DIE BEDEUTUNG DER ACADEMIA MUSICALIS THURINGIAE FÜR

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AUSZUG AUS DEM BUCH (Seite 163-175):
Helen Geyer, Franz Körndle & Christian Storch (Hrsg.)
Alte Musik in der Kulturlandschaft Thüringens
Beiträge zum zehnjährigen Bestehen
der Academia Musicalis Thuringiae
Kamprad
AlteMusik in der Kulturlandschaft Thüringens
Band 1
Herausgegeben von der Academia Musicalis Thuringiae
Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des Thüringer Justizministeriums
sowie durch eine Spende der Sparkasse Mittelthüringen.
Impressum:
Herausgeber: Helen Geyer, Franz Körndle und Christian Storch
Satz: Elisabeth Bock, Erfurt
Titelgestaltung: Christian Storch
Technische Herstellung: Klingenberg Buchkunst Leipzig GmbH
Umschlag: Pochette, fränkisch/ thüringisch, Ende 17. Jh. Sammlung Musikgeschichte der
Meininger Museen/Max-Reger-Archiv, Inventarnummer: M 13.
Foto: Michael Reichel, Ilmenau
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages
Klaus-Jürgen Kamprad und der Academia Musicalis Thuringiae physisch oder elektronisch
vervielfältigt werden.
Copyright 2009 by Verlag Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg.
ISBN: 978-3-930550-64-7
www.vkjk.de
INHALT
Vorwort des Vorsitzenden der Academia Musicalis Thuringiae......................... V
Helen Geyer: Bestände ‚italienischer‘ Renaissance- und Frühbarock-Musik
im thüringischen Mitteldeutschland .............................................................. 1
Claus Oefner: Die Musikerfamilie Hertel. Ein Beitrag zur Musikgeschichte
Mitteldeutschlands........................................................................................ 25
Dorlies Zielsdorf: Merk(-)würdig: Adjuvantenkultur in Thüringen .................. 37
Undine Wagner: Verworfene Schätze? Fragmentarische Quellen zu
ausgesonderten Repertoirestücken in thüringischen Adjuvantenarchiven... 49
Maren Goltz: Die Sammlung Wiener Libretti des Herzogs Anton Ulrich
von Sachsen-Meiningen ............................................................................... 77
Axel Schröter: Christian Gotthelf Scheinpflug (1722–1770).
Hofkapellmeister, Komponist, Lehrer und Bibliothekar .............................. 93
Cornelia Brockmann: Zwischen Alltagsgeschäft und Kunstanspruch.
Zur Sinfonik des Weimarer Hofkapellmeisters Ernst Wilhelm Wolf
(1735–1792)............................................................................................... 113
Helen Geyer: Arkadien – die Sehnsucht nach Italien oder Modernität
und Aufgeschlossenheit.............................................................................. 133
Rudolf Matthias Frieling: Zehn Jahre Cantus Thuringia & Capella.
Das Wirken eines thüringischen Ensembles im Kontext
zur Academia Musicalis Thuringiae........................................................... 151
Christian Storch: Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae
für die kulturelle Identität Thüringens........................................................ 163
Programme Festival GÜLDENER HERBST 1999 bis 2008,
Udestedter Adjuvantentage 2008 ............................................................... 177
Abkürzungen.................................................................................................... 223
VORWORT
Mit der Gründung der Academia Musicalis Thuringiae (AMT) im Jahr 1998 entstand
eine Organisation, die man einzigartig nennen darf. Ein gemeinnütziger Verein
nimmt sich in einem ganzen Bundesland um die Belange der Alten Musik an,
unterstützt durch Mittel der öffentlichen Hand (Thüringer Kultusministerium und
Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen e.V.) und privater Geldgeber (vor allem Sparkassen-Kulturstiftung
Hessen-Thüringen). Nach zehn Jahren auf ein erfolgreiches Wirken zurückblikken
zu können, berechtigt zu einem gewissen Stolz. Es verpflichtet aber auch zu
Dankbarkeit, wenn man das Geleistete betrachtet und sogar mit einer eigenen
Festschrift betrachten kann; Dank vor allem, wenn man wie der Schreiber dieses
Vorworts als später Hinzugekommener die Früchte der vorangegangenen Aufbauarbeit
einfahren darf. Der Dank sei aber auch an all diejenigen gerichtet, die dies
mit pekuniären Mitteln und unschätzbarer Mitarbeit möglich gemacht haben. Von
Anfang an dabei waren Mitglieder der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar,
aus dem Institut für Musikwissenschaft Prof. Dr. Helen Geyer sowie aus dem
Institut für Alte Musik Prof. Myriam Eichberger und Prof. Bernhard Klapprott,
die Direktoren des Schützhauses in Bad Köstritz, Dr. Ingeborg Stein, und des
Bachhauses Eisenach, Dr. Claus Oefner, und nicht zuletzt der Präsident des Landesmusikrates,
Prof. Dr. Eckhardt Lange und der Ministerialrat Dr. Wolfgang
Müller. Dank zu sagen ist aber auch den Autoren und den Mitarbeitern, die diesen
Band angeregt und bei seiner Herstellung mitgewirkt haben, allen voran Christian
Storch und Elisabeth Bock.
In der öffentlichen Wahrnehmung ist seit der Gründung das von der Academia
Musicalis Thuringiae veranstaltete Festival GÜLDENER HERBST präsent. An
mehreren Wochenenden erklingtMusik an historischen Stätten des Landes, in Kirchen
und Schlössern, in Sälen und auch Theatern von Komponisten, die hier geboren
sind, hier gewirkt haben oder deren Musik ganz einfach immer noch in den Bibliotheken
und Archiven Thüringens schlummert. Rasch wurde das Festival für
seine hörenswerten Wiederentdeckungen bekannt. Den besonderen Charme macht
dabei weiterhin aus, dass die Veranstaltungen an zahlreichen unterschiedlichen Orten
stattfinden und dabei die Werke häufig sogar am Ort ihrer Entstehung aufgeführt
werden können.
Alte Musik im regionalen historischen Kontext wieder erklingen zu lassen, ist
gerade in Thüringen attraktiv und reizvoll, hat sich doch hier in der Zeit des 17.
und 18. Jahrhunderts in den zahlreichen Residenzen eine ganz eigene, facettenrei-
VI Franz Körndle
che Musiklandschaft ausgeprägt, die auf eine Vielzahl herausragender Komponisten
verweisen kann, man nenne nur Michael Praetorius, Heinrich Schütz, Georg
Philipp Telemann oder Johann Sebastian Bach. Daneben zeigen Kapellmeister wie
Gottfried Heinrich Stölzel oder Georg Gebel, die in Gera und Gotha sowie Rudolstadt
wirkten, die vorzügliche Qualität der Musikpflege an den Thüringer Höfen.
