5 Schwierigkeiten der Behandlung struktureller Störungen im

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Schwierigkeiten der Behandlung
struktureller Störungen
im psychoanalytischen Rahmen
5.1
Ein Prozessmodell analytischer Psychotherapien
Um deutlich werden zu lassen, welche Schwierigkeiten in der Behandlung struktureller Störungen auftreten können, werden vorab die Konzepte und idealtypischen
Prozessverläufe von analytischen Therapien rekapituliert. Das wesentliche Merkmal psychoanalytischer Behandlungen, im Unterschied zu anderen, speziell behavioralen Verfahren, ist der Bezug auf das lebensgeschichtlich gewachsene intrapsychische Kräftespiel einer unbewussten Psychodynamik und deren Aktualisierung
unter den Lebensbedingungen der Gegenwart.
Der situative Rahmen entspricht zunächst dem aller Psychotherapien. Er ist gekennzeichnet durch das Leidensgefühl und Hilfesuchverhalten des Patienten (Tab.
5-1a).
Tab. 5-1a
Vom subjektiven Leidensgefühl zur therapeutischen Beziehung
Patient hat das Erleben von Störung, Krise, Krankheit, Stagnation der eigenen Entwicklung.
Patient bildet Erklärungsmodelle und sucht nach Änderungsmöglichkeiten (autoplastisch/alloplastisch).
Patient sucht Unterstützung durch Partner, Angehörige, Nahestehende.
Patient sucht Unterstützung bei professionellen Helfern/Therapeuten.
Patient entwirft Hoffnungen auf einen ihm kompetent erscheinenden Therapeuten.
Diese Abfolge beschreibt die Erkrankung, das Scheitern von Selbsthilfebemühungen und die wachsende Motivation, sich einem Experten anzuvertrauen. Der
Druck des Leidenszustandes und die eigene Hilflosigkeit fördern die Bereitschaft,
die Rolle des Patienten zu übernehmen und dem Gegenüber die Rolle des wirkmächtigen Helfers anzutragen. Dieser Vorgang ist sozialpsychologisch bezüglich
des Rollenverhaltens ebenso interessant, wie er psychodynamisch für den Bezie-
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hungsaufbau bedeutsam ist. Es versteht sich, dass diese Prozesse der Motivationsbildung und Beziehungsaufnahme für die Behandlungsprognose von besonderem Gewicht sind. Diese Situation mündet ggf. in die konkrete Therapieverabredung (Tab. 5-1b).
Tab. 5-1b
Bildung der therapeutischen Allianz
Verabredung konkreter therapeutischer Zusammenarbeit
Vereinbarung der therapeutischen Regeln
Einigung über die wichtigste Problematik
Einigung über die therapeutische Zielsetzung
Dieser Schritt der Allianzbildung dürfte in den meisten Therapieverfahren ähnlich
verlaufen. Im nächsten Schritt der therapeutischen Arbeit werden spezifische psychodynamische Ansätze deutlich (Tab. 5-1c).
Tab. 5-1c Die therapeutische Arbeit
Anregung des Patienten zu spontanen psychischen Produktionen und Entgegennehmen
durch den Therapeuten
• Symptomschilderungen
• Narrative über Begebenheiten
• Narrative über Träume, Erinnerungen
• Mitteilung von Einfällen, Vorstellungen, Fantasien, Emotionen
Reflektierender Umgang mit den psychischen Produktionen
• Erforschung der eigenen Geschichte
• Erforschung der aktuellen Lebenssituation/Veränderungen/Belastungen
• Erforschung der aktuellen Entwicklungsaufgaben des Lebens
• Erforschung der Beziehungsbereitschaft und Konfliktbereitschaften
• Erforschung der inneren Situation (Pläne, Wünsche, Träume, Hoffnungen, Fantasien, Ansprüche,
Überzeugungen, Meinungen, Normen und Wertvorstellungen)
Erforschung der aktuellen Beziehungssituation in der Therapie (Übertragung)
Verstehender Zugang zur eigenen Situation und Geschichte
• gemeinsame Suche nach Mustern des Erlebens/der Erfahrungen
• gemeinsame Suche nach zugehörigen Emotionen
• gemeinsame Suche nach Deutungen, Erklärungen, Sinngebung
• gemeinsame Suche nach Alternativen des Verstehens und Handelns
Spezifisch psychodynamisch ist die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf die in der
Therapie aktualisierten Erlebens- und Verhaltensbereitschaften (Tab. 5-1d).
