AUSZUG AUS DEM BUCH (Seite 163-175): Helen Geyer, Franz Körndle & Christian Storch (Hrsg.) Alte Musik in der Kulturlandschaft Thüringens Beiträge zum zehnjährigen Bestehen der Academia Musicalis Thuringiae Kamprad AlteMusik in der Kulturlandschaft Thüringens Band 1 Herausgegeben von der Academia Musicalis Thuringiae Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des Thüringer Justizministeriums sowie durch eine Spende der Sparkasse Mittelthüringen. Impressum: Herausgeber: Helen Geyer, Franz Körndle und Christian Storch Satz: Elisabeth Bock, Erfurt Titelgestaltung: Christian Storch Technische Herstellung: Klingenberg Buchkunst Leipzig GmbH Umschlag: Pochette, fränkisch/ thüringisch, Ende 17. Jh. Sammlung Musikgeschichte der Meininger Museen/Max-Reger-Archiv, Inventarnummer: M 13. Foto: Michael Reichel, Ilmenau Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages Klaus-Jürgen Kamprad und der Academia Musicalis Thuringiae physisch oder elektronisch vervielfältigt werden. Copyright 2009 by Verlag Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg. ISBN: 978-3-930550-64-7 www.vkjk.de INHALT Vorwort des Vorsitzenden der Academia Musicalis Thuringiae......................... V Helen Geyer: Bestände ‚italienischer‘ Renaissance- und Frühbarock-Musik im thüringischen Mitteldeutschland .............................................................. 1 Claus Oefner: Die Musikerfamilie Hertel. Ein Beitrag zur Musikgeschichte Mitteldeutschlands........................................................................................ 25 Dorlies Zielsdorf: Merk(-)würdig: Adjuvantenkultur in Thüringen .................. 37 Undine Wagner: Verworfene Schätze? Fragmentarische Quellen zu ausgesonderten Repertoirestücken in thüringischen Adjuvantenarchiven... 49 Maren Goltz: Die Sammlung Wiener Libretti des Herzogs Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen ............................................................................... 77 Axel Schröter: Christian Gotthelf Scheinpflug (1722–1770). Hofkapellmeister, Komponist, Lehrer und Bibliothekar .............................. 93 Cornelia Brockmann: Zwischen Alltagsgeschäft und Kunstanspruch. Zur Sinfonik des Weimarer Hofkapellmeisters Ernst Wilhelm Wolf (1735–1792)............................................................................................... 113 Helen Geyer: Arkadien – die Sehnsucht nach Italien oder Modernität und Aufgeschlossenheit.............................................................................. 133 Rudolf Matthias Frieling: Zehn Jahre Cantus Thuringia & Capella. Das Wirken eines thüringischen Ensembles im Kontext zur Academia Musicalis Thuringiae........................................................... 151 Christian Storch: Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae für die kulturelle Identität Thüringens........................................................ 163 Programme Festival GÜLDENER HERBST 1999 bis 2008, Udestedter Adjuvantentage 2008 ............................................................... 177 Abkürzungen.................................................................................................... 223 VORWORT Mit der Gründung der Academia Musicalis Thuringiae (AMT) im Jahr 1998 entstand eine Organisation, die man einzigartig nennen darf. Ein gemeinnütziger Verein nimmt sich in einem ganzen Bundesland um die Belange der Alten Musik an, unterstützt durch Mittel der öffentlichen Hand (Thüringer Kultusministerium und Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.) und privater Geldgeber (vor allem Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen). Nach zehn Jahren auf ein erfolgreiches Wirken zurückblikken zu können, berechtigt zu einem gewissen Stolz. Es verpflichtet aber auch zu Dankbarkeit, wenn man das Geleistete betrachtet und sogar mit einer eigenen Festschrift betrachten kann; Dank vor allem, wenn man wie der Schreiber dieses Vorworts als später Hinzugekommener die Früchte der vorangegangenen Aufbauarbeit einfahren darf. Der Dank sei aber auch an all diejenigen gerichtet, die dies mit pekuniären Mitteln und unschätzbarer Mitarbeit möglich gemacht haben. Von Anfang an dabei waren Mitglieder der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, aus dem Institut für Musikwissenschaft Prof. Dr. Helen Geyer sowie aus dem Institut für Alte Musik Prof. Myriam Eichberger und Prof. Bernhard Klapprott, die Direktoren des Schützhauses in Bad Köstritz, Dr. Ingeborg Stein, und des Bachhauses Eisenach, Dr. Claus Oefner, und nicht zuletzt der Präsident des Landesmusikrates, Prof. Dr. Eckhardt Lange und der Ministerialrat Dr. Wolfgang Müller. Dank zu sagen ist aber auch den Autoren und den Mitarbeitern, die diesen Band angeregt und bei seiner Herstellung mitgewirkt haben, allen voran Christian Storch und Elisabeth Bock. In der öffentlichen Wahrnehmung ist seit der Gründung das von der Academia Musicalis Thuringiae veranstaltete Festival GÜLDENER HERBST präsent. An mehreren Wochenenden erklingtMusik an historischen Stätten des Landes, in Kirchen und Schlössern, in Sälen und auch Theatern von Komponisten, die hier geboren sind, hier gewirkt haben oder deren Musik ganz einfach immer noch in den Bibliotheken und Archiven Thüringens schlummert. Rasch wurde das Festival für seine hörenswerten Wiederentdeckungen bekannt. Den besonderen Charme macht dabei weiterhin aus, dass die Veranstaltungen an zahlreichen unterschiedlichen Orten stattfinden und dabei die Werke häufig sogar am Ort ihrer Entstehung aufgeführt werden können. Alte Musik im regionalen historischen Kontext wieder erklingen zu lassen, ist gerade in Thüringen attraktiv und reizvoll, hat sich doch