Aber der Reichtum dieses Landstrichs beschränkte sich nicht auf die Schlösser und
großen Städte. Sogar die Dörfer widmeten sich mit erheblichem Aufwand großen
Kompositionen des internationalen Repertoires. Freilich konnte dies nur mit der
Unterstützung von musikalischen Helfern (Adjuvanten) gelingen, die sich aus einem
Kreis von Laienmusikern rekrutierten. Die umfangreichsten Bestände mit
Adjuvantenmusikalien stammen aus Udestedt bei Erfurt; aber auch aus Gräfenroda,
Großfahner / Eschenbergen, Thörey / Ichtershausen und Vogelsberg haben sich
maßgebliche Materialien erhalten. Sie alle sind heute als Deposita im Thüringer
Landesmusikarchiv untergebracht. In einem singulären Zusammenwirken von Archiv,
Musikwissenschaft und Musikern entstehen Aufführungsmaterialien als
Grundlange für die konzertante Präsentation an originalen Schauplätzen. Diese
ganz speziellen Schätze wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, führte zu
den von der AcademiaMusicalis Thuringiae veranstalteten Thüringer Adjuvantentagen
in Udestedt und Großfahner.
Es wird immer wieder gefragt, welche historische Ausdehnung unter dem Begriff
Alte Musik verstanden werden kann. Darüber nachzudenken wird vor allem
dann relevant, wenn gelegentlich sogar die Anfangsbuchstaben der Academia Musicalis
Thuringiae als Alte Musik in Thüringen interpretiert werden. Das wichtigste
Anliegen ist hierbei die Aufführung von Musik mit dem Instrumentarium der
Entstehungszeit, wobei mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gerade inMitteldeutschland
die Barockmusik, also der Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts im
Zentrum steht. Freilich reichte dieMusikkultur weit über diese beiden Jahrhunderte
hinaus, man denke nur Johann Nepomuk Hummel oder Franz Liszt, der Weimar
über die Musik zu einer zweiten Klassik verhelfen wollte, man denke aber auch an
die unübersehbaren Dokumente von großartigen Aufführungen in den Partituren
oder den Instrumentensammlungen, von denen es kaum irgendwo so viele gibt wie
in Thüringen. Leicht ließe sich das Festival GÜLDENER HERBST somit weit ins
19. Jahrhundert hinein führen, doch dies kann und sollte nur in geeigneten Fällen
versucht werden, da mit einem Repertoire, das regelmäßig auch im modernen
Konzertsaal zu erleben ist, das Festival rasch sein eigenständiges Profil einbüßen
würde. Dagegen hält schon die Barockzeit eine Fülle von Neuentdeckungen parat.
Erst wenig konnte überhaupt aus der Zeit vor 1600 erschlossen werden. Von
der einst großartigenMusiktradition im Jesuitenkolleg Heiligenstadt ist erst vor ei-
Vorwort VII
nigen Monaten ein Belegstück zum Vorschein gekommen. Der überwiegende Teil
der Kompositionen, die in den großformatigen Chorbüchern aus dem ersten Viertel
des 16. Jahrhunderts in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena
festgehalten sind, ist bis heute nicht in Ausgaben für die Praxis zugänglich gemacht
worden. Ähnliches gilt für dieMusik im unlängst restaurierten so genannten
Eisenacher Kantorenbuch, in dem eine nicht geringe Anzahl von Unikaten aus der
frühen Reformationszeit zu finden ist. Sind diese Stücke wenigstens einem Kreis
von Experten seit langem bekannt gewesen, müssen die Kenntnisse zur Musik des
Mittelalters als tatsächlich minimal bezeichnet werden. Zwar darf die inzwischen
digital im Internet verfügbare Faksimile-Edition der Jenaer Liederhandschrift der
Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek als Ausnahme diese Regel bestätigen.
Jedoch wissen wir ansonsten über die Musikpflege in den Thüringer Kirchen
und Burgen des hohen und späten Mittelalters kaum Erwähnenswertes. Aber auch
da öffnet ein Festival wie der GÜLDENE HERBST Perspektiven. So könnte etwa
ein vor über zwanzig Jahren wiederentdecktes Notre-Dame-Organum einmal im
Kontext der Prozessionsgesänge am Erfurter Mariendom vorgetragen werden. Damit
ergeben sich für die Zukunft der AcademiaMusicalis Thuringiae Optionen und
Aufgaben aus dem unerschöpflichen Reichtum der Thüringer Musikgeschichte.
Die vorliegende Festschrift will einen Einblick in die Tätigkeit der AMT geben,
die Forschung in den Archiven und Bibliotheken dokumentieren, die Aktivität aus
der Sicht der historisch informierten Aufführungspraxis widerspiegeln und nicht
zuletzt die Aufgabenstellung im Sinne der fördernden Institutionen erhellen.
Franz Körndle
Vorsitzender der Academia Musicalis Thuringiae
DIE BEDEUTUNG DER ACADEMIA MUSICALIS THURINGIAE FÜR
DIE KULTURELLE IDENTITÄT THÜRINGENS
Christian Storch
„Identität durch Vergangenheit“ – so beschreibt der Historiker Werner Paravicini
die Thüringer Situation in seinem Essay „Vom Wert der Residenzforschung“ anlässlich
der 2. Thüringer Landesausstellung, die vom 15. Mai bis zum 3. Oktober
2004 zum Thema „Neu entdeckt – Thüringen, Land der Residenzen“ in Sondershausen
exponiert war.1 Tatsächlich blickte die Landesausstellung auf über 400
Jahre Thüringer Residenzgeschichte zurück, von der ‚Leipziger Teilung‘ im Jahr
1485 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und der Abdankung sämtlicher Landesfürsten
im Jahren 1918. Aber was bedeuten diese beiden Begriffe, Identität und
Vergangenheit, in Bezug zum kulturellen und vor allem musikalischen Selbstverständnis
Thüringens heute eigentlich? Welche Parameter muss man an den Begriff
der kulturellen Identität Thüringens anlegen und wie viel Vergangenheit verträgt
eine globalisierte und beschleunigte Gesellschaft wie die unsere heute noch?
