Basiswissen: Umgang mit muslimischen Patienten

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kulturelle Elemente Eingang in das Krankheitsverständnis und prägen es bei vielen Muslimen bis heute.
Im christlich geprägten Kulturkreis ist das Verhältnis von Heilung
und Heil viel diskutiert worden und vor allem durch eine gewisse
Aufgabenteilung zwischen Arzt und Seelsorger geprägt, die vom
Gegensatz »Kranker – Sünder« bzw. »unfrei – frei« bestimmt wird.
Diese Unterscheidung ist im therapeutischen Alltag muslimischer
Ärzte und Therapeuten und auch bei Entscheidungen der Rechtsgelehrten zwar wichtig, spielt im Koran aber nicht die dominierende
Rolle, da es hier um das Grundsätzliche im Menschen, also um seine
Beziehung zu Gott geht.
Da es im Islam keinen »Seelsorger« (als Spezialist für die Seele bzw.
das Seelenheil) mit irgendwie gearteten priesterlichen Funktionen
gibt, übernehmen der Arzt oder ein Fachgelehrter (vergleichbar
mit einem Rabbiner) gegebenenfalls diese beratende Funktion.
Daten und Fakten zur muslimischen Bevölkerung
Die rund vier Millionen Muslime machen etwa 5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus, in Österreich und der Schweiz stellen
sie jeweils ca. 4 Prozent der Einwohner. Sie stammen ursprünglich
aus rund vierzig Ländern, etwa aus der Türkei (1,8 Mio.), Bosnien-Herzegowina (200.000), Iran (100.000), Marokko (80.000) und
Afghanistan (70.000). Hinzu kommen rund 800.000 eingebürgerte
Muslime sowie zum Islam konvertierte Deutsche ohne Migrationshintergrund (Bundesministerium des Innern 2008). Auch die
religiöse Vielfalt ist groß: Die Mehrheit von über 80 Prozent zählt
zur sunnitischen Glaubensrichtung, daneben gibt es Schiiten (3 Prozent), (vorwiegend türkische) Aleviten (17 Prozent) und Anhänger
der Ahmadiyya (1,4 Prozent).
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Inhaltlich reicht das Spektrum von orthodox-sunnitischen Orientierungen wahhabitischer Prägung (»Salafisten«), eher konservative
Anhänger unterschiedlicher Rechtsschulen über Mitglieder mystischer Richtungen bis hin zu Befürwortern von Laizismus und solchen
Muslimen, denen der Islam nur noch Kultur ist. Hinzu kommen die
unterschiedlichsten Grade der persönlichen Religionsausübung.
Entsprechend dieser ethnischen und religiösen Vielfalt sind die
Muslime in Deutschland auch in unterschiedlichen Gruppen und
Verbänden organisiert.
Eine 2001 erfolgte Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung (Wilamowitz-Moellendorff 2001) unter in Deutschland lebenden
Türken ergab über deren politische Einstellung ein überraschendes
Bild. Die Hälfte der Befragten fühlte sich mit Deutschland eng verbunden, die gleiche Zahl würde Deutschland mit der Waffe verteidigen, falls es von einem islamischen (!) Land angegriffen würde.
90 Prozent meinen, in einer gerechten oder zumindest teilweise
gerechten Gesellschaft zu leben, 80 Prozent sind mit der Demokratie
in Deutschland zufrieden (gegenüber 74 Prozent der Deutschen!).
Nahezu 90 Prozent halten die Demokratie für die beste Staatsform
und fast ebenso viele glauben, dass in einer Demokratie alle friedlichen Aktivitäten und Meinungsäußerungen erlaubt sein müssen.
Religionsausübung 9
Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung
(»Religionsmonitor« von 2014) zur Religiosität der in Deutschland lebenden Muslime ergab, dass 90 Prozent der Muslime über
18 Jahre als religiös einzustufen sind, 41 Prozent davon sogar als
»hochreligiös«. 86 Prozent essen kein Schweinefleisch, 58 Prozent
trinken keinen Alkohol, 59 Prozent der Männer und 79 Prozent der
Frauen verrichten ihre Ritualgebete regelmäßig, Moscheebesuch
und Freitagsgebet haben für jeden Dritten eine hohe Bedeutung.
Auch im Alltag macht sich die Religion bemerkbar: Für 45 Prozent
der Muslime hat der Islam auf die Partnerwahl und die Partnerschaft,
für 51 Prozent auf die Erziehung der Kinder und für 36 Prozent auf
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die Sexualität einen hohen Einfluss, jedoch nur für 16 Prozent auf
ihre politische Meinung. Gleichzeitig kennzeichnet die Muslime eine
hohe Toleranz gegenüber anderen Religionen. So meinen 86 Prozent,
dass man gegenüber anderen Religionen offen sein solle, 76 Prozent
glauben, dass jede Religion einen wahren Kern hat. Vor diesem
Hintergrund stellte Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D.,
ehemals Vorsitzende des Sachverständigenrats für Zuwanderung und
Integration, fest: »Bislang wurde beispielsweise die Religiosität der
Muslime als sehr politisch wahrgenommen, doch tatsächlich spielen
bei den Muslimen Politik und die politische Einstellung eine sehr
untergeordnete Rolle« (ebd.).
MERKE
d Die Religiosität der Muslime in Deutschland ist sehr ausgeprägt,
jedoch weitestgehend unpolitisch bzw. politisch sehr tolerant.