hier in der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts in den zahlreichen Residenzen eine ganz eigene, facettenrei- VI Franz Körndle che Musiklandschaft ausgeprägt, die auf eine Vielzahl herausragender Komponisten verweisen kann, man nenne nur Michael Praetorius, Heinrich Schütz, Georg Philipp Telemann oder Johann Sebastian Bach. Daneben zeigen Kapellmeister wie Gottfried Heinrich Stölzel oder Georg Gebel, die in Gera und Gotha sowie Rudolstadt wirkten, die vorzügliche Qualität der Musikpflege an den Thüringer Höfen. Aber der Reichtum dieses Landstrichs beschränkte sich nicht auf die Schlösser und großen Städte. Sogar die Dörfer widmeten sich mit erheblichem Aufwand großen Kompositionen des internationalen Repertoires. Freilich konnte dies nur mit der Unterstützung von musikalischen Helfern (Adjuvanten) gelingen, die sich aus einem Kreis von Laienmusikern rekrutierten. Die umfangreichsten Bestände mit Adjuvantenmusikalien stammen aus Udestedt bei Erfurt; aber auch aus Gräfenroda, Großfahner / Eschenbergen, Thörey / Ichtershausen und Vogelsberg haben sich maßgebliche Materialien erhalten. Sie alle sind heute als Deposita im Thüringer Landesmusikarchiv untergebracht. In einem singulären Zusammenwirken von Archiv, Musikwissenschaft und Musikern entstehen Aufführungsmaterialien als Grundlange für die konzertante Präsentation an originalen Schauplätzen. Diese ganz speziellen Schätze wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, führte zu den von der AcademiaMusicalis Thuringiae veranstalteten Thüringer Adjuvantentagen in Udestedt und Großfahner. Es wird immer wieder gefragt, welche historische Ausdehnung unter dem Begriff Alte Musik verstanden werden kann. Darüber nachzudenken wird vor allem dann relevant, wenn gelegentlich sogar die Anfangsbuchstaben der Academia Musicalis Thuringiae als Alte Musik in Thüringen interpretiert werden. Das wichtigste Anliegen ist hierbei die Aufführung von Musik mit dem Instrumentarium der Entstehungszeit, wobei mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gerade inMitteldeutschland die Barockmusik, also der Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts im Zentrum steht. Freilich reichte dieMusikkultur weit über diese beiden Jahrhunderte hinaus, man denke nur Johann Nepomuk Hummel oder Franz Liszt, der Weimar über die Musik zu einer zweiten Klassik verhelfen wollte, man denke aber auch an die unübersehbaren Dokumente von großartigen Aufführungen in den Partituren oder den Instrumentensammlungen, von denen es kaum irgendwo so viele gibt wie in Thüringen. Leicht ließe sich das Festival GÜLDENER HERBST somit weit ins 19. Jahrhundert hinein führen, doch dies kann und sollte nur in geeigneten Fällen versucht werden, da mit einem Repertoire, das regelmäßig auch im modernen Konzertsaal zu erleben ist, das Festival rasch sein eigenständiges Profil einbüßen würde. Dagegen hält schon die Barockzeit eine Fülle von Neuentdeckungen parat. Erst wenig konnte überhaupt aus der Zeit vor 1600 erschlossen werden. Von der einst großartigenMusiktradition im Jesuitenkolleg Heiligenstadt ist erst vor ei- Vorwort VII nigen Monaten ein Belegstück zum Vorschein gekommen. Der überwiegende Teil der Kompositionen, die in den großformatigen Chorbüchern aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena festgehalten sind, ist bis heute nicht in Ausgaben für die Praxis zugänglich gemacht worden. Ähnliches gilt für dieMusik im unlängst restaurierten so genannten Eisenacher Kantorenbuch, in dem eine nicht geringe Anzahl von Unikaten aus der frühen Reformationszeit zu finden ist. Sind diese Stücke wenigstens einem Kreis von Experten seit langem bekannt gewesen, müssen die Kenntnisse zur Musik des Mittelalters als tatsächlich minimal bezeichnet werden. Zwar darf die inzwischen digital im Internet verfügbare Faksimile-Edition der Jenaer Liederhandschrift der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek als Ausnahme diese Regel bestätigen. Jedoch wissen wir ansonsten über die Musikpflege in den Thüringer Kirchen und Burgen des hohen und späten Mittelalters kaum Erwähnenswertes. Aber auch da öffnet ein Festival wie der GÜLDENE HERBST Perspektiven. So könnte etwa ein vor über zwanzig Jahren wiederentdecktes Notre-Dame-Organum einmal im Kontext der Prozessionsgesänge am Erfurter Mariendom vorgetragen werden. Damit ergeben sich für die Zukunft der AcademiaMusicalis Thuringiae Optionen und Aufgaben aus dem unerschöpflichen Reichtum der Thüringer Musikgeschichte. Die vorliegende Festschrift will einen Einblick in die Tätigkeit der AMT geben, die Forschung in den Archiven und Bibliotheken dokumentieren, die Aktivität aus der Sicht der historisch informierten Aufführungspraxis widerspiegeln und nicht zuletzt die Aufgabenstellung im Sinne der fördernden Institutionen erhellen. Franz Körndle Vorsitzender der Academia Musicalis Thuringiae DIE BEDEUTUNG DER ACADEMIA MUSICALIS THURINGIAE FÜR DIE KULTURELLE IDENTITÄT THÜRINGENS Christian Storch „Identität durch Vergangenheit“ – so beschreibt der Historiker Werner Paravicini die Thüringer Situation in seinem Essay „Vom Wert der Residenzforschung“ anlässlich der 2. Thüringer Landesausstellung, die vom 15. Mai bis zum 3. Oktober 2004 zum Thema „Neu entdeckt – Thüringen, Land der Residenzen“ in Sondershausen exponiert war.1 Tatsächlich blickte die Landesausstellung auf über 400 Jahre Thüringer Residenzgeschichte zurück, von der ‚Leipziger Teilung‘ im Jahr 1485 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und der Abdankung sämtlicher Landesfürsten im Jahren 1918. Aber was bedeuten diese beiden Begriffe, Identität und Vergangenheit, in Bezug zum kulturellen und vor allem musikalischen Selbstverständnis Thüringens heute eigentlich? Welche Parameter muss man an den Begriff der kulturellen Identität Thüringens anlegen und wie viel Vergangenheit verträgt eine globalisierte und beschleunigte Gesellschaft wie die unsere heute noch? Der Begriff der kulturellen Identität und seine Konturierung spielt nicht erst seit dem Einsetzen der sogenannten ‚Zweiten Globalisierung’ eine wichtige Rolle im medialen Abgleich unterschiedlicher Kulturen, wie er mithilfe von TV, Radio und vor allem dem Internet zu immer dringlicheren Fragestellungen nach der eigenen Identität führt. Parallel zur 2. Thüringer Landesausstellung wurde sich im Jahr 2004 auf dem 13. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung (16. bis 21. September 2004 in Weimar) der Frage gewidmet, was der Konferenztitel „Musik und kulturelle Identität“ eigentlich bedeutet und vor allem was er beinhaltet. Dabei zeigte die Breite der angemeldeten Referate die Vielschichtigkeit des Begriffs auf, die geografisch, sozial, religiös, historisch oder demografisch konnotiert sein kann.2 Gerade die geografische und historische Anwendung des Begriffs der kulturellen Identität macht den Schwerpunkt des vorliegenden Referats aus, das der Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae (AMT) für die 1 Vgl. Werner Paravicini, „Vom Wert der Residenzforschung“, in: Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen. 2. Thüringer Landesausstellung Schloss Sondershausen 15. Mai – 3. Oktober 2004. Essays, hrsg. von Konrad Scheurmann und Jördis Frank, Mainz 2004, S. 8–12. 2 Vgl. Detlef Altenburg, Ruth Seehaber, Christoph Meixner (Red.), Musik und kulturelle Identität. XIII. Internationaler Kongress der Gesellschaft für Musikforschung 16. bis 21. September 2004 Weimar. Programm / Abstracts,Weimar 2004. 164 Christian Storch kulturelle Identitätsbildung Thüringens in den vergangenen zehn Jahren herausstellen will. Die Geschichte Thüringens soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Der eingangs zitierte Begleitband zur 2. Thüringer Landesausstellung liefert u. a. einige aufschlussreiche Beiträge zu diesem Thema. Wichtig ist jedoch anzumerken, dass aufgrund der Geschichte des heutigen Freistaats Thüringen und seiner zwischenzeitlichen Zergliederung bzw. Auflösung die Frage nach einer identifizierbaren Identität seiner Bewohner als Thüringer im Raum steht. So wurde bereits im Jahr 1993, kurz nach der Reformierung des Freistaats, der Frage nachgegangen, inwieweit sich eine eigenständige Thüringer Identität restrukturiert habe.3 Vier Jahre später, im Jahr 1997, wurde auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Erfurt der Blick auf die Geschichte der Residenzkultur in Thüringen gelegt, um „neue Erkenntnisse über die thüringischen Fürstenhöfe sowie deren regionale und überregionale Vernetzungen“4 zu gewinnen. Diesem Ziel folgte auch die bereits genannte Thüringer Landesausstellung. Gleichzeitig zeigt nicht nur die ehemalige höfische Heiratspolitik, sondern vor allem die hiesige Musikgeschichte, wie eng verwoben die einzelnen Residenzen und deren Städte untereinander waren, sodass – nicht nur im Hinblick auf die Musikerfamilie Bach – durchaus von strukturellen Verflechtungen gesprochen werden kann. Wenn von ‚Identität durch Vergangenheit‘ die Rede ist, so meint die Floskel an dieser Stelle allerdings keine restaurativen Bestrebungen. In einer – zum Vorteil aller – globalisierten Welt kann eine regionale Identitätsbildung nicht die Abschottung von einem Größeren bedeuten, sondern lediglich die Bewusstwerdung, Teil dieses Größeren zu sein, im kommunikativen Austausch mit anderen Teilen: „Wir bereichern die europäische Geschichte durch eine Variante, die aus wenig viel machte und aus relativer Armut einen Reichtum, der noch heute leuchtet.“5 In diesem Sinne ist auch die Arbeit der AMT zu verstehen, die seit nunmehr zehn Jahren eben diesem Phänomen, seinen Ursachen und Auswirkungen nachspürt, um der Frage nachzugehen, ob aus diesem Reichtum der Vergangenheit sich eine thüringische kulturelle Identität gewinnen lässt, die auch in einer globalisierten Welt zukunftsfähig ist. 3 Vgl. Burkhardt Kolbmüller (Red.), Heimat Thüringen. Kulturelle Identität im Wandel. Tagung der Thüringischen Vereinigung für Volkskunde und des Zentrums für Thüringer Landeskultur 26. Bis 28. März 1993. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Geraberg 1993. 4 Roswitha Jacobsen, „Vorwort“, in: Residenzkultur in Thüringen vom 16. bis 19. Jahrhundert, hrsg. von Roswitha Jacobsen (= PALMBAUM Texte 8), Bucha bei Jena 1999, S. 7. 5 Paravicini, „Residenzforschung“ (wie Anm. 1), S. 12. Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 165 Der Verein Academia Musicalis Thuringiae wurde im Jahr 1998 unter dem Vorsitz der Musikwissenschaftlerin Helen Geyer gegründet. Ursächlich für diesen Schritt war das Verlangen von Vertretern Thüringer Musikinstitutionen wie dem Bachhaus in Eisenach, dem Heinrich-Schütz-Haus in Bad Köstritz sowie kulturinteressierter BürgerInnen, eine zentrale Organisation zu schaffen, die der reichhaltigen musikalischen Vergangenheit Thüringens Rechnung tragen sollte. Thüringen, über Jahrhunderte in zahlreiche Fürsten- und Herzogtümer zersplittert, barg eine Vielzahl an musikalischen Schätzen, die es zu bergen galt. Dass die bekannte Vielzahl vor allem Vielfalt bedeutete, wollten die Gründer der AMT mit ihrem Schritt beginnen kund zu tun. Als Arbeitsschwerpunkte wurden vor allem die musikarchäologische Bergung bisher in Thüringer Archiven schlummernder Partituren und ihre Aufführungen im Rahmen eines eigens dafür zu konzipierenden Festivals benannt. Dieses Festival Alter Musik in Thüringen mit dem Titel GÜLDENER HERBST fand zum ersten Mal vom 29. bis 31. Oktober 1999 in Erfurt statt. Darüber hinaus war es der AMT ein Anliegen, die Erschließung historischer Stätten Thüringer Musikkultur in die Vereinsarbeit zu integrieren. Genau hier begann das Problem. Denn der Begriff der Thüringer Musikkultur war in Bezug auf die Alte Musik im Jahr 1998 kein eindeutig zu identifizierender Terminus: „Wir hoffen, […] in Thüringen eine empfindliche Lücke in der Pflege des musikalischen Erbes zu schließen.