zu rigiden
experimentierend, mit der Möglichkeit des Irrtums
Festlegungen, um nicht Gefahr zu laufen, durch
spielend,
Veränderung
auch
das
sich
Wort,
bewegt,
ist
das
allein
deshalb
ihrer
Ideen
ihre
Legitimität
intolerabel.“
einzubüßen. Sie waren außerstande, zu spielen.“
Hier wird, so scheint es, die Unfreiheit des
Sehr treffend erscheint mir die Beobachtung,
Denkens
daß die Unfähigkeit zu spielen ein Wesenszug
allein
Umstände
auf
spezielle
unter
historische
außergewöhnlichen
ist,
der
sich
in
weiten
Teilen
der
politischen Bedingungen zurückgeführt. Nicht
industrialisierten und politisch polarisierten
allein. Der Schein trügt. Im Text folgt ein
Welt
Verweis auf Hegels Diktum, das Ganze sei das
durchgesetzt und immer mehr verstärkt hat.
Wahre, und im ersten Einleitungssatz der
Nur
Negativen Dialektik, wo das Thema mit ebenso
Unterschied zu den formalisierten Spielen mit
großer
streng festgelegten Regeln, so vage und so
Ironie
marxistisches
wie
Bitterkeit,
Verdikt
auf
anspielend,
ein
erneut
aufgegriffen wird, heißt es:
Leben,
weil
der
Augenblick
ihrer
Verwirklichung versäumt ward.“
Sphäre der Theorie bezeichnet Adorno als
einen „Defätismus der Vernunft“.
man
sich
nun,
so
bekommt
diese
man
von
dem
amerikanischen Soziologen Richard Sennett
eine recht plausible Antwort. Sennett führt sie
zurück auf den Niedergang der öffentlichen
Sphäre
und
die
damit
einhergehende
Unfähigkeit zur Selbst-Distanz oder zu einer
spielerischen Haltung. Er sieht eine der
Wurzeln für das Erstarren der Theorie in einer
besonderen Konstellation des neunzehnten
Jahrhunderts,
zwischen
nämlich
der
Begriff
faßbar,
daß
des
man
Jahrhundert
Spielens,
eine
im
solche
im
sozialen
muß. Zum einen kommt es hier, selbst bei aller
Gleichförmigkeit der Produktionsverhältnisse
regionale und individuelle Charaktereigenarten
im Kontext der kulturellen Mentalität an; zum
anderen
was
Untergangsstimmung ausgelöst hat und was sie
prägt,
schwer
der
neunzehnten
und der Klassenstrukturen, auf nationale,
Die Konsequenzen dieses Verdikts für die
Fragt
ist
dem
Behauptung mit einiger Vorsicht interpretieren
„Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich
am
seit
Widerspruch
Herkunft
läßt
sich,
darüber
hinaus,
grundsätzlich bezweifeln, ob die Soziologie
oder
eine
der
ihr
verwandten
Einzelwissenschaften,
wie
Psychologie,
Ethnologie oder Geschichte, denn eigentlich in
der Lage sind, Umfassendes und Sinnvolles
zum Phänomen des Spiels als Element der
Kommunikation zu formulieren.
Sennett begründet seine Diagnose bezüglich
der „Unfähigkeit, zu spielen“ im Rahmen einer
soziohistorischen
Analyse
des
Öffentlichkeitsbegriffs. Er kommt zu dem
Schluß, daß mit dem Verfall und Ende des
öffentlichen Lebens im vorigen Jahrhundert
ist, um zu bestimmen, worauf diese Konzepte
auch die Kraft der civilitas verlorengeht, das
einst zielten.
heißt die Fähigkeit zur Selbst-Distanz, zu
Der Begriff „Öffentlichkeit“ ist kaum weniger
spielen, „die anderen mit der Last des eigenen
abstrakt
Selbst zu verschonen“, kurz, es setze sich die
Grundkonzepte Seele, Welt, Gott – und er setzt
„Tyrannei der Intimität“ durch. So sehr ich
das in ihnen zum Ausdruck kommende Prinzip
diesem Befund auf einer allgemeineren Ebene
der Einheit voraus. Fallen solche Begriffe mit
zustimmen möchte, so fragwürdig erscheint
dem, was sie meinten, dem Prozeß der
mir seine Begründung und Herleitung im
historischen Auszehrung und Kritik anheim, so
einzelnen, besonders was den Begriff des
löst sich dabei nicht einfach die Sache auf, so
Spiels angeht.
daß man sie ersatzlos streichen könnte,
Eingeengt
durch
metaphysischen
sondern sie werden paradox; das heißt ihre
pragmatisch orientierten Soziologie, die sich
Geltung erscheint dann ebenso notwendig wie
ausschließlich durch Plausibilität rechtfertigt,
ihre Nichtgeltung. An diesem Punkt treten
stutzt Sennett den Spielbegriff auf die alte
Wissenschaft
Vorstellung vom theatrum mundi zurecht,
regelmäßig auseinander: Die Wissenschaft hält
reduziert
mit
an einer von beiden Seiten, der Geltung oder
expressive
der Nichtgeltung, fest und setzt sie als – nur
Schaupielerei, und sieht im Menschen der
durch die Mode bedrohten – sicheren Bestand
„intimen Gesellschaft“ einen „Schauspieler,
voraus; die Theorie dagegen erweist beiden die
der seiner Kunst beraubt ist“. Nur so kann er
Ehre und folgt damit vielleicht der biblischen
seine
Gesellschaftsanalyse
Aufforderung: „Lasset beides miteinander
durchweg auf den Begriff der Öffentlichkeit
wachsen bis zur Ernte.“ In dieser Duldsamkeit
stützen, ohne sich die Frage zu stellen, ob
gegenüber dem Paradoxen bleibt speulative
dieser
seine
Theorie immer auf die schwebende Sphäre des
metephysischen
Spiels bezogen, wobei der hier vorausgesetzte
Grundkonzepten Seele, Welt, Gott finden muß,
Begriff des Spiels noch genauer zu erläutern
deren
ist.
Konventionen,
Perspektive
die
einer
Spiel
die
als
auf
das
also
auf
historische
soziologische
Fundierung
in
Begriff
den
Zusammenbruch
Jahrhundert
Spielen
erlebte.
das
neunzehnte
wenn
spekulative
Theorie
man
Zunächst möchte ich jedoch zeigen, wie die
behauptet, daß soziale Konstellationen und
pragmatische Verengung der Perspektive, die
Entwicklungen für die Geltung metaphysischer
Reduktion von Transzendenz auf Immanenz,
Ideen ursächlich oder konstitutiv sind, daß also
die
der Zerfall „der Öffentlichkeit“ für den Kollaps
Abspaltung der Einzelwissenschaften vom
dieser Konzepte verantwortlich war, bleiben
theoretischen Diskurs endgültig vollzogen
doch erhebliche Zweifel daran, ob das
wurde, das Nachdenken über spekulative
Instrumentarium
oder
Begriffe, etwa den des Spiels selbst, ins
verwandter Einzelwissenschaften angemessen
Empirische verlagert hat. Alle Disziplinen, die
der
Selbst
nicht
und
Soziologie
im
neunzehnten
Jahrhundert
durch
im letzten Jahrhundert entstanden sind, haben
Immanenz
die
metaphysische oder transzendentale Ableitung,
Scherben
Grundbegriffe
der
Erklärungsprinzipien. Ihr Wahrheitsmaßstab
Nebengebieten ruht auf den Trümmern der
wurde pragmatisch und generierte daher
Seele, Soziologie und Ethnologie stützen sich
ständig neue Widersprüche. Die metaphysisch
auf die Bruchstücke der einen Welt, und der
orientierte Spekulation löste sich von den
Gottesbegriff scheint unter dem Historismus
historischen und sozialen Tatsachen ab, weil
und der Evolutionstheorie begraben zu liegen.
diese ihre Grundlagen bedrohten, und flüchtete
Weitere gliedern sich an. Sie wurden durch ihr
sich in die Sphäre des reinen Geistes, wo sie
zerrissenes Erbe in ihren Grundlagen so heillos
sich nicht nur den Vorwurf der Weltfremdheit,
widersprüchlich wie auf der anderen Seite jene
sondern auch den der bewußten ideologischen
traurigen Nachzügler des Mittelalters, die
Verschleierung gefallen lassen mußte. Dieser
positiv und dogmatisch an der Geltung
Prozeß führte zur strikten Separation der
überkommener Transzendentalien festhielten.