Der Begriff der kulturellen Identität und seine Konturierung spielt nicht erst
seit dem Einsetzen der sogenannten ‚Zweiten Globalisierung’ eine wichtige Rolle
im medialen Abgleich unterschiedlicher Kulturen, wie er mithilfe von TV, Radio
und vor allem dem Internet zu immer dringlicheren Fragestellungen nach der eigenen
Identität führt. Parallel zur 2. Thüringer Landesausstellung wurde sich im Jahr
2004 auf dem 13. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung
(16. bis 21. September 2004 in Weimar) der Frage gewidmet, was der Konferenztitel
„Musik und kulturelle Identität“ eigentlich bedeutet und vor allem was er beinhaltet.
Dabei zeigte die Breite der angemeldeten Referate die Vielschichtigkeit
des Begriffs auf, die geografisch, sozial, religiös, historisch oder demografisch
konnotiert sein kann.2 Gerade die geografische und historische Anwendung des
Begriffs der kulturellen Identität macht den Schwerpunkt des vorliegenden Referats
aus, das der Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae (AMT) für die
1 Vgl. Werner Paravicini, „Vom Wert der Residenzforschung“, in: Neu entdeckt. Thüringen –
Land der Residenzen. 2. Thüringer Landesausstellung Schloss Sondershausen 15. Mai –
3. Oktober 2004. Essays, hrsg. von Konrad Scheurmann und Jördis Frank, Mainz 2004,
S. 8–12.
2 Vgl. Detlef Altenburg, Ruth Seehaber, Christoph Meixner (Red.), Musik und kulturelle
Identität. XIII. Internationaler Kongress der Gesellschaft für Musikforschung 16. bis 21.
September 2004 Weimar. Programm / Abstracts,Weimar 2004.
164 Christian Storch
kulturelle Identitätsbildung Thüringens in den vergangenen zehn Jahren herausstellen
will.
Die Geschichte Thüringens soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Der
eingangs zitierte Begleitband zur 2. Thüringer Landesausstellung liefert u. a. einige
aufschlussreiche Beiträge zu diesem Thema. Wichtig ist jedoch anzumerken,
dass aufgrund der Geschichte des heutigen Freistaats Thüringen und seiner zwischenzeitlichen
Zergliederung bzw. Auflösung die Frage nach einer identifizierbaren
Identität seiner Bewohner als Thüringer im Raum steht. So wurde bereits im
Jahr 1993, kurz nach der Reformierung des Freistaats, der Frage nachgegangen, inwieweit
sich eine eigenständige Thüringer Identität restrukturiert habe.3 Vier Jahre
später, im Jahr 1997, wurde auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Erfurt der
Blick auf die Geschichte der Residenzkultur in Thüringen gelegt, um „neue Erkenntnisse
über die thüringischen Fürstenhöfe sowie deren regionale und überregionale
Vernetzungen“4 zu gewinnen. Diesem Ziel folgte auch die bereits genannte
Thüringer Landesausstellung. Gleichzeitig zeigt nicht nur die ehemalige höfische
Heiratspolitik, sondern vor allem die hiesige Musikgeschichte, wie eng verwoben
die einzelnen Residenzen und deren Städte untereinander waren, sodass – nicht nur
im Hinblick auf die Musikerfamilie Bach – durchaus von strukturellen Verflechtungen
gesprochen werden kann.
Wenn von ‚Identität durch Vergangenheit‘ die Rede ist, so meint die Floskel an
dieser Stelle allerdings keine restaurativen Bestrebungen. In einer – zum Vorteil aller
– globalisierten Welt kann eine regionale Identitätsbildung nicht die Abschottung
von einem Größeren bedeuten, sondern lediglich die Bewusstwerdung, Teil
dieses Größeren zu sein, im kommunikativen Austausch mit anderen Teilen: „Wir
bereichern die europäische Geschichte durch eine Variante, die aus wenig viel
machte und aus relativer Armut einen Reichtum, der noch heute leuchtet.“5 In diesem
Sinne ist auch die Arbeit der AMT zu verstehen, die seit nunmehr zehn Jahren
eben diesem Phänomen, seinen Ursachen und Auswirkungen nachspürt, um der
Frage nachzugehen, ob aus diesem Reichtum der Vergangenheit sich eine thüringische
kulturelle Identität gewinnen lässt, die auch in einer globalisierten Welt zukunftsfähig
ist.
3 Vgl. Burkhardt Kolbmüller (Red.), Heimat Thüringen. Kulturelle Identität im Wandel.
Tagung der Thüringischen Vereinigung für Volkskunde und des Zentrums für Thüringer
Landeskultur 26. Bis 28. März 1993. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Geraberg 1993.
4 Roswitha Jacobsen, „Vorwort“, in: Residenzkultur in Thüringen vom 16. bis 19. Jahrhundert,
hrsg. von Roswitha Jacobsen (= PALMBAUM Texte 8), Bucha bei Jena 1999, S. 7.
5 Paravicini, „Residenzforschung“ (wie Anm. 1), S. 12.
Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 165
Der Verein Academia Musicalis Thuringiae wurde im Jahr 1998 unter dem
Vorsitz der Musikwissenschaftlerin Helen Geyer gegründet. Ursächlich für diesen
Schritt war das Verlangen von Vertretern Thüringer Musikinstitutionen wie dem
Bachhaus in Eisenach, dem Heinrich-Schütz-Haus in Bad Köstritz sowie kulturinteressierter
BürgerInnen, eine zentrale Organisation zu schaffen, die der reichhaltigen
musikalischen Vergangenheit Thüringens Rechnung tragen sollte. Thüringen,
über Jahrhunderte in zahlreiche Fürsten- und Herzogtümer zersplittert, barg
eine Vielzahl an musikalischen Schätzen, die es zu bergen galt. Dass die bekannte
Vielzahl vor allem Vielfalt bedeutete, wollten die Gründer der AMT mit ihrem
Schritt beginnen kund zu tun. Als Arbeitsschwerpunkte wurden vor allem die musikarchäologische
Bergung bisher in Thüringer Archiven schlummernder Partituren
und ihre Aufführungen im Rahmen eines eigens dafür zu konzipierenden Festivals
benannt. Dieses Festival Alter Musik in Thüringen mit dem Titel
GÜLDENER HERBST fand zum ersten Mal vom 29. bis 31. Oktober 1999 in Erfurt
statt. Darüber hinaus war es der AMT ein Anliegen, die Erschließung historischer
Stätten Thüringer Musikkultur in die Vereinsarbeit zu integrieren.