5.1 Ein Prozessmodell analytischer Psychotherapien
Tab. 5-1d
Unbewusste Inszenierungen
Aktivierung von repetitiven Mustern des Erlebens und Verhaltens
Aktualisierung des zentralen Beziehungskonflikts/der Übertragungsbereitschaft
Aktualisierung von pathogenen Überzeugungen/Widerständen
Aktualisierung von kindlichen Einstellungen (Regression)
Mobilisierung von Gegenübertragungsregungen beim Therapeuten
Diesen Bereich gestaltet der Patient weitgehend unbewusst, während der Therapeut
seine bewusste und vorbewusste Aufmerksamkeit auf die interpersonellen Vorgänge richtet und sie – nunmehr mit starker theoretischer Fundierung – interpretiert.
Der behandlungstechnische Umgang mit diesem speziellen Bereich wird uns in den
folgenden Abschnitten ausführlicher beschäftigen.
Die explizit formulierten oder zumindest impliziten therapeutischen Zielsetzungen richten sich in den psychodynamischen Therapien auf unterschiedliche Themen (Tab. 5-1e).
Tab. 5-1e
Veränderungsziele analytischer Psychotherapien
Symptomatik
• Störungen des Befindens (ich-dyston: Angst, Zwang, Depression, körperliche Beschwerden,
Schmerz etc.)
• dysfunktionales Verhalten (ich-synton: selbst- und fremdschädigende Verhaltensweisen)
Dysfunktionale Beziehungsgestaltung
• interpersonelle Muster mit unbefriedigenden, leidvollen, schädigenden Folgen
Unbewusste Konflikte
• abgewehrte, konflikthafte Motivationen mit negativen Auswirkungen auf das bewusste Erleben
und Verhalten
Strukturelle Defizite und Vulnerabilitäten
• eingeschränkte Fähigkeit zur Regulation des Selbst und der Beziehungen mit negativen Auswirkungen auf das Verhalten (Selbstschädigung)
Eine prozesshafte Entwicklung entfaltet sich dadurch, dass die genannten Bereiche
a, b, c, d, e aufeinander zurückwirken: Die Inhalte der psychischen Produktionen
und der reflektierende Umgang damit werden in starkem Maße beeinflusst durch
die jeweiligen unbewussten Inszenierungen (Übertragung und Regression) und
beide wirken zurück auf die therapeutische Allianz und das Symptomerleben. Im
Behandlungsverlauf können dabei heftige Bewegungen auftreten: Symptome können sich vorübergehend intensivieren, negative Übertragungen bestimmen zeitweise die Einstellung des Patienten zum Therapeuten, abgewehrte Konflikte werden
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zunehmend bewusst und leidvoll erfahren, das intensivierte Erleben struktureller
Defizite lässt den Patienten sein Ausgeliefertsein fühlen. Für psychodynamische
Therapien ist es essenziell, diese negativen Aspekte gemeinsam durchzustehen und
durchzuarbeiten. Dadurch wirken analytische Therapien zuweilen leidensorientiert
und belastet, während manche integrative und humanistische Therapieansätze eine
stetige Entwicklung vom Schwierigen zum Besseren hin unterstellen: Unter dem
Einfluss haltgebender emotionaler Beziehung zwischen Therapeut und Patient soll
der Patient zunehmend über seine Ressourcen verfügen, sie stabilisieren und persönliches Wachstum entwickeln. Eine solche Entwicklung ist umso weniger wahrscheinlich, je kränker der Patient ist.
Für die Zwecke von Forschung und Qualitätssicherung haben wir ein Beschreibungsinstrument entwickelt und erprobt, das sieben Stufen des therapeutischen
Prozesses unterscheidet (Heidelberger Umstrukturierungsskala, Rudolf et al.