Geistes- von den Naturwissenschaften, und im
Diese
Niemandsland zwischen den beiden machten
verfielen
Rand-
rettungslos
dem
Rechtfertigung
eine
und
ihren
und
auf
Begründung
mit
Fundament.
verzichteten
Die
Psychologie
zum
metaphysischen
und
Ideologieverdacht, das heißt sie bekundeten
sich
gerade durch ihr naives und zugleich trotziges
Sozialwissenschaften breit, die aufgrund ihrer
Anpreisen des Verlorenen den Primat des
ungeheuren Integrationsfähigkeit in der Lage
gesellschaftlich notwendigen Scheins. Der
waren,
„Gott im Nächsten“ beispielsweise wird derart
Universalitätsanspruch für sich zu reklamieren.
leicht zur Beute einer soziologischen Theorie
Gerade
über
wie
Flexibilität ihrer Begriffe und Kategorien,
fundamentalontologisches
wegen ihrer synthetischen Kraft, Pragmatismus
Konzept der Welteinheit durch die kritische
und zweckfreie Ideale, politisches Interesse
Theorie der Gesellschaft oder eine Lehre von
und wissenschaftliche Neutralität unter einen
der Seelentranszendenz durch eine kritische
großen Hut zu bringen, traten sie aus dem
Sozialpsychologie
schismatischen Prozeß als lachende Dritte, als
die
andererseits
„Tyrannei
ein
der
ihrer
Intimität“,
anachronistischen
nunmehr
ihrer
mit
triumphierend
einiger
wegen
der
Plausibilität
Ungesichertheit
die
einen
und
Absurdität überführt werden.
strahlende Sieger im Zeitbewußtsein hervor.
Es läßt sich also eine Scherenbewegung
In der Folge waren die Allgemeinbegriffe des
beobachten, die im neunzehnten Jahrhundert
gesellschaftlich orientierten Denkens – etwa
deutlich sichtbar einsetzte und den Horizont
Gesellschaft
des menschlichen Geistes nach zwei Seiten hin
Öffentlichkeit, Interesse oder Ideologie –
drastisch
strengen,
hybride Zwitterformen, gebildet aus dem
empirischen
Bedürfnis nach pragmatischer Rechtfertigung
Wissenschaften zwängten die Gegenstände
einerseits und aus dem Zwang zu strenger
aller möglichen Erkenntnis ins Gefängnis der
wissenschaftlicher
einengte.
tatsachenorientierten,
Die
selbst,
Klasse,
Erklärung
Bewußtsein,
andererseits.
Deswegen eignen sie sich auch so gut für die
Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren...
Diskussion über alles und jedes, das heißt über
Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und
Gott und die Welt. Im sozialwissenschaftlichen
er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es
Denken kommt eine Entsubstantialisierung der
Dinge zum Ausdruck, die dieses zwar weder
erfunden
noch
herbeigeführt,
wohl
aber
begierig aufgegriffen und propagiert hat, ohne
die
Reflexion
über
jene
Grenze
hinauszutreiben, an der Pragmatismus und
wissenschaftliche
Strenge
noch
vereinbar
schienen. Das Wesen der Dinge wurde auf
Typologien reduziert, Substanz im Handstreich
durch Akzidenz ersetzt oder in Strukturen
aufgelöst, Geltung in Genesis, Wahrheit in
Methode überführt, ohne die unerfüllten
Forderungen des dabei Zurückgewiesenen
noch weiter zu beachten.
pragmatischen Rationalität hat die Lust an der
ihre
spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts
Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er
spielt.“
Nun, Schiller war in erster Linie Künstler, ein
klassischer Philosoph hätte vielleicht außer
dem Schönen noch das Wahre und Gute mit
einbezogen. Aber darauf kommt es nicht so
sehr an. Entscheidend ist, daß Schiller das
Wesen des Spiels in der Paradoxie erkennt.
Vergleicht man nun seine paradoxe Definition
des Spiels mit derjenigen Johan Huizingas,
dem man bestimmt nicht Enge des Geistes
vorwerfen kann, dann sieht man sofort, welche
Veränderung
Die kaum gehemmte Ausbreitung dieser
Theorie,
endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch
Freiheit
gegenüber
dem
zwischen
der
dem
zwanzigsten
Denkgewohnheiten
achtzehnten
Jahrhundert
und
sich
dem
vollzogen
hat.
Handlung
oder
Huizinga schreibt:
obsessiven Zwang des Faktischen, ihr Moment
„Spiel
des Spiels, erheblich beeinträchtigt. Dies nicht
Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter
nur, weil der Begriff des Spiels nunmehr
Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig
seinerseits
der
angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln
sozialwissenschaftlichen Verschmelzung von
verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und
streng rationalen und pragmatischen Motiven
begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und
geriet, sondern auch, weil gerade dieser
Freude und einem Bewußtsein des ,Andersseins’ als
Umstand
in
Ausdruck
atmosphärischen
den
einer
Sog
gravierenden
Veränderung
im
menschlichen Denken war. Ein spekulativ
begabter Mensch wie Friedrich Schiller, der
seine Griechen, insbesondere seinen Platon
kannte, hatte sich noch bis zu der Erkenntnis
aufschwingen können, daß das Wesen einer
Sache paradox sein kann. So sagte er zur
Bedeutung des Spiels für den Menschen:
ist
eine
freiwillige
das ,gewöhnliche Leben’.“
Huizinga ist als Wissenschaftler naturgemäß
bemüht, nichts auszulassen, möglichst exakt zu
formulieren und eine Definition zu schaffen,
mit der man etwas anfangen kann. Aber diese
Umständlichkeit
und
Verkrampftheit
der
Definition, die sie ihrem Gegenstand kaum
gerecht werden lassen, bilden nicht den
einzigen
und
nicht
den
entscheidenden
„Der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die
Unterschied zu Schillers schöner und eleganter
Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem
Formulierung.
Dieser
besteht
darin,
daß
Huizinga, dem szientifischen Habitus gemäß,
Transzendenten konvergieren, und sei es auch
nicht auf das Wesen, sondern auf eine
nur in der Transzendenz des Paradoxen.