Genau hier begann das Problem. Denn der Begriff der Thüringer Musikkultur
war in Bezug auf die Alte Musik im Jahr 1998 kein eindeutig zu identifizierender
Terminus: „Wir hoffen, […] in Thüringen eine empfindliche Lücke in der Pflege
des musikalischen Erbes zu schließen.“6 Zwar gab es mit den Thüringer Bachwochen,
den Heinrich-Schütz- sowie den Michael-Praetorius-Tagen bereits etablierte
Festivals bzw. Konzertreihen, jedoch waren diese jeweils hauptsächlich einem
Komponisten und dessen Oeuvre gewidmet, was ein übergreifendes Merkmal einer
thüringischen Kulturlandschaft nicht zwangsläufig beinhaltete. Demzufolge
waren vor allem auch die Vertreter dieser Einrichtungen bzw. Veranstalter an einer
Dachorganisation für Alte Musik in Thüringen interessiert.
Beginnen sollten die Aktivitäten der AMT mit dem ersten Festival GÜLDENER
HERBST im Oktober 1999 in Erfurt. Neben dem Veranstalten von Konzerten
mit mehr oder weniger bereits bekannten Werken war es der AMT von Anfang an
ein Anliegen, musikarchäologische Arbeit zu leisten und Kompositionen thüringischer
und mitteldeutscher Komponisten ‚auszugraben‘, die teils über mehrere
Jahrhunderte nicht mehr erklungen waren und gerade deshalb entscheidende Puzzlestücke
für die Thüringer Kulturlandschaft darstellten. Ein solches Puzzlestück
war die barocke Oper L’Amor prigioniero des Dresdner Hofkapellmeisters Johann
6 Helen Geyer, „Geleit der Vorsitzenden der Academia Musicalis Thuringiae e.V.“, in: GÜLDENER
HERBST. Festival Alter Musik in Thüringen. 29. bis 31. Oktober 1999 in Erfurt,
Programmheft, S. 3.
166 Christian Storch
Adolf Hasse, die am 30. Oktober 1999 um 19.30 Uhr als Teil eines Barockfestes
im Erfurter Kaisersaal erklang. Mit dieser Wiederaufführung einher ging die Zusammenarbeit
mit der Berliner Lautten Compagney unter der Leitung von Wolfgang
Katschner, die bis heute immer wieder fruchtbare Entdeckungen zutage gefördert
bzw. auf die Bühne gebracht hat. Eine zweite enge und bis heute weiter
vertiefte Kooperation wurde mit der parallel zur AMT gegründeten Capella Thuringia
ins Leben gerufen. Unter der Leitung von Bernhard Klapprott, Professor für
Alte Musik an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, wurden zum Eröffnungskonzert
am 29. Oktober 1999 Ouvertüren und Concerti von Georg Philipp
Telemann und Johann Sebastian Bach aufgeführt, von zwei Komponisten also, die
eng mit dem Begriff der Thüringer Kulturlandschaft und seiner Geschichte verbunden
sind.
Es lässt sich deshalb schon an den Anfängen der AMT und des Festivals GÜLDENER
HERBST erkennen, dass es den Gründern und Organisatoren nicht nur
um die Sichtbarmachung eines historischen Erbes ging, das entweder bestimmte
Komponisten, die in Thüringen und Mitteldeutschland gewirkt hatten, oder deren
bisher vernachlässigte Kompositionen ins Rampenlicht rücken wollte. Vielmehr
sollte mit dem ‚Schließen der Lücke‘ gleichzeitig ein Blick in die Zukunft gewagt
werden, der sowohl die Musikpraxis – vor allem im Sinne einer historischen Aufführungspraxis
– als auch die historischeMusikforschung betraf, die gleichsam die
Grundlage für die aufzuführenden Werke sowie die Art und Weise ihrer Aufführung
bildete. Dass diese Zukunft stattfinden sollte, war nicht nur den Mitgliedern
der AMT ein Anliegen, sondern auch dem 1990 gegründeten Verein Ständige Konferenz
Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
(MBM), der das Festival GÜLDENER HERBST seit seinen Anfängen ideell und
finanziell unterstützt: „Möge es [das Festival GÜLDENER HERBST] zu unser aller
Freude gedeihen und womöglich künftig mit einer Zählung versehen werden
können.“7
Mit dieser Zählung konnte ein Jahr später begonnen werden. Das Ziel, eine
Dachorganisation für die Aktivitäten der Alten Musik im thüringischen Raum zu
bilden, war sicherlich ein langfristiges. Umso erstaunlicher ist, dass bereits zur
Zweitauflage des GÜLDENEN HERBSTES im Bach-Jahr 2000 die Erschließung
historischer Kulturstätten sich von der Landeshauptstadt Erfurt auf die vorjährige
KulturhauptstadtWeimar ausgeweitet hatte. Sicherlich könnte man kritisch anmerken,
dass in einem Bach-Jahr andere zentrale Bach-Städte wie Eisenach, Ohrdruf
7 Eckart Lange, „Grußwort des Vizepräsidenten der Ständigen Konferenz Mitteldeutsche
Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.“, in: ebd., S. 9.
Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 167
oder Arnstadt in das Festivalprogramm mit aufgenommen hätten werden müssen.
Jedoch darf man nicht außeracht lassen, dass einerseits die Thüringer Bachwochen
eben diese Spielorte bedienten und dass zweitens das Budget des GÜLDENEN
HERBSTES eine derartige Ausweitung nicht verkraftet hätte.
Ein dritter Punkt betrifft die inhaltliche Ausrichtung sowohl der AMT als auch
des Festivals GÜLDENER HERBST. Wie weiter oben bereits erwähnt, ging und
geht es den Verantwortlichen des Vereins darum, die Vielfalt der Thüringer Musikgeschichte
aufzuzeigen. Zu dieser Vielfalt gehören insbesondere Komponisten und
Werke, die eben nicht im Fokus der allgemeinen Musikrezeption stehen, sondern
bisher solche Attribute wie ‚Zweite-Reihe-Komponisten‘ oder ‚Kleinmeister‘ ertragen
mussten. Dass gerade diese unbekannten Komponisten und deren Werke in
einem Land wie Thüringen mit seiner ausgeprägten historischen Residenzkultur
zur Identität dieses Bundeslandes und seiner Bewohner beitragen, war seit ihrer
Gründung das Anliegen der AMT. So lag denn der Schwerpunkt im Bach-Jahr
2000 nicht allein auf Johann Sebastian Bach, sondern auch aufWerken seiner Zeitgenossen
und nachfolgender Komponisten.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte das Festival im Mozart-Jahr 2006. Erstmals
mit einem Festivalmotto versehen, versuchte der GÜLDENE HERBST 2006 die
„Wege zu Mozart“ auszuleuchten. Dabei kamen nicht nur Werke Thüringer Komponisten
zur Aufführung, sondern – hier spielt der musikwissenschaftliche Aspekt
eine gewichtige Rolle – auch Kompositionen aus Thüringer Archiven wie der AntonUlrich-Notensammlung in Meiningen. Der GÜLDENE HERBST 2007 wurde,
wenn auch nicht so betitelt, als Referenz an die Feierlichkeiten zum 800. Geburtstag
der Heiligen Elisabeth von Thüringen durchgeführt. Im Jahr 2008 stand das Festival,
ausgehend vom jeweils 300jährigen Jubiläum des Amtsantritts Johann Sebastian
Bachs in Weimar und Georg Philipp Telemanns in Eisenach, unter dem
Motto „Bach – Familie – Zeitgenossen“. Für 2009 stehen neben Georg Friedrich
Händel auch Henry Purcell, Georg Gebel der Jüngere und Joseph Haydn im Mittelpunkt
mit dem Festivalmotto „Händel – Visionen“.
