III. AUF DER SUCHE NACH DEM „WIRKLICHEN THEATER“

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III. AUF DER SUCHE NACH DEM „WIRKLICHEN THEATER“
Hry o Marii (1933-34)
DIE KRISE ALS WENDEPUNKT
Waren die ersten Pariser Jahre durch Martinůs Auseinandersetzung mit unterschiedlichen
Strömungen geprägt, sei es die Zeitoper, sei es die Jazzmusik oder der Dadaismus RibemontDessaignes, so wurde nach 1930 das genau gegenläufige Moment der Distanzierung von äusseren Einflüssen zum bestimmenden Merkmal seines Schaffens. Nachdem er sich zunächst im
Pariser Chaos zu orientieren und die einzelnen Richtungen auf ihre Tauglichkeit für seine
Zwecke zu prüfen hatte, setzte er sich zu Beginn der 1930er Jahre – und somit kurze Zeit nach
Abschluss der Zeitoper Les trois Souhaits – intensiv mit der eigenen Musikauffassung auseinander, worauf er die Mittel einschränkte, und die Kompositionen sauberer, die Form klarer
und der Stil eher kammermusikalisch als symphonisch wurden1. Untrennbar mit der
abnehmenden Beeinflussung durch zeitgenössische Tendenzen verbunden ist Martinůs wachsende Unzufriedenheit mit den in Paris aufgeführten neuen Werken. Hatte er zu Beginn seines
Pariser Aufenthaltes nahezu hymnische Texte über die Vielfalt des Pariser Musiklebens verfasst, nahm im Lauf der Jahre die Begeisterung – und damit seine publizistische Tätigkeit –
stetig ab, bis sie um 1933 einen ersten Tiefpunkt erreichte2. In einer polemischen Abhandlung
über die Pariser Konzertsaison von 1932/33 brachte er seine überaus kritische Sicht auf den
gegenwärtigen Stellenwert der Kunst und die daraus erwachsenden Folgen zum Ausdruck3.
Die politische und wirtschaftliche Unsicherheit der damaligen Lage – eine unmittelbare Folge
der Weltwirtschaftskrise – fand seiner Ansicht nach eine Entsprechung in der Situation der
Kunst: Indem die moralischen Werte und die damit verbundene Verantwortung des Komponisten aber auch des Publikums einem Werk gegenüber gelockert würden, verkäme die Musik
zunehmend zu einem zwar dekorativen, jedoch alltäglichen Ereignis, was ein rasch erlöschendes Interesse nach einmaligem Hören mit sich brächte. Dieses flüchtige Interesse könne allein
durch immer Neues am Leben erhalten werden, weshalb unvermeidlicherweise die ganze
1
Zitat Martinů, Bilance vlastní tvorby do r. 1935 [Bilanz des eigenen Schaffens bis 1935] (1935), in: Šafránek,
Domov, hudba a svět, S. 329.
2
Martinůs Artikel für tschechoslowakische Zeitschriften und Zeitungen (Listy Hudbní matice; Lidové noviny;
Tribuna; Národní a Stavovské Divadlo; Přítomnost; Dalibor; Hudební rozhledy), in: Šafránek, Domov, hudba
a svět, S. 19-109.
3
Martinů, Hudba v Paríži [Musik in Paris] (1933), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 54-56.
107
Vergangenheit verworfen und nach einem Neubeginn mit völlig neuen Materialien gesucht
werden müsse. Der Bourgeois erweise sich als unersättlich, womit sich das Prinzip des épater
le bourgeois gegen den Künstler wende, denn als richtigem Reaktionär würde dem Bourgeois
auch das Originelle zu langweilig4. Es fiele den widrigen Verhältnissen zum Opfer, und
zurück bliebe notgedrungen eine Lücke, die ebenso wie das Konzertprogramm mit Werken
gefüllt werden müsse. Da keine grosse Auswahl zur Verfügung stünde, würde man sich für
die Erstbesten entscheiden, wofür in den Augen Martinůs die Pariser Saison von 1932/33 den
Beweis lieferte. Obwohl er keine hohe Meinung von der Qualität der erklingenden Kompositionen hatte, schätzte er dies nicht als eigentliches Problem, sondern als blosse Folge der veränderten Funktion von Kunst ein.
Die neue junge Schule ersetzt sehr bequem einige spezifische Werte der grossen französischen
Tradition. Sie ersetzt Leichtigkeit (légerté) durch Einfachheit (facilité). Sie ersetzt ebenso die
berühmte französische Klarheit (clarté) durch ziemlich gewöhnliche Banalitäten. Was den
guten Geschmack betrifft, der einer der Vorzüge der französischen Kultur darstellt, so ist
dieser nur schwer auszutauschen, aber selbst der wurde ersetzt. [...] Die Gefahr liegt weniger in
den Werken selbst, als vielmehr in deren Bewertung und Klassifizierung. Das Werk wird zur
blossen gesellschaftlichen Ergänzung und als alltägliches Ereignis richtet es keinen grossen
Schaden an 5.
Nicht Neues um des Neuen willen zu komponieren, sondern die moralische Verpflichtung
wahrzunehmen, indem er die Musik wieder auf die ihr eigenen Grundlagen zu stellen
trachtete – dies veranlasste Martinů zu einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem barocken Concerto grosso, die schliesslich im Konzert für Streichquartett mit Orchester, im
Concerto grosso, den Tre Ricercari sowie im Konzert für zwei Streichorchester, Klavier und
Pauke gipfelte. Das Streben nach einer definitiven Organisation des Ganzen und aller seiner
Elemente zu einem lebendigen, gesunden Organismus fand er in den Concerti grossi Corellis
verwirklicht, nicht jedoch in den Symphonien des späteren 19. Jahrhunderts, die auf einer
dynamischen Kulmination emotionaler Elemente beruhten und deren Themen auf Kosten der
organischen Ordnung zu schier ungeheuren Dimensionen ausgedehnt würden6. In Martinůs
Aussage Ich war nie Avantgardist spiegelt sich seine Überzeugung, dass sämtliche für die
Musik relevanten Fragen im Lauf der Geschichte längst gestellt worden seien, und es nun
4
Ebd., S. 55.
Ebd., S. 56.
6
Martinů, Bilance vlastní tvorby do r. 1935 [Bilanz des eigenen Schaffens bis 1935] (1935), in: Šafránek,
Domov, hudba a svět, S. 329.
5
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darum ginge, diese in einer Art Synthese der vergangenen Epochen neu zu beantworten7.
Wenngleich die beginnende Beschäftigung mit dem Concerto grosso keinen direkten Zusammenhang zur Bühnentrilogie – deren Entstehung in diese Zeit fällt – aufweist, so lässt sich
daraus doch auf eine zunehmende Distanzierung von äusseren Einflüssen schliessen, die wiederum für die Komposition der drei Werke relevant erscheinen muss. Denn wollte er mit den
Concerti grossi erklärtermassen an die ‚Grundlagen der Musik‘ rühren, so plante er mit der
zwischen 1931 und 1936 entstandenen tschechischen Bühnentrilogie Špalíček, Hry o Marii
und Divadlo za bránou eine Rückkehr zum wirklichen Theater, indem er die Gattung Oper
von der angesammelten Schlacke – den Folgen einer psychologisierten Handlung – zu
befreien beabsichtigte8.
Bis zu welchem Punkt die Entscheidung, die Trilogie explizit für ein tschechisches
Publikum zu schreiben, auf einer bewussten Absicht beruhte und nicht eine Folge der sich
anbietenden Möglichkeiten war, muss offen gelassen werden. Jedenfalls liegt die Vermutung
nahe, dass die Entscheidung für die Tschechoslowakei ebenso praktisch bedingt war wie diejenige für das flexiblere Brünner Theater anstelle des Prager Nationaltheaters9. War bereits
die Aufführung der Hry o Marii in Prag mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, so
musste die Adaption einer Trilogie Martinůs für eine französische Bühne geradezu utopisch
erscheinen. Während die Umstände, die zu einer Aufführung in der Tschechoslowakei und
nicht in Frankreich führten, für eine Beurteilung der Trilogie nur von sekundärem Interesse
sind, wiegt ungleich schwerer, dass Martinů die drei Werke im Bewusstsein verfasste, ausschliesslich für ein tschechisches Publikum zu arbeiten, impliziert dies doch eine Reaktion auf
die Eigenheiten der betreffenden Operntradition. Dementsprechend bestand seine erklärte
Absicht darin, das tschechische Publikum an das moderne Musiktheater heranzuführen, was
ihm deshalb vordringlich erschien, weil er der Überzeugung war, dass das dortige Opernrepertoire aufgrund seltsamer – politischer oder kultureller – Umstände beträchtliche Lücken
aufwies10. So plante Martinů, der fehlgeleiteten Rezeption in der damaligen Tschechoslowakei dadurch entgegenzuwirken, dass überhaupt erst ein Publikum für neues Musiktheater
7
Zitat ebd., S. 329; Zitat Martinů, O současné hudbě [Über die zeitgenössische Musik] (1925), in: Šafránek,
Domov, hudba a svět, S. 78.
8
Zitat Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206; vgl. Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 322324.
9
Vgl. Eva Vítová, Zur Tradition der Inszenierung von Bohuslav Martinůs Opern auf der Bühne des
Staatstheaters in Brno, in: Brabcová, Bohuslav Martinů (1990), S. 285 f. Siehe auch Brief von Martinů an
Frantíšek Muzika, vom 30. April 1934 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 187.
10
Zitat Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 321.
109
geschaffen werden sollte, eine Intention, die sich direkt in Martinůs Bühnentrilogie niederschlug11.
Ausgehend vom damaligen Stand der tschechischen Opern, die sich nurmehr auf Szenen aus dem Dorfleben oder mehr oder weniger märchenhafte Themen beschränken würden
(etwa Rudolf Karel: Smrt kmotřička; Jaromír Weinberger: Švanda dudák), beabsichtigte er,
innerhalb der drei Werke die verpasste Theatergeschichte nachzuholen: Die erste Entwicklungsstufe bildete das Ballett Špalíček für Solostimmen, Chor und Orchester von 1932, die
zweite der Opernzyklus Hry o Marii von 1934 und den Abschluss die mit Commedia
dell’Arte-Elementen durchsetzte Ballett-Oper Divadlo za bránou aus dem Jahr 193612.
Zusätzlich unterstrichen wurde die didaktische Absicht durch den Umstand, dass Martinů zu
keinem anderen seiner Werke so viele Kommentare publizierte wie zu dieser Trilogie im allgemeinen und zu den Hry o Marii im besonderen13. Diesen Erläuterungen entsprechend sah er
das zu beseitigende Unverständnis des Publikums darin begründet, dass sich die zeitgenössische Oper zunehmend zur Angelegenheit für Spezialisten entwickelt und dabei ihre auf das
Theater zurückgehenden Wurzeln vernachlässigt habe14. Sich dem ‚Theater‘ wieder anzunähern und das Interesse des Publikums zurückzugewinnen, dies sind die beiden bestimmenden
und einander gegenseitig bedingenden Ziele, die der Konzeption der drei Bühnenwerke
zugrunde liegen.
Indem sich das Libretto von Špalíček aus Volksliedtexten und Märchen zusammensetzt, wird es zugleich zwei Ansprüchen gerecht: Zum einen knüpfte es unmittelbar an die
Situation der tschechischsprachigen Oper an, die sich weitgehend auf märchenartige Stoffe
konzentriert hatte, und zum anderen erleichterte die Verwendung des tschechischen Allgemeinguts die Rezeption, weshalb sich das Publikum verstärkt mit der Musik auseinandersetzen konnte. Die Hry o Marii führen insofern weiter, als sie einerseits den Schritt vom Ballett
zur Oper vollziehen und andererseits nicht mehr auf allgemein bekannten Texten, sondern auf
vier zyklisch angeordneten Legenden basieren. Nach Špalíček und Hry o Marii bildet
schliesslich das Bühnenwerk Divadlo za bránou insofern einen zusammenfassenden Abschluss der Trilogie, als es sowohl eine an Špalíček gemahnende Hinwendung zum Ballett als
auch eine die Hry o Marii fortsetzende Verwendung von Volksliedtexten aufweist und als neu
11
Zitat ebd., S. 320.
Ebd., S. 321. Zu Martinůs kritischer Beurteilung des Prager Nationaltheaters siehe Martinů, Životnost opery
[Die Lebensfähigkeit der Oper] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 203 f.
13
Unveröffentlichte Entwürfe und publizierte Aufsätze Martinůs zu Špalíček, Hry o Marii und Divadlo za
bránou, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů (1979), S. 182-243.
14
Martinů, O divadle středověku [Vom Theater des Mittelalters] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 186.
12
110
hinzutretendes Element Anleihen bei der Commedia dell’Arte nimmt. Trotzdem erinnert diese
Ballett-Oper nur bedingt an die Commedia dell’Arte, was wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass Martinů mit dieser nicht viel anzufangen wusste und stattdessen verstärkt auf
ein volkstümliches Spektakel abzielte15. Da den Hry o Marii weder der Übergangscharakter
des Špalíček, der immerhin bei dem – in den Augen Martinůs – lamentablen Zustand der
tschechischen Oper anzuknüpfen hatte, noch das bereits Abschliessende des Divadlo za
bránou anhaftet, bilden die mittelalterlichen Spiele zweifellos das Kernstück der Trilogie16.
DAS „WIRKLICHE THEATER“ AUF DER OPERNBÜHNE
Ich glaube an die Lebensfähigkeit und Zukunft der Oper sowie des Theaters, wenn sich diese
von ihren mehr oder weniger ästhetischen und falschen Überlagerungen zu befreien vermögen,
und ich wage den ersten Schritt auf diesem Weg, d. h. ich will mich wieder dem Theater und
dem Publikum annähern17.
Bemerkenswerterweise machte Martinů auf seiner rückwärts gerichteten Suche nach einer
Zeit, in der Theater noch wirkliches Theater gewesen war, bereits im Mittelalter Halt und
verzichtete auf einen Sprung in die Antike18. Da er in keiner Weise eine Retrospektive der
Theatergeschichte anstrebte, sondern in erster Linie den Publikumskontakt wiederherstellen
wollte, wählte er das unmittelbar im Volk verwurzelte, mittelalterliche Theater zum Ausgangspunkt. Dem schwindenden Publikumsinteresse entgegenzuwirken, indem nun nicht
mehr das ‚Bildungsbürgertum‘, abgestumpfte unnaive Menschen, sondern neu das ‚Volk‘
schlechthin angesprochen werden sollte, hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Max
Reinhardt zu seinen Arena-Inszenierungen bewogen, die er ab 1910 zunächst an wechselnden
Theatern und schliesslich im eigenen Berliner ‚Zirkus Schumann‘ verwirklichte19. Wie
15
Zitat Martinů, Brief von Martinů an Jindřich Honzl, vom 14. Mai 1935 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 230.
16
Martinů, Divadlo za bránou (1936), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 242: Ich denke, dass ich mit
den drei Bühnenwerken, die alle im Brünner Theater aufgeführt wurden, meine Aufgabe erfüllt habe, so dass
ich mich jetzt anderen Zielen zuwenden kann.
17
Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206.
18
Zitat ebd., S. 206.
19
Zitat Reinhardt nach Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters (1993), S. 276. Vgl. auch
Reinhardt, Rede über den Schauspieler (1930), in: Ders., Schriften, S. 325: Das bürgerliche Leben ist eng
begrenzt und arm an Gefühlsinhalten. Es hat aus seiner Armut lauter Tugenden gemacht, zwischen denen es
sich schlecht und recht durchzwängt. [...] Wir haben uns auf eine Reihe allgemeingültiger Ausdrucksformen
111
naheliegend der Schritt vom intendierten Massentheater zum mittelalterlichen Theater als
Vorbild im Grunde war, zeigt etwa Reinhardts triumphale Produktion von Carl Vollmoellers
Mysterienspiel Mirakel mit Musik von Engelbert Humperdinck oder der zur Salzburger
‚Institution‘ gewordene Jedermann Hugo von Hofmannsthals20. Hofmannsthal sah in den
dramatischen Gebilden der grossen simplen Art ein Theater, das wahrhaftig aus dem Volk
hervorgestiegen sei, eine Auffassung, die in ähnlicher Weise Martinů dazu bewog, mittelalterliche Mysterien und Mirakel zum Vorbild für die Hry o Marii zu erklären, infolgedessen
darin Oper und Volkstheater zwangsläufig ineinander übergehen21. Obwohl auch in Russland
bereits vor dem Ersten Weltkrieg – parallel zu Reinhardts Arbeiten in Deutschland – mit
Vladimir Majakovski, Boris Wachtangow und Alexander Tairow namhafte Regisseure die
mittelalterlichen Mirakelspiele für das zeitgenössische Theater entdeckten, findet sich trotz
zahlreicher Analogien ein grundsätzlicher Unterschied gerade darin, dass etwa Tairow kein
Volkstheater anstrebte, sondern stattdessen die Unabhängigkeit vom grossen Publikum
suchte22. Zeugen die Entwicklungen in Deutschland und Russland von einem wachsenden
Interesse am Theater des Mittelalters, eine ‚Renaissance‘, die nicht auf ein alleiniges Zentrum
zu reduzieren ist, sondern vielmehr der Stimmung der Zeit zu entsprechen schien, gilt es nun,
mit der betreffenden Theatersituation in Frankreich die direkteren Einflüsse auf Martinůs
Konzeption der Hry o Marii aufzuzeigen. Der Pariser Kontext ist dabei weniger im Kreis um
Jean Cocteau zu suchen, der immerhin die Publikumswirksamkeit als Qualitätskriterium für
Bühnenwerke angeführt hatte, als vielmehr bei den am Mittelalter orientierten Theaterschaffenden, nämlich Gaston Baty und Henri Ghéon, aber auch dem Theatertheoretiker Lucien
Dubech23.
geeinigt, die zur gesellschaftlichen Ausrüstung gehören. Diese Rüstung ist so steif und eng, dass eine
natürliche Regung kaum mehr Platz hat. Reinhardt, Schriften, S. 143, 330 f. [Das Theater der Fünftausend
(1911)]; Funke, Max Reinhardt (1996), S. 57-60.
20
Reinhardt, Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn (1916), in: Ders., Schriften, S. 177:
[...] Später hat die Kirche des Mittelalters mit ihren Mysterien und Passionsspielen die Wiege des heutigen
Theaters gebaut [...]. Vgl. Martinů, [Unveröffentlichter Aufsatz] (1934), in: Divadlo Bohuslava Martinů, S.
205: [...] ich suchte Vorlagen, die einst selbst Theater waren. So musste ich auf das mittelalterliche Theater,
die Mirakel und Mysterien stossen [...].
21
Zitat Hofmannsthal, Das Spiel vor der Menge (1911), in: Ders., Gesammelte Werke, Prosa III, S. 63.
22
Vgl. Paul Pörtner, Vorwort zu Tairow, Das entfesselte Theater (1989), S. 21. Zur Bedeutung des
mittelalterlichen Spiels bei Majakovskij siehe Schwarz, Drama der russischen und tschechischen Avantgarde
als szenischer Text (1980), S. 226 f.; zu Wachtangow, Tairow, Baty u.a. siehe auch die Texte zum Theater
des tschechischen Regisseurs Jindřich Honzl, Martinůs Wunschregisseur für die Hry o Marii (Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 60 und S. 187), Honzl, Sláva a bída divadel (1937) sowie dessen russische
Theatergeschichte Moderní ruské divadlo (1928).
23
Diesem Postulat wurde vom ‚Groupe des Six‘ im Grunde nur Arthur Honegger mit Le Roi David und der
Operette Les Aventures du Roi Pausole gerecht. Vgl. Rosteck, Poulenc und Milhaud (Druck in
Vorbereitung).
112
Dass Martinůs Kenntnisse vom Theater des Mittelalters hauptsächlich auf den Schriften Batys und Dubechs beruhten, scheint ausser Frage zu stehen, räumte doch der Komponist
selbst ein, unter anderem aus dessen [Batys] Schriften seine Informationen bezogen zu
haben24. In welchem Masse er sich bei seiner Arbeit an den Hry o Marii auf die Aussagen des
Regisseurs abstützte, zeigt etwa Martinůs Aufsatz O divadle středověku [Vom Theater des
Mittelalters], der über weite Teile hinweg als Paraphrase des Kapitels Le Théâtre de la
chrétienté aus der von Baty zusammen mit René Chavance verfassten Theatergeschichte Vie
de l'art théâtrale anmutet25. Nicht nur Batys und Chavances Abhandlung war genau zu
demjenigen Zeitpunkt erschienen, als sich Martinů mit seiner Trilogie zu befassen begann,
nämlich in den Jahren 1931 und 1932, sondern auch die ersten beiden Bände von Dubechs
fünfteiliger Histoire générale illustrée du Théâtre, eine Theatergeschichte, die trotz der zahllosen Umzüge Martinůs während zwei Jahrzehnten zu dessen Bibliothek gehören sollte26. Für
die Konzeption der Hry o Marii ist insbesondere der erste Teil des zweiten Bandes, Le
Théâtre des miracles et des mistères, von Bedeutung. Dort legte Dubech ausgehend vom
Drame liturgique des 12. Jh. die Verschiebung über die bereits profanen Miracles des 14. Jh.
bis zu den Mistères des 15. Jh. dar, indem er die Entwicklung explizit einem kontinuierlichen
Qualitätszerfall gleichsetzte27. Aucun théâtre n'a été plus éloigné du tréteau de quatre
planches des classiques – mit diesem vernichtenden Urteil sprach Dubech den Mysterien jeglichen künstlerischen Wert ab und qualifizierte sie als rein theatergeschichtlich relevante
Erscheinung ab, während Baty zwar ebenfalls die literarische Qualität der Texte relativierte,
aber dennoch nicht auf einem direkten Vergleich des mittelalterlichen Mysteriums mit der
antiken griechischen Tragödie verzichten mochte28. Obwohl Dubech und Baty in ihrer
jeweiligen Schilderung der mittelalterlichen Theatergeschichte unzählige Parallelen aufweisen, indem sie nicht nur dieselbe Terminologie verwendeten, sondern darüber hinaus wiederholt identische Beispiele zitierten, bewog die auf den entgegengesetzten Extremen beruhende
Wertung der späteren Mirakel und insbesondere der Mysterien Dubech dazu, die Kritik an der
Gattung direkt mit einer grundsätzlichen Infragestellung von Batys praktischer Theaterarbeit
zu verknüpfen.
24
Zitat Martinů, O divadle středověku [Vom Theater des Mittelalters] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 184.
25
Ebd., S. 183-186; Baty/Chavance, Vie de l’art théâtral (1932/1979), S. 71-86.
26
Vgl. Březina, Discovering Bohuslav Martinů's estate (1995), S. 2.
27
Dubech, Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 1-105.
28
Zitat ebd., S. 96. Baty/Chavance, Vie de l’art théâtral (1932/79), S. 86: On ne saurait, certes, comparer les
textes d'Ardnoud Greban à ceux d'Eschyle, mais si la réalisation littéraire apparaît inférieure, la conception
théâtrale est aussi belle.
113
Mais la vraie place des mistères n'est pas dans l'art en général, elle est dans l'histoire du
théâtre. Si important qu'ait pu être leur rôle dans les domaines voisins, leur valeur littéraire et
dramatique paraît mince ou nulle. C'est un reproche grave et même essentiel. Mais nous avons
eu des raisons de dire qu'ils ne méritaient pas l'enthousiasme de certains zélateurs, entre autres
de M. Gaston Baty 29.
Mit dieser Kritik zielte Dubech auf Batys Ideal vom théâtre intégral, wonach es galt, an vergangene Epochen anzuknüpfen, um zerbrochene Traditionen wieder zusammenzufügen, ein
Ziel, das dieser ab 1930 als Intendant des ‚Théâtre Montparnasse‘ konsequent umzusetzen
begann. Unter dem théâtre intégral verstand Baty ein dem Realismus diametral entgegengesetztes Theaterkunstwerk, das sich in der angestrebten Totalität der szenischen Mittel –
Bühnenbild, Beleuchtung, Kostüme, Musik, Bewegung und statuarische Präsenz – an den
christlichen Mysterienspielen orientierte30. Wenn sowohl Martinů als auch der von ihm als
einer der besten Pariser Bühnenschaffenden bezeichnete Baty die Mysterienspiele des 15.