2000; Grande et al. 2000, 2001). Grob vereinfacht, bestimmen in den ersten Stufen
der Skala unterschiedlich intensive Abwehrvorgänge das Erleben des Patienten und
schützen ihn vor einer intensiven Begegnung mit der eigenen Problematik; er ist
„nur“ seinen Symptomen ausgeliefert. Mit Erreichung der Stufe 4 ist die bewusste
Wahrnehmung und Konfrontation mit der eigenen Problematik und die zunehmende Verantwortungsübernahme für neue Konfliktlösungen möglich geworden.
Von großer Bedeutung für analytische Langzeittherapien ist die folgende Stufe 5,
die nun nicht einfach eine Steigerung der Konfliktwahrnehmung und Lösungsbereitschaft mit sich bringt, sondern im Gegenteil ein emotional intensives Eintauchen in die eigenen Schwierigkeiten. Hier erlebt sich der Patient in zunehmendem
Maße seiner Situation und seinem Schicksal ausgeliefert sowie auf Therapie und
Therapeuten angewiesen; er ist dadurch emotional sehr bewegt, aber zugleich auch
emotional verlebendigt und offen für überraschend neue Sichtweisen und Lösungen. Die letzten Stufen der Skala schließlich beschreiben Formen der Konsolidierung und des kreativen Neubeginns.
Die unterschiedlichen psychoanalytischen Gruppierungen akzentuieren ihre jeweiligen Prozessschritte verschiedenartig. Im Folgenden kontrastieren wir ein traditionell psychoanalytisches Selbstverständnis mit dem einer tiefenpsychologisch
fundierten Psychotherapie. Beide Verfahren haben gemeinsame Wurzeln, aber eine
jeweils andersartige Praxis entwickelt (Rudolf 2001b; Rüger 2002).
Wir beginnen mit dem analytischen Prozessverständnis (Tab. 5-2).
Günstige Voraussetzungen:
• strukturell stabile Patienten mit unbewusster Konfliktthematik und Übertragungsfähigkeit
• frequente bis hochfrequente Sitzungen
• keine engen zeitlichen Begrenzungen
Die begrenzte Zeit und therapeutische Zielsetzung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie erfordert im Vergleich zu der deutlich längeren analytischen
5.1 Ein Prozessmodell analytischer Psychotherapien
Tab. 5-2
Der therapeutische Prozess im psychoanalytischen Selbstverständnis
Die psychoanalytische Methode dient der systematischen Annäherung an das Unbewusste.
In einem intersubjektiven Raum, den die Psychoanalyse zur Verfügung stellt, kann sich Psychisches entfalten.
Die therapeutische Arbeit des Patienten wird speziell in der Übertragungsbeziehung gefördert und
deutend begleitet.
Der Wahrheit des Unbewussten zu begegnen und Aufschlüsse über das eigene Wesen zu erlangen
führt zu strukturellen Veränderungen.
Strukturelle Veränderungen werden auch gefördert durch den Aufbau neuartiger Beziehungen (in
der Übertragung) und durch deren Internalisierung.
Psychotherapie und der zeitlich nicht begrenzten Psychoanalyse eine stärkere Steuerung des therapeutischen Prozesses (Tab. 5-3).
Günstige Voraussetzungen:
• Patient ist strukturell weitgehend stabil oder hat seine strukturelle Vulnerabilität
durch Bewältigungsmaßnahmen stabilisiert.
• Es gelingt dem Therapeuten, negative Beziehungsgestaltungen aufzufangen.
• Es gelingt dem Therapeuten, positive Übertragungsbindungen in der verfügbaren Zeit aufzulösen.