Die Idee, das Interesse an Thüringer Musikgeschichte über die großen Namen
wie Bach, Mozart, Händel oder Haydn zu wecken, mag man als Marketingmaßnahme
abtun. Tatsächlich zeigt diese Herangehensweise aber nachwievor die Notwendigkeit
auf, das, was in Thüringen an Musikgeschichte vorliegt, einem möglichst
breiten Publikum zugänglich zu machen, damit solche Namen wie Johann
Ludwig Bach, Georg Gebel, Philipp Heinrich Erlebach oder Georg Anton Benda
in Zukunft nicht mehr nur ‚Alte-Musik-Freaks‘ Begriffe sind. Denn genau diese
(und die zahlreichen weiteren) Komponisten machen den Reichtum und die Vielfalt
Thüringer Musikgeschichte aus. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, er
168 Christian Storch
weiterten sich die Aktivitäten der AMT und des Festivals GÜLDENER HERBST
in den Folgejahren nach 2000 um mehrere Bereiche.
Zum einen wurde in ein oder mehreren Konzerten den Jubiläen eben dieser weniger
bekannten oder gar unbekannten Komponisten gedacht, so unter anderem
des zeitweiligen Meininger Hofkapellmeisters Georg Caspar Schürmann (2002),
Samuel Scheidts (2004) und der Rudolstädter Hofkapellmeister Philipp Heinrich
Erlebach (2007) und Georg Gebel der Jüngere (2009). Zum anderen wurden und
werden auch unabhängig von Jubiläen in Thüringen (bzw. in den ehemaligen Residenzen
auf dem Gebiet des heutigen Thüringens) wirkender Komponisten die
Archive und Musikaliensammlungen des Landes nach verborgenen Schätzen
durchforstet. Wesentliche Quellen bilden hierbei das Landesmusikarchiv Thüringen
in Weimar, die bereits erwähnte Anton-Ulrich-Notensammlung in Meiningen,
die Archivbestände in Rudolstadt sowie die Musikaliensammlungen in Sondershausen.
Im Laufe der vergangenen zehn Jahre konnten deshalb mehrere Kompositionen
‚gehoben‘ werden, so unter anderem das David-Oratorium von Francesco
Conti oder Werke von Georg Caspar Schürmann aus der Meininger Sammlung,
Kantaten von Philipp Heinrich Erlebach aus den Rudolstädter Archivbeständen,
Solokantaten von Telemann und Johann Heinrich Buttstett aus dem Landesmusikarchiv
Weimar (vorher gefunden in Großfahner und Eschenbergen bei Gotha) sowie
italienische Arien von Francesco Gasparini und Giovanni Porta aus der Sondershäuser
Musikaliensammlung.
Mit der Erschließung dieser historisch wertvollen Quellensammlungen ging
die Ausweitung der Spielorte einher. Wie bereits geschildert, wurde schon die
Zweitauflage des GÜLDENEN HERBSTES im Jahr 2000 nicht mehr nur in
Erfurt, sondern auch in Weimar durchgeführt. Im Jahr 2001 blieb es zunächst bei
dieser Anzahl. Im darauffolgenden Jahr wurde das Festival auf die Spielorte Eisenach,
Meiningen und Schmalkalden ausgedehnt. Dies ist dem Umstand geschuldet,
dass in jenem Jahr das Festival nicht mehr nur von der AMT, sondern erstmals
in Zusammenarbeit mit dem Kuratorium Kulturstadt Meiningen e.V. organisiert
und durchgeführt wurde. Diese Art der Zusammenarbeit wurde bis zum Jahr 2006
fortgesetzt. Seit 2007 ist das Kuratorium als Festivalpartner vor allem finanziell
am GÜLDENEN HERBST beteiligt. Die Organisation wurde aus praktischen
Gründen fast vollständig in die Hände der Geschäftsführung des Festivals gegeben.
Die neuzugestaltende Kooperation zwischen der AMT und dem Kuratorium
Kulturstadt Meiningen geht auf den Wunsch beider Vereine zurück, ihre Aktivitäten
im Bereich Alte Musik zu bündeln und damit der eigenen Arbeit eine höhere
öffentliche Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Als Organisator der Südthü-
Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 169
ringer Tage für Alte Musik hatten die Meininger bereits seit 1996 Erfahrungen in
der Planung und Konzeption eines Alte-Musik-Festivals sammeln können. Darüberhinaus
war es dem Verein unter ihrer Vorsitzenden Marina Heller ein Anliegen,
die eigenen Aktivitäten über den Rennsteig hinaus kommunizieren zu können.
Damit trafen zwei gleichwertige Interessen aufeinander, denn der AMT war
im Umkehrschluss daran gelegen, ihre eigene Arbeit auch in Südthüringen publik
machen zu können. Somit war eine Kooperation bzw. die Zusammenlegung beider
Festivals die einzig richtige Schlussfolgerung. Mit dieser Zusammenlegung war
nicht nur erstmals ein (fast) gesamtthüringisches Festival für Alte Musik geboren,
sondern auch ein erheblich umfangreicheres Programm möglich, was dazu führte,
dass der GÜLDENE HERBST nicht mehr nur an einem Wochenende veranstaltet,
sondern auf ein mehrwöchiges Festival erweitert wurde.
Es wird an dieser Stelle offenbar, dass das Ziel der AMT, als Dachorganisation
für Alte Musik in Thüringen einen Beitrag zur kulturellen Identität des Freistaats
zu leisten, nach und nach an Kontur gewann. Begann man 1999 im Zentrum Thüringens,
so konnte man bereits vier Jahre später von einem thüringenweiten Landesfestival
Alter Musik sprechen. Dabei lag schon bis zu diesem Zeitpunkt inhaltlich
der Fokus auf den Wechselbeziehungen zwischen der Thüringer
Musikgeschichte und auswärtigen Einflüssen, wie z.B. im Jahr 2000 mit einem
Vortrag von Axel Stelzner mit dem Titel „Das Eigene und das Fremde in der Kulturlandschaft
Thüringens“ oder dem Schwerpunkt England im Jahr 2001.