Jahrhunderts zu einem Höhepunkt der Theatergeschichte erklärten, so tat dies ersterer aus
praktischen, letzterer jedoch aus religiösen Gründen. Martinů betonte wiederholt, dass ihn
primär die konsequente Anlage als Volksspektakel und das dadurch hervorgerufene Publikumsinteresse faszinierte, das im ausgehenden Mittelalter Zehntausende zur Aufführung gelockt hatte31. Da er bei den Hry o Marii beabsichtigte, auf mittelalterliche Legenden
zurückzugreifen, die einst als Theatervorlagen gedient hatten, kam er nicht um eine religiöse
Thematik umhin, fussten doch sämtliche überlieferten volksfestartigen Spiele des 12. bis 15.
Jahrhunderts auf liturgischen oder zumindest geistlichen Vorlagen – die gattungsimmanente
Verquickung von Theater und Kirche sowie die Angst, dass diese die Religion der Lächerlichkeit preisgäbe, hatte 1676 schliesslich zu einem Verbot der Mysterienaufführungen in
Frankreich geführt32.
Texte und Inhalte sind zwar religiös, aber meine Absicht war, „Theater“, d. h. Volkstheater zu
machen. Es ist somit nicht eine Bearbeitung im religiösen, sondern im volkstümlichen, populären Sinn. Es sind bloss Theatertexte des Mittelalters, weshalb die religiösen Inhalte
29
Dubech, Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 102.
Im Jahr 1927 schloss sich Gaston Baty mit den drei Regisseuren Charles Dullin, Louis Jouvet und Georges
Pitoëff zum ‚Cartel‘ zusammen, das dem vorherrschenden Realismus ein theatralisches Theater
entgegensetzen wollte. Vgl. Simon, Gaston Baty (1973), S. 159-170 sowie Gronau, Das Theater
Montparnasse unter der Direktion von Gaston Baty (1970), S. 30.
31
Zitat Martinů, O divadle středověku [Vom Theater des Mittelalters] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 184. Vgl. ebd., S. 186.
32
Siehe Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 100.
30
114
vorgegeben sind. Ansonsten suche ich überall den theaterhaften Nutzen mit der Annäherung
des Ausdrucks an die volkstümliche Überlieferung der Legenden33.
Indem sich Martinů von einer religiösen Absicht distanzierte, entsprach er gewissermassen
der durch die Wagner-Opposition in Paris bedingten Skepsis gegenüber jeglicher musikalischen ‚Kunst-Religion‘, fand doch eine zum literarischen Schaffen parallel verlaufende Hinwendung zu religiösen Themen nur in Einzelfällen statt, etwa bei Arthur Honeggers Le Roi
David oder Francis Poulencs Litanies à la Vierge Noire34. Verstand Martinů das religiöse
Moment als Mittel zum Zweck, überhaupt mittelalterliche Vorlagen verwenden zu können,
bildeten die Lehren des Franz von Assisi und des Thomas von Aquin mit ihrer Totalität der
katholischen Weltsicht die Grundlage von Batys Theaterkonzeption. Analog dem theologischen Weltbild Thomas von Aquins, das Geist, Materie, Vernunft und Glauben als wesensmässige Einheit begreift und in einem hierarchischen System ordnet, vereint das mittelalterliche Theater in Batys Augen die bis dahin voneinander isolierten Künste – Literatur, Tanz,
Musik, Malerei und Bildhauerei – zu einer vollkommenen Theaterform35. Es war Batys
eigentliches Ziel, diese Theaterform wiederzugewinnen, die ebenso wie die harmonische
Totalität des Thomismus drei fatalen Entwicklungen zum Opfer gefallen sei, nämlich der
Reformation, dem Humanismus und der Renaissance36.
In Batys Augen stellt sich die Entwicklung folgendermassen dar: Entsprechend der im
15. Jahrhundert einsetzenden Aufspaltung des Menschen in Seele, Geist und Körper, die eine
fragmentarische Weltsicht mit sich brachte, wurde die mittelalterliche Totalität auch in der
Kunst zersetzt, so dass allein das Interesse an der äusseren Form, nicht aber die Idee der
transzendenten Realität erhalten blieb37. Während sich das Theater der französischen Klassik
an den Intellekt wandte und zu einer ausschliesslichen Angelegenheit des esprit wurde, blieb
die ‚antikatholische‘ Ästhetik – die vollständige Trennung von Geist und Körper – auch im
33
Martinů, [Interview anlässlich der Uraufführung der Hry o Marii] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 200; siehe auch Brief Martinůs an František Muzika, vom 30. April 1934 aus Paris, in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 187. In Martinůs Kompositionen treten wiederholt religiöse Themen auf, so
etwa mit der Legende der Svatá Dorota [heilige Dorothea] im Špalíček (1931-32), in den beiden
tschechischen Rhapsodien (1918 und 1945), der Polní mše [Feldmesse] (1939) und schliesslich in der
Griechischen Passion (1959), seiner letzten Oper. Trotz der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit
geistlichen Themen war Martinůs Verhältnis zur Religion kein starres: Seine Position fern von jeglichem
kirchlichen Formalismus spiegelt sich unter anderem darin, dass er abgesehen von zwei frühen
Gelegenheitsstücken keine im engeren Sinne geistliche Musik geschrieben hat (Offertorium und Ave Maria;
beide 1912, verschollen).
34
Pistone, La musique contemporaine et le sacré (1992), S. 20.
35
Vgl. Meiler, Kunst und Kult im Werk von Gaston Baty (1984), S. 35-37.
36
Siehe Baty, Le Masque et l’Encensoir (1926), S. 260.
37
Ebd., S. 259.
115
18. und 19. Jahrhundert unter anderen Vorzeichen erhalten. In jedem Fall resultierte hieraus
die Vormachtstellung der Sprache im Theater, die alle anderen szenischen Elemente zur
nahezu überflüssigen Dekoration werden liess – die Romantik wechselte bloss die Requisiten
aus, ohne am klassischen Grundsatz zu rütteln, der weiterhin hiess: Sire le Mot38. Während
die hypertrophie de l’élément verbal laut Baty das universelle mittelalterliche Theater
zunichte gemacht hatte, stellte sie in den Augen Martinůs den Grund für den beklagenswerten
Zustand der Oper als einem rezitativischen, vom Text tyrannisierten Musiktheater dar39. Als
Reaktion darauf beabsichtigten beide, in ihrer jeweiligen Bühnenarbeit die szenischen
Elemente als dem Text ebenbürtig zu behandeln: Bühnenbild, Beleuchtung, Kostüme, Musik
und Bewegung sollten innerhalb ihrer Ausdrucksmöglichkeiten das ihre zum Theaterereignis
beitragen40. Im Unterschied zum Regisseur Baty, der sich mit seinem Theater um eine
gattungsimmanente Adaption der Mysterienspiele bemühte, mussten sich für den Komponisten Martinů bei den Hry o Marii geradezu unlösbare Probleme stellen, galt es doch, die Spiele
für eine Opernbühne nutzbar zu machen.
L’équilibre que la tragédie avait rompu au profit de la littérature, l’opéra le rompt à son tour au
profit de la musique et du spectacle. Nulle part ne subsistait l’harmonie des mistères41.
Alle Künste in der höchsten Kunst zu vereinen, strebte Baty mit seinem Ideal einer mystique
du théâtre an, das die Bühne zu einem Ort der Offenbarung göttlicher Harmonie werden
lässt42. Eine Dominanz der Musik, wie sie der Oper eignet, schliesst dagegen von vornherein
ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen szenischen Elementen und damit die Voraussetzung für das angestrebte Abbild der göttlichen Totalität aus. Schliesslich haben die einzelnen
Künste ihre Eigenständigkeit aufzugeben und nur die jeweils benötigten Mittel zum Ganzen
beizusteuern, weshalb es sich nicht um eine blosse Addition der Ausdruckselemente handelt,
sondern um einen eigentlichen Verschmelzungsprozess mit dem Zweck, à marier de nouveau
tous les élément de la synthèse théâtrale, à retrouver l’ordre et l’équilibre qui ont fait les
chefs-d’œuvres de jadis43. Martinů begegnete der Unmöglichkeit einer Mysterien-Oper in
zweierlei Hinsicht: Erstens betont er, im Unterschied zu Baty keine vollständige Synthese der
38
Ebd., S. 279-319.
Zitat ebd., S. 316; Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 225.
40
Vgl. Gronau, Das Theater Montparnasse unter der Direktion von Gaston Baty (1970), S. 25.
41
Baty, Le Masque et l’Encensoir (1926), S. 299 f.
42
Zitat ebd., S. 233.
43
Zitat Baty/Chavance, Vie de l’art théâtral (1932/1979), S. 293 f.; vgl. auch Meiler, Kunst und Kult im Werk
von Gaston Baty (1984), S. 53.
39
116
szenischen Elemente anzustreben, und zweitens bezeichnete er die Hry o Marii nicht als Oper,
sondern als Spiele44. Obwohl Martinů in gleichem Masse wie Baty beabsichtigte, die im
Theater eingesetzten unterschiedlichen Mittel nicht als Verdoppelung der Sprache, sondern
den Bedingungen des Dramas entsprechend zu verwenden, lehnte er eine Verschmelzung der
Künste entschieden ab45. So suchte er eine Verbindung von Musik, Literatur, szenischen
Aspekten, Bühnenbild, Gestik und Tanz, die deren Eigenständigkeit bewahren, aber auch die
Freiheit gewähren sollte, im gegebenen Moment die jeweils am besten geeignete Kunst hervortreten zu lassen46. Während die Aufwertung der szenischen Elemente die Bedeutung der
Sprache beträchtlich mindert, bewahrt der Verzicht auf eine Synthese die Musik davor, zu
einem blossen Bühnenmittel zu verkommen. Trotz der Vorrangstellung, die Martinů der
Musik einräumte, setzte er ihrer überragenden Dominanz wiederum insofern Schranken, als er
auf einer Differenzierung zwischen symphonischer Musik und Oper beharrte.
Wir müssen von der Diktatur der Szene loskommen, und was uns bleibt, ist die Diktatur der
Musik. Gern und viel wird von der symphonischen Arbeit in der Oper gesprochen. Dieser
Terminus bezieht sich auf den Stil symphonischer Musik überhaupt und kann zu vielen Missverständnissen führen. Wollen wir Theater machen, müssen wir Musik fürs Theater schreiben
und weder symphonische noch kammermusikalische. Diese beiden Richtungen haben ihre
eigenen Grundsätze, die Formation der Themen und des inneren Organismus sind völlig unterschiedlich vom Schaffen fürs Theater, wo sozusagen bei jedem Schritt das literarische oder das
szenische Element in die Entwicklung eingreift. [...] Das Symphonische in der Konzertmusik
und der symphonische Strom im Theater sind zwei unterschiedliche Dinge47.
Indem Martinů trotz der Aufwertung sämtlicher szenischen Elemente der Musik den Status
einer ‚prima inter pares‘ einräumte und zugleich das wirkliche Theater zum Ziel erklärte,
plazierte er das Werk auf dem Grat zwischen Oper und Mysterienspiel. Damit distanzierte er
sich explizit von jeglichem Bestreben, psychologische Differenzierungen in der Musik wie-
44
Zitat Martinů, [Interview anlässlich der Uraufführung der Hry o Marii] (1935), in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 200.
45
Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria] (1935),
in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 195. Martinů äusserte wiederholt den Wunsch, das Konzept für
die Inszenierung bereits während der Komposition mit dem Regisseur und Bühnenbildner zu erarbeiten, um
so eine möglichst ideale Verbindung der einzelnen Elemente zu begünstigen. Siehe Martinů, [Interview
anlässlich der Uraufführung der Hry o Marii] (1935) in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 200.
46
Martinů, Před premiérou Her o Marii [Vor der (Prager) Premiere der Hry o Marii] (1936), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 202.
47
Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Premiere] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů,
S. 218.
117
derzugeben, was er als eigentliches Problem der zeitgenössischen Oper erachtete48. Da die
Musik nicht fähig sei, Aussermusikalisches sinnfällig zu transportieren, hatte dies laut
Martinů zur Folge, dass in besagten Opern das Libretto ständig Erklärungen hinsichtlich psychologischer Zustände zu liefern hatte, deren Verständlichkeit für die Rezeption der Werke
unabdingbar war, infolgedessen den Komponisten kaum etwas anderes übrig blieb, als die
Texte rezitativisch zu setzen. Weil jedoch die Gesangspartien in erster Linie deklamiert werden sollten, trugen sie kaum zum musikalischen Ausdruck des Geschehens bei, weshalb die
Intensität der Gefühlswallungen nurmehr durch die Orchesterdynamik wiedergegeben werden
konnte49. Dieser Praxis entgegenzuwirken und den Schwerpunkt des Werkes aus dem
Orchestergraben zurück auf die Bühne zu holen, was mit einer Aufwertung der Singstimme
verbunden ist, liegt den Hry o Marii als musikalische Intention zugrunde. Im Fall der Hry o
Marii bedeutet das Bestreben, die Bühne und ihre szenischen Elemente zu betonen, das
Theater jederzeit als solches erkennbar zu machen, was nicht zuletzt mit der antiillusionistischen Idee verbunden ist, das Publikum wachzurütteln50. Zu diesem Zweck trägt nicht zuletzt
das in hohem Masse inkohärente Libretto bei – ein zentrales Charakteristikum der Hry o
Marii –, das direkt Martinůs Auffassung von der nicht auf Entwicklungen, sondern vielmehr
auf Unwahrscheinlichkeiten basierenden Logik des Theaters entspricht51. Allein das jeweilige
Auftreten Marias, sei es in einer Haupt-, sei es in einer Nebenrolle, bildet ein verbindendes
Merkmal im Libretto der Hry o Marii, die aus einem Zyklus von vier eigenständigen Einaktern bestehen, wobei insofern eine latente Zweiteiligkeit erkennbar ist, als der erste Akt als
Prolog zur ganzen Oper sowie der dritte als eine Art Pastorale zwischen den beiden grossen
Akten angelegt ist52. Mit ihrem Titel rekurriert die Oper auf die Miracles de Notre Dame, eine
Referenz an die früheste Form der liturgisch unabhängigen, mittelalterlichen Spiele, die sich
nicht nur in der wiederholten Erscheinung Marias, sondern auch in der Konzeption des zweiten und vierten Aktes als Mirakel niederschlägt53.
48
Martinů, [Interview anlässlich der Uraufführung der Hry o Marii] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 203.
49
Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
226-229.
50
Zitat Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 195.
51
Ebd., S. 195.
52
Zitat Martinů, Hry o Marii (1935-36), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 210. Siehe auch Martinů,
K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
222.
53
Vgl. Martinů, O divadle středověku [Vom Theater des Mittelalters] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 184 sowie Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů S. 208, Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner
Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, 223.
118
Der erste Akt der Hry o Marii basiert auf dem vermutlich aus dem 11. Jahrhundert stammenden Mysterienspiel Sponsus: Oc est de mulieribus – les vièrges sages et les vièrges folles, das
nicht zuletzt deshalb von theatergeschichtlicher Relevanz ist, als es bereits in Abbé Jean
Lebeufs 1741 erschienen Abhandlung über geistliche Gesänge Erwähnung fand – und auch
fast 200 Jahre später von Dubech angeführt werden sollte –, nämlich als ältestes Beispiel für
die Hinwendung der ursprünglich liturgisch verankerten lateinischen Spiele zum Profanen54.
Die Profanisierung fand einerseits in der Ablösung von der Messe und andererseits in der
Verwendung eines gemischtsprachlichen, abwechselnd in Latein und Langue d’oc geschriebenen Textes statt, nicht aber im nach wie vor geistlichen Inhalt, beruht doch das mehrfach
aufgegriffene, bearbeitete und im 12. Jahrhundert in Saint-Martial de Limoges niedergeschriebene Spiel auf dem Matthäusevangelium (25. Kapitel, Verse 1-13)55. Die Wahl des ältesten bekannten mittelalterlichen Mirakelspiels für die Eröffnung der Hry o Marii mutet
gleichsam als höchste Konsequenz von Martinůs proklamierter Rückkehr zu den Wurzeln des
(mittelalterlichen) Theaters an, wenngleich die von ihm zu diesem Zweck beim Schriftsteller,
Poetisten und späteren Surrealisten Vítězslav Nezval in Auftrag gegebene tschechische Übertragung wiederum eine Verbindung mit der Avantgarde der Zwischenkriegszeit zu knüpfen
vermag56. Nicht dass die Panny moudré a panny pošetilé [Die klugen und die törichten Jungfrauen] über eine blosse Übersetzung hinausreichen würden – der ursprüngliche Text blieb
unverändert erhalten und wurde bloss am Ende durch ein Zitat aus dem Evangelium ergänzt
–, sondern dass Nezval dieses texttreue Vorgehen mit seiner Literaturvorstellung in Einklang
zu bringen vermochte, zeigt die damalige Aktualität der mittelalterlichen Vorlage57. Schliesslich hatte Martinů dem Schriftsteller im Begleitbrief zur ersten Handlungsskizze sogar angeboten, dass dieser trotz der bereits getroffenen Abmachung von der Zusammenarbeit zurücktreten könne, falls ihm die Arbeit völlig fremd und ‚daneben‘ erscheinen sollte58.
54
Abbé Jean Lebeuf, Dissertations sur l’Histoire ecclésiastique et civile de Paris (1741), Bd. 2, S. 65; siehe
auch Michel/Monmerqué, Théâtre français au Moyen-Age (1839), S. 1; Dubech, Histoire générale illustrée
du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 31 f.; Martinů, O divadle středověku [Vom Theater des Mittelalters] (1934), in:
Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 184. Zu Sponsus (L’Epoux) siehe auch Lioure, Le théâtre réligieux
en France (1983), S. 9 f.
55
St. Martial Nr. 100 / Bibl. du Roi Nr. 1139: Oc est de mulieribus, sponsus: les vièrges sages et les vièrges
folles, in: Michel/Monmerqué, Théâtre français au Moyen-Age (1839), S. 1-9.
56
Nezval, Veselá Praha, překlady libret, pásma, písně [Fröhliches Prag, Librettoübersetzungen, Balladen,
Lieder], in: Ders., Dílo, Bd. 21, S. 87-90.
57
Zitat Martinů, Hry o Marii (1935-36), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 210.
58
Zitat Martinů, Brief von Martinů an Nezval, mit beigefügter Handlungsskizze der ersten beiden Akte der Hry
o Marii, undatiert [zwischen November 1932 und August 1933], Muzeum Bohuslava Martinů in Polička
(CZ), ohne Signatur (2+10 Seiten), zuvor: Nachlass Vítězslav Nezval (im Památník národního písemnictví).
119
Mariken z Nimègue, der zweite Akt der Hry o Marii geht auf die umfangreiche flämische Legende Mariechen van Niemweghen aus dem 15. Jahrhunderts zurück, die ihrerseits auf
einer verschollenen spanischen Vorlage basiert. Im Gegensatz zum Libretto des ersten Aktes
war es hierbei jedoch Martinůs Anliegen, nur das für die Handlung Unerlässliche beizubehalten, was in Anbetracht dessen, dass die Aufführung des flämischen Mirakels einst 3-4
Tage gedauert hatte, geradezu zwingend war59. Die Einrichtung dieses Textbuches nahm der
französische Schriftsteller Henri Ghéon vor, der zwar heute vollständig in Vergessenheit
geraten ist, jedoch mit der von ihm zusammen mit Henri Brochet 1925 gegründeten Schauspieltruppe Compagnons de Notre-Dame laut Raymond die ‚Renaissance‘ des Mittelaltertheaters in Frankreich überhaupt eingeleitet hatte60. Der Sohn einer praktizierenden Katholikin
und enge Freund André Gides hatte sich bis zum Ersten Weltkrieg als Atheist verstanden,
fand jedoch durch das Grauen des Krieges, den er als Freiwilliger an der Front erlebt hatte,
zum Katholizismus zurück – Après l’enthousiasme de la guerre, j’en réalise à présent toute
l’horreur61. Von da an versuchte er, seine ersten dreissig gottlosen Lebensjahre zu sühnen,
weshalb er sich bis zu seinem Tode mit missionarischem Eifer hauptsächlich dem geistlichen
Theater unter Rückgriff auf mittelalterliche Spiele widmete – in welchem Mass sich neben
Baty auch Ghéon am Thomismus orientierte, zeigt etwa dessen Stück Triomphe de Saint
Thomas d’Aquin62. Dennoch ist die Einschätzung Raymonds, Ghéon zum alleinigen Ursprung
der Mittelalterbegeisterung des französischen Theaters der Zwischenkriegszeit zu erklären,
nicht nur in Anbetracht der zeitgleichen Tätigkeit des ebenfalls dem Thomismus verpflichteten Baty oder dem Theater Paul Claudels zu relativieren, sondern auch insofern, als
D’Annunzio mit der Uraufführung des Martyre de Saint-Sébastien im Théâtre du Châtelet
1911 den oben Genannten um Monate zuvorgekommen war63. Wenngleich Ghéon nicht als
eigentlicher Entdecker des mittelalterlichen Mysteriums im 20. Jahrhundert gelten kann, so
zeugt dennoch das überwältigende Publikumsinteresse, das etwa 1938 in Lourdes 80'000
Zuschauer in seine Vorstellung strömen liess, von einem ausserordentlich erfolgreich umge-
59
Zitat Martinů, Hry o Marii (1935-36), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 210; Zitat Martinů, Před
premiérou Her o Marii [Vor der (Prager) Premiere der Hry o Marii] (1936), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 201. Zur flämischen Vorlage siehe Coigneau, Mariken van Nieumeghen (1996); Cordan,
Jedermann, Lanselot und Sandrein (1950), S. 77-126.
60
Raymond, Henri Ghéon (1939), S. 64-68.
61
Brief Ghéons an André Gide, zitiert nach Raymond, Henri Ghéon (1939), S. 44. Vgl. auch Gugelot, Henri
Ghéon ou l’histoire d’une âme en guerre (1992), S. 67-93.
62
Zu Ghéons Triomphe de saint Thomas d’Aquin (1923) siehe ebd., S. 75-80. Vgl. auch Bossut Ticchioni, "La
vie profonde de Saint François d’Assise” de Henri Ghéon (1985), S. 77-88 sowie Bossut Ticchioni, Le
Moyen Age de Ghéon (1983), S. 539-568.
63
Vgl Lioure, Le Théâtre religieux en France (1983), S. 26, 92.
120
setzten Anliegen, einer prise de contact plus directe avec le public64. Da Ghéon und Martinů
im Bestreben, das Publikum zurückzugewinnen, vollständig übereinstimmten, und der
Komponist mit grosser Wahrscheinlichkeit beabsichtigte, diesen Opernakt als Einakter in
Frankreich zur Aufführung zu bringen, lag es vor dem Hintergrund der intendierten Bearbeitung mittelalterlicher Vorlagen nahe, mit Ghéon genau denjenigen Schriftsteller zu gewinnen,
der den grössten Publikumszulauf zu erzielen vermochte65. Ghéons Interesse an einer Zusammenarbeit mit Martinů, die in Anbetracht der damit verbundenen Aufwertung der Musik nicht
in völligen Einklang mit dem thomistischen Ideal zu bringen ist, lässt sich wiederum mit der
christlich motivierten Kunstauffassung des Theaterautors erklären, wonach letztlich jede
künstlerische Aktion als eine göttliche zu verstehen ist: Un artiste sert toujours Dieu, même
quand il le blasphème ou le nie, par le petit rayon qu’il capte de la beauté Divine et qu’il fait
descendre sur nous66. Dass für die tschechischen Hry o Marii schliesslich der Schriftsteller
Vilém Závada die Übersetzung aus dem Französischen ins Tschechische vornahm, brachte
zwar keine inhaltliche, jedoch (wie weiter unten gezeigt werden soll) eine deutliche Abkehr
vom distanzierten Sprachstil Ghéons mit sich.