Einheit und Vielfalt bei Muslimen
Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung, bei der häufig von
»den Muslimen« und »dem Islam« die Rede ist, ist die Situation der
Muslime in Deutschland von einer großen ethnischen und religiösen
Vielfalt geprägt.
Sunniten 9
Die Muslime in Deutschland sind nicht nur national,
sondern auch religiös heterogen. Die Anhänger der sunnitischen
Richtung des Islam stellen mit nahezu 90 Prozent die größte Gruppe. Sie folgen den vier traditionellen islamischen Rechtsschulen als
Repräsentanten der prophetischen Tradition und der Gemeinschaft
der Muslime. Die normalerweise geringfügigen Unterschiede in
diesen Rechtsschulen können sich jedoch bei einzelnen Rechtsbestimmungen, etwa im Familienrecht, durchaus bemerkbar machen.
Unter den sunnitischen Türken in Deutschland gehören die meisten
der sogenannten hanafitischen Rechtsschule an.
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Ein weiteres Kennzeichen der sunnitischen Richtung des Islam ist
die Anerkennung der ersten vier »rechtmäßigen Kalifen« nach dem
Tode des Propheten als Führer der islamischen Gemeinschaft.
Schiiten 9
Im Gefolge der politischen Auseinandersetzungen um
die Nachfolge des Propheten entstand die schiitische Richtung (arab.
Shîcat cAlî = »Partei Alis«), die heute gut 10 Prozent aller Muslime
ausmachen und mit der größten Gruppe, der sogenannten Zwölferschia, überwiegend im Iran, Irak und auf dem indischen Subkontinent vertreten sind. In Deutschland leben etwa 120.000 Schiiten,
ihr Zentrum ist die Imam-Ali-Moschee in Hamburg. Die Schiiten
lehnen die drei ersten Nachfolger des Propheten ab und halten einzig den vierten Kalifen, cAlî ibn Abî Ţâlib, für dessen rechtmäßigen
Nachfolger. Aus dessen Familie müssen auch alle weiteren Kalifen
stammen.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zu den Sunniten ist die Lehre
vom Imamat, der Führung der Gemeinschaft durch einen göttlich
geleiteten Imam. In der täglichen Religionspraxis unterscheiden sich
Schiiten allerdings kaum von den Sunniten.
Aleviten 9
In Deutschland ist die Gruppe der Aleviten ebenfalls
stark vertreten, die hauptsächlich im Rahmen der Arbeitsmigration
aus der Türkei nach Deutschland kamen. Die alevitische Glaubensrichtung ist in Zentralanatolien im 13. Jahrhundert entstanden und
stark vom mystischen Islam beeinflusst. Auch hier gibt es ein breites
Spektrum von Einstellungen bis hin zum Verständnis des Alevitentums als Kultur ohne Bezug zu religiösen Elementen oder Gott.
Aleviten unterscheiden sich in vielem von Sunniten: »Die Aleviten
beten individuell abends und donnerstagsabends in der Gemeinde,
der Cemversammlung. Sie gehen nicht in die Moschee, sie haben in
der Regel eine eigene Kultstätte (Cemevi). Der Kult der Aleviten ist
durch gegenseitige Versöhnung, Musik und Tanz beider Geschlechter ausgezeichnet. Die Aleviten fasten nicht im Monat Ramadan,
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sondern zwölf Tage im Monat Muharem. Die Aleviten pilgern nicht
nach Mekka« (Sökefeld 2008, S. 199).
Die Aleviten bringen cAlî ibn Abî Ţâlib, dem Vetter des Propheten
und vierten Kalifen, höchste Verehrung entgegen. Sie gehen davon aus, dass sie die Scharia als erste Stufe zum »vollkommenen
Menschen« bereits überwunden haben, und lehnen diese als für sie
nicht verbindlich ab. Da die Scharia auch das Gebet, das Fasten, die
Pilgerfahrt, die Kleiderordnung, Speiseregeln etc. behandelt, fühlen
sich Aleviten auch nicht an die meisten der »fünf Säulen« gebunden
(Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Sozialsteuer / Zakah und Pilgerfahrt), die Bestandteile des sunnitischen und schiitischen Islam sind.
Aus diesem Grunde ist ihnen ein größeres Maß an Assimilation an
die deutsche Gesellschaft möglich.
In der psychiatrischen Klinik und Ambulanz spielen daher religiös
begründete Ausnahmen in Diagnostik und Therapie nicht die Rolle
wie bei Sunniten oder Schiiten.
Innerhalb der Aleviten wird eine intensive Diskussion darüber geführt, ob das Alevitentum in erster Linie eine Kultur ist, eine eigenständige Religion darstellt oder sich als eine Richtung des Islam
versteht. Nach Meinung der überwiegenden Mehrheit der Sunniten
ist derjenige ein Muslim, der das islamische Glaubensbekenntnis
mit voller Absicht und Überzeugung ausspricht. Darüber hinaus
besteht allerdings bei den meisten Konsens darüber, dass ein Muslim
unter anderem die fünf Säulen anerkennen muss, um als Muslim zu
gelten. Daher bewegen sich Aleviten nach Ansicht vieler Sunniten
außerhalb des Minimalkonsenses und werden häufig als Häretiker
verunglimpft, was besonders in der Türkei, wo sie bis zu 15 Prozent
der Bevölkerung ausmachen, zu Schwierigkeiten bis hin zu Verfolgungen geführt hat.
Ahmadiyya 9
1889 trat im heutigen Pakistan Mirza Ghulam
Ahmad (1839 – 1908) mit dem Anspruch auf, ein islamischer Reformer, der christliche Messias und der islamische Mahdi in einer
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