Die Südthüringer Tage für Alte Musik hatten in den fünf Jahren ihres Bestehens
mehrere Spielorte eingeführt, von denen einige bis zum heutigen Tag beibehalten
wurden, so u.a. Meiningen mit der Stadtkirche und dem Schloss Elisabethenburg
oder die Johanniterburg Kühndorf. Gerade am Beispiel der
Johanniterburg lässt sich die integrative Wirkung von Veranstaltungsort und Festivalinhalt
belegen. Mit einer Besucherkapazität von knapp 100 Plätzen gehört der
Festsaal der Burg zu den eher kleineren Spielorten des GÜLDENEN HERBSTES.
Auch die dezentrale Lage des Ortes spricht auf den ersten Blick eher gegen eine
Bespielung. Jedoch offenbart sich gerade hier das identitätsstiftende Moment des
GÜLDENEN HERBSTES: Die Konzerte auf der Johanniterburg Kühndorf sind
jedes Jahr nahezu ausverkauft, was mehrere Gründe hat. Zum einen zieht der Ort
an sich Besucher an aufgrund seiner Beschaffenheit als mittelalterliche und fast
noch intakte Burganlage. Hinzu kommt die dauerhafte Präsenz des Ortes im Programm
des Festivals GÜLDENER HERBST, was beim Publikum zu Planungssicherheit
und Vorfreude auf das kommende Jahr führt. Drittens erweisen sich die
Burgherren, die Familie von Eichborn, als kompetente und entgegenkommende
170 Christian Storch
Veranstaltungspartner, die mit dem Angebot eines Diners nach dem jeweiligen
Konzert für einen ansprechenden Ereignischarakter sorgen.
Dasselbe gilt für das Südthüringer Kulturzentrum Meiningen. Seit 2003 beginnt
der GÜLDENE HERBST in der Regel mit dem Eröffnungskonzert in Meiningen.
In jenem Jahr kam ein besonderes Werk aus der Anton-Ulrich-Notensammlung
zu Gehör, welches einen engen Bezug zum Aufführungsort herstellte
und damit der kulturellen Identität des Ortes durch Aufarbeitung seiner musikalischen
Vergangenheit Dienste leistete: die Trauermusik auf den Tod des Herzogs
Ernst Ludwig I. von Sachsen-Coburg-Meiningen für Soli, Doppel-Chor, Streicher
und Basso continuo „Herr, ich bin dein Knecht“ des einstigen Meininger Hofkapellmeisters
Johann Ludwig Bach. Im Jahr 2005 erklang aus dieser Sammlung Domenico
Sarris Oper Didone abbandonata konzertant, im Jahr 2006 Francesco Contis
David-Oratorium.
Auch die Musikstadt Sondershausen mit ihren umfangreichen Musikaliensammlungen
spielt seit 2003 eine alljährlich wichtige Rolle für das Profil des
GÜLDENEN HERBSTES. Nicht nur, dass damit erstmals auch ein Ort aus dem
nördlichen Thüringen Austragungsort des Festivals wurde. Vielmehr liegen sowohl
der geographische als auch der historische Aspekt der kulturellen Identitätsbildung
im Fokus. Zum einen bildeten zwischen 2004 und 2007 in jedem Jahr Ausgrabungen
aus den Sondershäuser Beständen den Schwerpunkt der Konzerte. Zum
anderen bezeugten diese Ausgrabungen die Verflechtung der Sondershäuser Residenz
mit den musikalischen Zentren der Zeit, allen voran natürlich Italien. Der eingangs
dieses Artikels vorgestellte Ansatz der AMT, über musikhistorische Aufarbeitung
Chancen einer Thüringer Identität für eine globalisierte Welt aufzuzeigen,
äußert sich bei den Sondershäuser Sammlungen mehr als deutlich. Die von Paravicini
definierte ‚Identität durch Vergangenheit‘ bezeugt hier einmal mehr, dass
Thüringen kein hermetisch abgeschlossenes Konstrukt ist, sondern seine Identität
nur im Austausch mit dem Fremden erreichen kann. Die Stärke der Thüringer Musikgeschichte
liegt also demnach vor allem darin, dass es sie als homogenes Eigenes
so nie gegeben, sondern dass sie sich in der Kommunikation mit einem oder
mehreren Anderen immer wieder selbst erneuert hat.
Um der Rolle als gesamtthüringisches Festival für Alte Musik gerecht zu werden,
traten im Laufe der vergangenen zehn Jahre auch Veranstaltungsorte außerhalb
der städtischen Zentren hinzu. Neben der bereits erwähnten Johanniterburg
Kühndorf bildeten Orgelkonzerte und musikalische Gottesdienste einen weiteren
Schwerpunkt im Festivalprofil. Bereits im ersten Jahr des Festivals wurde mit einer
liturgischen Feier zum Reformationstag in der Michaeliskirche zu Erfurt klargestellt,
dass die Thüringer Musikgeschichte nicht allein eine Geschichte an Resi-
Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 171
denzen und Höfen ist, sondern in vielen Fällen – die Geschichte der
Musikerfamilie Bach ist da sicherlich das bekannteste Beispiel – eben eine konfessionelle
bzw. kirchliche. Diesem Fakt Rechnung zu tragen sollte für die Arbeit der
AMT ein wesentlicher Motor der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem musikalischen
Erbe Thüringens werden.
Im Jahr 2000 fand, wiederum in der Michaeliskirche zu Erfurt, am 5. November
ein musikalischer Gottesdienst als Festivalveranstaltung statt. Die Michaeliskirche
Erfurt zählt deshalb seit Anbeginn des Festivals zu den ständigen Austragungsorten
des GÜLDENEN HERBSTES. Auch im Jahr 2001 fand dort am 28.