Typologie des Spiels zielt, um dieser das nicht-
In neuerer Zeit hat Roger Caillois eine Kritik
pragmatische Wesen („ihr Ziel in sich selber
an Huizinga ausgearbeitet – Die Spiele und die
hat“) durch pragmatische Rationalitätskriterien
Menschen. Maske und Rausch –, die an dessen
(freiwillig, festgesetzte Grenzen, unbedingt
strikter
bindende Regeln) und durch eine pragmatische
„Wirklichkeit“ oder „gewöhnlichem Leben“
Abgrenzung (vom „gewöhnlichen Leben“) mit
festhält, jedoch die Klassifizierung der Spiele
ungebrochener Logik einzuverleiben. Dadurch
sehr stark erweitert. Er entwickelt darin eine
gerät nicht nur der besondere Reiz des Spielens
typologische Systematik von Merkmalen und
ins Hintertreffen, die Definition ist gerade
Kategorien des Spiels, die wiederum von
wegen
typologischen
Spielweisen abgegrenzt werden. Die rein
Systematisierung auch zu ungenau, und es
formalen Qualitäten kennzeichnen das Spiel
gelingt ihr nicht, das paradoxe Wesen des
als
Spiels, in dem die Regeln selbst zum
unproduktive,
Gegenstand
Verwandlungsprozesses
Beschäftigung“, die Kategorien, in die es sich
werden können, deutlich von den ritualisierten
unterteilen läßt, sind AGON (Wettkampf),
Formen
ALEA (Chance), MIMICRY (Verkleidung) und
ihrer
des
des
starr
Kampfs
und
des
Krampfs
Trennung
„freie,
zwischen
Spiel
abgetrennte,
und
ungewisse,
geregelte
und
fiktive
abzugrenzen.
ILINX (Rausch). Die Haltung des Spielers zum
Die Verbannung des Spiels aus dem Alltag
Spiel kann von PAIDIA (kindlich, willkürlich)
oder
bis
aus
dem
„gewöhnlichen
Leben“
hinüber
zu
LUDUS
(erwachsen,
entspricht zwar einer sozialen Erfahrung, nicht
kalkulierend) variieren.
jedoch einer theoretischen Notwendigkeit; und
Diese soziologisch-ethnologische Studie, die
wenn sich die Wissenschaft ganz der sozialen
eine Fundierung der Soziologie im Spiel
Erfahrung
anstrebt,
angleicht,
unterwirft,
anstatt
leistet
im
Rahmen
kritische Distanz zu ihr zu halten, indem sie
Forschungsgebiets
dem paradoxen Verhältnis von Einzelnem und
interessante Klärungsarbeit. Indem sie das
Allgemeinem gerecht wird, dann läßt sie das
Problem
Spielelement aller wahren Theorie hinter sich
systematische Typologie der Spiele verengt,
zurück und wird zu einem banalen Abklatsch
indem sie nur die soziologisch empirischen,
der Praxis. Vielleicht kann man stolz darauf
nicht aber die philosophisch spekulativen
sein, daß die strenge Wissenschaft gegenüber
Aspekte des Spielbegriffs einbezieht, gelangt
den Verlockungen des Transzendenten so
sie nicht zu einer Theorie über das Wesen des
nüchtern bleibt und die Dinge auch ohne die
Spiels,
„Hypothese Gott“ im Griff hat. Eine schlüssige
Nebeneinanderstellung von Aspekten, die nicht
Theorie des Spiels erhält man bei solcher
bis zur Spielnatur der Spiele vordringen kann.
Askese jedoch nicht, da Theorie und Spiel im
des
großartige
Spiels
und
ihres
jedoch
sondern erschöpft
sich
auf
höchst
eine
in einer
Wo diese kurz aufleuchten will, spricht
sehr an den platonischen Parmenides-Dialog
Caillois von Korruption:
erinnert. In dem späteren Aufsatz Eine Theorie
„Indem sie [die formalen Qualitäten] jedoch die
des Spiels und der Phantasie, der das Prädikat
Welt des Spiels und die Welt der Wirklichkeit
„Theorie“ wahrlich verdient, tastet er sich zu
einander gegenüberstellen und indem sie betonen,
einer Definition vor:
das Spiel sei im Wesentlichen eine Betätigung für
„Diese Handlungen (oder Aussagen), in die wir
sich, legen sie die Annahme nahe, daß jede
Vermengung mit dem gewöhnlichen Leben Gefahr
liefe, die eigentliche Natur des Spieles zu verderben
und zu zerstören.“
Wirklichkeitsbegriff der Soziologie zu folgen;
aber nicht nur aus ihm, auch Freud kam zu
dem Schluß:
„Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern –
Wirklichkeit.“
Sowohl Huizinga als auch Caillois betonen,
daß Spiel auch bei Tieren zu beobachten sei,
Einsicht
auch
für
ihre
systematischen Untersuchungen zum Thema
kaum Bedeutung gewann. Anders als sie ging
der
Kommunikationsforscher
Gregory
Bateson, der sich selbst wegen seines Glaubens
an
die
Spencersche
Organismus
„Biologen“
und
Analogie
Gesellschaft
bezeichnen
konnte,
zwischen
als
von
einen
der
Beobachtung des Spiels bei Tieren aus. Er
animierte gelangweilte und daher verkrampfte
Flußottern in einem Zoo zum Spielen und
filmte den ganzen Ablauf, interessierte sich
später
dafür,
bezeichnen würden.“
wie
man
daß die Handlungen und Aussagen im Spiel
gleichzeitig
bezeichnen
(oder
bedeuten)
müssen, was sie bezeichnen (oder bedeuten),
und auch nicht. Sonst wäre die Definition
sinnlos. Bateson schließt also aus seinen
Beobachtungen, daß es im Wesen des Spiels
Eine Wahrheit der Psychoanalyse?
diese
Handlungen (oder Aussagen), die sie bezeichnen,
Will diese Definition schlüssig sein, so ist klar,
Diese Konsequenz scheint zwingend aus dem
wenn
jetzt verwickelt sind, bezeichnen nicht, was jene
Polizei-
und
Blindenhunden in der Dressur den Spieltrieb
austreibt, und dokumentierte auch diesen
Vorgang in mehreren Filmen. Schon in seinem
„Metalog“ von 1953 – Über Spiel und Ernst –
hatte er die paradoxe Natur des Spiels
durchscheinen lassen, und man fühlt sich dabei
liegt, das Identitätsprinzip außer Kraft zu
setzen. Wo Huizinga und Caillois bei der
einfachen Negation stehenbleiben, das Spiel
sei nur „fiktiv“ oder „nicht so gemeint“, da
geht Bateson einen Schritt weiter. Spiel sei
nicht „anders als die Wirklichkeit“, denn diese
Formulierung erweist sich bei genauerem
Hinsehen als sinnlos, es sei vielmehr die
Aufhebung
der
Differenz
zwischen
Wirklichkeit und Schein; im Spiel werde auch
nicht bloß negiert, was gemeint (oder bedeutet)
ist, sondern es komme zu einem paradoxen
Zusammentreffen von „gemeint“ und „nicht
gemeint“,
„Bedeutung“
und
„Nicht-
Bedeutung“.
Wenn also das Spiel durch den negativen
Bezug auf einen Kontext, etwa die „Grenzen in
Raum und Zeit“ oder das „gewöhnliche
Leben“ bzw. die „Wirklichkeit“ definiert
werden soll, dann ergibt sich daraus eine
paradoxe Konsequenz, weil die Negation nicht
als einfache bestehen bleibt, sondern eine
widersprüchliche Aussage über sich selbst
der Abgrenzung, aus dem sich die jeweiligen
formuliert.
dieser
Einzelwissenschaften konstituieren. Damit ist
Schlußfolgerung ist, daß sie über eine bloße
er seinem Anspruch nach überhistorisch,
Typologie des Spiels hinausgeht und auf einen
übersozial, überkulturell etc., das heißt es
Punkt verweist, in dem alle von Huizinga und
handelt sich um einen spekulativen, rein
Caillois dargestellten Aspekte des Spiels und
theoretischen Begriff, den man ehemals der
der Spiele zusammentreffen, nämlich auf die
Philosophie zugeordnet hätte.
innere Logik des Spiels: das Paradoxe.