Während die Libretti von Panny moudré a panny pošetilé und Mariken z Nimègue auf
bearbeitete Legenden zurückgehen und, trotz der nur bedingt wörtlichen Übersetzung sowie
den starken Kürzungen im zweiten Akt, einen klaren Handlungszusammenhang aufweisen, ist
ein solcher sowohl bei Narození páně [Die Geburt des Herrn] als auch bei Sestra Paskalina
[Schwester Paskalina] kaum mehr gegeben. Im Unterschied zu den ersten beiden Akten der
Hry o Marii, für welche Martinů Schriftsteller herangezogen hatte, richtete der Komponist die
übrigen Libretti des Zyklus selbst ein, wobei er unterschiedliche Volksliedtexte sowie geistliche Texte zu mehr oder weniger sinnfälligen Erzählungen zusammensetzte. Obwohl Martinů
selbst in seinem Vorwort zum Klavierauszug der Sestra Paskalina erklärte, die Volksliedtexte
der Sammlung František Bartoš’ entnommen zu haben, und dies in Anbetracht dessen, dass er
bereits für die Staročeské říkadla [Alttschechische Sprüche] sowie für Špalíček aus dieser
Quelle geschöpft hatte, durchaus glaubhaft anmuten könnte, ist die vorrangige Bedeutung
Bartoš’ für das Libretto in Zweifel zu ziehen67. Dies jedoch nicht aufgrund des späten
Aufsatzes Martinůs über Janáček, worin er beschreibt, in welchem Masse ihm die in den
1950er Jahren entdeckte Sammlung Bartoš’ geradezu als Offenbarung erschienen sei. Es steht
64
Zitat Ghéon nach Raymond, Henri Ghéon (1939), S. 57.
Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206.
66
Ghéon, zitiert nach Sistig, Ghéon et la musique (1997), S. 311.
67
Martinů, Hry o Marii, Vorwort zu Sestra Paskalina, Klavierauszug, S. 217.
65
121
ausser Frage, dass er damit die grossen, in Zusammenarbeit mit Leoš Janáček entstandenen
Publikationen gemeint haben könnte, besass er doch eine Ausgabe davon bereits im Jahr 1930
– welche Publikation genau zur Offenbarung geführt hat, muss folglich offen gelassen
werden68. Auch wenn ein Konvolut Bartoš’ gemäss Martinůs eigener Aussage für das Libretto
der Sestra Paskalina zumindest eine Rolle gespielt haben könnte, so ist dennoch davon auszugehen, dass die mährische Volksliedsammlung František Sušils als primäre Vorlage für die
letzten beiden Akte diente69. Wie bedeutend die im Jahr 1860 abgeschlossene Ausgabe des
Pfarrers Sušil trotz aller nachfolgenden Sammlungen für die tschechische Musik geblieben ist,
spiegelt sich gleichermassen in Dvořáks Auseinandersetzung damit, wie in der Hochachtung
Janáčeks vor dem verdienstvollsten Sammler und in Martinůs uneingeschränktem Votum,
wonach er die Sammlung Sušils für die beste hielt70.
Obwohl aufgrund der zahlreichen Überschneidungen von Sušils und Bartoš’ Repertoire – sowie in geringerem Masse der böhmischen Sammlung Karel Jaromír Erbens – nicht
in jedem Fall eindeutig auf die der Oper zugrundeliegenden Quellen geschlossen werden
kann, liegt es dennoch auf der Hand, dass Sušils Konvolut gerade für den dritten Akt von
primärer Bedeutung war71. So schrieb Martinů etwa an František Muzika, den Bühnenbildner
der Uraufführung, dass der zentrale Text des Librettos von Narození páně, das dem Titel entsprechend von der Geburt Jesu handelt, in Sušils mährischem Lied Porod panny Marie [Die
Geburt der Jungfrau Maria] zu finden sei72. Ausserdem räumte der Komponist selbst ein, dass
er durch den Umstand, die Oper in Paris geschrieben zu haben, auf diejenigen Texte zurückgreifen musste, die ihm überhaupt zur Verfügung standen, nämlich vor allen Dingen
[auf] die Sammlung mährischer Lieder von Sušil73.
68
Zitat Martinů, O Janáčkovi [Über Janáček] (1955), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 354. Martinů hatte
die Sammlung Bartoš’ 1930 in Polička vergessen, weshalb er um deren Sendung nach Paris bat (Brief vom
28. 12. 1930 aus Paris, in: Muzeum Bohuslava Martinů, Polička, CZ): Ich bitte Euch, mir die Sammlung
mährischer Lieder von Bartoš zu senden, es ist ein dickes Buch, ich glaube, es unten beim Klavier liegen
gelassen zu haben [...]. Bartoš und Janáček publizierten zusammen folgende Volksliedsammlungen: Kytice
moravských písni [Ein Strauss mährischer Volkslieder] mit 174 Liedern, 1890, 2. Aufl. 1893, 3. erw. Aufl.
(195 Lieder) 1901; Nová sbírka moravských písni [Eine neue Sammlung mährischer Volkslieder] mit 2057
Liedern, 1899-1901. Zu Janáčeks Betätigung als Volksliedsammler siehe Saremba, Leoš Janáček (2001), S.
112-126; Tyrrell, Czech Opera (1988), S. 244-246.
69
Sušil, Moravské národní písně.
70
Zitat Janáček, in: Bartoš/Janáček, Národní písně moravské, Předmluva [Vorwort] (1901), (ohne Seitenzahl);
Zitat Martinů, in: Martinů, O Janáčkovi [Über Janáček] (1955), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 354.
Zur Rezeption von Sušils Sammlung siehe Tyrrell, Czech Opera (1988), S. 209 f. sowie Štefková, Das
„Prinzip der Sprechmelodie“ Leoš Janáčeks (2003), S. 146.
71
Erben, Prostonárodní české písně a říkadla.
72
Beilage zum Brief Martinůs an František Muzika, vom 29. 5. 1934 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 190.
73
Zitat Martinů, [Unveröffentlichter Aufsatz] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206.
122
Tabelle 1: Narození páně (Hry o Marii, III. Akt)
Vorlage
Quelle
[Preludio]
Porod panny Marie [Die Geburt der Jungfrau Maria]
Sušil Nr. 25, alle Strophen
Zvěstování panně Marii [Mariae Verkündigung]
Sušil Nr. 31, alle Strophen
Křestění Ježíšovo [Die Taufe Jesu]
Sušil Nr. 24, Strophen 1-5, 8-9
Gloria in excelsis Deo [...] Co to znamená v Betléme Erben, Hra s Jesličkami, píseň I, II [Krippenspiel,
nového? [Was gibt es Neues in Betlehem?]
Lieder I, II], S. 45
Während der dritte Akt der Hry o Marii die Geburt Jesu in einer volkstümlichen, bibelfernen
Version wiedergibt, und dies nicht nur ein- sondern viermal, bildet das 24. Mirakel des
Rosarius aus dem 14. Jahrhundert das Grundgerüst der Handlung des vierten Aktes. Vermutlich weil die Handschrift mit De la nonnain tresoriere qui rend ses cles a l´ymage Nostre
Dame et ala jouer au monde, et pu revint einen unpraktikablen Titel aufwies, verzichtete
Dubech in seiner Theatergeschichte ganz auf einen solchen und beliess es bei einer kurzen
Handlungszusammenfassung: [...] cette religieuse qui s'enfuit avec un chevalier, malgré les
avertissements de Notre-Dame, et revint au bout de trente ans74. Indem Martinů den letzten
Akt schliesslich Sestra Paskalina benannte, machte er nicht nur die Anlehnung an Julius
Zeyers gleichnamige tschechischsprachige Bearbeitung des betreffenden Mirakels explizit,
die dem Komponisten fürchterlich konfus erschien, sondern distanzierte sich zugleich von
Maurice Maeterlincks Soeur Beatrice, ein auf demselben mittelalterlichen Spiel basierendes
Theaterstück75. Trotz der Titelwahl ist die Nähe des Librettos zu Zeyers Dichtung nur eine
scheinbare, denn wenn sich bereits die präexistenten Texte, die das Libretto bilden, einer
engeren Anlehnung an eine konkrete Vorlage widersetzen, so muss eine solche in Anbetracht
dessen, dass Martinů ein weiteres Mirakel in das Spiel integrierte, geradezu undenkbar erscheinen.
74
75
Rosarius, Miracle XXIV (livre 2, chapitre 7) in: Kunstmann, Miracles de Notre-Dame. Tirés du Rosarius, S.
105-111. Es ist durchaus möglich, dass Martinů durch Dubechs Theatergeschichte auf die Vorlage
aufmerksam wurde. Vgl. Dubech, Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 48.
Zitat Martinů, Brief von Martinů an František Muzika, vom 30. April 1934 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 187. Zeyer, Sestra Paskalina, in: Ders., Spisy, Bd. 12 (1903), S. 57-129; Maeterlinck,
La Sœur Béatrice (1901), in: Ders., Théâtre, Bd. 3 (1902), S. 177-225. Dass Martinů Maeterlincks Sœur
Béatrice kannte, steht ausser Frage, da er selbst das Theaterstück wiederholt erwähnte. Siehe Martinů, Před
premiérou Her o Marii [Vor der (Prager) Premiere der Hry o Marii] (1936), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 201; Martinů, [Unveröffentlichter Aufsatz] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
205.
123
Sestra Paskalina, eine Legende. Diese kennen Sie bestimmt von Zeyer; noch habe ich sie nicht
ganz fertiggestellt. Es ist die Geschichte einer Nonne, die aus dem Kloster floh, nach vielen
Jahren dahin zurückgekommen ist und erkennt, dass Maria während ihrer ganzen Abwesenheit
ihren Platz eingenommen hat. – Ich habe dies mit einem anderen Mirakel verbunden, in dem
auf der Bühne ein Gericht zusammenkommt und Maria verhindert, dass das Feuer Paskalina
berührt [...] 76.
Während Maeterlinck vergleichbar mit Zeyers Legende gänzlich darauf verzichtete, die 25
Jahre szenisch zu schildern, die Beatrice nach ihrer Flucht mit Prince Bellidor fern vom
Kloster verbracht hatte, und das dreiaktige Drama ausschliesslich im Kloster spielen liess,
widmete Martinů die zweite Szene – in Anlehnung an das andere Mirakel – den Erlebnissen
der Nonne. Dem Volksliedtext Zabila panička pána [Es tötete die Frau den Mann] gemäss
kommt es zunächst zur Anklage wegen Mordes an ihrem Gatten, zum Todesurteil sowie dessen Vollstreckung, worauf mehrere geistliche Texte in Latein und Tschechisch folgen, während Maria verhindert, dass die Flammen des Scheiterhaufens Paskalina auch nur berühren.
Ohne mit einem Wort auf dieses Wunder einzugehen, setzt schliesslich die dritte Szene mit
der Rückkehr der Titelheldin ins Kloster ein, was analog zu den Legenden Maeterlincks und
Zeyers zu einer Konfrontation der reuigen Paskalina mit den nichtsahnenden Nonnen führt,
hatte doch Maria all die Jahre die Gestalt der Flüchtigen angenommen und diese vertreten. Im
Unterschied zu seinen Vorgängern verzichtete Martinů darauf, den Konfliktgehalt dieses Aufeinandertreffens auszuschöpfen und entschied sich für eine neue Wendung der Geschichte,
die in Ansätzen bereits bei Maeterlinck zu finden ist und dazu führt, dass Paskalina durch die
Rufe ihrer Mitschwestern gleichsam aus dem Schlaf gerissen wird. Während bei Maeterlinck
zwar mehrfach das Moment des Traumes angedeutet wird – etwa in der Szenenanweisung
comme sortant d’un songe – , dies jedoch ohne Auswirkungen auf den Handlungsverlauf
bleibt, spiegelt sich das Moment des Erwachens im Libretto darin, dass Paskalina an einer
vergleichbaren Stelle ebenfalls zu erwachen scheint (jako když se probudí – als würde sie
erwachen), darüber hinaus nun aber auch als Erwachende agiert77. So beantwortet sie ihre
eigene Frage Kdo volá? [Wer ruft?] mit einer Antwort, die vom Vergessen der vergangenen
25 Jahre zeugt: Ach, již vím. Je čas jíti, sestri čekají, den je blízko [Ach, ich erinnere mich
wieder. Es ist Zeit zu gehen, die Schwestern warten, der Tag ist nah]78. Obwohl sich dem
76
Beilage zum Brief Martinůs an František Muzika, vom 29. 5. 1934 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 190.
77
Maeterlinck, Sœur Béatrice (1901), in: Ders., Théâtre, Bd. 3 (1902), S. 213; Martinů, Hry o Marii, Sestra
Paskalina, 3. Szene, T 12 nach Z 77.
78
Ebd., 3. Szene, T 1 nach Z 78.
124
Zuschauer damit die Möglichkeit anbietet, das Geschehene als Traum zu verstehen, wird
diese Erklärung insofern wieder konterkariert, als die Statue der Maria mit dem Gewand
Paskalinas bekleidet vom Sockel heruntersteigt und Paskalina Schlüssel sowie Kleider übergibt: Ob die Titelheldin zurückgekommen oder bloss erwacht ist, lässt sich – durchaus im
Sinn des Komponisten – weder aus dem Libretto noch aus den szenischen Anweisungen
erschliessen79.
In sprachlicher Hinsicht ist die Frage nach einem direkten Einfluss der Theaterstücke
Zeyers und Maeterlincks oder etwa der mittelalterlichen Vorlage auf das Textbuch insofern
obsolet, als Martinů bei der Einrichtung des Librettos in vergleichbarer Weise wie im dritten
Akt verfuhr: Das Spiel der Sestra Paskalina schöpfte ich einerseits aus Zeyer und andererseits aus fremdem Material, das ich in Frankreich gefunden habe. Nichtsdestotrotz bewahrte
ich von beiden Quellen nur das Gerüst, denn das Spiel ist durch und durch von mährischer
Volkspoesie durchdrungen80. Indem Martinů die überlieferte Legende nahezu ausschliesslich
in Formulierungen fasste, die er aus der Volksliedsammlung Sušils sowie aus liturgischen und
geistlichen Vorlagen schöpfte, gelangte er aufgrund der dadurch bedingten Aneinanderreihung von Liedern und geistlichen Texten zu einer dem mittelalterlichen Mirakel gewissermassen analogen Form.
Un miracle, dit Petit de Julleville, c'est la mise en scène d'un fait merveilleux produit par
l'intervention sensible d'un saint ou plus souvent de la sainte Vierge. Ce genre tient donc par
des liens étroits à la religion, mais il est traité librement par l'auteur qui puise dans les
apocryphes, les chansons de geste et les auteurs latins. Il comporte toujours un sermon, amené
plus ou moins habilement au cours de l'action […]. La musique religieuse y tient une place
considérable et la pièce se termine par un Te Deum ou par un cantique81.
79
Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 221.
80
Zitat Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 207.
81
Dubech, Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 40.
125
Tabelle 2: Sestra Paskalina (Hry o Marii, IV. Akt)
Handlung
Vorlage
Quelle
Preludio
1. Szene
Paskalino! Kdo volá? [Paskalina! [Martinů]
Die schlafende Paskalina erwacht Wer ruft?]
kurz, erinnert sich an den Traum
vom Ritter und schläft wieder ein
Tanec stínů [Tanz des Schattens]
Tanec démona [Tanz des Dämons]: - Frauenchor: Ave Maria, gratia - Ave Maria
Der Ritter erscheint, Paskalina steht plena
auf (Paskalina als Doppelrolle), - Paskalina: Maria, matko Milošti - [Gebet]
betet zu Maria und flieht. Maria plná [Maria, barmherzige Mutter]
nimmt ihren Platz ein
Mezihra [Zwischenspiel]
Na mšu svatú zvonijú [Sie läuten zur Sušil Nr. 20
Heiligen Messe]
Vykladač hry [Sprecher]
2. Szene
Oddávki: „A před rájem” [Trauung: Sušil Kap. IX, Nr. 3
Paskalina kehrt nach Hause zurück, „Und vor dem Paradies“]
findet ihren Mann ermordet vor
Paskalina wird des Mordes ange- Zabila panička pána [Es tötete die Sušil Nr. 98
klagt und zum Tode verurteilt
Frau den Mann]
Das letzte Gebet vor der Hinrich- Ach, Bože můj všemohoucí [Ach, Sušil Kap. IX, Nr. 8
tung
mein allmächtiger Gott]
Ave Maria
Matičko
Ave Maria
Bozi
neopoustej
mně [Gebet]
[Mutter Gottes verlasse mich nicht]
Paskalina wird zum Scheiterhaufen Requiem aeternam
Requiem
geführt
Der Scheiterhaufen brennt [Tanz], Quia inclinavit aurem suam [...]
Liber Psalmorum: Psalm 114
Maria erscheint und hält die Flammen von Paskalina fern
3. Szene
Smílováni! Paskalino! Kdo volá? [Martinů]
Paskalina kehrt ins Kloster zurück, [Erbarmen! Paskalina! Wer ruft?]
die Nonne Marta erklärt ihr, dass sie
immer da gewesen sei; Paskalina
scheint zu erwachen
126
Maria übergibt Paskalina Kleider Ave Maria
Ave Maria
sowie Schlüssel und entschwindet
Die Nonnen singen, in ihrer Mitte Kyrie eleison – Benedictus – Dona Ordinarium missae
bricht Paskalina tot zusammen
nobis pacem
Die Motivation für die formalen Ähnlichkeiten der Sestra Paskalina mit dem Bau mittelalterlicher Mirakel ist weniger in einer Bemühung um eine traditionsgerechte Adaption als vielmehr darin zu sehen, dass Martinů bestrebt war, jegliche Art von Psychologisierung von
vornherein zu vermeiden. Bedingt durch den Verzicht auf verbindende Texte, kommt es zu
einer Unlogik, die keinerlei psychologischer Entwicklung der handelnden Personen gerecht
werden könnte82. Indem Martinů präexistente Texte aus ihrem Entstehungskontext herauslöste, um sie als Zitate in den Opernakt zu integrieren, unterband er sogar eine unbewusste
Beeinflussung der Wortwahl durch das jeweilige psychologische Potential der Handlung.
Dass dadurch dem Publikum ein aktiveres Rezeptionsverhalten abverlangt wird, ist weniger
als ‚notwendiges Übel‘, denn als durchaus willkommene Auswirkung zu verstehen.
Ich leugne nicht, dass diese „Einrichtung des Librettos“ grössere Anforderungen an das Publikum stellt, jedoch zugleich dessen Aufmerksamkeit erhöht. Meine Libretti (seit Špalíček) weisen keinen direkten realistischen Handlungszusammenhang auf. Auch der Text nicht, denn es
sind ausgewählte „Worte“, Texte, die nur ungefähr der gegebenen Situation entsprechen oder
oft auch nicht, und allein durch die Aktion, die Handlung, zu einem Ganzen verbunden werden. Es sind Texte der Volkspoesie, die de facto keinen Zusammenhang miteinander aufweisen. In Paskalina ist nur ein Satz in Prosa hinzugefügt, alles andere sind entweder volkspoetische oder geistliche Zitate83.
Neben den Brüchen, die durch ein solches Verfahren unweigerlich zu einem Hauptmerkmal
des Librettos werden, beschneidet auch die nur ungefähre Übereinstimmung der vorgegebenen Texte mit der Handlung die Bedeutung der Sprache. Während dies bei Narození páně, das
grösstenteils auf dem Volksliedtext Panenka Marie po světě chodila [Die Jungfrau Maria ging
durch die Welt] beruht, nur bedingt ins Gewicht fällt, sind die Folgen bei Sestra Paskalina
ungleich einschneidender, machte es doch die Aneinanderreihung zahlreicher Volksliedsowie liturgischer Texte geradezu unmöglich, die bereits in der Vorlage inkohärente Legende
82
83
Zitat Martinů, Hry o Marii (1935-36), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 209.
Martinů, [Handschriftliche Notizen zur Oper] (1943), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 197 f.
127
annähernd einsichtig wiederzugeben. Allein der auftretende Sprecher, der über dem Geschehen stehend eine auktoriale Rolle spielt, indem er erklärt, warnt und moralisiert, stellt ein
Mittel dar, zu einem übergreifenden Zusammenhang zwischen den weitgehend eigenständigen Teilen beizutragen. Mit diesem Einsatz eines an Strawinskys Le Speaker in Oedipus Rex
gemahnenden Sprechers in den beiden Mirakeln Mariken z Nimègue und Sestra Paskalina,
greift Martinů zugleich den Brauch der mittelalterlichen Mysterienspiele auf, das Publikum
über kommende Geschehnisse aufzuklären, entsprechend Dubechs Beobachtung: Nous avons
remarqué que le moyen-âge mettait autant de soin à annoncer les coups de théâtre, que les
modernes à les ménager84.
Dass durch die Auftritte eines Sprechers über das verbindende Moment hinaus auch
der fiktive Charakter des Geschehens in Erinnerung gerufen wird, der einerseits einen Realitätsbezug von Beginn an ausschliesst und andererseits die Distanz zwischen Bühne und
Zuschauerraum wahrt, entspricht direkt Martinůs Intention85. Seinem Leitgedanken gemäss,
sich mit den Hry o Marii dem wirklichen Theater anzunähern, ging es ihm in dieser Oper
nicht darum, eine Illusion der Wirklichkeit zu schaffen, sondern vielmehr die Fiktion des
‚Theaters‘ hervorzuheben – die Phantasie des Zuschauers sollte angeregt werden. Dementsprechend gipfelte die Absicht, permanent zu betonen, dass es sich beim Gesehenen um eine
wirklichkeitsferne Vorstellung im Theater handelte, mit dem ‚Spiel des Maškaron‘ in Mariken
z Nimègue in einem regelrechten ‚Theater im Theater‘86. Auch manifestierte sich das
‚Theatralische‘ der Oper in szenischen Momenten, etwa den Rollenverdoppelungen oder in
der inszenatorischen Idee, sämtliche für den Akt benötigten Bühnenbilder von Beginn an auf
der Bühne zu präsentieren. Durchaus in Anlehnung an die mittelalterliche Inszenierungspraxis, die ohne jegliche Rücksicht auf reale Distanzen bis zu einem Dutzend verschiedener Szenen aneinander reihten, sei es Rom oder Jerusalem, sei es der Himmel oder die Hölle, sah
auch Martinů in allen vier Akten die Verwendung simultaner Bühnen vor87. So hatte
84
85
86
87
Zitat Dubech, Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 85. Siehe auch Martinů, O divadle
středověku [Vom Theater des Mittelalters] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 185: Die
wichtigste Rolle in diesen Spielen hatte der „Spielleiter“ („meneur du jeu“).
Aus einem frühen Handlungsabriss von Mariken z Nimègue, der in mehrfacher Hinsicht inhaltlich von der
Oper abweicht, ist ersichtlich, dass Martinů von Beginn an einen Sprechpart in die Oper einzuführen plante.
Siehe Anhang zum Brief von Martinů an Vítězslav Nezval, undatiert [zwischen November 1932 und August
1933], Muzeum Bohuslava Martinů in Polička (CZ), ohne Signatur (2+10 Seiten), zuvor: Nachlass Vítězslav
Nezval (im Památník národního písemnictví)
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 223.
Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 222. Zur Verwendung simultaner Bühnen im mittelalterlichen Theater siehe auch Dubech,
Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 92-95 sowie Baty/Chavance, Vie de l’art théâtral
128
beispielsweise das Bühnenbild für Mariken z Nimègue dreiteilig zu sein, wobei sich in der
Mitte der Platz für die letzten beiden Szenen – das ‚Spiel des Marscaron‘ sowie den Tod
Marikens –, links davon der Wald für die ersten beiden und rechts das Gasthaus für die dritte
Szene befinden sollte. Während sowohl der Auftritt eines Meneur du jeu als auch die Verwendung von simultanen Bühnen direkt mittelalterlichen Gepflogenheiten verpflichtet scheinen, geht die Art der Rollenverteilung über das historische Vorbild hinaus und zielt verstärkt
auf eine distanzierte Rezeptionshaltung des Publikums. Dies wird dadurch bedingt, dass nicht
nur der Chor wechselnde Funktionen inne hat, die ihn entweder die Handlung kommentieren
lassen oder als aktiven Teilnehmer darin einbeziehen – bisweilen sogar die Hauptpersonen
substituierend –, sondern dass auch die solistischen Rollen wiederholt doppelt, durch Sänger
und Tänzer, zu besetzen sind88. So werden etwa in Mariken z Nimègue mit Mariken und dem
Teufel beide Hauptrollen zusätzlich durch Tänzer verkörpert, wobei der jeweilige Austausch
der Darsteller in keiner Weise verdeckt werden soll; ähnlich wie bei Brechts Theorie des ‚epischen Theaters‘ werden damit die Bühnenmittel als solche entschleiert, um die Distanz des
Zuschauers zum Geschehen aufrechtzuerhalten89.
In den ‚epischen‘ Momenten der Textanlage erschöpfen sich allerdings die Gemeinsamkeiten zwischen Martinůs Idee vom wirklichen Theater und Brechts bereits zum ‚Lehrstück‘ hin tendierendem, politisch-didaktischem ‚epischen Theater‘90. Schliesslich musste
Martinů mit seiner Absicht, einen Beitrag zur Opernerneuerung zu leisten, in den Augen
Brechts unweigerlich zu denen gehören, die verzweifelt versuchten, dieser Kunst [der Oper]
hinterher einen Sinn zu verleihen, einen „neuen“ Sinn, wobei dann am Ende das
Musikalische selber dieser Sinn wird; [...] Fortschritte, welche die Folge von nichts sind und
nichts zur Folge haben, welche nicht aus den Bedürfnissen kommen, sondern nur mit neuen
Reizen neue Bedürfnisse befriedigen, also eine rein konservierende Aufgabe haben91. Obwohl
(1932/1979), S. 78; Martinů, O divadle středověku [Vom Theater des Mittelalters] (1934), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 185.
88
Zur Rolle des Chors siehe Martinů, Před premiérou Her o Marii [Vor der (Prager) Premiere der Hry o Marii]
(1936), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 201.
89
Vgl. Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 223 f.
90
Zu Brechts ‚epischem Theater‘ und dessen Zusammenhang mit dem ‚Lehrstück‘ siehe u.a. Steinweg,
Lehrstück und episches Theater (1995), S. 32-54. Auch bei Gaston Baty finden sich hinsichtlich der
‚epischen‘ Elemente zahlreiche Parallelen zu Brecht. Allerdings ist bezeichnend, dass Baty zwar mit der
französischen Erstaufführung von Brechts Dreigroschenoper am 13. Oktober 1930 das ‚Théâtre
Montparnasse‘ eröffnete, dabei jedoch bestrebt war, den sozialkritischen Anspruch soweit wie möglich zu
mindern und das Stück stattdessen in eine traumartige Sphäre zu verlegen. Siehe Hüfner, Brecht in
Frankreich 1930-1963 (1968), S. 7-10.
91
Zitat Brecht, Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1930), in: Ders., Ausgewählte
Werke, Bd. 6, S. 110.
129
Martinů mit seinen Hry o Marii zu den Besseren zählt, die wie Strawinsky den Inhalt
überhaupt verneinen und ihn in lateinischer Sprache vor oder vielmehr weg tragen, kann dies
in Brechts Augen nichts an der Sinnlosigkeit des Unterfangens ändern92. Tatsächlich
beabsichtigte Martinů mit den Hry o Marii ebenso wenig, wie er die religiös-missionarischen
Ambitionen Ghéons oder Batys teilte, mit Brecht politisch-didaktische Ziele zu verfolgen,
weshalb er die traditionelle Oper auch nicht aus kulinarischen, sondern vielmehr aus rein
theaterbedingten und musikalischen Gründen von deren Konventionen zu befreien trachtete93.
So galt es laut Martinů etwa in szenischer Hinsicht, theatralisch konventionelle Gesten zu
vermeiden, die nur die Sprache verdoppeln würden, niemals aber die Handlung verkörpern
könnten. Er sah nicht nur vor, mit der doppelten Besetzung durch Sänger und Tänzer einer
leeren
‚Operngestik‘
entgegenzuwirken,
sondern
plante
darüber
hinaus,
jegliche
konventionalisierte Mimik und Gestik des traditionellen Balletts unmöglich zu machen,
indem er etwa wie Strawinsky in Oedipus Rex für die Tänzer Masken vorschrieb, aber auch
den Bewegungsradius stark einzuschränken gedachte – dass Martinů sich hierbei das
tschechische Ballett auf der Höhe der ‚Ballets russes‘ wünschte, liegt auf der Hand94.
Also soweit wie möglich die Bewegung über die Bühne (ausser in den dramatischsten
Momenten) und das übliche Tanzen, also die Auslegung, das Ausdrücken der Handlung vermeiden. Die Handlung ist allen klar, weshalb es darum geht, sie in einer Art Vision der Gesten
und Bewegung zu verkörpern95.
Der Tanz stellte für Martinůs Zwecke ein nützliches Mittel dar, die theatralische und fast
„mechanische“ Gestik der Sänger zu vermeiden, bedeutete jedoch darüber hinaus, dass die
schauspielerischen Aspekte der Oper weitgehend einer Choreographie unterworfen wurden,
weshalb sämtliche Bewegungen auf der Bühne gleichsam als Tänze im Sinn eines szenischen
Bildes erscheinen mussten96. Indem die Handlung ihre Bedeutung als bestimmender
Referenzpunkt für die Inszenierung zugunsten szenischer Bilder verliert, kommt es zu einer
durch Brüche gezeichneten Abfolge von Darstellungen, bei der sich zum dynamischen
92
Zitat ebd., S. 110.
Zitat ebd., S. 104.
94
Vgl. Brief von Martinů an Ivo Váňa-Psota, Tänzer der Ballets russes, undatiert [wenige Monate vor der
Uraufführung der Hry o Marii (23. 2. 1935)], in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 215: […] die Hry
o Marii, eine neue Opernform, wo das Ballett und die Pantomime gleichzeitig mit der Oper stattfinden, aber
in einer Funktion und auf einem Niveau, wie es die Leistungen des russischen Balletts zeigen.
95
Brief von Martinů an die Tänzerin Zora Šemberová betreffend deren Interpretation der Mariken bei der
Uraufführung, vom 29. August 1934 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 193.
96
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 222.
93
130
Moment der Aneinanderreihung zwingend der statische Charakter der einzelnen Bilder
gesellt. Schlug sich dies in der Konzeption Jenčíks, des Choreographen der Prager
Erstaufführung, insofern nieder, als er sich an der Statik gotischer Architektur orientierte –
namentlich des Strassburger Münsters –, die er in kinetische Umrisse übersetzen wollte, so
zeugte analog dazu Martinůs Intention, jegliche individuelle Gestik innerhalb des Chores zu
unterbinden, vom Willen, die statische Wirkung zu betonen97. Die zeitliche Ausdehnung von
eigentlichen Momentaufnahmen als Massstab für die szenische Umsetzung findet ihre
Berechtigung in der Anlage der Oper, die insbesondere in den beiden letzten Akten, jedoch
durchaus auch im statischen ersten Akt sowie dem für den zweiten Akt stark gekürzten
Mirakel, vielmehr als Aneinanderreihung von Zuständen, denn als kohärente Handlung zu
verstehen ist. Die Konsequenz von Martinůs Intention tritt in den volkstümlichen und
geistlichen Zitaten des vierten Aktes am deutlichsten zutage, wird doch der Text auf ein
Minimum reduziert, das es kaum zulässt, das eigentliche Geschehen annähernd einsichtig zu
vermitteln – die „logische“ Logik der dramaturgischen Arbeit wird vorsätzlich preis
gegeben98.
Unter theaterästhetischen Gesichtspunkten lässt sich die Betonung des Statischen und
der damit verbundene Verzicht auf eine sich entwickelnde Handlung sowohl in Einklang mit
der beabsichtigten Distanz zum Bühnengeschehen im Geiste des ‚epischen Theaters‘ bringen,
als auch zum mittelalterlichen Theater, was durchaus als eine Rückkehr zum wirklichen Theater verstanden werden kann99. Da jedoch für den Komponisten Martinů etwa im Unterschied
zum Regisseur Baty unmöglich in Frage kommen konnte, die Musik als blosses Bühnenmittel
in einer Synthese zugunsten eines thomistisch ganzheitlichen Theaters aufgehen zu lassen, ist
bei der Bewertung der Hry o Marii nicht ausser acht zu lassen, dass die Musik sich zwar dem
‚Theater‘ zu fügen hatte, ihr aber dennoch die Rolle der ‚prima inter pares‘ zukam. Der
brutale Umgang mit der Handlung stellte für Martinů über die Auseinandersetzung mit der
zeitgenössischen Theateravantgarde hinaus zugleich die Voraussetzung dafür dar, den Weg zu
einer ‚musikalischen Poesie‘ hin zu ebnen100.
97
Josef Jenčík, Tanecní výpln Her o Marii [Die tänzerischen Teile der Hry o Marii] (1935-36/1946), in:
Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 213; Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung]
(1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 221.
98
Zitat ebd., S. 221.
99
Zitat Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1936), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206
100
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 221.
131
MUSIK ALS POESIE
Martinůs Überlegungen hinsichtlich einer Erneuerung der Oper zielten letztlich allesamt
darauf hin, die Funktion der Musik im Theater neu zu überdenken und ihr eine von der Sprache weitgehend unabhängige Position einzuräumen, allerdings keine allein beherrschende,
wäre doch eine solche nicht mit dem wirklichen Theater vereinbar. Die Musik von der Sprache zu lösen, erschien ihm insofern vordringlich, als sich die zeitgenössische Oper seiner
Meinung nach vollständig auf literarische Vorlagen abstützte, infolgedessen die Mittel des
gesprochenen Dramas zu solchen des Musiktheaters geworden seien – dazu zählte Martinů
ebenso die Leidenschaft des psychologischen Dramas wie den dramatischen Akzent des
Schauspiels und die Annäherung an die Realität –, weshalb die Gattung ihre Handlungsfreiheit verloren und nicht etwa zum Musikdrama, sondern zum vertonten Schauspiel verkommen
sei101. In modischen Literaturopern wird der Komponist vom Text tyrannisiert, muss er sich
doch bemühen, den kleinsten Gefühlsregungen der dramatischen Vorlage musikalisch gerecht
zu werden, und folglich etwas ausdeuten, was nicht in den Möglichkeiten der Musik liege102.
Da die psychologischen Verwicklungen des Schauspiels musikalisch nicht wiedergegeben
werden könnten und somit allein durch das Libretto vermittelt werden müssten, würde die
Verständlichkeit des gesungenen Textes zum alles bestimmenden Moment. Der Schritt vom
Gesang zur Deklamation und zum durchgehenden Rezitativ erschien Martinů vor diesem
Hintergrund geradezu unvermeidlich, und dennoch sähen gewisse ästhetische Schulen darin
den richtigeren Ausdruck, der eine dramatischere Vertonung des Wortes ermögliche und dabei die innersten seelischen Bewegungen auszudeuten vermöge103. Dem hielt er einerseits
entgegen, dass durch die Betonung des Wortes und dessen Gehalt die musikalische Lyrik
zwangsläufig der dramatischen und dynamischen Bewegung zum Opfer fallen müsse, sowie
andererseits, dass die menschliche Stimme nur begrenzt zu dramatischer Intensität fähig sei.
Jenseits der Grenze des physiologisch Möglichen müsse der Gesang durch das Orchester
„verdoppelt“ werden, was unweigerlich bedinge, dass der Sänger seine Stimme bis zum Geschrei, zum schieren Lärm forciere, um sich angesichts des Orchesterapparates überhaupt Ge-
101
Zitat Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 193 f.
102
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 225.
103
Zitat ebd., S. 226 f.
132
hör zu verschaffen104. Den permanent hohen Geräuschpegel führte Martinů nicht zuletzt
darauf zurück, dass die Musik gar nicht dazu in der Lage sei, sämtliche emotionalen Schattierungen auszudrücken, weshalb regelmässig Unruhe erzeugt werde, die in Wirklichkeit nichts
bedeute: Selbst im Schauspiel erzielt man dramatische Spannung nicht dadurch, dass man
alle bis zur Heiserkeit schreien lässt105.
Da das Orchester für die Ausdeutung des Gefühlslebens unabdingbar wurde, verlagerte sich gemäss Martinů die Handlung zunehmend weg von der Bühne und hin in den Orchestergraben, was insofern das Ende des Theaters bedeuten musste, als das Ergebnis einem
musikalischen Konzert gleichkam, das von den Zufällen der szenischen Handlung gelenkt
wurde106. Dass sich der musikalische Verlauf folglich notgedrungen nach der emotionalen
Entwicklung des Librettos, nicht aber nach eigenen Grundsätzen zu richten hatte, brachte eine
musikalische Form mit sich, die zwar gleichsam mit Musik angefüllt sei, der jedoch eine literarische anstatt einer musikalischen Logik zugrunde liege107. Martinů polemisierte damit gegen eine unreflektierte Leitmotivik, die in der Wagnernachfolge zum alleinigen Mittel dafür
geworden sei, in einer eigentlich sehr billigen Weise eine grossformale Einheit zu erlangen108.
Die Idee, dass die musikalisch schrittweise nachvollzogene Entwicklung des Textbuches
einen symphonischen Strom ermögliche, verwarf er gänzlich mit dem Argument, wonach
reine musikalische Formen im Musiktheater nur an textfreien Stellen denkbar seien, etwa in
der Ouvertüre oder in Zwischenspielen109. Entsprechend wehrte er sich gegen eine Gleichsetzung der Verwendung von Leitmotiven mit der thematischen Arbeit in reinen Instrumentalwerken, entspringe letztere doch der inneren Organisation des Ganzen, erstere dagegen äusseren Umständen110.
Die Absage an eine symphonische Anlage der Musik auf der einen sowie die beschnittene Rolle der Sprache auf der anderen Seite, mögen auf den ersten Blick nahezu als
Widerspruch erscheinen, sind jedoch durch Martinůs Grundsatz motiviert, wonach es in der
Oper gelte, Musik, Wort, Gestik, Ausstattung usw. zu einem alleinigen Zweck zu verbinden,
104
Zitat Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 194.
105
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 227.
106
Zitat Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 194.
107
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 216.
108
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 228.
109
Zitat ebd., S. 228.
110
Zitat ebd., S. 228.
133
nämlich zu demjenigen der Bühne111. Gerade weil er sich an zeitgenössischen
Theaterströmungen orientierte, die ihrerseits von logisch voranschreitenden Entwicklungen
Abstand nahmen – indem sie etwa das mittelalterliche oder das ‚epische‘ Theater proklamierten –, musste die Frage einer psychologischen Ausdeutung des Librettos obsolet erscheinen. Das statische Moment des Textbuches bildete die Voraussetzung für einen folgerichtigen
Verzicht darauf, das Geschehen musikalisch ,auszudrücken‘ [vyjádřit], also die Musik einem
psychologischen Drama zu unterwerfen.
Das ganze System der psychologischen Charakterisierung führt mehr oder weniger zu einem
Theater-Roman und weniger zum Theater. Lassen wir den Standpunkt zu, den ich denjenigen
der Situation, der Attitude, nenne, verlieren wir zwar den „charakteristischen“ Bezug, nähern
uns dafür aber der Handlung an (ich meine damit kein Getümmel, keine „dramatische“ Aktion)
und gewinnen eine grosse Freiheit in der Disposition der musikalischen Form. Wir gewinnen
auch die Freiheit der Richtung und Disposition der musikalischen und szenischen Form, wenn
wir nicht die Entwicklung des psychologischen Dramas (in der [realen] Zeit) und die Charakterisierung, das „Ausdrücken“ „verfolgen“ müssen 112.
Eröffnete der Verzicht auf eine sinnfällige Entwicklung des Dramas gleichermassen die Freiheit der musikalischen als auch der szenischen Form, so lag es in der Natur des Komponisten,
das Libretto in der Weise zu entwerfen, die die meisten musikalischen Möglichkeiten
eröffnete – eine Entscheidung, die selbst Wagner bei seiner Arbeit getroffen habe113. Da
Martinů die Handlung nicht auf das einzelne notierte Wort abstützte, sondern es bei einem
blossen Handlungsschema beliess, das für das Verständnis des Geschehens ausreichen
musste, kam den gesungenen Texten in den Hry o Marii die handlungstragende Funktion
weitgehend abhanden114. Martinů plante, die Oper vielmehr gemäss einem musikalischen
Plan und nicht nach einem literarischen einzurichten, wobei jedoch das Ziel, eine
grösstmögliche Einheit und ein Gleichgewicht des Werkes zu erlangen, die Suche nach einer
bloss punktuell wirksamen „Stimmung“ [sic!] von Beginn an ausschloss115. Indem etwa in
den beiden letzten Akten einerseits die überlieferten Volksliedtexte einen unveränderten
sprachlichen und andererseits die Musik einen in sich geschlossenen Bau aufweisen, hat
111
Zitat ebd., S. 228.
Martinů, [Handschriftliche Anmerkungen] (1943), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 197.
113
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 218.
114
Zitat ebd., S. 218 f.
115
Zitat Martinů, [Unveröffentlichter Aufsatz zu den Hry o Marii] (1934), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 205; Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 218 f.
112
134
Martinů zwar einer musikalischen Textausdeutung entgegengewirkt, nicht aber der
angestrebten Übereinstimmung der musikalischen mit der sprachlichen Poesie, getreu dem
Grundsatz: Die Musik ist nicht frei, wenn sie den Text begleitet, jedoch wenn sie die Poesie
des Textes ausdrückt116. Somit ist der Berührungspunkt zwischen Libretto und Musik nicht im
direkten Wort-Ton-Verhältnis zu suchen, sondern vielmehr in der jeweiligen Grundstimmung,
die Wort und Ton mit den ihnen gegebenen Möglichkeiten vermitteln. Dass damit jegliche
musikalische Personen- zugunsten einer Situationencharakterisierung hinfällig wird, liegt auf
der Hand und stellt die Einheit der handelnden Personen grundsätzlich in Frage. Der Verzicht
auf psychologisch konsistente Figuren, der bereits durch das „unlogische“ Libretto sowie die
Rollenverdoppelungen gegeben ist, findet sich somit auch auf der musikalischen Ebene, die
gleichermassen dazu beiträgt, dass das theatralische Geschehen nicht mehr an Personen
gebunden ist, sondern sich gleichsam über die ganze Bühne ausbreitet117.
Das statische Moment der Hry o Marii tritt insbesondere bei den beiden kurzen Akten I und
III deutlich hervor, die quasi als Vorspiele zu den zwei Mirakeln angelegt sind, und mit der
nahezu vollständigen Absage an eine dramatische Handlung vielmehr als volkstümliche szenische Oratorien denn als eigentliche Opernakte anmuten118. Dient der erste Akt gleichsam als
Ersatz für eine Ouvertüre, die den Boden für das Mirakel im zweiten Akt bereiten soll, indem
zwar keine direkte motivische Verbundenheit hergestellt, jedoch der musikalische Charakter
der gesamten Oper exponiert wird, so fungiert der dritte Akt als Angel- und Ruhepunkt zwischen den beiden grossen Spielen. Nicht allein aufgrund der undramatischen Libretti, die im
ersten Akt durch die epische Erzählweise sowie im dritten durch die inkohärente Aneinanderreihung von Volksliedtexten bedingt sind, werden in den kurzen Akten die szenischdramatischen Aspekte in mehrfacher Hinsicht markant beschnitten, sondern darüber hinaus
auch dadurch, dass jegliche Individualität durch die dominierende Rolle des Chores von Beginn an untergraben wird. Solistische Gesangspartien, die sich durch eine ausschliessliche
Bindung an eine Figur auszeichnen, sind spärlich gestreut. So betrifft dies in Panny moudré a
panny pošetilé nur den Erzengel Gabriel, weder dagegen den durch zwei Baritone besetzten
Kaufmann, noch die Titelheldinnen, deren kluge Hälfte in naheliegender Weise von einem
Frauenchor verkörpert wird, die törichten Jungfrauen dagegen ausschliesslich mithilfe einer
116
Zitat Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 195.
117
Zitat Martinů, Hry o Marii (1935-36), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 209.
118
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 223.
135
statischen Sopranrolle inmitten von stummen Tänzerinnen zu Wort kommen. Eingebettet sind
die solistischen Auftritte in einen Chorsatz, der einerseits das eigentliche Fundament des
Aktes bildet sowie andererseits denselben umrahmt: Nach einem kurzen Orchestervorspiel (I,
bis T 14 nach Z 3) fordert der an der Rampe positionierte gemischte Chor mit einer Fuge die
Jungfrauen auf, bis zur Ankunft Jesu zu wachen – am Ende richtet sich der Chor mit derselben Aufforderung direkt an das Publikum, nunmehr in einen homophonen Choral in strahlendem A-Dur gefasst (siehe Notenbeispiel 38). Auch im dritten Akt, den Narození páně, kommt
dem Chor eine tragende Bedeutung zu, im Unterschied zum ersten dagegen weniger in der
Funktion, das Geschehen über die ganze Bühne auszubreiten – dies bewirkt hier das Libretto
–, sondern vielmehr kommentierend, sind doch mit Maria, einem Wirt, einem Schmied und
dessen Tochter die handelnden Personen an gleichbleibende Sänger geknüpft.
Der erste Akt wird durch die klaren Wechsel zwischen einzelnen Chorsätzen und kurzen Orchesterzwischenspielen untergliedert, wobei sich im mittleren Teil einige Soli unter
diese Anordnung mischen, die gerade beim Auftritt des Erzengels Gabriel aber auch demjenigen Jesu insofern musikalische Höhepunkte bilden, als sich diese vom bis anhin weitgehend a
cappella erklingenden Chor deutlich unterscheiden. Erst kurz vor der Erscheinung Jesu wird
der gemischte Chor vom Orchester in einem weitgehenden Unisono begleitet (I, T 1 nach Z
26 bis T 8 nach Z 28 sowie T 2 nach Z 34 bis T 14 nach Z 36); in welchem Mass die Verbindung der zuvor unvereinbaren instrumentalen und vokalen Gruppen als Sinnbild für die Erlösung fungiert, zeigt sich insbesondere am Ende, wenn sich der Chor mit dem Choral Bdetež
tedy [Wachet also] direkt an ein Publikum wendet, das die Erlösung noch nicht erfahren hat
(I, T 1-12 nach Z 37) – das Orchester verstummt vorübergehend und bestätigt erst nach dem
Choral das Gesagte mit der Tonika A-Dur (I, T 1-7 nach Z 38).
Notenbeispiel 38: Hry o Marii, I. Akt, T 15 nach Z 36 bis T 7 nach Z 38
Obwohl Orchester und Chor alternierend erklingen, erzeugt die Verwendung desselben
Motivs eine enge Verbundenheit zwischen den kurzen Teilen, greift doch der Chor den fanfarenartigen Einleitungstakt in bekräftigendem Unisono wörtlich auf, bevor er das Motiv in
akkordischem Satz leicht variiert noch zweimal erklingen lässt. Während der Chor im ganzen
Akt wiederholt Orchestermotive aufnimmt, um diese weiterzuführen und damit grössere Verbindungen zu schaffen, findet innerhalb des Orchestersatzes eine Strukturierung dadurch statt,
dass erneut erklingende Motive nicht nur Zusammenhang stiften, sondern als wiederkehrende
136
Teile zugleich einzelne Abschnitte markieren. Das Zusammenspiel von Rückgriffen auf bereits Bekanntes einerseits sowie freiem Umgang mit demselben bestimmt nicht allein die Motivik, sondern in gewisser Weise auch die grossformale Anlage, da sich die im Vorspiel deutlich hervortretende ABA’-Form frei abgewandelt im Opernakt wiederfindet.