Während die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie vor der Schwierigkeit
der Begrenzung (80 bis 100 Sitzungen) steht und der Prozess der therapeutischen
Beziehung und der therapeutischen Arbeit in dieser Zeit aufgebaut, durchgearbeitet
und beendet werden muss, steht die Psychoanalyse vor der Schwierigkeit ihrer potenziellen Endlosigkeit. Dadurch wird das Augenmerk auf intersubjektive Mikroprozesse gelenkt, während die Therapieergebnisse leicht aus dem Blick geraten. Die
analytische Psychotherapie bewegt sich zwischen beiden Polen; sie hat es diesbezüglich schwer, weil sie nicht fokussieren und begrenzen möchte, wie es die tiefenTab. 5-3
Prozessziele der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie im Unterschied zur
Psychoanalyse
tragfähige Beziehungen herstellen, um therapeutische Zusammenarbeit zu ermöglichen
Aspekte von Übertragung und Widerstand beachten, aber nicht als zentrale therapeutische Instrumente verwenden
regressive Entwicklungen begrenzen
Konfliktbearbeitung auf das aktualisierte Problem fokussieren und dieses mit begrenzter Zielsetzung bearbeiten
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psychologisch fundierte Psychotherapie tut, und weil ihr andererseits nicht die unbegrenzte Zeit der Psychoanalyse zur Verfügung steht (Rudolf u. Rüger 2006). Diese hier nur angedeuteten Themen sind in den Standardlehrbüchern ausführlich
diskutiert, wogegen empirische Befunde zu diesen Problemen nur in geringem
Umfang vorliegen (Greenson 1973; Hau u. Leuzinger-Bohleber 2004; Heigl-Evers et
al. 1993; Kutter 1989; Mertens 1990; Reimer u. Rüger 2006; Rudolf 1991; Senf u.
Broda 2012; Thomä u. Kächele 1985).
Wir verzichten an dieser Stelle darauf, diese Themen nochmals zu diskutieren
und wenden uns in den folgenden Abschnitten der Frage zu, welchen Einfluss die
Störungsvariable „strukturelle Einschränkung“ auf Verlauf und Ergebnis von analytischen und tiefenpsychologisch fundierten Therapien haben kann.
5.2
Strukturelle Störungen in kleinianischer
Psychoanalyse: Eine Falldiskussion
Im Folgenden werden wir uns damit beschäftigen, was geschieht, wenn strukturelle
Störungen in einem psychoanalytischen Verfahren behandelt werden. Als Beispiel
greifen wir den Ansatz der kleinianischen Psychoanalyse heraus. Das tun wir zum
einen, weil sich dieses Vorgehen hierzulande gewissermaßen als die Ideallinie des
eigentlich Psychoanalytischen versteht (unabhängig davon, dass es vergleichsweise
selten zur Anwendung kommt). Ein weiterer Grund für diese Wahl liegt darin, dass
in der Literatur (z. B. Weiß u. Frank 2002) einige sehr ausführliche Fallgeschichten
von prominenten britischen Vertretern der kleinianischen Psychoanalyse vorgelegt
und diskutiert werden, darunter solche von Patienten mit ausgeprägten strukturellen Störungen. Im Wesentlichen beziehen wir uns auf den von M. Feldman vorgestellten Fall einer Borderline-Patientin mit Bulimie und schweren Arbeits- und Beziehungsstörungen (Feldman 2002: Zum Umgang mit Projektionen. Formen der
Verwicklung).
Zu der Diskussionskultur dieser psychoanalytischen Gruppe gehört es, „klinisches Material“ zu präsentieren. Dieses besteht aus Äußerungen der Patientin, den
zugehörigen Überlegungen und geäußerten Deutungen des Psychoanalytikers sowie weiteren Erörterungen des Psychoanalytikers über die Wirkung seiner Deutung
auf die Patientin. In dieser Darstellungsform werden Momentaufnahmen des therapeutischen Vorgehens besonders deutlich, während die Behandlung als Ganzes
nicht erkennbar wird. Es hat auch den Anschein, dass keine Diagnostik vorgeschaltet war; vielmehr finden sich im Behandlungsverlauf verstreut Hinweise auf die Art
und Schwere der Störung. Der genaue Umfang der Behandlung wird nicht benannt,
es handelt sich offensichtlich um eine Therapie mit zahlreichen (4–5) Wochenstunden; die gelegentlichen Hinweise auf „Monate und Jahre weiterer Therapie“ verweisen auf eine lange Dauer. Die Themen des Behandlungsabschlusses und des Behandlungsergebnisses werden nicht ins Auge gefasst. So entsteht das Bild eines im-
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