Nun fällt es nicht schwer, den Einwand zu
Es mag sein, daß Bateson diesen Schritt
erheben, daß der Kontextbegriff in einer
vollziehen konnte, weil ihm Russells „Theorie
bestimmten
der logischen Typen“ und Korzybskis nicht-
bestimmten sozialen Bedingungen und mit
aristotelische Semantik zur Verfügung standen;
bestimmten
denn Bateson sieht ja das Wesen des Spiels im
Voraussetzungen,
Zusammentreffen
logischer
Kybernetik, zu Bedeutung gelangte. Das
in der
schränkt offenbar seine universelle, unbedingte
Aufhebung des Identitätsprinzips. Aber auf
Geltung ein. Da der Begriff rein theoretisch ist
diese Theorien hätten auch schon Huizinga und
und auf einer spekulativen Konstruktion
Caillois zurückgreifen können, wäre es ihnen
beruht,
in den Sinn gekommen, über das Verhältnis
Wahlfreiheit herrscht – man kann sich auf
von Spiel und Kontext sowie über die logische
einen räumlichen oder zeitlichen, auf einen
Natur des Kontexts nachzudenken. Dies getan
materiellen oder ideellen Kontext beziehen –,
zu
läßt
Ebenen
Bemerkenswert
verschiedener
oder Typen,
haben,
war
an
das
heißt
Batesons
entscheidende
Anregung.
sich
historischen
Situation,
unter
wissenschaftlichen
in
namentlich
der
aber
fast
denen
der
uneingeschränkte
auch
die
Frage
seiner
Geltungsgrenzen rein theoretisch zutreffend
beantworten. In logischer Formalisierung zielt
diese Frage auf den Kontext des Kontexts oder,
2.
Sucht
man
im
Rahmen
Einzelwissenschaften
des
durch
zersplitterten
und
noch allgemeiner, auf den Kontext aller
Kontexte.
Damit
gerät
man
in
einen
verengten Denkens nach einem allgemeinen
unendlichen Regreß, das heißt der Begriff
Begriff, der die relativierenden Bedingungen
erweist sich, wie auch schon der des Spiels, in
jedes
seinem
Forschungsgebiets,
also
etwa
die
Anspruch
auf
konzeptuelle
historischen, die sozialen, die kulturellen, die
Abgrenzung einer bestimmten Sphäre als
ökonomischen etc., aus ihrer konzeptuellen
paradox. Er grenzt gleichzeitig ab und hebt die
Enge
Begrenzung auf.
befreit
und
als
formales
Prinzip
zusammenfaßt, so bietet sich eben der Begriff
In dieser Betrachtung war die Begriffstriade
„Kontext“
keiner
Kontext, Theorie und Spiel angesprochen, die
werden,
ein bildliches, ein logisches und ein paradoxes
an.
Einzelwissenschaft
Er
kann
zugeordnet
sondern bezeichnet vielmehr das Grundmodell
Motiv
enthält;
nämlich
den
Anschauungshintergrund des Kontextes, die
heraus unabweisbar begründet. Beeinflußt
Begrifflichkeit
die
durch die Erfahrungen und das Denken unseres
eigentümliche Auflösung von beidem durch ihr
Jahrhunderts, müßte man sagen, daß in diesem
Konvergieren in einem unendlichen Regreß.
Zusammenhang
Diese Begriffstriade dient zum einen als Stütze
arbeitsteiligen
für Schillers paradoxe Definition des Spiels,
kommt.
macht zum anderen aber auch deutlich, warum
Individualität und Substantialität – Walter
er das Spiel so eng an die Kunst knüpfte.
Benjamins „Aura“ – der Einzeldinge, macht
Spekulative, philosophische Theorie zielt auf
sie austauschbar und setzt Identität als Prinzip
das Wesen der Dinge, kann dieses aber nur
durch.
abstrakt
insofern
Ein Prinzip ist allerdings etwas Abstraktes und
tautologisch oder wird, wenn sie über die
Allgemeines. Seine Bedeutung für die Sphäre
Tautologie hinausgehen will, widersinnig; sie
des Besonderen, in der es sich „durchsetzen“
liefert jedoch einen begrifflichen Kontext oder
oder gelten soll, kann mit derjenigen von
Prätext für die Darstellung dieses Wesens, die
Regeln für Handlungen und Aussagen in einem
allein in der Kunst gelingen kann, wenn sie an
Spiel verglichen werden. Jedoch mit einer
das Unmögliche ihrer Aufgabe heranreicht.
entscheidenden Einschränkung: Zieht man, wie
Die Einzeldisziplinen aber, die das Element
es
des Spiels oder des Paradoxen zugunsten der
Scheidelinie zwischen Spiel und gewöhnlicher
Identität
und Resultate
Realität, so kommt es, was die Geltung, den
ausklammern, begnügen sich notgedrungen mit
Bestand von Prinzip und Regel angeht, zu
einer
einer ganz unterschiedlichen Gewichtung von
der
benennen
der
Theorie
und
bleibt
Gegenstände
begrifflichen
und
Darstellung
von
Erscheinungen.
allein
Kontext
Warenproduktion
Diese
die
der
zerstört
Wissenschaftler
die
tun,
in
der
Frage
Eigenart,
eine
klare
Einzelnem und Allgemeinem in den beiden
theoretischen
Sphären. In der „gewöhnlichen“ – sozialen
Erwägungen, die ja immer noch möglich sind,
oder physikalischen – Realität soll ein Prinzip
den Schluß, daß die Zersplitterung der
bzw. ein Gesetz universell gelten, auch wenn
Wissenschaften,
einzelne
Zieht
man
aus
diesen
die
im
neunzehnten
Fälle
davon
hier
zur
Ausnahmen
Immanenz und die damit einhergehende
Verstärkung der Regelhaftigkeit. Ganz anders
Entsubstantialisierung der Dinge weder im
im Spiel. Wer oder was in diesem Bereich die
Rahmen des Denkens noch im Rahmen der
Regeln verletzt, gefährdet ihren Bestand
Geschichte
ingesamt und damit das Ganze.
notwendig
und
sie
Als
Jahrhundert einsetzte, die Glorifizierung der
zwingend
dienen
abweichen.
unausweichlich war, dann kann man sie nur
Der
vor
geeigneten
zwischen Spiel und gewöhnlicher Realität
Kontexts nachvollziehen. Dieser wäre, wie
zufolge hängt also in dieser das Einzelne
Sennetts These vom Verfall des öffentlichen
vollends vom Allgemeinen ab, während sich
Lebens, nur plausibel, aber nicht aus sich
das Verhältnis in jener genau umkehrt. Der
dem
Hintergrund
eines
wissenschaftlichen
sogar
Unterscheidung
Gedanke, diese Unterscheidung und mit ihr die
die insofern paradox ist, als sie zu verbergen
strikte Trennung zwischen Spiel und Realität
sucht, was sie auch gleichzeitig offenbart:
zugunsten des Einzelnen aufzuheben, stößt auf
„Der Autor legt, soweit er es vermag, die Karten
eine heftige emotionale Reaktion, denn in
auf den Tisch; das ist keineswegs dasselbe wie das
jenem geht es ja eigentlich „um nichts“, in
Spiel.“
dieser dagegen „um Leben und Tod“. Über
Solche Koketterie erinnert an Platons Hinweis
diese Sperre muß sich der theoretische Diskurs
auf seine „ungeschriebene Lehre“, die er im 7.