Notenbeispiel 39a: Hry o Marii, I. Akt, Vorspiel, [Beginn des A-Teils] T 1-6 nach Z 0
Notenbeispiel 39b: Hry o Marii, I. Akt, Vorspiel, [Beginn des B-Teils] T 1-4 nach Z 1
Den Rahmen des Vorspiels bilden die beiden von Streichern gespielten Teile A (I, T 1-15
nach Z 0) und A’ (T 1-14 nach Z 3), deren ersten Hälfte jeweils durch das Voranschreiten im
Rahmen eines an e-Phrygisch gemahnenden reinen a-Moll einen modalen Charakter erhalten,
zusätzlich verstärkt durch die prägnanten Oktavparallelen, worauf in beiden Fällen eine ausgeweitete Kadenz folgt, im A-Teil bis zum Halbschluss auf der Dominante – die im A-Dur
des B-Teils ihre Auflösung findet (I, T 1 nach Z 1) –, am Ende von A’ dagegen direkt in die
neue Tonika A-Dur mündend. Diesem ruhigen, weiter unten näher zu erläuternden, ‚volksliedhaften‘ Charakter insbesondere zu Beginn der beiden äusseren Abschnitte steht ein kontrastierender Mittelteil gegenüber, der zwar in den Flöten und Klarinetten das kantable
Moment weiterzuführen scheint, jedoch nun nicht mehr von einem homophonen Streichersatz, sondern ausschliesslich vom Klavier mit ungleich schnelleren, vielmehr präludienartigen
denn ‚volksliedhaften‘ Akkordbrechungen begleitet wird. Zusätzlich verstärkt wird diese Unruhe stiftende Wirkung durch eine unstete Harmonik, die von A-Dur ausgehend bereits in
Takt 6 nach Ziffer 1 über F-Dur und D-Dur bei C-Dur angekommen ist, um schliesslich im
weiteren Verlauf aufgrund chromatischer Verschiebungen von einer Akkordbrechung zur
nächsten die Frage nach einer bestimmenden Tonart vorübergehend obsolet erscheinen zu
lassen – erst ab Takt 7 nach Ziffer 2 wird mit G-Dur wieder eine Tonart bestätigt.
Analog zum Vorspiel liegt dem ganzen ersten Akt eine dreiteilige Bogenform
zugrunde, die jedoch nicht in einer ähnlich expliziten Weise umgesetzt wird, sondern bloss als
latentes Grundschema durch das Geschehen hindurchschimmert, dies jedoch um so stärker,
als sie sowohl in der Vertonung als auch in der Gliederung des Librettos ihre Entsprechung
findet. Im unmittelbar nach dem Vorspiel in Takt 1 nach Ziffer 4 einsetzenden ersten Teil rät
der Chor den Jungfrauen, bis zur Ankunft Jesu zu wachen, da sie nur dann vor der Hölle
137
errettet würden, wobei die Aufforderung in einen durch Orchestereinwürfe klar untergliederten Chorsatz gefasst ist, der regelmässig zwischen Fuge und homophonem Satz wechselt. Seinen Abschluss findet der erste Teil in einer – bis auf die hier fehlenden Takte 6-7 nach Ziffer
0 – wörtlichen Reprise des A-Teils des Vorspiels (I, T 1-13 nach Z 12), eine offenkundige
Anlehnung an die zu Beginn exponierte Bogenform, die zusätzlich dadurch explizit gemacht
wird, dass der (in T 1 nach Z 13) direkt anschliessende zweite Teil wiederum mit einer Reprise des B-Teils des Vorspiels ansetzt, über der der Erzengel Gabriel die Geburt Jesu verkündet. Vergleichbar mit dem unsteten Mittelteil des Vorspiels wird auch hier nun das
Gleichgewicht geradezu gestört, wobei dies auf der Ebene des Librettos durch eine ungleich
dialogischer gestaltete Anordnung bedingt wird, der auf der musikalischen Seite eine grössere
Variation von chorischen, solistischen und instrumentalen Teilen sowie deren Durchmischung
entspricht. Ungleich deutlicher als die solistischen Passagen Gabriels, die in der Stimmführung an die vorangegangenen homophonen Teile von Chor und Orchester gemahnen (I, T 1
nach Z 13 bis T 22 nach Z 15), bringt der Auftritt der törichten Jungfrauen einen neuen musikalischen Charakter mit sich, wird doch das sich ständig steigernde Herumirren der Tänzerinnen von einer psalmodisch anmutenden Klage des Solosoprans und den Altistinnen des Chores begleitet (Notenbeispiel 40).
Notenbeispiel 40: Hry o Marii, I. Akt, T 1 nach Z 16 bis T 9 nach Z 17
Verleiht das zugrundeliegende reine f-Moll dieser Klage bereits einen modalen Charakter, so
wird dieser durch die Betonung der Unterquart c’ zusätzlich hypomodal gefärbt, eine Anlehnung an die Psalmodie, die bezeichnenderweise nur im Augenblick der Selbstbezichtigung als
törichte [pošetilé] Jungfrauen durch chromatische Ausweichungen kurzzeitig aufgegeben wird
(I, T 3 nach Z 17). Während bereits in den folgenden zwei Passagen der törichten Jungfrauen
das psalmodische Moment aufgrund einer dezenten Ausharmonisierung durch den Frauenchor
leicht an Bedeutung verliert (I, T 1-8 nach Z 18 sowie T 1-4 nach Z 19), passt sich die Stimmführung des Solosoprans in dem Moment endgültig derjenigen des Erzengels Gabriel an, in
dem sie zu der Erkenntnis gelangen, dass sie die Ankunft Jesu zu verpassen drohen (Notenbeispiel 41). Zusätzlich untermauert wird diese Befürchtung dadurch, dass der kommentierende Chor, der das Scheitern der törichten Jungfrauen vorwegnimmt, erstmals gleichzeitig
mit der klagenden Sopranistin erklingt, ein Omen, das im Akkordtremolo des Klaviers – das
später die Stimme Jesu begleiten wird – seine Bestätigung findet.
138
Notenbeispiel 41: Hry o Marii, I. Akt, T 5-11 nach Z 19
Der gänzlich dem Herumirren der törichten Jungfrauen gewidmete Mittelteil des ersten Aktes
endet folgerichtig genau in dem Augenblick, als diese mit dem Ölverkäufer verhandeln und
dabei die Ankunft Jesu verpassen. Markiert wird der Beginn des dritten Abschnittes durch
eine kurze variierte Reprise der ersten fünf Takte des A-Teils des Vorspiels (Notenbeispiel
39a), unmittelbar nach dem Entschwinden der erlösten klugen Jungfrauen (I, T 1-6 nach Z
29), diesmal in klarem F-Dur, das jedoch durch die plagale I-IV-Kadenz ebenfalls eine leicht
modale Färbung erfährt. Darauf erklingt die Stimme Jesu hinter der Bühne, der die törichten
Jungfrauen verdammt, wobei das Orchester die vierfach im Unisono besetzte Gesangslinie
ausschliesslich durch Akkordtremoli der Streicher und des Klaviers untermalt, um jedoch
jeweils nach dem Verstummen der Stimme sogleich wieder auf den A’-Teil des Vorspiels
zurückzugreifen (I, T 18-21 nach Z 30 sowie T 14-16 nach Z 31). Nach einem kurzen Zwischenspiel der Streicher findet der Chor schliesslich wieder zu Fugen und Chorälen und damit
zu seiner Gesangsweise aus dem ersten Teil des Aktes zurück, nun aber durch das Orchester
verdoppelt, hat doch der Auftritt Jesu Chor und Instrumente vereint. Dass alles dennoch nur
eine Vorstellung im Theater gewesen ist, macht ganz am Ende der Chor unmissverständlich
klar, indem er sich mit der Aufforderung ans Publikum wendet, ständig zu wachen, da die
Stunde der göttlichen Erscheinung nicht bekannt sei – die Erlösung war nur ein Spiel. Somit
ist das Ende in inhaltlicher Hinsicht nicht viel mehr als ein Rückfall zum Aktbeginn, sind
doch nur die Adressaten andere geworden, die Botschaft dagegen ist dieselbe geblieben; ein
Zirkel, der sich in einer Bogenform wiederfindet, weshalb die musikalische Anlage nicht nur
eine textbezogene Begründung erhält, sondern durch die ABA’-Form des Vorspiels zugleich
einen rein musikalischen Referenzpunkt aufzuweisen hat.
Insbesondere wegen der durch Fugen und Choräle geprägten Chorsätze, die mehrfach durch
solistische Passagen ergänzt werden, nähert sich der Eröffnungsakt kirchenmusikalischen
Traditionen an. Dass der Verzicht auf Violinen oder die zunächst antiphonal angeordneten
Einsätze von Orchester und Chor beispielsweise entfernt an den Beginn des Deutschen
Requiems von Johannes Brahms erinnern könnten, trägt als Traditionszusammenhang, der
über die Gattung Oper hinausreicht, zum oratorischen Charakter des ersten Aktes der Hry o
Marii bei. Im Gegensatz zu Panny moudré a panny pošetilé tritt das kirchenmusikalische
Moment bei Narození páně ungleich weniger in Erscheinung, was hauptsächlich auf eine
139
liedhaftere Anlage der Chorsätze zurückzuführen ist – eine kurze Fuge findet sich bezeichnenderweise nur im Orchesterpart (III, T 1-8 nach Z 24). Dieser Akt ist nun nicht mehr in
einer Bogenform angelegt, sondern entspricht auf der musikalischen Seite der formalen Gestalt des Librettos insofern, als die vier Volksliedtexte jeweils als einzelne Teile vertont und
meist durch Orchesterzwischenspiele voneinander abgetrennt sind. Nach einem kurzen instrumentalen Vorspiel setzt mit Porod panny Marie [Die Geburt der Jungfrau Maria] sogleich
die Vertonung des für diesen Akt zentralen Volksliedes ein, das sich einerseits durch den ungleich grösseren Umfang als auch die bisweilen dialogischen Passagen deutlich von den nachfolgenden Texten abhebt. Auf die ersten drei chorischen, kommentierenden Strophen, die
jeweils am Strophenende durch Orchestereinwürfe mit Varianten der im Vorspiel exponierten
Motive abgelöst werden, folgt bereits in der vierten Strophe der erste Einsatz Marias, deren
Solo zunächst parallel zum Frauenchor geführt wird (III, T 4-8 nach Z 9). Obwohl im weiteren Verlauf die solistischen Partien keinesfalls in vergleichbarer Weise im Chor aufgehen, so
bleibt dennoch der einfache liedhafte Charakter erhalten, weshalb selbst Augenblicke grösserer dramatischer Spannung weniger in den Singstimmen, sondern fast ausschliesslich im Orchester zum Ausdruck gebracht werden. So finden sich etwa analog zum ersten Akt auch hier
akkordisch gesetzte Tremoli in den Streichern, die zwar nicht den Auftritt Jesu begleiten, jedoch die Angst Marias wiedergeben, nachdem diese von der Bedrohung ihres Kindes erfahren
hat (III, T 9 nach Z 11 bis T 26 nach Z 12). Erst am eigentlichen Höhepunkt, nämlich am
Ende des Liedes, als der Schmied von seiner durch das Jesuskind geheilten Tochter erfährt,
dass er der Mutter Gottes die Unterkunft verwehrt hatte, weicht der bis anhin liedhaft
geprägte Satz einem choralartigen Schluss, der jedoch vom Bass des Schmiedes sowie vom
Orchester, nicht jedoch vom Chor vorgetragen und nach dem Verstummen des Schmieds rein
instrumental zu einem leise verklingenden Ende geführt wird (III, T 1 nach Z 19 bis T 23
nach Z 20). Im darauffolgenden nächsten kurzen Lied, das ungeachtet des bereits
Vorgetragenen die Niederkunft Marias in einer anderen Überlieferung nochmals behandelt,
spiegelt sich in stark geraffter Weise eine vergleichbare Form, da das solistisch von der
Tochter des Schmiedes gesungene Lied nach den ersten vier Strophen zusammen mit dem
Orchester genau dann in einen homophonen choralartigen Satz mündet, als die Sopranistin die
Erkenntnis verkündet, wonach es sich beim Neugeborenen wahrhaftig um Pán Kristus [Herrn
Christus] handle (III, T 5-19 nach Z 23). Nach einem kurzen Orchesterzwischenspiel, das mit
der einzigen Fuge des ganzen Aktes ansetzt, kommt es zum liedhaftesten Abschnitt, was zum
einen durch die einfachen, kurzen sowie klar gegliederten Ensemblepassagen und zum
140
anderen durch den parallel zu den vier Solisten eingesetzten Kinderchor bedingt wird
(Notenbeispiel 42).
Notenbeispiel 42: Hry o Marii, III. Akt, T 1-2 nach 25
Nachdem hier bereits zum dritten Mal von der Geburt Jesu berichtet worden ist, diesmal ergänzt durch die Taufe im Jordan, beginnt mit dem vierten Volksliedtext zugleich der letzte
Teil des Aktes, nun mit einem zweistimmigen, rezitativisch anmutenden Gesang, was an die
von Erben in seiner Sammlung angegebenen Vorschrift erinnert, wonach einzelne Dialoge des
Krippenspiels rezitativisch vorzutragen seien (III, T 1-11 nach Z 28)119. Darauf folgt ein
homophoner Chorsatz, der zwar zunächst als einfaches Lied ansetzt, jedoch spätestens bei der
finalen Lobpreisung Gottes zu einem Choral wird und als solcher auch nach dem
Verstummen des Chores vom Orchester weitergeführt wird, bis dieses den Akt – vergleichbar
mit dem Ende des Volksliedtextes Porod panny Marie zu Beginn desselben Aufzugs (III, T
23 nach Z 20) – nach einem Decrescendo im Pianissimo ausklingen lässt. Damit findet ein
Akt seinen Abschluss, der mit der Geburt Jesu einen inhaltlichen Kern aufweist, um den die
musikalische Umsetzung kreist, verschiedene Möglichkeiten darlegend, das Ereignis zu
rezipieren. Die in der Zeit verlaufende Aneinanderreihung von nicht nur gleichzeitigem
Geschehen, sondern faktisch ein und derselben Geschichte, bedingt eine grösstmögliche
Ausdehnung dieser Momentaufnahme, die gerade als solche die Einheit des Aktes
gewährleistet, wenngleich die disparaten Volksliedtexte eher einen losen ‚Liederzyklus‘
vermuten liessen. Während also im ersten Akt die Vertonung darauf ausgerichtet war, das
‚Immergleiche‘ – das Wachen bis zur Erlösung – in eine zwar fragmentarische, jedoch
deutlich erkennbare Handlung zu fassen und mithilfe der frei gestalteten Bogenform das Ende
als erneuten Anfang zu markieren, ging es im dritten Akt darum, die verschiedenen Facetten
des ‚Immergleichen‘ – die Geburt Jesu – in einer offenen, musikalisch vielfältigen Form zum
Ausdruck zu bringen.
Martinůs Absicht, die Dramatik zu besänftigen und das Geschehen in musikalische
Formen einzugliedern, setzte mit der damit verbundenen Suche nach einer zwar dramatischen, aber disziplinierten, geradezu statischen Szene im ersten und stärker noch im dritten
119
Vgl. Erben, Prostonárodní české písně a říkadla, S. 45.
141
Akt den weitgehenden Verzicht auf ein dramatisches Geschehen förmlich voraus120. Dass
damit nicht zwangsläufig eine Negation der Bühne einhergeht, liegt in der theaterästhetischen
Ausrichtung der Oper begründet, ist diese doch von der Absicht geprägt, die Distanz zum
Geschehen und das Wissen um das Spiel im Theater zu betonen121. Sowohl in Panny moudré
a panny pošetilé als auch in Narození páně wird das Prinzip zwar insofern auf die Spitze getrieben, als von einer Handlung des Spiels kaum mehr die Rede sein kann, jedoch liegt der
Grund dafür vielmehr in einer Überhöhung der epischen Momente, denn in einer intendierten
Abkehr vom Theater. Anstelle des Librettos, ist es die Aufgabe der Musik, die Bruchstücke
zu einem sinnfälligen Ganzen zusammenzufügen: Geleitet von der Idee, die Musik müsse den
Inhalt absorbieren, nicht abbilden, gelangte Martinů in Panny moudré a panny pošetilé sowie
Narození páně nach eigenen Worten zu volkstümlichen szenischen Oratorien, eine Aussage,
die dahingehend differenziert werden kann, dass der erste Akt stärker zu einem Oratorium,
der dritte dagegen eher zu ‚volkstümlichen Szenen‘ hin tendiert122.
Im Unterschied zum ersten und dritten Akt, die beide durch den Verzicht auf eine eigentliche
dramatische Handlung mit dem daraus resultierenden statischen Charakter eine geradezu
ideale Voraussetzung für einen bestimmenden musikalischen Plan boten, war eine solche bei
den beiden Mirakeln im zweiten und vierten Akt nicht in demselben Mass gegeben. Dafür
ermöglichte die Verwendung eines Sprechers in Anlehnung an den mittelalterlichen Meneur
du jeu, die gesungenen Texte einer handlungstragenden Funktion weitgehend zu entheben,
weshalb sich die beiden Mirakelspiele trotz der ungleich grösseren Dramatik dennoch dem
statischen Moment der beiden kurzen Akte annähern, werden doch die Zusammenhänge des
ablaufenden Geschehens hauptsächlich zwischen den Szenen vermittelt. Die bewusste ‚Entdramatisierung‘ der Oper durch einen Sprecher prägt insbesondere den zweiten Akt, Mariken
z Nimègue, dem mit dem Libretto von Henri Ghéon in der Übersetzung von Vilém Závada das
mit Abstand dramatischste Textbuch der Hry o Marii zugrunde liegt, so dass es gerade bei
diesem Mirakel verstärkt darum gehen musste, die ‚literarische‘ Dramatik von den zu vertonenden Szenen zu trennen. Sogleich zu Beginn des Aktes, zwischen dem kurzen Orchestervorspiel und der ersten Szene, wendet sich der Sprecher in einer für das ‚epische Musikthea-
120
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 219.
121
Zitat Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 195.
122
Zitat ebd., S. 207; Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 223.
142
ter‘ typisch anmutenden Weise direkt ans Publikum, womit er einerseits einer illusionistischen Rezeptionshaltung entgegenwirkt und andererseits sich selbst – und nicht die gespielten
Szenen – zur zentralen Erzählinstanz stilisiert.
Principál (II, unmittelbar vor Ziffer 6):
Račte vstoupit dovnitř, pánové a dámy,
[Treten Sie bitte ein, meine Damen und Herren,
začíná se hráti nové představení:
die neue Vorstellung beginnt:
chmurná tragédie dobrodružné panny.
die düstere Tragödie der heldenhaften Jungfrau.
Drama o Mariken, rodem z Nizozemi.
Das Drama der Mariken, gebürtig aus den Niederlanden.
Sam Luciper z pekla se s ní oženil
Luzifer aus der Hölle selbst vermählte sich mit ihr
a celých sedm roku manzelsky s ní zil.
und lebte ganze sieben Jahre als Gatte mit ihr zusammen.]
[...]
Da dem Sprecher die Aufgabe zukommt, die Handlung zu vermitteln, nimmt er eine zum
Publikum hin gerichtete Position ein, wozu sich allerdings eine der Bühne zugewandte Funktion gesellt, versucht er doch mehrfach, auf das Verhalten Marikens Einfluss zu nehmen.
Wenngleich diese Interventionen wie etwa bei seiner Warnung vor dem Teufel in der ersten
Szene (II, unmittelbar nach T 5 nach Z 9; T 9-21 nach Z 12) ohne Wirkung bleiben, ermöglichen sie dennoch eine engere Anbindung des Bühnengeschehens an die Person des Sprechers
und damit an die durch ihn ‚verkörperte‘ dramatische Handlung. In diesem Moment der Vermittlung spiegelt sich die für Mariken z Nimègue bestimmende Vorgehensweise, wonach es
einerseits darum ging, das Bühnengeschehen gleichermassen wie die Musik vor einer Bebilderung der Handlung zu bewahren, andererseits jedoch der dramatischen Entwicklung des
bereits stark gekürzten Mirakels weitgehend gerecht zu werden: Ich lasse diejenigen Teile
aus, die mich zu einem überflüssigen musikalischen Erzählen führen würden, erkläre sie kurz
mit Worten [...] und verwende die Teile, in denen ich vorteilhaft Musik einsetzen kann, ohne
den Rhythmus des Dramas zu stören123.
Dieses Vorgehen ermöglichte, die zu vertonenden Teile auf die zentralen Augenblicke
der Legende zu beschränken, nämlich das erste Zusammentreffen Marikens mit dem Teufel,
Marikens Hingabe an denselben, den mehrfachen Mord im Wirtshaus, das ‚Spiel des Maškaron‘, Marikens Bruch mit dem Teufel und dessen Rache an ihr sowie ihre Erlösung nach dem
Tod. Obwohl die Wahl der ereignisreichsten Momente für die vertonten Szenen einem
123
Zitat Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 195.
143
Bestreben nach einer statischen Anlage als Voraussetzung für die Eingliederung in musikalische Formen entgegenwirken muss, ist das dramatische Gewicht insofern beschnitten, als die
einzelnen Szenen nicht logisch aneinander anschliessen, sondern als unabhängige Teile einzig
durch den Auftritt des Sprechers miteinander in Verbindung gebracht werden können124.
Hinzu kommt, dass die auf ein Mindestmass beschränkten Dialoge keinerlei grössere dramatische Auseinandersetzung begünstigen, was bereits in der ersten Szene deutlich zutage tritt,
wenn sich Mariken nach der Aufforderung des Teufels, mit ihm zusammenzuleben, nicht
etwa an diesen wendet, stattdessen aber, nach einer Warnung des Sprechers, Gott um Erbarmen bittet (Notenbeispiel 43).
Notenbeispiel 43: Hry o Marii, II. Akt, 1. Szene, T 1-5 nach Z 13
Anstelle eines sich steigernden Duettes zwischen Mariken und dem Teufel kommt es mit der
Anrufung Gottes zu einem unvermittelten Stimmungswechsel, der das dramatische
Geschehen insofern suspendiert, als die Zeit plötzlich aufgehoben scheint. Obwohl sich
Marikens Erregung in einer vergleichsweise bewegt rhythmisierten Gesangslinie sowie in der
pochenden Orchesterbegleitung spiegelt, so tritt in letzterer dennoch ein gewisser Stillstand
zutage, als das Orchester ebenso wie der Frauenchor in einer zwar unruhig wirkenden, jedoch
nicht eigentlich vorwärtsstrebenden Weise gesetzt ist. Im Verzicht auf eine dramatische
Zuspitzung zugunsten einer gleichsam jenseits des Geschehens liegenden Ebene ist dabei
nicht allein ein bewusst vermiedener, psychologisch motivierter Höhepunkt zu sehen, sondern
zugleich eine Betonung des statischen Moment; bezeichnenderweise endet dieses kurze
Bittgebet auf nichts anderem als einem blossen Pochen auf den Oktaven B’-B-b in Klavier
und tiefen Streichern (II, 1. Szene, T 21 nach Z 13), das explizit auf den Beginn der Anrufung
rekurriert (vgl. Notenbeispiel 43).
Da sich dieses Vorgehen, das eine verstärkte statische Wirkung anstelle einer vorwärtsstrebenden musikalischen Entwicklung mit sich bringt, an sämtlichen Stellen findet, die
in irgendeinem Zusammenhang mit einer göttlichen Erscheinung stehen – dies durchaus auch
in den übrigen Akten –, läge es nahe, in der beschnittenen Bedeutung der dramatischen Zeit
ein Abbild der göttlichen und absoluten Ewigkeit zu sehen. Während für diese Deutung spräche, dass beispielsweise die Erlösung Marikens in einem Aleluja des Frauenchors zum Aus124
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 219.
144
druck kommt, das infolge seiner ABA’-Form ebenfalls auf den Beginn zurückverweist (II, 5.