“6 Zwar gab es mit den Thüringer Bachwochen, den Heinrich-Schütz- sowie den Michael-Praetorius-Tagen bereits etablierte Festivals bzw. Konzertreihen, jedoch waren diese jeweils hauptsächlich einem Komponisten und dessen Oeuvre gewidmet, was ein übergreifendes Merkmal einer thüringischen Kulturlandschaft nicht zwangsläufig beinhaltete. Demzufolge waren vor allem auch die Vertreter dieser Einrichtungen bzw. Veranstalter an einer Dachorganisation für Alte Musik in Thüringen interessiert. Beginnen sollten die Aktivitäten der AMT mit dem ersten Festival GÜLDENER HERBST im Oktober 1999 in Erfurt. Neben dem Veranstalten von Konzerten mit mehr oder weniger bereits bekannten Werken war es der AMT von Anfang an ein Anliegen, musikarchäologische Arbeit zu leisten und Kompositionen thüringischer und mitteldeutscher Komponisten ‚auszugraben‘, die teils über mehrere Jahrhunderte nicht mehr erklungen waren und gerade deshalb entscheidende Puzzlestücke für die Thüringer Kulturlandschaft darstellten. Ein solches Puzzlestück war die barocke Oper L’Amor prigioniero des Dresdner Hofkapellmeisters Johann 6 Helen Geyer, „Geleit der Vorsitzenden der Academia Musicalis Thuringiae e.V.“, in: GÜLDENER HERBST. Festival Alter Musik in Thüringen. 29. bis 31. Oktober 1999 in Erfurt, Programmheft, S. 3. 166 Christian Storch Adolf Hasse, die am 30. Oktober 1999 um 19.30 Uhr als Teil eines Barockfestes im Erfurter Kaisersaal erklang. Mit dieser Wiederaufführung einher ging die Zusammenarbeit mit der Berliner Lautten Compagney unter der Leitung von Wolfgang Katschner, die bis heute immer wieder fruchtbare Entdeckungen zutage gefördert bzw. auf die Bühne gebracht hat. Eine zweite enge und bis heute weiter vertiefte Kooperation wurde mit der parallel zur AMT gegründeten Capella Thuringia ins Leben gerufen. Unter der Leitung von Bernhard Klapprott, Professor für Alte Musik an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, wurden zum Eröffnungskonzert am 29. Oktober 1999 Ouvertüren und Concerti von Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach aufgeführt, von zwei Komponisten also, die eng mit dem Begriff der Thüringer Kulturlandschaft und seiner Geschichte verbunden sind. Es lässt sich deshalb schon an den Anfängen der AMT und des Festivals GÜLDENER HERBST erkennen, dass es den Gründern und Organisatoren nicht nur um die Sichtbarmachung eines historischen Erbes ging, das entweder bestimmte Komponisten, die in Thüringen und Mitteldeutschland gewirkt hatten, oder deren bisher vernachlässigte Kompositionen ins Rampenlicht rücken wollte. Vielmehr sollte mit dem ‚Schließen der Lücke‘ gleichzeitig ein Blick in die Zukunft gewagt werden, der sowohl die Musikpraxis – vor allem im Sinne einer historischen Aufführungspraxis – als auch die historischeMusikforschung betraf, die gleichsam die Grundlage für die aufzuführenden Werke sowie die Art und Weise ihrer Aufführung bildete. Dass diese Zukunft stattfinden sollte, war nicht nur den Mitgliedern der AMT ein Anliegen, sondern auch dem 1990 gegründeten Verein Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (MBM), der das Festival GÜLDENER HERBST seit seinen Anfängen ideell und finanziell unterstützt: „Möge es [das Festival GÜLDENER HERBST] zu unser aller Freude gedeihen und womöglich künftig mit einer Zählung versehen werden können.“7 Mit dieser Zählung konnte ein Jahr später begonnen werden. Das Ziel, eine Dachorganisation für die Aktivitäten der Alten Musik im thüringischen Raum zu bilden, war sicherlich ein langfristiges. Umso erstaunlicher ist, dass bereits zur Zweitauflage des GÜLDENEN HERBSTES im Bach-Jahr 2000 die Erschließung historischer Kulturstätten sich von der Landeshauptstadt Erfurt auf die vorjährige KulturhauptstadtWeimar ausgeweitet hatte. Sicherlich könnte man kritisch anmerken, dass in einem Bach-Jahr andere zentrale Bach-Städte wie Eisenach, Ohrdruf 7 Eckart Lange, „Grußwort des Vizepräsidenten der Ständigen Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.“, in: ebd., S. 9. Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 167 oder Arnstadt in das Festivalprogramm mit aufgenommen hätten werden müssen. Jedoch darf man nicht außeracht lassen, dass einerseits die Thüringer Bachwochen eben diese Spielorte bedienten und dass zweitens das Budget des GÜLDENEN HERBSTES eine derartige Ausweitung nicht verkraftet hätte. Ein dritter Punkt betrifft die inhaltliche Ausrichtung sowohl der AMT als auch des Festivals GÜLDENER HERBST. Wie weiter oben bereits erwähnt, ging und geht es den Verantwortlichen des Vereins darum, die Vielfalt der Thüringer Musikgeschichte aufzuzeigen. Zu dieser Vielfalt gehören insbesondere Komponisten und Werke, die eben nicht im Fokus der allgemeinen Musikrezeption stehen, sondern bisher solche Attribute wie ‚Zweite-Reihe-Komponisten‘ oder ‚Kleinmeister‘ ertragen mussten. Dass gerade diese unbekannten Komponisten und deren Werke in einem Land wie Thüringen mit seiner ausgeprägten historischen Residenzkultur zur Identität dieses Bundeslandes und seiner Bewohner beitragen, war seit ihrer Gründung das Anliegen der AMT. So lag denn der Schwerpunkt im Bach-Jahr 2000 nicht allein auf Johann Sebastian Bach, sondern auch aufWerken seiner Zeitgenossen und nachfolgender Komponisten. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte das Festival im Mozart-Jahr 2006. Erstmals mit einem Festivalmotto versehen, versuchte der GÜLDENE HERBST 2006 die „Wege zu Mozart“ auszuleuchten. Dabei kamen nicht nur Werke Thüringer Komponisten zur Aufführung, sondern – hier spielt der musikwissenschaftliche Aspekt eine gewichtige Rolle – auch Kompositionen aus Thüringer Archiven wie der AntonUlrich-Notensammlung in Meiningen. Der GÜLDENE HERBST 2007 wurde, wenn auch nicht so betitelt, als Referenz an die Feierlichkeiten zum 800. Geburtstag der Heiligen Elisabeth von Thüringen durchgeführt. Im Jahr 2008 stand das Festival, ausgehend vom jeweils 300jährigen Jubiläum des Amtsantritts Johann Sebastian Bachs in Weimar und Georg Philipp Telemanns in Eisenach, unter dem Motto „Bach – Familie – Zeitgenossen“. Für 2009 stehen neben Georg Friedrich Händel auch Henry Purcell, Georg Gebel der Jüngere und Joseph Haydn im Mittelpunkt mit dem Festivalmotto „Händel – Visionen“. Die Idee, das Interesse an Thüringer Musikgeschichte über die großen Namen wie Bach, Mozart, Händel oder Haydn zu wecken, mag man als Marketingmaßnahme abtun. Tatsächlich zeigt diese Herangehensweise aber nachwievor die Notwendigkeit auf, das, was in Thüringen an Musikgeschichte vorliegt, einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, damit solche Namen wie Johann Ludwig Bach, Georg Gebel, Philipp Heinrich Erlebach oder Georg Anton Benda in Zukunft nicht mehr nur ‚Alte-Musik-Freaks‘ Begriffe sind. Denn genau diese (und die zahlreichen weiteren) Komponisten machen den Reichtum und die Vielfalt Thüringer Musikgeschichte aus. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, er 168 Christian Storch weiterten sich die Aktivitäten der AMT und des Festivals GÜLDENER HERBST in den Folgejahren nach 2000 um mehrere Bereiche. Zum einen wurde in ein oder mehreren Konzerten den Jubiläen eben dieser weniger bekannten oder gar unbekannten Komponisten gedacht, so unter anderem des zeitweiligen Meininger Hofkapellmeisters Georg Caspar Schürmann (2002), Samuel Scheidts (2004) und der Rudolstädter Hofkapellmeister Philipp Heinrich Erlebach (2007) und Georg Gebel der Jüngere (2009). Zum anderen wurden und werden auch unabhängig von Jubiläen in Thüringen (bzw. in den ehemaligen Residenzen auf dem Gebiet des heutigen Thüringens) wirkender Komponisten die Archive und Musikaliensammlungen des Landes nach verborgenen Schätzen durchforstet. Wesentliche Quellen bilden hierbei das Landesmusikarchiv Thüringen in Weimar, die bereits erwähnte Anton-Ulrich-Notensammlung in Meiningen, die Archivbestände in Rudolstadt sowie die Musikaliensammlungen in Sondershausen. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre konnten deshalb mehrere Kompositionen ‚gehoben‘ werden, so unter anderem das David-Oratorium von Francesco Conti oder Werke von Georg Caspar Schürmann aus der Meininger Sammlung, Kantaten von Philipp Heinrich Erlebach aus den Rudolstädter Archivbeständen, Solokantaten von Telemann und Johann Heinrich Buttstett aus dem Landesmusikarchiv Weimar (vorher gefunden in Großfahner und Eschenbergen bei Gotha) sowie italienische Arien von Francesco Gasparini und Giovanni Porta aus der Sondershäuser Musikaliensammlung. Mit der Erschließung dieser historisch wertvollen Quellensammlungen ging die Ausweitung der Spielorte einher. Wie bereits geschildert, wurde schon die Zweitauflage des GÜLDENEN HERBSTES im Jahr 2000 nicht mehr nur in Erfurt, sondern auch in Weimar durchgeführt. Im Jahr 2001 blieb es zunächst bei dieser Anzahl. Im darauffolgenden Jahr wurde das Festival auf die Spielorte Eisenach, Meiningen und Schmalkalden ausgedehnt. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass in jenem Jahr das Festival nicht mehr nur von der AMT, sondern erstmals in Zusammenarbeit mit dem Kuratorium Kulturstadt Meiningen e.V. organisiert und durchgeführt wurde. Diese Art der Zusammenarbeit wurde bis zum Jahr 2006 fortgesetzt. Seit 2007 ist das Kuratorium als Festivalpartner vor allem finanziell am GÜLDENEN HERBST beteiligt. Die Organisation wurde aus praktischen Gründen fast vollständig in die Hände der Geschäftsführung des Festivals gegeben. Die neuzugestaltende Kooperation zwischen der AMT und dem Kuratorium Kulturstadt Meiningen geht auf den Wunsch beider Vereine zurück, ihre Aktivitäten im Bereich Alte Musik zu bündeln und damit der eigenen Arbeit eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Als Organisator der Südthü- Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 169 ringer Tage für Alte Musik hatten die Meininger bereits seit 1996 Erfahrungen in der Planung und Konzeption eines Alte-Musik-Festivals sammeln können. Darüberhinaus war es dem Verein unter ihrer Vorsitzenden Marina Heller ein Anliegen, die eigenen Aktivitäten über den Rennsteig hinaus kommunizieren zu können. Damit trafen zwei gleichwertige Interessen aufeinander, denn der AMT war im Umkehrschluss daran gelegen, ihre eigene Arbeit auch in Südthüringen publik machen zu können. Somit war eine Kooperation bzw. die Zusammenlegung beider Festivals die einzig richtige Schlussfolgerung. Mit dieser Zusammenlegung war nicht nur erstmals ein (fast) gesamtthüringisches Festival für Alte Musik geboren, sondern auch ein erheblich umfangreicheres Programm möglich, was dazu führte, dass der GÜLDENE HERBST nicht mehr nur an einem Wochenende veranstaltet, sondern auf ein mehrwöchiges Festival erweitert wurde. Es wird an dieser Stelle offenbar, dass das Ziel der AMT, als Dachorganisation für Alte Musik in Thüringen einen Beitrag zur kulturellen Identität des Freistaats zu leisten, nach und nach an Kontur gewann. Begann man 