hinwegsetzen, und das nicht nur wegen der
Brief und, nach den Berichten einiger Schüler,
inneren Dynamik seiner Begriffe, sondern
darunter Aristoteles, in seiner Altersvorlesung
auch,
Über
weil
die
Verherrlichung
von
wissenschaftliche
Realitäts-
und
die
Mathematik
angesprochen
und
und
als
das
Gute
schlechterdings
Immanenzprinzipien auf Kosten des Einzelnen
unschreibbar bezeichnet hat. Der Grund für
– als eine Art Verdoppelung des Schicksals –
diese Einschränkung scheint darin zu liegen,
zur Erstarrung des Machtverhältnisses beiträgt.
daß die Griechen in ihrem Denken eine
Und vielleicht geht es ja in der „gewöhnlichen
faszinierende Triade vorfanden und achteten,
Realität“ nur deshalb um Leben und Tod, weil
die genau der Konstellation von Spiel, Theorie
das Moment des Spiels hoffungslos aus ihr
und Kontext entspricht, nämlich die Begriffe
verbannt wurde.
ou topos, logos und mythos. Die Ebenen von
Hinsichtlich der Bedeutung des Spiels für das
logos
Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem
(bildhafter
ist eine Parallele zu Adornos Denken in der
getrennt, konvergieren jedoch im ou topos
Negativen Dialektik nicht zu übersehen. Es
(dem Nichtort), das heißt sie lassen sich nur
scheint, als habe Adorno den pragmatischen
durch eine paradoxe Vorstellung aufeinander
Kurzschlüssen
beziehen. Diese Einsicht stand einer Fixierung
vor
allem
des
(Ratio,
Verhältnis)
Hintergrund,
und
mythos
Legende)
sind
sozialwissenschaftlichen Denkens die Kraft
der Wahrheit im Wege.
des Paradoxen entgegensetzen wollen. Er
Das griechische Denken hatte sich aus der
begründet diese theoretische Haltung nicht mit
mathematischen Spekulation entwickelt, und
dem Begriff des Spiels, zumal dieser sich so
diese stand nicht unter dem Bann von
wenig „begründen“ läßt wie jene; vielmehr
Verwaltungszwängen, sondern ging aus der
rechtfertigt sie sich aus der künstlerischen
schieren
Erfahrung, aus dem jüdischen Bilderverbot und
Spielsteinen hervor. Dies hat sich bis hin zu
aus dem spekulativen Denken der griechischen
Aristoteles merklich auf das Wahrheitsstreben
Antike. Doch obwohl es seine Generation
der Philosophie ausgewirkt. Denkt man etwa
gewiß nicht leicht hatte, die Bedeutung des
an
Spiels für die Sphäre der Theorie und für das
Punktes,
menschliche Leben wiederzuentdecken, ließ er
Zusammentreffen
sich zu einer zaghaften Andeutung hinreißen,
mythischen und eines utopischen, sprich:
der
Freude
am
geometrischen
so
ist
Herumtüfteln
Grundbegriff
dieser
nur
durch
eines
logischen,
mit
des
das
eines
paradoxen Elements verständlich. Das gleiche
gilt für den Begriff des Atoms. In beiden
ironischen Quantifizierung der Qualität in dem
Fällen geht es um ein mythisches Etwas, das
scholastischen Problem, wieviele Engel (oder
sich im Kontext darstellen läßt, dessen
Punkte?) auf eine Nadelspitze passen. In
Darstellung aber gleichzeitig daran scheitert,
solchen
daß es keine Teile hat, also im streng logischen
paradoxe
Sinne gar kein Etwas ist – und doch „kein
griechischen Spekulation überlebt zu haben.
bloßes Nichts“, wie Platon schrieb. Die beiden
Die Neuzeit ist nicht nur geprägt durch die
Begriffe sind aber nicht allein deshalb paradox,
Identifikation von Quanitäten mittels der
weil die Griechen noch kein Symbol für die
Messung von allem und jedem, sondern auch
Null besaßen; eher ließe sich vermuten, daß sie
durch die Pervertierung des Utopiebegriffs in
über ein solches Symbol nicht verfügten, weil
Schwärmerei. Drastischer Ausdruck dieser
es dazu verleitet, die Idee des ou topos auf
Entwicklung ist die Verdinglichung des ou
blanke Identität zu reduzieren.
topos zur „konkreten“, „bildlichen“ oder
Häresien
scheint
das
und
spielerische
utopische,
Motiv
der
dieser
„sozialen“ Utopie, denn sie machte die
Richtung hat Aristoteles vollzogen, indem er
Intention des unfaßbaren Begriffs zu einem
das
empirischen
Mythos. Kaum weniger verheerend wirkten die
Wissenschaften und seiner Metaphysik auf ein
Folgen des Versuchs, den logos oder die Ratio
paradoxes Prinzip stützte, das in dieser
im wissenschaftlichen Denken von allen
Funktion – der Absegnung eines geschlossenen
utopischen und mythischen Elementen zu
Denksystems – seine öffnende Kraft der
säubern. Dabei wurde der ou topos kassiert,
Negation
Einen
entscheidenden
Gebäude
Verlagerung
Schritt
seiner
weitgehend
des
ou
in
einbüßte.
Die
der logos mit mythos gleichgesetzt und das
topos
das
Verhältnis von Ratio und Anschauung bzw.
in
Ursprungsprinzip des „unbewegten Bewegers“
Erfahrung
setzt
ausgehöhlt,
das
Paradoxe
gleichsam
vor
die
zu
in
einer
der
tristen
das
Tautologie
Paradoxe
der
Klammer, verbannt es so aus dem Bereich des
menschlichen Erkenntnis keine Rolle spielen
wissenschaftlichen Denkens und leitet die
sollte. Nicht zu vergessen die Stilisierung des
Herrschaft des Identitätsprinzips ein, das als
mythos zum logos, wie sie in allen Formen des
Garant zuverlässiger Erkenntnis dienen soll.
„Irrationalismus“
Von dieser Ausklamerung war das gesamte
„Theoriefeindlichkeit“
christliche Mittelalter beherrscht, das sich auf
Spontaneität,
Aristoteles
angepriesen wird.
berief;
es
identifizierte
die
oder
als
Authentizität
der
Heilsweg
und
der
Befreiung
Qualitäten der weltlichen Dinge und wies das
Die Tendenz, das utopische Element der
Paradoxe der Kraft des Glaubens zu. Vom
Theorie
Credo, quia absurdum führt ein Weg zu der
Identifikation zu unterwerfen und damit das
häretischen Spottfrage, ob Gott so vollkommen
Spiel aus dem Spiel zu lassen, schlägt sich
sei, einen Fels schaffen zu können, der ihm
auch im Theorie-Praxis-Verhältnis nieder.
selbst zu schwer wäre, und weiter zur
Theorie soll dazu dienen, Praxis zu begründen,
zu
verdinglichen
oder
der
geht nahzu in dieser auf. Der Zusammenhang
demgegenüber
zwischen Theorie und Praxis kann aber weder
Einstellung, die bei komplizierten Spielen oft
ein kausaler noch ein solcher von Grund und
geboten sein mag, wiewohl nicht als die einzig
Begründetem sein, denn die beiden Seiten sind
mögliche. Auch in diesem Zusammenhang
nicht miteinander kommensurabel. Eher ließe
erinnert Platon wieder an eine ironische
sich vermuten, daß sie aus der gleichen Quelle
Distanz, welche die Dinge in der Schwebe hält:
gespeist
aufeinander
„Es sind zwar die Angelegenheiten der Menschen
beziehbar oder abbildbar sind. Die Quelle
großen Ernstes nicht wert, es ist aber doch
selbst wäre so unfaßbar wie der ou topos, und
notwendig, sie mit Ernst zu betreiben.“
werden,
deshalb
ist
Ernst
eine
innere
ein aufrichtiger Mensch vermag wohl kaum
mehr darüber zu sagen, warum er etwas
3.