Szene, T 1 nach Z 65 bis 14 nach Z 69), kann die ausschliessliche Verknüpfung eines betont
statischen Charakters mit der göttlichen Zeitlosigkeit in Anbetracht des grundsätzlichen
Bemühens einer ‚Entdramatisierung‘ der Oper nicht aufrecht erhalten werden. Als Gegenbeispiel lässt sich etwa die Darstellung der vom Teufel dominierten Teile anführen: Dem erfolgreichen Kampf um Marikens Seele ist die ganze zweite Szene gewidmet, die in zwei Teilen
angelegt, zunächst die zunehmende Macht des Teufels über die Verlorene in rein tänzerischer
Besetzung über einem sich steigernden Orchestersatz – wiederholt von warnenden Choreinwürfen überlagert – darstellt, worauf im zweiten Teil Mariken selbst mit einem in einen Walzer gefassten Arioso zu Wort kommt. Allein wortlosen tänzerischen sowie instrumentalen
Mitteln bleibt es vorbehalten, das innere Ringen der Protagonistin in Form einer steten Steigerung zum Ausdruck zu bringen (II, 2. Szene, T 1 nach Z 14 bis T 23 nach Z 27). Der eigentliche Höhepunkt dieses Tanzes findet sich in einem langsam voranschreitenden homophonen
Satz, zweifellos den Sieg des Teufels verkündend, welcher vor dem Hintergrund der – der
katholischen Weltsicht verpflichteten – Legende unmöglich als ‚Erlösungsmusik‘ gedeutet
werden kann. Wie wenig die Satzweise als Charakteristikum des Göttlichen letztlich taugt,
tritt bei eben diesem Triumph Luzifers deutlich hervor, ist doch der Frauenchor als Symbol
für Gottes Stimme nicht vom männlichen Teufelschor zu unterscheiden – nach anfänglichem
Tritonus im Männerchor (T 1-5 nach Z 26) fügen sich die beiden konträren Gruppen sogar
derselben Harmonik.
Notenbeispiel 44: Hry o Marii, II. Akt, 2. Szene, T 17-23 nach Z 27
Nach diesem ersten Teil der zweiten Szene, der die Eroberung Marikens durch den Teufel in
einen Tanz fasste und zwar die Spannung des Geschehens in einer ständigen Steigerung auszudrücken vermochte, jedoch keinen detaillierten Blick auf das Seelenleben der Protagonistin
erlaubte, tauscht die Sängerin der Mariken schliesslich wieder die Tänzerin derselben Rolle
aus. Dass sie dies genau in demjenigen Augenblick tut, als Marikens spannungsreiche zwiespältige Lage mit der Hinwendung zum Teufel zu einer Auflösung gefunden hat, mutet vor
dem Hintergrund eines zu vermeidenden Ausdrückens psychologischer Spannungen durch
Musik als geradezu logische Konsequenz an. Die Sängerin lehnt sich zwar aufgrund der Anlage ihres Solos als Walzer mit der Idee des Tanzes an das vorherige dramatische Geschehen
an, befindet sich selbst jedoch bereits in einem ungestörten und damit undramatischen Zu145
stand seliger Verliebtheit, der sie wie in Trance dem věk štěstí zlatý [dem Zeitalter goldenen
Glücks] entgegen schweben lässt (II, 2. Szene, T 12 nach Z 29 bis T 17 nach Z 32).
Indem die einzelnen Szenen direkt mit konkreten Momenten der Legende verknüpft sind und
sich nicht nur als Folge der Unterbrechungen durch den Sprecher, sondern auch durch die
jeweils unterschiedliche motivische Grundlage der musikalischen Umsetzung deutlich voneinander abheben, wirkt der zweite Akt, Mariken z Nimègue, klar untergliedert. Diese Anlage
ermöglichte einerseits, die Dramatik des Geschehens in einem hohen Masse zu erhalten,
sowie andererseits dem Sinn von Martinůs ‚Poesie‘-Begriff entsprechend, eine allzu enge
Bindung der Musik an die psychologische Komponente der Handlung zu vermeiden. Während Martinů in Mariken z Nimègue eine dramatische, aber disziplinierte, geradezu statische
Szene dadurch erreichte, dass er die Handlungsebene weitgehend von den vertonten Szenen
abspaltete und fünf in sich geschlossene Teile mit verbindenden Sprechtexten schuf, ging er
in Sestra Paskalina insofern einen Schritt weiter, als er bis auf einen einzigen Auftritt des
Sprechers am Ende der ersten Szene auf jegliche Erläuterungen zum Geschehen verzichtete125. Der Inhalt des vierten Aktes, der sowohl in der Ausprägung als Mirakel als auch hinsichtlich seines Umfangs das Pendant zu Mariken z Nimègue darstellt, ist ohne vorheriges
Wissen um die Handlung kaum mehr zu erschliessen, was durch eine Inkohärenz bedingt
wird, die ihre Berechtigung darin findet, dass die Legende in eine traumartige Atmosphäre
gerückt wird126. Der Vorteil dieser angebotenen Deutung der Erlebnisse Paskalinas als Traum
liegt nicht darin, eine Erklärung für die phantastischen Begebenheiten zu liefern und diese
dadurch letztlich zu glätten, sondern in der Möglichkeit, die Freiheiten einer durch den Traum
begründeten Dramaturgie zu nutzen. Analog zum Zitatcharakter des in hohem Masse inkohärenten Librettos, das als Ausdruck von ‚Traumfetzen‘ rückwirkend seine Legitimation erhält,
wird auch die Musik der Verantwortung enthoben, einen zwingend logischen Verlauf zu
nehmen. Im Gegensatz zu Mariken z Nimègue, wo dem Sprecher die Funktion zukam, die
dramatischen Entwicklungen aus den Szenen zu absorbieren, ermöglicht der in Sestra Paskalina latent durchschimmernde Traum, auf eine ähnliche Kompensation fehlender logischer
Zusammenhänge zu verzichten.
125
126
Zitat ebd., S. 219.
Die Inszenierung sollte die Traumatmosphäre zusätzlich unterstützen: [...] vermeiden Sie eine grosse Mystik
und machen Sie es wie einen Traum. Brief von Martinů an František Muzika, vom 17. November 1934 aus
Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 191.
146
Dass die Irrealität des Traumes die Dramaturgie gleichermassen wie die Musik des
Drucks nach einer ‚realen‘ Logik enthebt, tritt sogleich in der ersten Szene deutlich zutage,
kommt es hierbei doch zu einer Konfrontation des ‚realen‘ Klosterlebens mit den Phantasien
Paskalinas.
Der Beginn des Spiels, die Exposition, ist das Umfeld des Traumes, der Halluzination, in die
das hinter der Bühne gesungene, morgendliche Ave Maria der Schwestern eingreift. Es [das
Spiel] erhält dadurch einen doppelten Rahmen, nämlich das präzise und konkrete Motiv der
Realität, des erwachenden Tages und des beginnenden Lebens hinter der Bühne, mit einer
konzise ausgeführten Musik – und: die erlöschende Nacht, auf der Grenze zwischen Traum
und Erwachen, mit einer unvollständigen, nicht zu Ende erzählten, unrealen Musik127.
Indem das mehrfach gesungene Ave Maria der Nonnen einen quasi realen Bezugspunkt bietet,
der als solcher von Beginn an festgelegt ist, da Paskalina in ihrem ersten Auftritt unmittelbar
nach dem kurzen Orchestervorspiel zur Sprache bringt, eben erst erwacht zu sein, und sich an
ihren Traum erinnert, ist der folgende Tanec stínů [Tanz der Schatten] sowie Tanec démona
[Tanz des Dämons] eindeutig der Fortsetzung ihres Traumes zuzuordnen – schliesslich ist sie
erneut eingeschlafen (IV, 1. Szene, T 7 nach Z 3). Der Traum spiegelt sich in einer rein
instrumentalen, rhapsodischen Vertonung, deren Zusammenhang nicht zuletzt durch das wiederholte Aufgreifen derselben Motive in mehr oder weniger variierter Form zustande kommt,
sei es das Motiv, das beim ersten Auftritt des tanzenden Dämons erklingt (Notenbeispiel 45),
sei es dasjenige, das die zweimalige stumme Erscheinung des Ritters begleitet (Notenbeispiele 46 a, 46 b).
Notenbeispiel 45: Hry o Marii, IV. Akt, 1. Szene, T 1-3 nach Z 6
Notenbeispiel 46a: Hry o Marii, IV. Akt, 1. Szene, T 1-2 nach Z 7
Notenbeispiel 46b: Hry o Marii, I. Akt, 1. Szene, T 1 nach Z 16
127
Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 219.
147
Während sich der Antagonismus zwischen Traum und Wirklichkeit zu Beginn von Sestra
Paskalina in der klaren Unterscheidung zwischen einer nicht zu Ende erzählten, da rhapsodisch angelegten Musik und dem strukturierten Choral der Nonnen wiederfindet, entzieht sich
der weitere Verlauf des Aktes bereits gegen Ende der ersten Szene einer ähnlich eindeutigen
Positionierung. So ist beim Gebet Paskalinas, das auf den Tanz des Dämons folgt, nicht mehr
zu entscheiden, ob sich die Schlafende im Traume beten sieht, oder sie womöglich mittlerweile erwacht, tatsächlich Maria um Hilfe anfleht. Selbst die Musik liefert keinen Anhaltspunkt mehr, da die freie Form der Vertonung vollständig auf die Begleitfunktion zurückgeführt werden kann, die sie hier in Anbetracht der engen Anlehnung des Orchesters an die
Singstimme innehat (IV, 1. Szene, T 1 nach Z 17 bis T 10 nach Z 20). Obwohl nach dem Gebet wiederum ein Ave Maria hinter der Bühne erklingt (Notenbeispiel 47), kann dieses nicht
mehr als Beleg dafür genommen werden, dass Paskalinas Gebet nicht ebenfalls auf der ‚realen‘ Ebene stattgefunden hätte, liesse sich doch der räumliche Abstand nun tatsächlich als
solcher deuten.
Notenbeispiel 47: Hry o Marii, IV. Akt, 1. Szene, T 1 nach Z 22
Erst in der dritten Szene eröffnet sich mit dem wieder erklingenden Choral erneut die
Gewissheit um eine ‚reale‘ Handlungsebene, da sich der Aktbeginn ansatzweise zu wiederholen beginnt, und die zurückgekommene – oder zum zweiten Mal erwachende – Paskalina
des Klosterlebens gewahr wird, so dass zumindest die folgende Erscheinung Marias sowie der
gesamte Aktschluss nicht mehr als Traumerscheinung zu interpretieren sind (IV, 3. Szene, ab
T 1 nach Z 78).
Im Gegensatz zur Rahmenhandlung entbehrt der dazwischen dargebotene, latente
Traum jeglicher Anhaltspunkte für eine mögliche Einschätzung der Ereignisse, und dies um
so mehr, als sich nach dem Gebet Paskalinas in der ersten Szene die Musik analog zum
Libretto weitgehend vom Geschehen ablöst. Ihre Erlebnisse jenseits der Klostermauern – ob
‚real‘ oder nicht, bleibe dahingestellt – gliedern sich wiederum in zwei Teile, wovon der erste
mit der Verurteilung der vermeintlichen Mörderin zum Tode sein Ende findet, und der zweite,
beginnend mit einem weiteren Gebet Paskalinas (IV, 2. Szene, ab T 1 nach Z 50), durch die
ins Schicksal eingreifende Maria geprägt ist. Während das lasterhafte Leben Paskalinas – der
eigentliche Inhalt der Mezihra [Zwischenspiel] im ersten Teil der ‚Traumsequenz‘ – aufgrund
des Volksliedtextes Na mšu svatú zvonijú [Sie läuten zur Heiligen Messe] zumindest erahnt
148
werden kann, wird doch darin ausschliesslich eine Frau beschrieben, die die Messe verpasst,
steht der zweite Volksliedtext zu Beginn der zweiten Szene, A před rájem [Und vor dem
Paradies], in keinem inhaltlichen Zusammenhang, da Paskalina das Lied auf dem Weg nach
Hause vor sich hin trällert, wo sie ihren Mann vom Teufel ermordet vorfinden wird. Obwohl
das Lied in der Situation der für sich singenden Paskalina klar verankert ist, müssen sich die
Konturen des Volksliedtextes inmitten zweier anderer – Zabila panička pána [Es tötete die
Frau den Mann] wird unmittelbar folgen –, die zudem sämtliche in durchaus liedhafter Weise
vertont sind, unweigerlich verlieren, was in der Indifferenz bezüglich der jeweiligen Handlungsebene als Ausdruck davon zu sehen ist, in welchem Masse die Musik unabhängig von
der Fabel verläuft. Erinnert die Art und Weise der musikalischen Umsetzung dieser drei Chorund Sololieder an die Anlage des volkstümlichen szenischen Oratoriums im vorangegangenen
dritten Akt, so unterscheidet sich die zugrunde liegende Handlung insofern grundsätzlich von
Narození páně, als ihr in Sestra Paskalina eine vorwärtsstrebende Linearität, nicht aber ein
viermaliges Kreisen um dasselbe Ereignis anhaftet. Unterstützt vom einzigen Einsatz des
Sprechers, der am Ende der Mezihra das bereits Geschehene sowie die folgenden Ereignisse
in wenigen Sätzen zusammenfasst, ist die Fabel allein durch die szenische Darstellung wiederzugeben, verweigert doch die Musik gleichermassen wie das Libretto jegliche Konzessionen an das dramatische Geschehen. Spiegelt sich darin die theaterästhetische Prämisse, dass
jedes Bühnenmittel in weitgehend eigenständiger Weise zum ‚Theater‘ beizutragen hat, das
wiederum der Verknüpfung aller Elemente entspringt, so ist dennoch unverkennbar, dass es
Martinů weniger darum ging, die Musik vom Libretto, als vielmehr die Fabel von der
‚Hypertrophie des Textes‘ zu befreien. Da das Textbuch seine handlungsbestimmende Qualität eingebüsst hat, steht schliesslich einer engen Verbindung mit der Musik nichts mehr im
Wege, was sich in einer Polarität der auf der Bühne schauspielerisch dargebotenen Handlung
einerseits sowie der eng mit dem Libretto verbundenen Vertonung andererseits niederschlägt.
Dieses weitgehend unabhängige Verhältnis zwischen schauspielerischer Darstellung sowie
Wort und Ton bestimmt die gesamte ‚Traumsequenz‘ und lässt letztlich die Musik zur bestimmenden Instanz für die zeitliche Ausdehnung der Szene werden; nur in diesem Sinn, nicht
aber als Ausdruck einer marginalisierten Rolle der Inszenierung, ist Martinůs Aussage zur
zweiten Szene der Sestra Paskalina zu verstehen: Die Handlung [...] spielt sich auf der Bühne
als Ornament zur Musik ab, nicht wie in der romantischen Oper, wo die Musik das Ornament
zur Bühne war128.
128
Zitat ebd., S. 220.
149
Ist der erste Teil der ‚Traumsequenz‘, der mit dem Gebet Paskalinas in der ersten
Szene ansetzt und insgesamt drei Volksliedtexte umfasst, von einer durchweg liedhaften
Vertonung geprägt, so bildet das zweite Gebet Paskalinas unmittelbar vor deren Hinrichtung
den Auftakt zum zweiten Teil, der mit dem nun vorherrschenden kirchenmusikalischen Charakter wiederum in Einklang mit dem Libretto steht, findet in diesem doch ein vergleichbarer
Wechsel zu kirchenlateinischen Texten statt. Darin zeigt sich gleichsam eine gesteigerte Form
von Martinů Ablehnung, die Handlung ‚auszudrücken‘, denn während von den vorangegangenen Volksliedtexten hauptsächlich Zabila panička pána [Es tötete die Frau den Mann] in
einem zwar freien, jedoch inhaltlich deutlich erkennbaren Zusammenhang zum Geschehen
stand, verweigert sich der zweite Teil der ‚Traumsequenz‘ nun sogar einer epischen Erzählhaltung.
Die Hinrichtung selbst wird von lateinischen Texten begleitet, deren Poesie die für die Szene
notwendige Tragik beinhaltet. Dieses Eingreifen der Musik, das in keiner direkten Beziehung
zur Handlung steht, ermöglicht nicht nur eine absolute innere musikalische Logik, sondern
auch eine grössere dramatische Spannung, gesteigert durch die Ungleichheit von Element und
Situation129.
Diese Ungleichheit von Element und Situation gründet nicht auf einem zusammenhanglosen
Nebeneinander von Handlung und Musik, sondern ist dahingehend zu interpretieren, dass
keine direkte Beziehung im Sinn einer psychologischen Ausdeutung des Geschehens durch
die Vertonung angestrebt wird. Dass das Handlungsgerüst als solches selbst von der Musik
nicht aufgelöst wird, zeigen etwa die eindeutig dem musikalischen Verlauf zugeordneten szenischen Anweisungen, die durchaus in Einklang mit der musikalischen Entwicklung zu bringen sind, seien dies die drohenden Akkordrepetitionen, wenn der Henker die brennende
Fackel ergreift (IV, 2. Szene, T 13-17 nach Z 57), sei dies das aufflammende Feuer, das in
chromatisch erweiterten Sekund- und Terzgängen durchscheint (IV, 2. Szene, T 1 nach Z 58
bis T 16 nach Z 59). Spiegelt sich die Dramatik der beginnenden Hinrichtung in einem
Crescendo von Chor und Orchester, das im Fortissimo auf einem wortlosen Oh! des Chors
über einem, durch ein Sforzato zusätzlich hervorgehobenen, Ces-Dur-Akkord des ganzen
Orchesters kulminiert (IV, 2. Szene, T 25-28 nach Z 64), so mutet der kurz darauf erklingende, unerbittliche Choral geradezu als Sinnbild für das unausweichliche Ende Paskalinas an
(IV, 2. Szene, T 15-25 nach Z 66). Während der tradierte Wortlaut des Requiems jegliche
129
Ebd., S. 211.
150
Eingeständnisse im Sinn eines Kommentars zur Handlung ausschliesst, nähert sich der Totengesang insofern den Ereignissen an, als sich die Vertonung zur getanzten Hinrichtung nicht
indifferent zum Geschehen verhält, sondern – sozusagen als Ballettmusik – wiederholt an
dramatischen Wende- und Höhepunkten partizipiert. Diese weitgehende Analogie der szenischen und musikalischen Dramaturgie, die durchaus mit dem statischen Moment eines
Requiems vereinbar ist, findet mit dem Auftritt Marias zu einem rein instrumentalen
Abschluss, der zwar aufgrund der stumm agierenden Matka Boží [Mutter Gottes] keine
sprachliche, jedoch bedingt durch die Motivik des Instrumentalsatzes eine musikalische
Semantik erkennen lässt. Schliesslich greift das Orchester auf das Motiv von Paskalinas
Gebet zurück, in das die zum Tode Verurteilte – zu Beginn des zweiten Teils der
‚Traumsequenz‘ – ihr Flehen gefasst hat (Notenbeispiel 48).
Notenbeispiel 48: Hry o Marii, IV. Akt, 2. Szene, T 1-4 nach Z 50
Maria errettet Paskalina vor den Flammen des Scheiterhaufens und reagiert damit auf den
längst verklungenen Hilferuf, der vom Orchester erneut ins Gedächtnis gerufen wird und
insofern der Situation angepasst wirkt, als die Solotrompete den Part der Betenden
übernimmt, die Streicher ihre fortschreitenden Akkorde nun mit Tremoli spielen – in der Oper
längst als unbestimmtes Symbol für eine göttliche Erscheinung etabliert – und die Erlösung
sich in einem hellen D-Dur anstelle des früheren Des-Dur niederschlägt (IV, 2. Szene, T 1-18
nach Z 68). Mit diesem sprechenden Gebetsmotiv, das zunehmende Variationen erfährt, endet
kurz darauf die ‚Traumsequenz‘ und damit die zweite Szene, ohne dass irgendeine der
beteiligten Personen ein einziges Wort über das vollbrachte Wunder verloren hätte (IV, 2.
Szene, T 1 nach Z 71 bis T 13 nach Z 72).
Dass das Gebetsmotiv nicht auf den ‚Traum‘ beschränkt bleibt, sondern auch auf die
dritte Szene und damit auf die ‚Wirklichkeit‘ übergreift, konterkariert die – durch die
Anlehnung an die erste Szene bei der Ankunft Paskalinas im Kloster – angebotene Möglichkeit, das Geschehene als Traum zu interpretieren. Demzufolge findet die Frage, ob es sich
beim Dargebotenen um reale oder bloss imaginierte Ereignissen handelt, weder auf der Ebene
des Librettos noch auch auf derjenigen der Musik eine eindeutige Antwort. Schliesslich
erklingen nach der kurzen Reminiszenz an den Aktbeginn mit der mutmasslich Erwachenden
und dem darauf folgenden Ave Maria der Nonnen (IV, 3. Szene, T 1 nach Z 73 bis T 8 nach Z
78), nicht nur Teile aus dem Ordinarium Missae, die in vergleichbarer Weise wie das
151
Requiem der zweiten Szene der Handlung entgegengestellt werden, auch entwickelt sich
darüber hinaus das Gebetsmotiv im Lauf der Messgesänge zum eigentlichen Fundament des
Satzes. Obwohl bereits im Orchestervorspiel zum Kyrie mehrere freie Varianten an das Motiv
anzuklingen scheinen, nimmt der Kopf des Gebetsmotivs bezeichnenderweise erst im Augenblick von Paskalinas Tod seine ursprüngliche Gestalt an – nun in G-Dur (T 1-3 nach Z 87) –,
zunächst in den antiphonal gesetzten Orchesterteilen als Gegenstück zum Dona nobis pacem
des Chores und zuletzt als dessen gleichzeitig erklingende, instrumentale Bekräftigung (T 121 nach Z 90). In Anbetracht dessen, dass das Gebetsmotiv in seiner mehr oder weniger wörtlichen Form geradezu ausschliesslich mit dem Eingreifen Marias in Paskalinas Schicksal verbunden ist, und die übrigen Varianten nicht genügend distinkt erscheinen, um sie dem Motiv
eindeutig zuordnen zu können, ist Martinůs folgende Aussage zu relativieren: Das Motiv des
letzten Gebets Paskalinas auf dem Scheiterhaufen wird bis zum Ende des Spiels ausgebreitet
und kümmert sich um keine Komplikationen der Handlung130. Gerade in der Verwendung des
Gebetsmotivs spiegelt sich das für die Hry o Marii bestimmende Verhältnis zwischen Musik
und Bühne, nämlich darin, dass einerseits das Handlungsschema als Bestandteil des musikalischen Plans gleichsam als Gerüst der Vertonung fungiert, andererseits jedoch die musikalischen Zusammenhänge weitgehend unabhängig von denjenigen des szenischen Geschehens
verlaufen. Können beispielsweise die einzelnen Stationen von Paskalinas wundersamer Rettung in einen direkten Zusammenhang mit der Motivik gebracht werden, so verläuft die Form
der motivisch determinierten Abschnitte dagegen weitgehend unabhängig von den Ereignissen, wodurch das dynamische Moment des Handlungsgerüsts eine gleichsam statische musikalische Füllung erhält. Dass die ausschliesslich punktuell durch die Handlung beeinflusste
Musik die Inkohärenz des Librettos – auch bedingt durch die marginale Rolle des Sprechers –
insbesondere bei Sestra Paskalina nicht zu kompensieren vermag, ist als Ausdruck von Martinůs Maxime zu verstehen: Kurz gesagt, es geht mir um die Poesie des ganzen Werkes, und
nicht um irgendwelche dramatischen Details [...]131. In der stark beschnittenen Logik
unterscheidet sich der letzte Akt nicht grundsätzlich von den vorangegangenen, denn obwohl
die traumartige Atmosphäre Sestra Paskalinas eine verstärkten Inkohärenz begünstigt,
ermöglicht in den übrigen Akten die Anlage als wirklichkeitsfernes Spiel, als ‚Oratorium‘
oder ‚volkstümliche Szenen‘ einen weitgehenden Verzicht auf den üblichen „logischen“
Fortgang.