1999 im Zentrum Thüringens, so konnte man bereits vier Jahre später von einem thüringenweiten Landesfestival Alter Musik sprechen. Dabei lag schon bis zu diesem Zeitpunkt inhaltlich der Fokus auf den Wechselbeziehungen zwischen der Thüringer Musikgeschichte und auswärtigen Einflüssen, wie z.B. im Jahr 2000 mit einem Vortrag von Axel Stelzner mit dem Titel „Das Eigene und das Fremde in der Kulturlandschaft Thüringens“ oder dem Schwerpunkt England im Jahr 2001. Die Südthüringer Tage für Alte Musik hatten in den fünf Jahren ihres Bestehens mehrere Spielorte eingeführt, von denen einige bis zum heutigen Tag beibehalten wurden, so u.a. Meiningen mit der Stadtkirche und dem Schloss Elisabethenburg oder die Johanniterburg Kühndorf. Gerade am Beispiel der Johanniterburg lässt sich die integrative Wirkung von Veranstaltungsort und Festivalinhalt belegen. Mit einer Besucherkapazität von knapp 100 Plätzen gehört der Festsaal der Burg zu den eher kleineren Spielorten des GÜLDENEN HERBSTES. Auch die dezentrale Lage des Ortes spricht auf den ersten Blick eher gegen eine Bespielung. Jedoch offenbart sich gerade hier das identitätsstiftende Moment des GÜLDENEN HERBSTES: Die Konzerte auf der Johanniterburg Kühndorf sind jedes Jahr nahezu ausverkauft, was mehrere Gründe hat. Zum einen zieht der Ort an sich Besucher an aufgrund seiner Beschaffenheit als mittelalterliche und fast noch intakte Burganlage. Hinzu kommt die dauerhafte Präsenz des Ortes im Programm des Festivals GÜLDENER HERBST, was beim Publikum zu Planungssicherheit und Vorfreude auf das kommende Jahr führt. Drittens erweisen sich die Burgherren, die Familie von Eichborn, als kompetente und entgegenkommende 170 Christian Storch Veranstaltungspartner, die mit dem Angebot eines Diners nach dem jeweiligen Konzert für einen ansprechenden Ereignischarakter sorgen. Dasselbe gilt für das Südthüringer Kulturzentrum Meiningen. Seit 2003 beginnt der GÜLDENE HERBST in der Regel mit dem Eröffnungskonzert in Meiningen. In jenem Jahr kam ein besonderes Werk aus der Anton-Ulrich-Notensammlung zu Gehör, welches einen engen Bezug zum Aufführungsort herstellte und damit der kulturellen Identität des Ortes durch Aufarbeitung seiner musikalischen Vergangenheit Dienste leistete: die Trauermusik auf den Tod des Herzogs Ernst Ludwig I. von Sachsen-Coburg-Meiningen für Soli, Doppel-Chor, Streicher und Basso continuo „Herr, ich bin dein Knecht“ des einstigen Meininger Hofkapellmeisters Johann Ludwig Bach. Im Jahr 2005 erklang aus dieser Sammlung Domenico Sarris Oper Didone abbandonata konzertant, im Jahr 2006 Francesco Contis David-Oratorium. Auch die Musikstadt Sondershausen mit ihren umfangreichen Musikaliensammlungen spielt seit 2003 eine alljährlich wichtige Rolle für das Profil des GÜLDENEN HERBSTES. Nicht nur, dass damit erstmals auch ein Ort aus dem nördlichen Thüringen Austragungsort des Festivals wurde. Vielmehr liegen sowohl der geographische als auch der historische Aspekt der kulturellen Identitätsbildung im Fokus. Zum einen bildeten zwischen 2004 und 2007 in jedem Jahr Ausgrabungen aus den Sondershäuser Beständen den Schwerpunkt der Konzerte. Zum anderen bezeugten diese Ausgrabungen die Verflechtung der Sondershäuser Residenz mit den musikalischen Zentren der Zeit, allen voran natürlich Italien. Der eingangs dieses Artikels vorgestellte Ansatz der AMT, über musikhistorische Aufarbeitung Chancen einer Thüringer Identität für eine globalisierte Welt aufzuzeigen, äußert sich bei den Sondershäuser Sammlungen mehr als deutlich. Die von Paravicini definierte ‚Identität durch Vergangenheit‘ bezeugt hier einmal mehr, dass Thüringen kein hermetisch abgeschlossenes Konstrukt ist, sondern seine Identität nur im Austausch mit dem Fremden erreichen kann. Die Stärke der Thüringer Musikgeschichte liegt also demnach vor allem darin, dass es sie als homogenes Eigenes so nie gegeben, sondern dass sie sich in der Kommunikation mit einem oder mehreren Anderen immer wieder selbst erneuert hat. Um der Rolle als gesamtthüringisches Festival für Alte Musik gerecht zu werden, traten im Laufe der vergangenen zehn Jahre auch Veranstaltungsorte außerhalb der städtischen Zentren hinzu. Neben der bereits erwähnten Johanniterburg Kühndorf bildeten Orgelkonzerte und musikalische Gottesdienste einen weiteren Schwerpunkt im Festivalprofil. Bereits im ersten Jahr des Festivals wurde mit einer liturgischen Feier zum Reformationstag in der Michaeliskirche zu Erfurt klargestellt, dass die Thüringer Musikgeschichte nicht allein eine Geschichte an Resi- Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 171 denzen und Höfen ist, sondern in vielen Fällen – die Geschichte der Musikerfamilie Bach ist da sicherlich das bekannteste Beispiel – eben eine konfessionelle bzw. kirchliche. Diesem Fakt Rechnung zu tragen sollte für die Arbeit der AMT ein wesentlicher Motor der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Erbe Thüringens werden. Im Jahr 2000 fand, wiederum in der Michaeliskirche zu Erfurt, am 5. November ein musikalischer Gottesdienst als Festivalveranstaltung statt. Die Michaeliskirche Erfurt zählt deshalb seit Anbeginn des Festivals zu den ständigen Austragungsorten des GÜLDENEN HERBSTES. Auch im Jahr 2001 fand dort am 28. Oktober ein Kantatengottesdienst statt. Im Jahr 2002 wurde, der beginnenden Zusammenarbeit mit dem Kuratorium Kulturstadt Meiningen e.V. geschuldet, der Gottesdienst in die dortige Stadtkirche verlegt, auch, um am 13. Oktober jenes Jahres des 330. Geburtstages von Georg Caspar Schürmann zu gedenken. In den folgenden vier Jahren, von 2003 bis 2006, fand der musikalische Gottesdienst in der Michaeliskirche zu Rohr statt. Durch die Zusammenlegung des