Oktober ein Kantatengottesdienst statt. Im Jahr 2002 wurde, der beginnenden Zusammenarbeit
mit dem Kuratorium Kulturstadt Meiningen e.V. geschuldet, der
Gottesdienst in die dortige Stadtkirche verlegt, auch, um am 13. Oktober jenes Jahres
des 330. Geburtstages von Georg Caspar Schürmann zu gedenken. In den folgenden
vier Jahren, von 2003 bis 2006, fand der musikalische Gottesdienst in der
Michaeliskirche zu Rohr statt. Durch die Zusammenlegung des GÜLDENEN
HERBSTES mit den Südthüringer Tagen für Alte Musik ein Jahr zuvor waren neben
Rohr auch schon Kühndorf und Herpf in das Festivalprogramm aufgenommen
und damit demWunsch der AMT nach Ausweitung des Festivals in den ländlichen
Raum entsprochen worden. In Rohr wirkte zudem Dr. Bodo Seidel als Pfarrer; seine
Frau Hildegard Seidel war als Mitarbeiterin des Kulturamts Meiningen in die
Planungen zum GÜLDENEN HERBST involviert, weshalb die Verlegung des musikalischen
Gottesdienstes nach Rohr die Planungen des Festivals erheblich vereinfachte.
Weitere Orte außerhalb der städtischen Zentren Erfurt,Weimar, Meiningen,
Sondershausen und Schmalkalden, die Eingang in die Landkarte des
GÜLDENEN HERBSTES fanden, waren im Jahr 2003 der Bach-StammortWechmar
mit dem Ensemble Cordarte sowie Büßleben und Bettenhausen mit jeweils einem
Orgelkonzert.
Dass diese Ausweitung des GÜLDENEN HERBSTES auf Spielorte abseits der
etablierten Zentren zunächst ein Versuch war und deshalb nicht jeder Veranstaltungsort
im Festivalprogramm bleiben konnte, ist verständlich. Herpf sowie die
drei letztgenannten Orte wurden deshalb nach 2002 bzw. 2003 auch nicht mehr bespielt.
Stattdessen versuchten die Organisatoren, Orte wie Jena und Eisenach ebenfalls
in den GÜLDENEN HERBST mit aufzunehmen. Im Falle von Eisenach war
dieser Versuch auch erfolgreich, auch wenn es nach Gastspielen im Wappensaal
des Wartburghotels zunächst nicht danach aussah. Doch im Jahr 2005 wurde die
Bachstadt Eisenach wieder in das Festivalprogramm einbezogen. Sie ist dort seitdem
jedes Jahr mit mindestens einem Konzert im Bachhaus vertreten.
172 Christian Storch
Um den Grundgedanken dieser Ausführungen mit der Frage nach der Bedeutung
der Academia Musicalis Thuringiae und des GÜLDENEN HERBSTES für
die kulturelle Identität Thüringens wieder aufzugreifen, muss an dieser Stelle die
Entwicklung des GÜLDENEN HERBSTES kritisch betrachtet werden. Es lässt
sich bis hierher feststellen, dass es den Organisatoren der AMT gelang, mit wenigen
Finanzmitteln und viel Enthusiasmus ein Festival zu kreieren, dass sich im
Laufe der Jahre zu einem festen Standbein in der Thüringer Festivallandschaft entwickeln
konnte. Die beginnende Zusammenarbeit mit dem Kuratorium Kulturstadt
Meiningen und der Stadt Sondershausen führte nicht nur geographisch den GÜLDENEN
HERBST auf eine neue Ebene, sondern auch inhaltlich im Hinblick auf
den Bedeutungszuwachs der ThüringerMusikaliensammlungen nicht nur, aber vor
allem auch da, auf lokaler Ebene. Gleichzeitig wurden neben dem Ensemble Cantus
und Capella Thuringia weitere Musiker und Ensembles aus Thüringen verpflichtet,
die Reihe „Junges Podium“ wollte zudem den künstlerischen Nachwuchs
an das Festival binden. Damit hat die AMT in der Tat einen wesentlichen Beitrag
zu einer identifizierbaren kulturellen Identität Thüringens auf dem Gebiet der Alten
Musik geleistet.
Gleichwohl zeigen die Rückschläge bei der Auswahl der Festivalorte auch die
geografischen Schwächen des Freistaats auf: Nicht überall findet Alte Musik den
ihr gebührenden Zuspruch. Dabei muss beachtet werden, dass sich nicht nur bei
Orten wie Jena, die bislang keinen eigenen erhaltenen historischen Bezug zum
Zeitalter der Alten Musik vorweisen konnten und deshalb erst als Festivalorte hätten
entwickelt werden müssen, der erhoffte Erfolg beim Publikum nicht einstellte,
sondern auch bei an und für sich musikbegeisterten Städten wie Sondershausen.
Dennoch entschied sich die Festivalleitung, Sondershausen ob seiner historischen
Bedeutung im Festivalprogramm zu belassen, auch, um die Schätze der reichen
Sondershäuser Musikaliensammlung auch im restlichen Thüringen bekannt zu
machen. Die Arbeit der AMT lässt sich deshalb auch salopp als ‚trial and error, error
but continue‘ bezeichnen, denn eines ist bis hierher auch klar: Die AMT und
damit auch der GÜLDENE HERBST werden nie ein Festival mit Massenpublikum
werden. Die Bedeutung der Arbeit der AMT liegt deshalb vor allem bei der
archäologischen und musikpraktischen Suche nach Anzeichen einer thüringischen
musikalisch-kulturellen Identität, die aus den Funden der Vergangenheit ein
Selbstverständnis für die Zukunft zu entwickeln versucht.
Auch wenn der GÜLDENE HERBST und die damit verbundene wissenschaftliche
und musikpraktische Arbeit mittlerweile den Kernpunkt der Arbeit der AMT
darstellt, so sollte der Verein doch nicht allein darauf reduziert werden. Dem
Selbstverständnis folgend, eine Thüringer Dachorganisation für Alte Musik in
Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 173
Thüringen zu sein, sollten zwei Bausteine diesen Anspruch unterstützen: die Thüringer
Orgelreisen sowie das Akademieprogramm. Eine Thüringer Orgelreise wurde
im Jahr 2001 zum ersten Mal angeboten. Aufgrund der fehlenden Nachfrage –
es fand nie eine statt – wurde das Angebot im Jahr 2008 wieder eingestellt.
Ein ebensolches Problem stellt das Akademieprogramm dar. Letztlich geht es
hierbei darum, Veranstaltungen der Mitglieder der AMT zu bündeln und in einem
Flyer abzudrucken, der dann wiederum an die Mitglieder der AMT verteilt wird.
Die Auswahl der gemeldeten Konzerte und Veranstaltungen war natürlich unvollständig
und missachtete u.a. die Thüringer Bachwochen oder das Ekhof-Festival in
Gotha. Das Ziel, als zentrale Anlaufstelle für Veranstalter Alter Musik zu gelten,
kann unter diesen Gesichtspunkten als noch nicht vollzogen betrachtet werden.