Bestimmtes gedacht, als darüber, warum er
Angesichts
etwas Bestimmtes getan hat. Die nachträgliche
unserer Zeit ist es überraschend, daß nicht
Begründung oder „Rationalisierung“ gibt nicht
diejenigen wissenschaftlichen Entwürfe die
Grund, Ursache oder Ratio eines Gedanken
größte
oder einer Handlung an, sie stellt diese
Bewunderung erregen, die den nachhaltigsten
lediglich in einen überschaubaren Kontext, der
Einfluß auf den Gang der Welt und die Lösung
deskriptive Aspekte enthält. Sie gibt, mit
praktischer Probleme haben. Gewiß werden
anderen Worten, dem logos des Denkens oder
Marx und Freud mit Ehrfurcht betrachtet,
Handelns
wenn es aber darum geht, welche Denker in
den
gewünschten
mythischen
der
pragmatischen
Faszination
Strecke bleibt. Gregory Bateson half sich
herausragten, so dürften Kant und Einstein das
übrigens diesbezüglich mit einer „Verbindung
Rennen machen. Dies mag daran liegen, daß
von
Denken“,
geistige Konstrukte, deren Richtigkeit und
beantwortete die selbst gestellte Frage, Warum
Relevanz nur durch entsprechende Praxis
denkst du so, wie du denkst?, mit dem Aperçu:
nachzuweisen oder herzustellen ist, immer
„Das erinnert mich an eine Geschichte.“
Unannehmlichkeiten bereiten und daher aus
Eine derart spielerische Haltung stößt bei
Gründen der Kompensation zu Dogmatismus,
gewissenhaften Menschen, die sich um das
Verhärtung, Intoleranz und Verkrampfung
Schicksal der Welt sorgen, häufig auf den
einladen. Das heißt sie haben etwas dem
Einwand, ihr fehle der nötige Ernst. Dabei
Spielerischen
wird fälschlich angenommen, Ernst bilde zum
Anders verhält es sich wohl bei großen
Spiel einen Gegensatz. Das trifft indes
Theorien, die man einfach annehmen kann wie
genausowenig zu, wie der daraus sprechende
ein wirkliches Geschenk, da sie weder zu einer
Pragmatismus
Gegenleistung
strengem
unmittelbar
mit
Ernst
die
staunende
neuerer
und
als
und
Rückhalt, wobei der ou topos meistens auf der
lockerem
Zeit
Gesinnung
größten
Widersprechendes
noch
zur
Genies
an
sich.
Unterwerfung
gleichzusetzen ist. Den Gegensatz zum Spiel
auffordern. Wäre dies so, dann ließe sich in der
bildet
Wirkungsgeschichte von Ideen bis heute ein
wohl
eher
der
Krampf,
und
Spielelement
beobachten,
das
auch
die
Herrschaft
des
wissenschaftlichen
wollte, niemals Königsberg verließ und jeden
Pragmatismus nicht ganz ausrotten konnte.
Morgen
Dieses Spielelement ließe sich mit Rückgriff
absolvierte, nach dem die Königsberger ihre
auf das griechische Denken so beschreiben,
Uhren stellen konnten. Der Schöpfer der
daß
der
„Relativitätstheorie“ dagegen behauptete, daß
Aspekte
man jeden Punkt des Universums als Zentrum
wirksam bleiben, nämlich ou topos, logos und
auffassen kann, und hinterließ, um dies zu
mythos (oder Spiel, Theorie und Kontext). Man
bekräftigen, nicht nur eine Photographie, auf
könnte
der
der er der Nachwelt mit verschmitztem
etwas
Lächeln zu Zunge herausstreckt, sondern auch
Paradoxes, etwas Rationales und etwas bildhaft
das fast beschwörende Diktum „Gott würfelt
Archaisches am Leben erhält. Alle drei
nicht.“
Bedingungen sind bei Kant und Einstein in
Das bildhaft Archaische kommt in den Werken
erstaunlichem Maße erfüllt, und dies scheint
beider Denker dadurch zum Ausdruck, daß sie
mir ein Hinweis darauf zu sein, daß die
einen geistigen Prozeß vollziehen, den Mircea
geistige Freiheit, die von der griechischen
Eliade in bezug auf die religiösen Praktiken
Spekulation erreicht wurde, in der Rezeption
und
wahrhaft großer Denkgebäude unterschwellig
Kosmisierung bezeichnet hat. Bei Kant handelt
fortwirkt und so vom Identitätsprinzip des
es sich um die Ordnung des Chaos durch die
pragmatischen
transzendentale Apperzeption, bei Einstein ist
in
der
entsprechenden
auch
generellen
Ideen
sagen,
Wirkungsgeschichte
alle
daß
solcher
Rezeption
drei
sich
in
Ideen
Rationalismus
der
pünktlich
Rituale
seinen
„primitiver“
Spaziergang
Kulturen
als
Wissenschaften nur überlagert wird.
es die immer wieder neue Zentrierung des
Was den kontextuellen Aspekt des archaisch
Universums durch die Auswahl und Festlegung
Mythischen angeht, so hat der Neuplatoniker
eines je anderen Mittelpunkts, das heißt eines
A.
axis mundi. Eliade hat nicht nur gezeigt, daß
N.
Whitehead
folgende
einfache
Formulierung gefunden:
sich
in
den
entsprechenden
rituellen
„Zu einem Mythos gehört, daß einigen Personen
Handlungen der „Primitiven“ jeweils der
oder Dingen, die real oder imaginär sein können,
Schlöpfungsakt wiederholte, sondern auch, daß
besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.“
diesen Handlungen eine paradoxe Vorstellung
Diese Aufmerksamkeit richtet sich bei Kant
zugrundelag.
und Einstein sowohl auf die Person selbst als
Doch zunächst zum logos oder der Ratio der
auch auf bestimmte Grundvorstellungen ihres
beiden Werke. Whitehead, der sie sehr gut
Werks, die zu der Person in Beziehung stehen.
kannte, gibt auf die Frage nach der inneren
Beide gelten nicht nur als Genies, sondern
Rationalität der Ratio die Antwort:
auch als Schöpfer neuer Welten. Der eine hat
„In gewissem Sinne muß alle Erklärung letzten
die „kopernikanische Wende“ vollzogen, der
Endes in Willkür enden.“
andere hat sie abermals gewendet. Dazu paßt,
Diesen nüchternen Befund bestätigt in Kants
daß der Denker, der die Welt aus dem Subjekt
Werk die Konstruktion, daß die Möglichkeit
begründete und ihr die Grenzen vorschreiben
synthetischer Urteile einerseits durch die
eines
(im
zu und führt damit das Element des Spiels in
Unterschied zur „Erscheinung“) – also durch
die theoretische Bewältigung des Universums
die Gegenüberstellung von Ordnung und
ein.