130
131
Zitat ebd., S. 211.
Zitat ebd., S. 210.
152
Da es sich nicht um Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit handelt, verfolge ich nicht den üblichen „logischen“ Fortgang und erreiche dadurch die Freiheit, mit den Elementen gemäss meiner eigenen musikalischen und szenischen Auffassung zu verfahren132.
Indem Martinů den Anspruch auf eine logische Entwicklung sowohl im Libretto als auch in
der Musik preisgab, bezweckte er, mehrere zentrale Momente der romantischen Oper –
gleichbedeutend mit dem Musiktheater nach Wagner –, zu überwinden, die er als längst
überlebt erachtete, nämlich das musikalische „Durchleben“ [„prožití“] psychologischer Gegebenheiten mithilfe einer ‚leeren‘ Leitmotivik, vorgegeben durch ein ‚romanhaftes‘
Libretto133. Da der Komponist aus diesem Grund die handlungstragende Rolle des Wortes
stark beschnitt, bereitete er zugleich den Boden dafür, mit dem Rezitativ auf das vierte überlebte Moment der nachwagnerschen Oper – sprich: ‚Literaturoper‘ – verzichten zu können,
erachtete er doch deren überwiegend rezitativischen Gesangspartien als negative Folge der
unumgänglichen Verständlichkeit134.
Martinů verwarf das in den vielgeschmähten Literaturopern seiner Zeit vorherrschende
Rezitativ aus demselben Grund wie jeglichen psychologisierenden Anspruch an die Vertonung, und zwar um zu vermeiden, dass die Lyrik der Musik dem dramatischen und dynamischen Element zum Opfer falle, eine um so grössere Gefahr für den Gesang, als dieser
schneller als das Orchester an die Grenzen dramatischer Steigerung stosse135. Mit Blick auf
die sängerischen Partien galt es, die moderne Mache, die im Rezitativ ertrinkt, gemäss
Martinů einerseits wegen den physiologischen Gegebenheiten der menschlichen Stimme zu
umgehen, andererseits aufgrund der Unvereinbarkeit des Klanges gesprochener mit demjenigen gesungener Sprache136.
Die gesprochene Sprache hat im Grunde bereits eine eigene Musikalität und eine Vielfalt
rhythmischer und farblicher Nuancen, deren die Musik in dieser Art nicht fähig ist. Die musikalische Phrase ist bereits stilisiert, auf anderen Grundlagen gebaut, beinhaltet aber noch etwas
anderes als die gesprochene Sprache. Zum Bau des Satzes kommt derjenige der Musik
hinzu 137.
132
Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 195.
133
Zitat Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 224-230.
134
Vgl. ebd., S. 226.
135
Vgl. ebd., S. 227..
136
Zitat Brod, Leoš Janáček (1925), S. 38.
137
Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
226.
153
Obwohl sich Martinů insofern deutlich von der rezitativischen Deklamation distanzierte, als
er der Auffassung war, dass sich die gesungene Phrase zwar durch ein gewisses Defizit hinsichtlich farblicher Schattierungen von der gesprochenen unterscheide, jedoch zusätzlich
durch eine rein musikalische Komponente bereichert werde, strebte er dennoch in hohem
Masse die Verständlichkeit des gesungenen Wortes an, was zwingend mit Konzessionen an
die Sprachstruktur verbunden war. Während er von den Sängern erwartete, dass diese sich
selbst um Stimmschönheit bemühten und die Grenze zum Geschrei nicht überschritten, bereitete er den Weg für eine verständliche Deklamation, indem er sich bei der Vertonung der
Gesangspartien an der Prosodie der tschechischen Sprache orientierte138.
Das Tschechische stellt aufgrund seines Systems zweier unterschiedlicher Akzente
eine besondere Herausforderung an eine prosodisch getreue Vertonung dar, da es gilt, nicht
nur dem qualitativen Erstsilbenakzent, sondern zugleich dem unregelmässig auftretenden, rein
quantitativen Längenakzenten gerecht zu werden. Welche Schwierigkeiten mit einer adäquaten musikalischen Umsetzung tschechischer Texte verbunden sind, zeigt die Entwicklung der
tschechischen Oper im 19. Jahrhundert: Nicht nur wurde in der ersten Jahrhunderthälfte wiederholt der Längen- zugunsten des Erstsilbenakzentes preis gegeben – oder umgekehrt –, da
es an einer verbindlichen Verslehre mangelte. Auch das Problem, wegen des Erstsilbenakzentes letztlich nur in trochäischen und daktylischen Versfüssen schreiben zu können, und
somit auf Auftakte verzichten oder diese künstlich erzeugen zu müssen, führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit deklamatorischen Fragen139. Bedřich Smetana läutete spätestens mit seinen Opern über Libretti von Eliška Krásnohorská insofern eine neue Ära ein, als er
einerseits dem Erstsilbenakzent Tribut zollte, ihn jedoch durch die Art der Rhythmisierung
sowie der Stimmführung zu bändigen wusste, und andererseits dem polternden Charakter von
bloss trochäischen und anapästischen Versfüssen mit metrischer Vielfalt entgegenwirkte.
Obwohl Janáček mit Jenůfa bereits kurz nach der Jahrhundertwende den Schritt zum Prosalibretto wagte, wodurch das Problem der kaum zu leistenden Vereinbarkeit der tschechischen
mit der klassischen Verslehre obsolet wurde, blieb der Vorstoss des Mähren für die tschechische Oper zunächst ohne grössere Auswirkungen. Schliesslich war die Prager Musikwelt des
frühen 20. Jahrhunderts fest in der Hand von Zdeněk Nejedlý – dem geistigen Nachfolger
Otakar Hostinskýs –, in dessen Augen die einzig richtige Opernform nur eine logische Fort138
Martinů, Poznámky k opeře mirakl panny Marie [Anmerkungen zur Oper Mirakel der Jungfrau Maria]
(1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 194; Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner
Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 222.
139
Zu metrischen Fragen in der tschechischen Oper des 19. Jahrhunderts siehe u.a. Tyrrell, Czech Opera, S. 253298 sowie Vyslouzil, Zum Wort-Ton-Verhältnis bei Dvořák und Janáček (1981), S. 81-100.
154
setzung von Smetanas Werk sein konnte, was er im Schaffen Zdeněk Fibichs, nicht aber in
demjenigen Janáčeks verwirklicht sah140. Auf diese, durch die Ästhetik Nejedlýs bestimmte
Situation der tschechischen Oper spielte Martinů an, wenn er seiner Aussage, das Libretto mit
natürlicher Aussprache deklamieren zu wollen, als Klammerbemerkung anfügte: (also nicht
nach dem bei uns beliebten System der „richtigen“ Deklamation) 141.
Entgegen der in Prag vorherrschenden Auffassung – dafür in weitgehendem Einklang
mit Janáček – sah Martinů die natürliche Aussprache in der volkstümlichen Sprache verwirklicht, was ihn als quasi logische Folge dazu führte, mit den Volksliedtexten im dritten und
vierten Akt der Hry o Marii auf Verse zurückzugreifen, die „von selbst klingen“ würden142.
Jedoch berief sich der Komponist nicht allein bei seinem Umgang mit der tschechischen
Sprache, sondern sogar bei seiner Polemik gegen das Rezitativ zugunsten einer gesungenen
Phrase auf das Volkslied, weshalb dieses nicht mehr nur die angestrebte Verständlichkeit des
Librettos gewährleisten sollte, sondern darüber hinaus zum Ideal des musikalischen Baus stilisiert wurde.
Bemerkenswerterweise befriedigt uns die gesungene Phrase völlig (Volkslied). Hier überhöht
der musikalische Bau das Wort und füllt es mit eigenen [musikalischen] Mitteln aus, während
das Rezitativ stets nur eine Imitation des Wortes bleibt143.
Indem sich Martinů sowohl in sprachlicher als auch in musikalischer Hinsicht auf das Volkslied bezog, umging er das am Rezitativ diagnostizierte Problem einer ausschliesslich der Prosodie der Rede entsprungenen Gesangslinie, erfuhr doch die von ihm gewählte textliche Vorlage nun zugleich eine musikalische Rechtfertigung. Welcher Art der Einfluss der Volksmusik auf die Hry o Marii über den blossen Wortlaut der Libretti der letzten beiden Akte hinaus
ist, soll sich im Folgenden weisen, wobei die bestimmenden Charakteristiken weniger im –
dem westlichen verwandten – böhmischen Volkslied Erbens, als vielmehr im stark slowakisch
und polnisch beeinflussten, mährischen Volkslied der Sammlungen Sušils sowie Bartoš’ und
Janáčeks zu suchen sind. Dass Martinů jedoch die tradierten Melodien nicht wörtlich in die
Oper übernommen hat, und folglich die Analogien zwischen den Volksliedern und deren Pen-
140
Vgl. Karbusický, Die missverstandene Eigenart der Operndramatik Janáčeks (1997), S. 24-30; Tyrrell,
Czech Opera (1988), S. 11.
141
Zitat Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung] (1934-35), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 222.
142
Zitat ebd., S. 222.
143
Martinů, Přežila se opera? [Hat sich die Oper überlebt?] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
226.
155
dant in den Hry o Marii auf einer allgemeineren Ebene zu suchen sind, zeigt etwa ein Vergleich von Zvěstování panně Marie, das vermutlich in der Überlieferung Sušils als Vorlage
für das zweite Lied des dritten Aktes gedient hat; das aus sechs Strophen bestehende Volkslied erzählt von der Verkündigung Mariae bis zur Niederkunft, und dies bekanntlich, nachdem
bereits im unmittelbar vorangegangenen Volkslied Porod panny Marie von der Geburt Jesu
berichtet wurde.
Notenbeispiel 49a: Sušil Nr. 31, Zvěstování panně Marie [Mariae Verkündigung]
Notenbeispiel 49b: Hry o Marii, III. Akt, T 1 nach Z 21 bis T 23 nach Z 23
Obwohl keineswegs von einer direkten Übernahme des Volksliedes aus Sušils Sammlung in
die Oper gesprochen werden kann, ist dennoch in vielerlei Hinsicht eine intensive Auseinandersetzung Martinůs mit der Volksmusik erkennbar. So findet sich beispielsweise in der
Adaption die strophische Gliederung der Vorlage in einer freieren Form wieder: Die zweiteilig gebauten Strophen sind durch kurze instrumentale Nachspiele, die jeweils zur ersten Stufe
führen, deutlich voneinander unterteilt und greifen gar in der dritten und vierten Strophe die –
allein durch sprachbedingte Taktänderungen verschleierte – wörtliche Wiederholung eines
Strophenliedes auf. Darüber hinaus stellen – wie bei den Hry o Marii überhaupt – auch bei
diesem Beispiel die rhythmisch-metrisch konsequent berücksichtigten Sprachakzente des
Tschechischen ein augenfälliges Charakteristikum von Martinůs Vertonung dar, wird doch
das Vorgehen bereits in der ersten Strophe exemplarisch festgelegt. Während die qualitativen
Erstsilbenakzente auf die erste Zählzeit eines Taktes fallen, was bedingt, dass ein Wort einem
Takt entspricht, unterscheiden sich die mit einem Längenzeichen versehenen quantitativen
Akzente durch einen doppelt so langen Notenwert von den ansonsten in Vierteln voranschreitenden Silben. Wie unmittelbar sich die Rücksicht auf die tschechische Prosodie –
motiviert durch den Willen zur Verständlichkeit – letztlich in einem taktweise begründeten
Wort-Ton-Verhältnis niederschlägt, spiegelt sich in den dicht aufeinander folgenden Taktwechseln der tschechischsprachigen Teile um so deutlicher, als sich das Metrum etwa im
lateinischen Requiem des vierten Aktes ungleich weniger kleingliedrig erweist. Mit der auffallend flexiblen Metrik verfuhr Martinů in seiner Vertonung der tschechischen Texte zwar
ungleich sprachorientierter, als es die Volkslieder der Sammlung Sušils vorgaben, wo keiner156
lei Rücksichtnahme auf die prosodische Struktur der tschechischen Sprache ersichtlich ist,
näherte sich jedoch in auffallender Weise der Notationsweise Janáčeks an, der dem freien
Sprachfluss des mährischen Liedes mithilfe von situationsbedingten Taktwechseln zu entsprechen suchte. Indem Martinů das Metrum gleichsam aus dem Wort gewann, wurde er einem
bereits von Janáček diagnostizierten Charakteristikum gerecht: Die Rhythmisierung des mährischen Volksliedes ist insofern einzigartig, als sich die Rhythmen frei in der Zeit ausbreiten
und allein durch das Wort, nämlich durch die silbentragenden Töne, an die Zeit gebunden
sind144.
Obwohl Martinů niemals selbst mit wissenschaftlichen Ansprüchen Feldstudien zur
Erforschung der im Verschwinden begriffenen Volksmusik anstellte, zeigte er dennoch zeitlebens ein reges Interesse am Wesen des tschechischen und hauptsächlich des mährischen
Volksliedes. Der freie Umgang mit den von Sušil und Erben überlieferten Melodien in Martinůs Hry o Marii könnte daher insofern erstaunen, als der Komponist schliesslich die Texte der
Volkslieder weitgehend wortgetreu in das Libretto übernommen hatte. Auch wenn eine Aneinanderreihung harmonisch gesetzter, volksmusikalischer Zitate keinesfalls mit Martinůs
Musikauffassung vereinbar gewesen wäre, so spiegelt sich in diesem Missverhältnis von
Texttreue in sprachlicher und äusserst freier Handhabung in musikalischer Hinsicht dennoch
ein Funken seiner Skepsis gegenüber der Authentizität der Überlieferung. Noch zehn Jahre
nach der Komposition der Hry o Marii konstatierte er, dass das Interesse an den Volksliedern
zu jung sei, um bereits Grundlegendes hervorgebracht zu haben, was ihm in bezug auf die
Musik um so gravierender erschien, als sich das Interesse der Sammler in erster Linie auf die
literarische und nicht auf die musikalische Seite richtete145. Martinů beklagte nicht nur zeitlebens, dass ein geeignetes Notensystem fehle, das es ermöglichen würde, die rhythmischen
und melodischen Eigenheiten festzuhalten, sondern auch das mangelnde Interesse an der
eigenartigen Harmonisierungspraxis, die – längst verdrängt von der gängigen Harmonielehre
– einen wesentlichen Teil zum Charakter der mährischen Volksmusik beigetragen habe146.
Dieses in musikalischer Hinsicht vernichtende Urteil traf mit einer einzigen Ausnahme
sämtliche bis in die 1950er Jahre unternommenen musikethnologischen Anstrengungen, pries
Martinů doch allein Janáčeks umfangreiche Einleitung zur Sammlung Bartoš’, deren
musikalische Teile allesamt von Janáček stammen, als einzigartige Analyse des mährischen
144
Zitat Janáček, O hudební stránce národních písní moravských [Über die musikalische Seite der mährischen
Volkslieder] (1901) in: Bartoš/Janáček, Národní písne moravské, S. XXIX.
145
Vgl. Martinů, Ridgefieldský deník [Tagebuch aus Ridgefield] (1944), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S.
171.
146
Martinů, O Janáčkovi [Über Janáček] (1954-55), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 354 f.
157
Volksliedes147. Janáčeks Vorrede stellt einen bemerkenswerten Versuch dar, die
charakteristischen Merkmale der rund zweitausend gesammelten Lieder nicht nur
festzuhalten, sondern mithilfe einer statistischen Auswertung zugleich zu gewichten. Trotz
des empirischen Vorgehens schimmert in diesem Kommentar Janáčeks Motivation durch, die
Volksmusik – und letztlich die Musik schlechthin – von der immanenten Musikalität der
Sprache abzuleiten, indem er ausgehend von der in ländlichen Gebieten gesprochenen
Sprache den mutmasslichen Weg zum instrumental begleiteten Tanzlied nachzeichnete, um
Schlüsse betreffend der Wahrheit im Volkslied ziehen zu können148. Da Janáčeks Auffassung,
wonach sich psychologische sowie physiologische Gegebenheiten unweigerlich in einer
‚wahren‘ musikalischen Struktur niederschlagen müssen, Martinůs Bestreben nach einer von
psychologischem Durchleben befreiten Musik geradezu diametral entgegenläuft, kann zwar
nicht von einer grundsätzlichen Beeinflussung in musikästhetischer Hinsicht, jedoch
zumindest von Spuren der angeführten Merkmale ausgegangen werden.
Während sich in der überwiegend vom Wort abgeleiteten Metrik der Hry o Marii eine
Parallele zu Janáčeks praktischer Auseinandersetzung mit dem Volkslied findet, treten wiederum mehrere harmonische Charakteristiken auf, die in Zusammenhang mit den theoretischen Erläuterungen des Älteren gebracht werden können. So erklingt bei Stála panenka
Maria (Notenbeispiel 49 b) über dem Orchester eine Gesangsstimme, die sich durch die vollständige Vermeidung von Leittönen an die überwiegend diatonische Anlage mährischer
Volkslieder anzulehnen scheint – Die Melodien unserer Lieder sind geschmeidig, fliessend,
und ihre Bestandteile sind nicht nur irgendwelche „harmonischen Töne“ 149. Das Orchester
dagegen bestärkt den diatonischen Klang durch einen einfach gehaltenen Satz, der neben den
Hauptstufen insbesondere der zweiten Stufe einen wichtigen Stellenwert einräumt. Bereits im
Vordersatz der Orchestereinleitung, der aus einem blossen Wechsel von Tonika und zweiter
Stufe im Sekundakkord besteht, wird die hier charakteristische II-I-Verbindung etabliert. In
besonders typischer Ausformung tritt die Wendung in Takt 16 nach Ziffer 21 auf, indem die
zweite Stufe als Nonakkord durch eine vierte Stufe eingeleitet wird und ebenso mit einem
absteigenden grossen Sekundschritt in der Singstimme verbunden ist wie in Takt 23 nach Ziffer 21, wo die II6-I-Verbindung (in G-Dur) zur Hervorhebung des zentralen Wortes Anděl
[Engel] dient. Meist in direkter Nachbarschaft zur Tonika, erinnert diese Verwendung der
147
Zitat ebd., S. 354; Janáček, O hudební stránce národních písní moravských [Über die musikalische Seite der
mährischen Volkslieder] (1901) in: Bartoš/Janáček, Národní písne moravské, S. I-CXXXVI.
148
Zitat ebd., S. CV-CXXVII.
149
Zitat ebd., S. XXXIII.
158
zweiten Stufe an die plagalen Wendungen der mährischen Volksmusik im allgemeinen und an
die ‚Mährische Kadenz‘ im besonderen, die von Janáček am Ende seiner symphonischen
Dichtung Taras Bulba aus dem Jahr 1918 erstmals in die Kunstmusik eingeführt wurde und
nicht zuletzt in Martinůs Oper Juliette eine wichtige Rolle spielen sollte150.
Obwohl aufgrund ihrer diatonischen Gestalt den mährischen Liedern allerlei „alte“
Tonarten zugeschrieben werden, als besonderes Zeichen ihres Alters, verurteilte Janáček
vehement jegliche modale Deutung der von den Volksliedsammlern ausschliesslich einstimmig niedergeschriebenen Melodien und verwies stattdessen auf die Praxis der Volksmusiker,
den Gesängen ein grundsätzlich funktionalharmonisches, instrumentales Fundament zu
unterlegen151. Da mit den Geigen, dem Kontrabass und dem Cymbal die wichtigsten Instrumente der mährischen Volksmusik in Quinten gestimmt werden, habe dies zur Folge, dass im
Akkordaufbau der Volksmusik keine Eigenarten zu finden sind, was jedoch der laut Janáček
wichtigsten harmonischen Besonderheit keinen Abbruch tut, nämlich der unvermittelten Verbindung der Toniken, die ihre Wurzeln im improvisierten Zusammenspiel habe152. Während
die in diesem Zusammenhang von Janáček nachdrücklich hervorgehobene „mährische
Modulation“ – eine Ausweichung zur Tonart der VII. Stufe – in Martinůs Hry o Marii keine
herausragende Rolle spielt, kann der Orchesterpart der Oper dennoch in einen Zusammenhang
mit den Beschreibungen Janáčeks gebracht werden, erhält doch der funktionalharmonische
Satz durch die dicht aufeinanderfolgenden Modulationen und Rückungen sein charakteristisches Gepräge. Vor diesem Hintergrund – und in Analogie zur intendierten Rückkehr zum
wirklichen Theater – liesse sich die musikalische Umsetzung der Hry o Marii durchaus als
Annäherung an die mährische Volksmusikpraxis im Geiste Janáčeks deuten, und dies um so
mehr, als Martinů selbst in seinem späten Artikel Über Janáček die (mährische) Volksmusik
als Ursprung der tschechischen Kunstmusik bezeichnet hat; eine Aussage, die jedoch wegen
des als Huldigung angelegten Charakters des Textes zu relativieren ist und geradezu als Paraphrase der These wirkt, die Janáčeks in der Einleitung formuliert hatte: Kunstmusik sei der
Tanzmusik, letztere wiederum dem Volkslied entsprungen153. Nicht nur, weil diese späte Einschätzung Martinůs durch die Sehnsucht nach der unerreichbaren Heimat gefärbt scheint,
sondern auch in Umkehrung von Janáčeks Argument, dass die Rückungen im mährischen
Volkslied gerade deshalb von besonderem Interesse seien, weil sie eine moderne Kompo150
Janáček, Taras Bulba (1918), T 228-230. Vgl. auch Kapitel IV, S. 254 f.
Zitat Janáček, O hudební stránce národních písní moravských [Über die musikalische Seite der mährischen
Volkslieder] (1901) in: Bartoš/Janáček, Národní písne moravské, S. LXXX.
152
Zitat ebd., S. CXXX.
153
Martinů, O Janáčkovi [Über Janáček] (1954-55), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 354.
151
159
sitionsform darstellen würden154, kann von einer tatsächlichen Rückkehr zur Folklore in den
Hry o Marii keine Rede sein. Martinů näherte sich zwar insofern der praktischen mährischen
Volksmusik an, als er sich zum einen mit der konsequenten Berücksichtigung der prosodischen Eigenheiten der tschechischen Sprache über die musikalisch metrische Einengung in
der Überlieferung Sušils und sich zum anderen mit einem – hinsichtlich der zahlreichen
Rückungen und Modulationen – der volkstümlichen Praxis nahestehenden Orchestersatz über
die beklagte schulharmonische Behandlung von Volksliedern hinwegsetzte, verzichtete
jedoch auf jegliche explizite Bezugnahme. Schliesslich lässt sich die Sprachbehandlung gleichermassen mit dem Ruf nach Verständlichkeit deuten, wie die freie harmonische Fortschreitung nicht nur mit der volkstümlichen Praxis in Verbindung zu bringen ist, sondern
auch mit seinen Erfahrungen der 1920er Jahre.
MARIKEN
Z
NIMÈGUE – VOM
FRANZÖSISCHEN
EINAKTER
ZUM TSCHECHISCHEN
OPERNAKT
Dass Martinů die Hry o Marii auf ein tschechischsprachiges Libretto verfasste, kann wohl
kaum erstaunen, hatte er die Oper doch von Beginn an für ein tschechoslowakisches Theater
konzipiert. Scheint die Sprachwahl vor dem Hintergrund der in Brünn geplanten Uraufführung naheliegend gewesen zu sein, mutet es dagegen ungleich überraschender an, dass der
Komponist ein halbes Jahr vor der Fertigstellung der Hry o Marii allein deren zweiten Akt,
Mariken z Nimègue, zunächst in französischer Sprache vertonte. Weder wurde dieser Einakter
jemals aufgeführt noch publiziert – die Fassung ist allein in einer Reinschrift Martinůs erhalten155. Über die Gründe, die zur Komposition der französischen Erstfassung geführt hatten,
kann nur spekuliert werden, nicht nur weil das Werk vollkommen in Vergessenheit geraten
ist, sondern da auch die Quellenlage kaum Hinweise zu geben vermag. Selbst Martinů waren
die Umstände der Entstehung längst entfallen, als ihm der Einakter kurz vor seinem Tod in
die Hände geriet, so dass sogar der Komponist diesbezüglich nur noch Mutmassungen anstel-
154
155
Zitat Janáček, O hudební stránce národních písní moravských [Über die musikalische Seite der mährischen
Volkslieder] (1901) in: Bartoš/Janáček, Národní písne moravské, S. LXXXII.