Dennoch halte ich es für notwendig, dieses Ziel auch weiterhin und mit Nachdruck
zu verfolgen. Keine andere Organisation ist geografisch und thematisch so offen
wie die AMT. Sind die Thüringer Bachwochen vor allem auf Johann Sebastian
Bach und seine Wirkungsstätten begrenzt, die Heinrich-Schütz-Tage auf Bad
Köstritz, die Telemann-Tage auf Eisenach, die Fasch-Tage auf Suhl und das EkhofFestival auf Gotha, so kann über die AMT eine überregionale Öffentlichkeit
erreicht werden.
Um die Ausführungen einem Ende zuzuführen, sei deshalb ein Ausblick auf
die Arbeit und die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae für die Zukunft
gewagt.
Der GÜLDENE HERBST wird auch in Zukunft ein Schwerpunkt für die Arbeit
der AMT, seiner Geschäftsführung und seines Vorstands bleiben. Die Bedeutung
des Festivals für die musikalisch-kulturelle Identität Thüringens, die sich aus
einem ausbaufähigen Geschichtsbewusstsein speisen kann, ist offenkundig. Die
Verknüpfung von historischer Musikforschung, die aus den vielfältigen Thüringer
Quellen schöpft, und historischer Aufführungspraxis, die sowohl auf überregionale
Größe als auch auf lokalen Nachwuchs setzt und damit die gehobenen Schätze
erst gut und angemessen erklingen lässt, ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Genau
dies ist die Stärke des GÜLDENEN HERBSTES. In den vergangenen Jahren wurden
zudem die Maßnahmen geschaffen, die Stärken des Festivals einem breiteren
Publikum zugänglich zu machen, u.a. mit erhöhten Marketingmitteln, die vor allem
dank des Engagements der vier großen Geldgeber – MBM, Thüringer Kultusministerium,
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen sowie Kuratorium
Kulturstadt Meiningen e.V. – erreicht werden konnten. Mithilfe dieser Maßnahmen
sollte es möglich sein, die Bedeutung des GÜLDENEN HERBSTES als Baustein
einer identitätsbildenden Entwicklung der Thüringer Kulturlandschaft verstärkt
zu kommunizieren.
174 Christian Storch
Als zweiter Punkt steht der Verein Academia Musicalis Thuringiae selbst im
Vordergrund. In den vergangenen zehn Jahren wurde bezüglich des Wunsches,
zentrale Anlaufstelle für Aktivitäten im Bereich der Alten Musik in Thüringen zu
werden, schon viel auf den Weg gebracht. Nachwievor bleibt aber fraglich, ob dieses
Ziel bis jetzt erreicht wurde. In den kommenden Jahren sollten vor allem folgende
Maßnahmen ergriffen werden:
1. Stärkere öffentliche Präsenz des Vereins Academia Musicalis Thuringiae, seiner
Aufgaben und Ziele.
2. Regelmäßige Ansprache relevanter Veranstalter und Institutionen mit der Bitte
um Bekanntgabe von Konzerten und Veranstaltungen zur Alten Musik in Thüringen.
3. Kommunikation dieser Veranstaltungen auf entsprechen Kanälen (Flyer, Internet).
Darüber hinaus sollte der wissenschaftliche Aspekt in der Arbeit der AMT nicht
nur während der Ausgrabungen zum Festival GÜLDENER HERBST im Vordergrund
stehen. Die Qualität der wiederentdeckten und aufgeführten Werke legt nahe,
die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen in den Händen der
AMT anzusiedeln. Die enge Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft
Weimar-Jena kann helfen, auch publizistisch tätig zu werden und Musikforscher
für schriftliche Ausarbeitungen über Alte Musik in Thüringen zu gewinnen.
Die Thüringer Kulturlandschaft, die in ihrer historischen Dimension eine großartige
Vielfalt an musikalischen Schätzen beherbergt, ist nachwievor keine homogen
zu definierende historiografische Größe: „Heterogenität, Polyzentralität,
strukturelles Neben- und Durcheinander gelten geradezu als Kennzeichen Thüringer
Geschichtswege, ebenso wie die Suche nach ihrer Überwindung.“8 Dass es
heute im 21. Jahrhundert nicht mehr um die Überwindung von strukturellem
Durcheinander geht, ist klar. Thüringen ist heute als politisch-geografische Größe
fest konturiert. Gleichwohl läuft diese politische Einheit der kulturellen Identität
zuwider, denn die lokalen bzw. regionalen Bezüge zeigen sich in Thüringen gegenüber
einem überregionalen Zugehörigkeitsgefühl weitaus resistenter als andernorts,
was u.a. mit der berühmten ‚Kümmel-Grenze‘, dem Rennsteig, belegbar ist.
Gerade diese regionale Identität ist aber historisch bedingt, gefördert durch die
zahlreichen Residenzen und Machtverschiebungen, die es im Laufe der Jahrhun8 Jürgen John, „Thüringenbilder – alte Klischees, neu entdeckt?“, in: Neu entdeckt (wie
Anm. 1), S. 65.
Die Bedeutung der Academia Musicalis Thuringiae 175
derte auf thüringischem Boden gegeben hat. Die Bedeutung der AMT liegt deshalb
darin, durch regional-historische Musikforschung und Musikpflege, gepaart mit
überregionaler Kommunikation eine thüringenweite Kulturlandschaft aufzuzeigen,
die zum einen den musikalischen Reichtum Thüringens verdeutlicht: „In der
Vielfalt liegt die Gemeinsamkeit der thüringischen Kulturlandschaft und Geographie.“
9 Zum
anderen drückt sie damit aber auch aus, dass die diesem Reichtum immanente
Heterogenität Thüringens in Wahrheit identitätsstiftend sein kann in einem
vereinten Europa und einer globalisierten Welt; nicht als Abschottung vor
ihnen, sondern als Bewusstwerdung, Teil davon zu sein und schon seit jeher von
Offenheit und kulturellem Austausch profitiert zu haben.
9 HansMüller, Thüringen. Landschaft, Kultur und Geschichte im ‚grünen Herzen‘ Deutschlands,
Köln 1996, S. 12.
ABKÜRZUNGEN
Eitner, Quellenlexikon:
Robert Eitner, Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lexikon der
Musiker und Musikgelehrten der christlichen Zeitrechnung bis zur Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts, 10 Bde., Leipzig 1900–1904.
MGG: Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik,
hrsg. von Friedrich Blume, 14 Bde., Kassel 1949–1986.
MGG2: Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der
Musik, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher,
26 Bde., Kassel u.a. 1994–2008.
NG: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley
Sadie, 20 Bde., London 1980.
NG2: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Second Edition,
hrsg. von Stanley Sadie und John Tyrell, 29 Bde., London und New
York 2001.
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