Chaos – begründet, andererseits durch den
Die hier gegebene wirkungsgeschichtliche
antinomischen Charakter der transzendentalen
Darstellung von Ideen Kants und Einsteins
Ideen (des Unendlichen, der Einheit, der
dürfte in der gelehrten Welt weitgehend als
Freiheit und des Absoluten) eingeschränkt
Gemeinplatz gelten. Sie muß deshalb nicht
wird. Bei Einstein stützt sich die Ratio der
trivial sein, sondern könnte eher zeigen, daß
Theorie auf die Setzung einer absoluten
die Konzepte der beiden Denker in ihrem
Geschwindigkeit, die Auflösung der Materie in
Wechselspiel
Ereignisse und die prinzipielle Identifikation
Paradoxie sich trotz aller Vereinfachung und
von
Reduktion nicht vollends trivialisieren lassen.
Annahme
Endlichkeit
„Dings
und
an
sich“
Unendlichkeit
des
von
Damit ist auch bereits das utopische, paradoxe
Präsentation vorwerfen, lediglich auf der
oder spielerische Element in den beiden
Analyse von Vorurteilen zu beruhen. Diesem
–
solchen
in
Einwand wäre indes damit zu begegnen, daß
Whiteheads Worten – „die unglaubliche
Vorurteile die einzige Sphäre des Geistigen
Tatsache, daß doch ist, was nicht sein kann“.
bilden, in der überhaupt Einheit denkbar ist –
Whitehead selbst führt diese Tatsache auf die
eine Einheit, die in der Analyse immer wieder
Einheit des Gegensatzes zwischen Gott und der
zerstört wird –, und daß Vorurteile absolut
Welt
seine
unverzichtbar sind, um zu Urteilen gelangen zu
Konstruktion des „Dings an sich“ und der
können. Soll das Spiel der Theorie nicht zu
Antinomien ab, die ja letzten Endes nichts
einem nackten „Ich denke, also bin ich“
anderes sind als die paradoxe Konsequenz
verkümmern, so muß man seine Wahrheit
dessen, was in jenem bereits angelegt ist: Das
immer wieder neu in der Spannung zwischen
Ding an sich wird in seiner Unerkennbarkeit
der mythischen Einheit des Vorurteils, der
erkannt
zurück.
–
als
Kant
der
nämlich
einer
und
Allerdings
angesprochen,
man
Ratio
Universums.
Werken
könnte
Mythos,
leitet
daraus
ou topos. Einsteins
rationalen Vielheit des Urteils und der
Allgemeine Relativitätstheorie entfaltet ihr
paradoxen Utopie einer Verschmelzung dieser
Paradoxes, ähnlich wie Kants Vernunftkritik,
beiden Pole suchen.
in bezug auf ihre ontologische Geltung. Wo
Nun hat es in neuerer Zeit Versuche gegeben,
jeder Punkt Zentrum ist oder als ein solches
das paradoxe Spielelement in den Werken
angesehen werden kann, da bleibt die Frage:
Kants
Naturgesetz oder Konvention? in der Schwebe,
Identifikation zu beseitigen: Die „Philosophie
unentscheidbar.
Theorie
des Als ob“ und den „Relativismus“. Im Falle
verweigert, gleich der Kants, eine eindeutige
des „Als ob“, der Reduktion des Paradoxen auf
Identifikation ihres ontologischen Status. Sie
eine Fiktion, hat Kant dieser Entwicklung
läßt zwei einander widersprechende Deutungen
durch den gewillkürten Übergang in die
Das
heißt
die
und
Einsteins
durch
eindeutige
„praktische
Vernunft“
selbst
Vorschub
verlorengeht, ist nicht nur das spielerische
geleistet. Für Gott, Freiheit etc. gebe es keine
Element in der Theoriebildung, sondern auch
Beweise theoretischer Art, man müsse jedoch
die spekulative Phantasie, die es großen wie
„so handeln, als ob wir wüßten, daß diese
kleinen Denkern erlaubt, sich aus theoretischen
Gegenstände wirklich wären“. Bei Kant liest
und empirischen Bausteinen eine ganze Welt
sich das durchaus noch als eine paradoxe
zu erschaffen.
Antwort auf die Frage, wie denn der Sprung
Diese Einbuße an spielerischer Phantasie im
von der Theorie in die Praxis zu rechtfertigen
Bereich des Denkens läßt sich am Verhältnis
sei. Wird aber das „Als ob“ zum Grundprinzip
von
eines Systems der theoretischen, praktischen
Problemlösung darstellen. Die durchgängige
und religiösen Fiktionen der Menschheit
Reduktion
festgeschrieben, dann bleibt das Moment des
wissenschaftliche Techniken weckt zum einen
ou topos auf der Strecke, und innerhalb des
den Anschein, was einer gedacht hat, stehe als
Systems herrscht wieder Identität.
Resultat umstandslos und unmittelbar der
In der oft auf Einstein zurückgeführten
Anwendung aller zur Verfügung. Das heißt es
Binsenwahrheit „alles ist relativ“ oder „es
setzt sich ein Prinzip der Delegation durch, in
kommt auf den Standpunkt, den Betrachter an“
dessen Namen die kollektive Problemlösung
wird das paradoxe Motiv seiner Theorie in
der Wissenschaften für den Einzelnen die
subjektivistische Beliebigkeit verkehrt und
Bedeutung gewinnt, an einem „Spiel“ beteiligt
diese zum Prinzip erhoben. Der Grund für
zu
diesen Kurzschluß scheint zum einen in purer
vorgegeben sind und das sich sozusagen ohne
Bequemlichkeit zu liegen, denn er dient
sein Zutun von selbst abspielt. Mit dieser
hauptsächlich
der
Reduktion geht zum anderen auch eine
theoretischer
Erwägungen
Abwehr
schwieriger
und
dem
individueller
sein,
Aushöhlung
von
spekulativer
dessen
des
und
Regeln
kollektiver
Theorie
und
auf
Elemente
Wahrheitsbegriffs
selbst
Zementieren der eigenen Meinung, obwohl
einher, die dazu führt, daß sich die Menschen
beide Aussagen dazu eigentlich gar nicht
als statische Anhängsel an eine dynamische
taugen, gehen sie doch bei näherer Betrachtung
Dingwelt begreifen, deren Regeln und Gesetze
in ihr Gegenteil über und negieren damit ihre
ihnen mit jedem Fortschritt der kollektiven
rein
Problemlösung
subjektivistische,
identitätsstiftende
durch
Wissenschaft
und
Bedeutung. Der zweite Grund für Einsteins
Technik neu aufoktroyiert werden. Adorno und
Vereinnahmung durch den Relativismus liegt
Horkheimer haben sowohl diesen Prozeß
im Zusammentreffen einer mathematisch-
analysiert, als auch an einen philosophischen
physikalischen
dem
Wahrheitsbegriff erinnert , der auf den des
weitgehend
Spiels verweist, weil es hier wie dort
entzieht, ihm sogar widerspricht, mit dem
unmöglich ist, etwas an das Kollektiv zu
pragmatischen Bedürfnis, ein gut anwendbares
delegieren, das allein in der Phantasie des
„gesunden
Patentrezept
Theorie,
die
Menschenverstand“
herauszuholen.
sich
Was
dabei
Einzelnen entstehen und zum Leben gelangen
delegiert, dann kommt es notwendigerweise zu
kann:
einer
„Daß die Wahrheit einer Theorie dasselbe sei wie
hinausgeht, was mit einem Begriff wie
ihre Fruchtbarkeit, ist freilich ein Irrtum. Manche
„Warencharakter“ gemeint sein kann. Folge ist
Menschen scheinen jedoch das Gegenteil davon
nicht nur eine Inflation der Dinge, die sich der
anzunehmen. Sie meinen, Theorie habe so wenig
nötig, im Denken Anwendung zu finden, daß sie es
vielmehr überhaupt ersparen soll. Sie mißverstehen
jede Äußerung im Sinn eines letzten Bekenntnisses,
Gebots oder Tabus. Sie wollen sich der Idee
Absorption,
Konsumierbarkeit
als
auch
weit
Waren
entziehen;
Bereichen
bleiben
die
ihre
unerwidert.