GÜLDENEN HERBSTES mit den Südthüringer Tagen für Alte Musik ein Jahr zuvor waren neben Rohr auch schon Kühndorf und Herpf in das Festivalprogramm aufgenommen und damit demWunsch der AMT nach Ausweitung des Festivals in den ländlichen Raum entsprochen worden. In Rohr wirkte zudem Dr. Bodo Seidel als Pfarrer; seine Frau Hildegard Seidel war als Mitarbeiterin des Kulturamts Meiningen in die Planungen zum GÜLDENEN HERBST involviert, weshalb die Verlegung des musikalischen Gottesdienstes nach Rohr die Planungen des Festivals erheblich vereinfachte. Weitere Orte außerhalb der städtischen Zentren Erfurt,Weimar, Meiningen, Sondershausen und Schmalkalden, die Eingang in die Landkarte des GÜLDENEN HERBSTES fanden, waren im Jahr 2003 der Bach-StammortWechmar mit dem Ensemble Cordarte sowie Büßleben und Bettenhausen mit jeweils einem Orgelkonzert. Dass diese Ausweitung des GÜLDENEN HERBSTES auf Spielorte abseits der etablierten Zentren zunächst ein Versuch war und deshalb nicht jeder Veranstaltungsort im Festivalprogramm bleiben konnte, ist verständlich. Herpf sowie die drei letztgenannten Orte wurden deshalb nach 2002 bzw. 2003 auch nicht mehr bespielt. Stattdessen versuchten die Organisatoren, Orte wie Jena und Eisenach ebenfalls in den GÜLDENEN HERBST mit aufzunehmen. Im Falle von Eisenach war dieser Versuch auch erfolgreich, auch wenn es nach Gastspielen im Wappensaal des Wartburghotels zunächst nicht danach aussah. Doch im Jahr 2005 wurde die Bachstadt Eisenach wieder in das Festivalprogramm einbezogen. Sie ist dort seitdem jedes Jahr mit mindestens einem Konzert im Bachhaus vertreten. 172 Christian Storch Um den Grundgedanken dieser Ausführungen mit der Frage nach der Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae und des GÜLDENEN HERBSTES für die kulturelle Identität Thüringens wieder aufzugreifen, muss an dieser Stelle die Entwicklung des GÜLDENEN HERBSTES kritisch betrachtet werden. Es lässt sich bis hierher feststellen, dass es den Organisatoren der AMT gelang, mit wenigen Finanzmitteln und viel Enthusiasmus ein Festival zu kreieren, dass sich im Laufe der Jahre zu einem festen Standbein in der Thüringer Festivallandschaft entwickeln konnte. Die beginnende Zusammenarbeit mit dem Kuratorium Kulturstadt Meiningen und der Stadt Sondershausen führte nicht nur geographisch den GÜLDENEN HERBST auf eine neue Ebene, sondern auch inhaltlich im Hinblick auf den Bedeutungszuwachs der ThüringerMusikaliensammlungen nicht nur, aber vor allem auch da, auf lokaler Ebene. Gleichzeitig wurden neben dem Ensemble Cantus und Capella Thuringia weitere Musiker und Ensembles aus Thüringen verpflichtet, die Reihe „Junges Podium“ wollte zudem den künstlerischen Nachwuchs an das Festival binden. Damit hat die AMT in der Tat einen wesentlichen Beitrag zu einer identifizierbaren kulturellen Identität Thüringens auf dem Gebiet der Alten Musik geleistet. Gleichwohl zeigen die Rückschläge bei der Auswahl der Festivalorte auch die geografischen Schwächen des Freistaats auf: Nicht überall findet Alte Musik den ihr gebührenden Zuspruch. Dabei muss beachtet werden, dass sich nicht nur bei Orten wie Jena, die bislang keinen eigenen erhaltenen historischen Bezug zum Zeitalter der Alten Musik vorweisen konnten und deshalb erst als Festivalorte hätten entwickelt werden müssen, der erhoffte Erfolg beim Publikum nicht einstellte, sondern auch bei an und für sich musikbegeisterten Städten wie Sondershausen. Dennoch entschied sich die Festivalleitung, Sondershausen ob seiner historischen Bedeutung im Festivalprogramm zu belassen, auch, um die Schätze der reichen Sondershäuser Musikaliensammlung auch im restlichen Thüringen bekannt zu machen. Die Arbeit der AMT lässt sich deshalb auch salopp als ‚trial and error, error but continue‘ bezeichnen, denn eines ist bis hierher auch klar: Die AMT und damit auch der GÜLDENE HERBST werden nie ein Festival mit Massenpublikum werden. Die Bedeutung der Arbeit der AMT liegt deshalb vor allem bei der archäologischen und musikpraktischen Suche nach Anzeichen einer thüringischen musikalisch-kulturellen Identität, die aus den Funden der Vergangenheit ein Selbstverständnis für die Zukunft zu entwickeln versucht. Auch wenn der GÜLDENE HERBST und die damit verbundene wissenschaftliche und musikpraktische Arbeit mittlerweile den Kernpunkt der Arbeit der AMT darstellt, so sollte der Verein doch nicht allein darauf reduziert werden. Dem Selbstverständnis folgend, eine Thüringer Dachorganisation für Alte Musik in Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 173 Thüringen zu sein, sollten zwei Bausteine diesen Anspruch unterstützen: die Thüringer Orgelreisen sowie das Akademieprogramm. Eine Thüringer Orgelreise wurde im Jahr 2001 zum ersten Mal angeboten. Aufgrund der fehlenden Nachfrage – es fand nie eine statt – wurde das Angebot im Jahr 2008 wieder eingestellt. Ein ebensolches Problem stellt das Akademieprogramm dar. Letztlich geht es hierbei darum, Veranstaltungen der Mitglieder der AMT zu bündeln und in einem Flyer abzudrucken, der dann wiederum an die Mitglieder der AMT verteilt wird. Die Auswahl der gemeldeten Konzerte und Veranstaltungen war natürlich unvollständig und missachtete u.a. die Thüringer Bachwochen oder das Ekhof-Festival in Gotha. Das Ziel, als zentrale Anlaufstelle für Veranstalter Alter Musik zu gelten, kann unter diesen Gesichtspunkten als noch nicht vollzogen betrachtet werden. Dennoch halte ich es für notwendig, dieses Ziel auch weiterhin und mit Nachdruck zu verfolgen. Keine andere Organisation ist geografisch und thematisch so offen wie die AMT. Sind die Thüringer Bachwochen vor allem auf Johann Sebastian Bach und seine Wirkungsstätten begrenzt, die