über
in
alles
weiten
„Liebesblicke“
Die
in
ihnen
angestaute Kraft fließt nicht mehr über die
unterwerfen wie einem Gott, oder sie attackieren sie
heimlichen Kanäle des Marktes ab, und so
wie einen Götzen. Es fehlt ihnen ihr gegenüber an
bleibt ihnen nichts anderes übrig, als explosiv
Freiheit. Aber es gehört gerade zur Wahrheit, daß
zu werden. Vielleicht ist es deshalb so
man selbst als tätiges Subjekt dabei ist. Es mag
gefährlich, mit ihnen zu spielen. Aber wer
einer Sätze hören, die an sich wahr sind, er erfährt
meint, Spiel laufe darauf hinaus, „mit etwas zu
ihre Wahrheit nur, indem er dabei denkt und weiter
spielen“, verfällt ohnehin einem Irrtum.
denkt.“
Allerdings wird dieser Gedanke nahelegt durch
Eine solche Besinnung auf die spekulative,
spielerische Phantasie des Einzelnen mag
vielleicht nostalgisch oder anachronistisch
anmuten in einer Zeit, in der das Prinzip der
Delegation und der pragmatischen kollektiven
Problemlösung ein Konzept überindividueller
Identität etabliert hat, das zwar nicht zur
theoretischen Konstruktion, wohl aber zur
praktischen Destruktion der einen Welt taugt.
Der Zusammenhang besteht indes keineswegs
zufällig.
Delegation
bedeutet
nicht
nur
Unterwerfung unter die Macht kollektiver
Vorgaben, sondern auch eine verschärfte Form
der „Verdinglichung“. Wo wissenschaftliche
Erkenntnisse,
gepaart
Arbeitskraft,
ohne
mit
menschlicher
Rücksicht
auf
die
spekulative Frage nach ihrer Wahrheit für den
Einzelnen
direkt
in
Techniken
zur
Beherrschung der Dingwelt eingesetzt werden,
da bleibt es nicht bei einer so relativ harmlosen
Folge wie der „Verdinglichung“. Wird die
Kraft des Subjekts auf Dauer an Dinge
die Reaktion der menschlichen Phantasie auf
die Herrschaft der Immanenz, die uns das
neunzehnte Jahrhundert als Pyrrhussieg der
praktischen
Intelligenz
vererbt
hat.
Mit
geradezu diebischer Freude feierte Marx
seinen Triumph über die Philosophie und die
Schlechtigkeit der Welt, an der jene nichts
geändert habe, indem er seinem Notizbuch
anvertraute, Wahrheit sei gleichbedeutend mit
der Wirklichkeit, Macht und Diesseitigkeit des
Denkens. Diesen Kurzschluß, der allenfalls
durch
den
großen
Andrang
praktischer
Probleme gerechtfertigt sein könnte, haben die
Naturwissenschaftler
anscheinend
ebenso
begierig als Dogma aufgegriffen wie die
Sozialtechnokraten, und auf seiner Basis wird
Spielen
tatsächlich
zu
einer
heiklen
Angelegenheit, denn es kommt immer darauf
an, Farbe zu bekennen.
Der Wahrheitsbegriff läßt sich aber so nicht
einebnen. Auch wenn der Druck der Umstände
die
Muße
zum
beeinträchtigen
spekulativen
auch
dafür einsetzt, Wahrheit in Pragmatik, die
regionale,
Möglichkeit von Kultur in die Realität der
nationale und weltweite Katastrophen die
Zivilisation, Paradoxes in identifizierende
Notwendigkeit praktischer Lösungen immer
Ratio und Spiel in Krampf zu verkehren, das
dringlicher
ist stets eine individuelle Entscheidung und
Bedrohung
erscheinen
wenn
Druck der Umstände beugt und seine Kraft
die
wachsende
sollte,
Denken
durch
läßt:
Druck
und
Drohung sind nicht durch ein im Handstreich
nicht allein durch Sachzwänge zu erklären.
aufgestelltes
historisches
Die Rechtfertigung pragmatischen Denkens
Prinzip zu beseitigen. Ein solches dürfte die
durch die Macht des Faktischen, durch den
Situation eher noch verschärfen. Wird es zur
Druck des tatsächlich Gegebenen oder durch
bestimmenden
ganzen
die Erfordernisse der „Praxis“ beruht auf dem
Zivilisation, so geht darin strukturell das
Trugschluß, zwischen den beiden Sphären
öffnende Element der Kultur, des Paradoxen
bestehe eine direkte Verbindung. Der daraus
oder
solche
folgende Zwang zur wechselseitigen Imitation
Zivilisation ist geprägt durch pragmatische
rückt die Möglichkeit aus dem Blick, die einst
Forschung, durch identifizierende Rationalität
im philosophischen Begriff der Wahrheit
und durch die krampfhafte Suche nach immer
angelegt
neuen Lösungen für immer neue Probleme.
Denkens gegenüber dem Zwang der Umstände.
Das heißt sie vollzieht als ganze den Schritt,
Wohl könnte man sagen, daß der im Spiel
Wahrheit
geforderte Ernst mit der Bedrohlichkeit der
des
praktisches oder
Triebkraft
Spiels
mit
einer
verloren.
Eine
Diesseitigkeit
und
Macht
der
spielerische
Freiheit
des
Lage zunimmt – deshalb muß er es allerdings
gleichzusetzen.
Aber
war:
Kulturverzicht,
den
eine
noch lange nicht in Krampf verwandeln.
machtorientierte Zivilisation insgesamt leistet,
Der Ernst im Spiel ist heiliger Ernst, von
entfaltet – auch wenn sie sich damit dem
Leichtfertigkeit so deutlich unterschieden wie
Untergang weihen mag – keine unmittelbar
vom besagten Krampf. Die Sphären, die darin
bindende Wirkung für den Einzelnen. Das
konvergieren,
utopische Ideal der Wahrheit erinnerte seit den
Immanenz, und beide stellen je eigene
ersten Anfängen der griechischen Philosophie
Anforderungen, deren Versöhnung das Spiel
daran, daß das menschliche Leben und die
selbst anstrebt. Ganz in diesem Sinne läßt
menschliche Erkenntnis nicht allein auf die
Platon
Sphäre der Diesseitigkeit bezogen sind, öffnete
außergewöhnlichen
beide vielmehr für das Wechselspiel von
spielerische Haltung auch angesichts des
Immanenz und Transzendenz – mit anderen
Todes nicht verlor – die tiefgründigen und
Worten für das Spiel – und gemahnte so daran,
gleichwohl heiteren Worte aussprechen:
daß
„Seiner
allgemeine
Strukturen,
Gesetze
und
seinen
Natur
sind
Transzendenz
Lehrer
nach
Sokrates
Menschen,
sei
aber
und
–
einen
der
seine
Gott
alles
Einzelnen
heilbringenden Ernstes wert, der Mensch dagegen,
ratifiziert werden müssen. Ob dieser sich dem
wie wir früher sagten, sei zu einem Spielzeug
Prinzipien
immer
seitens
des
Gottes geschaffen, und das sei in Wahrheit das
beste an ihm.“
Mit gleichem Recht hätte er wohl auch sagen
können, Spiel sei das bewegte Bild der Utopie.
Veröffentlicht in Kursbuch 78 (1984), S. 155172.
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