Heinrich-Schütz-Tage auf Bad Köstritz, die Telemann-Tage auf Eisenach, die Fasch-Tage auf Suhl und das EkhofFestival auf Gotha, so kann über die AMT eine überregionale Öffentlichkeit erreicht werden. Um die Ausführungen einem Ende zuzuführen, sei deshalb ein Ausblick auf die Arbeit und die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae für die Zukunft gewagt. Der GÜLDENE HERBST wird auch in Zukunft ein Schwerpunkt für die Arbeit der AMT, seiner Geschäftsführung und seines Vorstands bleiben. Die Bedeutung des Festivals für die musikalisch-kulturelle Identität Thüringens, die sich aus einem ausbaufähigen Geschichtsbewusstsein speisen kann, ist offenkundig. Die Verknüpfung von historischer Musikforschung, die aus den vielfältigen Thüringer Quellen schöpft, und historischer Aufführungspraxis, die sowohl auf überregionale Größe als auch auf lokalen Nachwuchs setzt und damit die gehobenen Schätze erst gut und angemessen erklingen lässt, ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Genau dies ist die Stärke des GÜLDENEN HERBSTES. In den vergangenen Jahren wurden zudem die Maßnahmen geschaffen, die Stärken des Festivals einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, u.a. mit erhöhten Marketingmitteln, die vor allem dank des Engagements der vier großen Geldgeber – MBM, Thüringer Kultusministerium, Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen sowie Kuratorium Kulturstadt Meiningen e.V. – erreicht werden konnten. Mithilfe dieser Maßnahmen sollte es möglich sein, die Bedeutung des GÜLDENEN HERBSTES als Baustein einer identitätsbildenden Entwicklung der Thüringer Kulturlandschaft verstärkt zu kommunizieren. 174 Christian Storch Als zweiter Punkt steht der Verein Academia Musicalis Thuringiae selbst im Vordergrund. In den vergangenen zehn Jahren wurde bezüglich des Wunsches, zentrale Anlaufstelle für Aktivitäten im Bereich der Alten Musik in Thüringen zu werden, schon viel auf den Weg gebracht. Nachwievor bleibt aber fraglich, ob dieses Ziel bis jetzt erreicht wurde. In den kommenden Jahren sollten vor allem folgende Maßnahmen ergriffen werden: 1. Stärkere öffentliche Präsenz des Vereins Academia Musicalis Thuringiae, seiner Aufgaben und Ziele. 2. Regelmäßige Ansprache relevanter Veranstalter und Institutionen mit der Bitte um Bekanntgabe von Konzerten und Veranstaltungen zur Alten Musik in Thüringen. 3. Kommunikation dieser Veranstaltungen auf entsprechen Kanälen (Flyer, Internet). Darüber hinaus sollte der wissenschaftliche Aspekt in der Arbeit der AMT nicht nur während der Ausgrabungen zum Festival GÜLDENER HERBST im Vordergrund stehen. Die Qualität der wiederentdeckten und aufgeführten Werke legt nahe, die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen in den Händen der AMT anzusiedeln. Die enge Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena kann helfen, auch publizistisch tätig zu werden und Musikforscher für schriftliche Ausarbeitungen über Alte Musik in Thüringen zu gewinnen. Die Thüringer Kulturlandschaft, die in ihrer historischen Dimension eine großartige Vielfalt an musikalischen Schätzen beherbergt, ist nachwievor keine homogen zu definierende historiografische Größe: „Heterogenität, Polyzentralität, strukturelles Neben- und Durcheinander gelten geradezu als Kennzeichen Thüringer Geschichtswege, ebenso wie die Suche nach ihrer Überwindung.“8 Dass es heute im 21. Jahrhundert nicht mehr um die Überwindung von strukturellem Durcheinander geht, ist klar. Thüringen ist heute als politisch-geografische Größe fest konturiert. Gleichwohl läuft diese politische Einheit der kulturellen Identität zuwider, denn die lokalen bzw. regionalen Bezüge zeigen sich in Thüringen gegenüber einem überregionalen Zugehörigkeitsgefühl weitaus resistenter als andernorts, was u.a. mit der berühmten ‚Kümmel-Grenze‘, dem Rennsteig, belegbar ist. Gerade diese regionale Identität ist aber historisch bedingt, gefördert durch die zahlreichen Residenzen und Machtverschiebungen, die es im Laufe der Jahrhun8 Jürgen John, „Thüringenbilder – alte Klischees, neu entdeckt?“, in: Neu entdeckt (wie Anm. 1), S. 65. Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 175 derte auf thüringischem Boden gegeben hat. Die Bedeutung der AMT liegt deshalb darin, durch regional-historische Musikforschung und Musikpflege, gepaart mit überregionaler Kommunikation eine thüringenweite Kulturlandschaft aufzuzeigen, die zum einen den musikalischen Reichtum Thüringens verdeutlicht: „In der Vielfalt liegt die Gemeinsamkeit der thüringischen Kulturlandschaft und Geographie.“ 9 Zum anderen drückt sie damit aber auch aus, dass die diesem Reichtum immanente Heterogenität Thüringens in Wahrheit identitätsstiftend sein kann in einem vereinten Europa und einer globalisierten Welt; nicht als Abschottung vor ihnen, sondern als Bewusstwerdung, Teil davon zu sein und schon seit jeher von Offenheit und kulturellem Austausch profitiert zu haben. 9 HansMüller, Thüringen. Landschaft, Kultur und Geschichte im ‚grünen Herzen‘ Deutschlands, Köln 1996, S. 12. ABKÜRZUNGEN Eitner, Quellenlexikon: Robert Eitner, Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten der christlichen Zeitrechnung bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, 10 Bde., Leipzig 1900–1904. MGG: Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hrsg. von Friedrich Blume, 14 Bde., Kassel 1949–1986. MGG2: Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, 26 Bde., Kassel u.a. 1994–2008. NG: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, 20 Bde., London 1980. NG2: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Second Edition, hrsg. von Stanley Sadie und John Tyrell, 29 Bde., London und New York 2001.