Martinů begann die Vertonung der französischen Mariken de Nimègue im Mai 1933 und beendete sie im
darauffolgenden Juli, ein Jahr vor der Fertigstellung der tschechischen Hry o Marii. Die von ihm selbst mit
schwarzer Tinte angefertigte Reinschrift unterschrieb und datierte er am Ende der Partitur mit Paris
28/Juillet, B. Martinů. Das 174 Seiten umfassende Manuskript liegt in der Paul Sacher-Stiftung in Basel.
160
len konnte. Seine Vermutung zielte dahin, dass die französische Fassung als provisorische
Version zu verstehen sei, deren französischer Text nachträglich durch einen tschechischen
hätte ersetzt werden sollen156.
Vermutlich war die Oper beendet, bevor ich die Adaption von Závada bekommen habe. [...]
Der Text ist eine freie Adaption Ghéons, und offensichtlich hat sich alles verändert, als ich den
Text unter die Noten schreiben wollte. [...] So hat dies wahrscheinlich alles Závada mit seinem
wunderschönen tschechischen Text verschuldet157.
Diese rein kompositionspraktische Erklärung ist nicht zuletzt wegen Martinůs prekärer finanzieller Situation, die seine gesamte Pariser Zeit prägte, in Zweifel zu ziehen, infolgedessen ihn
nur die Aussicht auf eine Aufführung in Frankreich dazu veranlasst haben konnte, die französische Version in einer endgültigen Form zu verfassen158. Ansonsten hätte er sich wohl kaum
die Zeit genommen, nicht nur den Akt über ein bloss vorläufiges Libretto vollständig durchzuarbeiten, sondern darüber hinaus sogar eine Reinschrift anzufertigen. Auch wäre Martinů
fraglos im Stand gewesen, selbst eine vorläufige Übersetzung ins Tschechische vorzunehmen,
zumal dies mit dem nicht zu unterschätzenden Vorteil verbundenen gewesen wäre, dass der
Text bereits den tschechischen Sprachrhythmus aufgewiesen hätte, der sich grundlegend vom
französischen unterscheidet159. Dass er mit Henri Ghéon bloss für die Mariken z Nimègue und
nicht für alle Teile der Hry o Marii einen erfolgreichen französischen Theaterautoren als
Librettisten herangezogen hatte, kann als weiterer Hinweis auf eine intendierte Inszenierung
des Einakters in Frankreich verstanden werden. Daneben sprechen schliesslich auch diejenigen Bleistiftnotizen im Autograph, die nicht von Martinů stammen, insofern für eine geplante
Aufführung, als sämtliche fremden Einträge choreographische Fragen zu den Tanzszenen
betreffen, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass sich neben Martinů bereits Tänzer, Regisseure oder Dirigenten mit aufführungspraktischen Fragen auseinandergesetzt haben.
156
Die in der Sekundärliteratur nur spärlich enthaltenen Anmerkungen zur französischen Fassung gehen
stillschweigend ebenfalls von dieser Hypothese aus. Siehe Šafránek, Bohuslav Martinů (1964), S. 176;
Halbreich, Bohuslav Martinů (1968), S. 290 sowie Erismann, Martinů (1990), S. 127.
157
Brief Martinů an Miloš Šafránek vom 22. März 1959, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 62
158
In welchem Masse Martinů auf Aufführungen seiner Werke angewiesen war, zeigt sich etwa auch darin, dass
bereits die Verschiebung der Uraufführung der Hry o Marii um wenige Monate finanzielle Schwierigkeiten
mit sich brachte. Siehe Brief von Martinů an František Muzika, vom 17. November 1934 aus Paris, in:
Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 191.
159
Wie wenig praktikabel der Austausch des französischen durch das tschechische Libretto schliesslich war,
zeigt etwa folgende Aussage: Ich habe von Závada den Text der Mariken erhalten, er ist sehr schön, jedoch
muss ich die Sache für den tschechischen Text ziemlich stark ändern. Brief von Martinů an Jindřich Honzl,
vom 5. März 1934 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 60.
161
Geht man nun davon aus, dass Martinů die französische Version der Mariken de
Nimègue als Einakter für eine französische Bühne geschrieben hatte und erst nach dessen
Fertigstellung die tschechische Fassung als Opernakt in die Hry o Marii integrierte, können
die Unterschiede zwischen den beiden Akten vermutlich nicht allein auf die sprachliche
Ebene zurückgeführt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass neben der unterschiedlichen Funktion als Einakter beziehungsweise als Opernakt, auch die voneinander abweichenden Traditionen und Aufführungsbedingungen in Frankreich und der damaligen Tschechoslowakei für die jeweilige Gestalt der beiden Werke von Bedeutung gewesen waren. Anhand
von Änderungen, die Martinů an der französischen Fassung vornahm, um sie in die tschechischen nationalen Spiele eingliedern zu können, soll denjenigen Aspekten nachgespürt werden,
die eine verstärkte Hinwendung zu einem wie auch immer gearteten ‚tschechischen‘ Moment
zeigen, beginnend mit einem Vergleich der beiden Libretti und einer anschliessenden Gegenüberstellung der jeweiligen musikalischen Umsetzung160.
Das in fünf Szenen untergliederte Libretto der Mariken de Nimègue – bekanntlich eine freie
Adaption des gleichnamigen flämischen Mirakelspiels durch den französischen Schriftsteller
Henri Ghéon – erzählt die Geschichte der Mariken, die sich nach einer Fahrt in die nahe gelegene Stadt im Wald verirrt und in ihrer Verzweiflung Gott und den Teufel anruft, worauf
letzterer in Erscheinung tritt. Nach den mahnenden Worten des Sprechers setzt die zweite
Szene in Form eines wortlosen Tanzes der beiden (nun als getanzte Rollen) ein, der die
zunehmende Hinwendung Marikens zum Teufel offenkundig macht. Während der Sprecher
darauf hinweist, dass mittlerweile sieben Jahre verstrichen seien, wechseln die Sänger nun
wiederum die Tänzer aus. Nachdem Mariken in der dritten Szene mit ihrem lasziven Auftritt
zur Freude des Teufels einen Mord provoziert und ihrerseits den Mörder erstochen hat, wendet sich in der nächsten Szene das Blatt. Das Mariken längst bekannte Spiel von Maškaron,
dargeboten von einer fahrenden Schauspieltruppe, erinnert sie unvermittelt an ihr vergessenes
früheres Leben und führt sogleich zum Bruch mit dem Teufel. Tobend vor Wut ergreift dieser
Mariken, um sie vom Himmel auf die Erde herunterzuwerfen, worauf sie (in der nahtlos
anschliessenden fünften Szene) stirbt und erlöst zu Gott findet, symbolisiert durch einen hellen Lichtstrahl161.
160
Zitat Martinů, Divadlo za bránou [Das Vorstadttheater] (1936), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
242.
161
Gott nicht selbst auf der Bühne auftreten zu lassen, könnte eine Vorsichtsmassnahme Martinůs aus Gründen
der Zensur gewesen sein. Schliesslich zeugt seine Nachfrage beim Regisseur Jindřich Honzl von
diesbezüglichen Bedenken; siehe Brief von Martinů an Honzl, vom 5. 3. 1934 aus Paris, in: Šafránek,
162
Ghéon verzichtete bei der Einrichtung des französischen Librettos weitgehend auf ein
metrisches Muster, weshalb das Textbuch hauptsächlich aus freien Versen mit freier Kadenz
besteht und nur in unregelmässiger Folge Endreime, meist bloss in Form von Assonanzen,
aufweist. Sogar der Meneur du jeu, dessen Monologe im Gegensatz zu den Gesangspartien
ungleich mehr durch Endreime geprägt sind, vermag kein bestimmendes Modell zu
etablieren, tritt doch bereits bei seinem ersten Auftritt sogleich in der dritten Zeile eine Waise
auf, die das Scheitern jeglichen Reimschemas – spätestens nach dem zweiten Paarreim in der
sechsten Zeile – vorwegnimmt. Während der Text des Sprechers zumindest ansatzweise
einem metrischen Muster verpflichtet zu sein scheint, indem erst ein solches evoziert werden
muss, bevor es überwunden werden kann, ist eine vergleichbare Vorgehensweise in den
Gesangspartien nicht zu erkennen. Die einzigen Ausnahmen hiervon bilden Marikens Tanz in
der zweiten Szene, den diese in zwar ekstatischen, jedoch paarreimend angeordneten Versen
besingt, sowie das durchgehend in Endreimen angelegte Trinklied des Betrunkenenchors in
der dritten Szene – ein Moment, das in beiden Fassungen übereinstimmt162.
3. Szene: Chor163:
1. Fassung
2. Fassung
[Übersetzung der 2. Fassung]
[...]
[...]
[...]
On perd aux dès, gagne à l’amour,
tam se v kartách prohrává,
dort verliert man im Kartenspiel,
on a des filles pour le jour,
nebo v lásce vyhrává!
oder gewinnt in der Liebe!
et des matronnes pour la nuit,
Kdo má doma starou bábu,
Wer zuhause eine Alte hat,
et du couteau on joue aussi,
namluví si mladou žábu
reisst einen jungen Frosch auf,
à l’Arbre d’Or! A l’Arbre d’Or!
v baru u Zlatého háje!
in der Bar zum Goldenen Hain!
Diese in der ersten Fassung durch den Octosyllabe bestimmte Textstelle sticht nicht nur deshalb heraus, weil sie als einzige im französischen Libretto eine festgelegte Silbenzahl aufweist, sondern auch wegen des Rückgriffs auf ein Versmass, das ein vorrangiges Charakteristikum der mittelalterlichen französischen Dichtung darstellt164. Analog zur Textvorlage,
worin sich der Betrunkenenchor durch paarige Endreime sowie durch den strikten Achtsilber
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 60 f.: Aber jetzt stellt sich die Frage, ob dies auf der Bühne umzusetzen ist
und durch die Zensur kommen würde, kurz: ob sie es erlauben würden. Sie [Honzl] selbst haben mir gesagt,
dass solche Dinge mit Gott auf der Bühne verboten sind. Aber wenn es sich direkt um ein mittelalterliches
Drama handeln würde, könnte dies wohl möglich sein.
162
Martinů, Mariken de Nimègue, 2. Szene, Mariken: Oh! Le joli jeu! Je suis une balle ¦ et je rebondis dès que je
défaille. [etc.], Autograph, S. 66-75.
163
Martinů, Mariken de Nimègue, 3. Szene, Betrunkenenchor, Autograph S. 78-80; Martinů, Hry o Marii,
Mariken z Nimègue, T 5 nach Z 34 bis T 13 nach Z 36.
164
Vgl. Backès, Les Vers et les formes poétiques dans la poésie française (1997), S. 47; Françillon, Petit Lexique
de termes techniques (1989), S. 8.
163
von den übrigen Passagen unterscheidet, wird der Gesang der Betrunkenen durch die Anlage
des Trinkliedes als variiertes Strophenlied in der Art eines eigenständigen, in sich geschlossenen Stückes hervorgehoben. Da die tschechische Fassung des dritten Auftritts weder in der
Textlänge noch in der Rollenabfolge mit dem französischen Libretto übereinstimmte, war es
Martinů bei der Vertonung von Závadas Text nicht möglich, die Musik der ersten Fassung zu
übernehmen, weshalb er die Szene durchgehend neu vertonte. Der den Auftritt eröffnende,
fugierte Chor Au Cabaret de l’Arbre d’Or basiert in der französischen Fassung auf einer
rastlosen Motivik mit aufwärts gerichteten Sekundgängen in Achteln, während das tschechische Pendant V baru u zlatého háje (In der Bar Zum goldenen Hain) mithilfe eines einfacheren Chorsatzes stärker den plumpen Charakter der Trinker betont.
Notenbeispiel 50a: Mariken de Nimègue [1. Fassung], 3. Szene, T 3-13 nach Z 31
Notenbeispiel 50b: Hry o Marii, II. Akt, 3. Szene, T 5-11 nach Z 34
Auch wenn der Tanz Marikens sowie der Betrunkenenchor mit ihren strikten Reimschemata
klare Ausnahmen bilden, so vermittelt das französische Libretto trotz freier Verse, dem weitgehenden Verzicht auf Endreime und den vorherrschenden freien Kadenzen nur bedingt einen
Prosacharakter, erhält doch der Text durch die Verwendung einfacher Stilmittel einen betont
lyrischen Anstrich. Dies geschieht zum einen durch Binnenreime in reiner Form oder als
Assonanzen sowie durch vereinzelte Alliterationen (beispielsweise épée pour les punir165),
und zum anderen durch zahlreiche Wiederholungen einzelner Worte oder ganzer Satzteile.
Sogleich am Anfang der ersten Szene prägen Epanalepsen – meist als Anaphern angelegt – in
unüberhörbarer Weise die Arie Marikens, die jeden Satz mit dem Personalpronomen je beginnen lässt.
Mariken (Mariken de Nimègue, 1. Szene) 166:
Je ne sais ou je suis, j’ai peur, j’aurais mieux fait, ah, pauvre fille, de rester en tirant l’aiguille,
auprès de ma fenêtre! J’ai trop regardé les boutiques et les dames sur les remparts, j’ai péché,
j’ai péché par la coquetterie et je suis bien punie!
165
166
Martinů, Mariken de Nimègue, 4. Szene (Dieu), Autograph, S. 115.
Martinů, Mariken de Nimègue, 1. Szene (Mariken), Autograph, S. 2.
164
Überwiegend in den Gesangspartien, weniger ausgeprägt dagegen in der Rolle des Sprechers,
stellt der einfache Satz, oder eine Inversion desselben im Fall eines Imperativs oder einer
Frage, das dominierende syntaktische Muster dar, weshalb die anaphorischen Parallelismen
geradezu das rhythmische Grundmuster des Librettos bestimmen. Analog zum syntaktischen
Bau der in der Regel aus parataktischen Sätzen bestehenden Dialoge, spiegelt sich die konsequente Reduktion der sprachlichen Mittel auf der Ebene des Vokabulars darin, dass der Wortschatz auf einfachste standardsprachliche Ausdrücke beschränkt bleibt. Abgesehen vom
Betrunkenenchor, der sich durch umgangssprachliche Wendungen wie on sautera la banque
oder une grappe de plus beau jus deutlich von der vorherrschenden neutralen Sprache abhebt,
vermittelt die Wortwahl eine klare Distanz zum Inhalt, vermögen doch die Formulierungen
aufgrund ihrer Geläufigkeit nicht, dem Text eine zusätzliche Färbung zu verleihen167. Indem
Ghéon die Reduktion der sprachlichen Mittel zum vorherrschenden Merkmal des französischen Librettos machte, orientierte er sich zwar einerseits an der einfachen Sprache der spätmittelalterlichen Mysterien, näherte sich jedoch zugleich dem zeitgenössischen ‚epischen‘
Ideal an, wonach es galt, mithilfe der daraus resultierenden Distanz zum Geschehen nicht
etwa an das Gefühl des Publikums, sondern vielmehr an dessen Ratio zu appellieren168. Denn
lässt sich die auf grösstmögliche Einfachheit zielende Sprache aufgrund der dadurch bewirkten Distanz im Sinne Brechts als Moment des ‚epischen Theaters‘ deuten, so scheinen sich die
rhythmisierenden Wiederholungen durch die Betonung der sprachimmanenten Gestik geradezu am epischen Ideal einer ‚gestischen‘ Sprache zu orientieren169.
Bei der Übersetzung des französischen Librettos ins Tschechische hielt sich der Schriftsteller
Vilém Závada nicht nur eng an den Handlungsablauf, sondern auch an den Textumfang, die
Regieanweisungen sowie die Rollenabfolge, nahm jedoch konsequente Änderungen am
Sprachstil vor. Obwohl auch das tschechische Libretto der Mariken eine dem ‚epischen
Theater‘ nahe Form aufweist, findet diese ihre Entsprechung auf der sprachlichen Ebene nun
nicht mehr in einer Distanz erzeugenden, ‚gestischen‘ Sprache. Während sich Ghéon weitgehend auf die französische Standardsprache beschränkte, ist das tschechische Libretto Vilém
Závadas durch eine Vielfalt der Ausdrücke und Wendungen geprägt, die der breiten Palette
167
Martinů, Mariken de Nimègue, 3. Szene (Betrunkenenchor), Autograph, S. 83.
Zitat Brecht, Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1930), in: Ders.,
Ausgewählte Werke, Bd. 6, S. 107.
169
Vgl. Heinze, Brechts Ästhetik des Gestischen. Versuch eine Rekonstruktion (1992); Ritter, Das gestische
Prinzip bei Bertold Brecht (1986).
168
165
zwischen einer gehobenen literarischen sowie einer niederen bis vulgären Sprache entstammen und ungeachtet der unterschiedlichen Stilebenen miteinander kombiniert werden.
Závada distanzierte sich nicht nur durch das grundsätzlich anders geartete Vokabular,
sondern auch durch die metrische Gebundenheit der Sprache deutlich von der französischen
Vorlage, da er im Gegensatz zu dieser, die nur gelegentlich beim Meneur du jeu Endreime
aufwies, den Text einem Reimschema unterwarf. Obwohl wiederholt von Kreuzreimen,
reimlosen Einzelversen, sogenannten Waisen, und längeren Prosaeinschüben durchbrochen,
prägt der Paarreim als Modell gleichermassen den Part des Sprechers sowie der Sänger, und
dies in einem Masse, dass oft sogar die Dialoge der jeweiligen Gegenspieler zusammengehörige Reime aufweisen. Die vorrangige Stellung des Paarreims ermöglichte nicht zuletzt, durch
eine Abweichung von demselben den Text zusätzlich zu strukturieren: So markiert beispielsweise das einmalige Auftreten eines Kreuzreims im Part des Principál (das tschechische Pendant zum Meneur du jeu) einen Neubeginn, der die einzelnen Szenen verstärkt voneinander
abhebt. Dieses Vorgehen findet sich neben dem ersten Auftritt des Sprechers auch in der Einleitung zur vierten Szene, wo nach der 25 Zeilen währenden Beschreibung von Marikens
lasterhaftem Leben durch den Principál ein in den Zeilen 26 bis 29 eingefügter Kreuzreim die
Einleitung zur Mezihra (Zwischenspiel) kennzeichnet170. Da die daran anschliessende
Mezihra – ein kurzer Dialog zwischen Mariken und dem Teufel – in Prosa gehalten ist, sticht
die Stelle aufgrund der ansonsten dominierenden Endreime deutlich hervor, weshalb sich hier
im Gegensatz zur französischen Version zum inhaltlichen Exkurs, der den Alltag des Paares
demonstriert, ein stilistischer gesellt.
Obwohl auch im tschechischen Libretto einfache Sätze überwiegen, treten ungleich
mehr Hypotaxen als im französischen auf, weshalb sich Závadas Text neben der grösseren
Vielfalt im Vokabular auch durch eine komplexere Syntax auszeichnet. Büssen infolgedessen
die in Ghéons Libretto dominierenden anaphorischen Parallelismen an Bedeutung ein, so
zeigt sich selbst bei einfachen Sätzen insofern ein grundlegender Unterschied, als sie im
tschechischen Text grösstenteils elliptisch gebaut sind. Zusätzlich betont wird der abwechslungsreiche Sprachstil Závadas durch grammatikalische Eigenheiten, die mitnichten einem
gängigen tschechischen Usus verpflichtet sind: Darunter fällt ebenso die Verwendung des
Genitivs anstelle des Akkusativs bei substantivischen Reihungen, wie die charakteristischen
Wechsel zwischen einfacher, meist elliptischer Syntax, und literarischen sowie bisweilen
archaischen Konstruktionen. Letztere treten etwa in Form der für die tschechische Sprache
170
Martinů, Hry o Marii, Mariken z Nimègue, 3. Szene, Monolog des Principál, unmittelbar vor Z 48.
166
unüblichen Postposition des Adjektivs auf, und werden nicht bloss beiläufig eingeführt, sondern deutlich hervorgehoben – im folgenden Beispiel geschieht dies durch das insgesamt dreifache Auftreten als Parallelismus.
Sbor (3. Szene) 171:
[Chor:
Taková rozkoš vášnivá
Eine solch frevelhafte Wollust
jako oheň palčivá,
wie Feuer brennend,
vždycky špatne končivá,
immer schlecht endend,
pamatuj si, Mariken.
erinnere dich, Mariken.]
Das von unterschiedlichen Sprachstilen herrührende Vokabular, die häufige Verwendung von
Assonanzen und Reimen sowie die zwischen einfachen und komplexen Sätzen changierende
Syntax mit bisweilen archaischen Wortstellungen legen eine Zuordnung des tschechischen
Textbuchs zum ‚böhmischen Poetismus‘ nahe172. Demnach sind die charakteristischen Rückgriffe auf alle vorhandenen und vergangenen Stile im tschechischen Libretto als durch die
poetistische Idee motiviert zu verstehen, wonach mithilfe aller verfügbaren Ausdrucksmittel
der poetische Gehalt der Welt spontan dargestellt werden soll. In der vielfältigen, bewusst
stilübergreifenden Verfahrensweise, die ein konstitutives Strukturmerkmal darstellt, spiegelt
sich die Devise des böhmischen Poetismus in der Ausprägung Vítězslav Nezvals: Phantasie
statt Logik. Da Závada in seiner Übersetzung zwar die grossformale Anlage des Librettos
beibehalten, jedoch konsequent eine stilistische Neuorientierung in Anlehnung an die Ideale
des böhmischen Poetismus vorgenommen hat, ist das Textbuch der tschechischen Mariken
nicht etwa als blosse Übertragung aus dem Französischen, sondern vielmehr als genuin böhmische Dichtung zu verstehen.
Die zwei Fassungen der Mariken weisen analog zum Libretto eine in weiten Teilen übereinstimmende formale Gestalt auf: An die Ouvertüre schliessen je fünf Szenen an, die sich
sowohl aus ariosen als auch rezitativisch angelegten Solopartien, den Monologen des Sprechers, den Chorsätzen und aus rein instrumental gehaltenen, tänzerischen Teilen zusammensetzen. Während sich der tschechische Opernakt in der ersten, zweiten und dritten Szene
deutlich vom französischen Einakter unterscheidet, erweisen sich die beiden Versionen nicht
nur in der vierten und fünften Szene, sondern sogar in der Ouvertüre als weitgehend identisch
171
172
Martinů, Hry o Marii, Mariken z Nimègue, 3. Szene, T 3-9 nach Z 43.
Zum böhmischen Poetismus siehe u.a. Müller, Der Poetismus (1978); Brousek, Der Poetismus (1975); Illig,
Jan Mukařovský und die Avantgarde (2001) [v.a. S. 72-83] sowie Drews, Die slawische Avantgarde und der
Westen (1975).
167
(siehe Tabelle 3). Dass die Ouvertüre der tschechischen Fassung erstaunlicherweise genau
dieselbe wie diejenige der ersten Version geblieben ist, mag insofern überraschen, als sie die
Motive des folgenden Einakters vorwegnimmt und durch die nahezu unveränderte Übernahme in die tschechische Fassung deren motivische Änderungen unberücksichtigt lässt, was
in den Hry o Marii zwingend auf Kosten der motivischen Verbundenheit zwischen Ouvertüre
und Opernakt geschehen muss173.
Die in der tschechischen Ouvertüre vorgenommenen Änderungen betreffen mit Ausnahme eines neu eingefügten Taktes (T 6 nach Z 5, ab 4. Viertel), der vorübergehend die charakteristische Zweiteiligkeit der vorherrschenden Periodik stört, hauptsächlich die Orchestrierung. Schliesslich galt es, entsprechend der ungleich grösseren Orchesterbesetzung in der
tschechischen Mariken, die kammermusikalische Instrumentierung der französischen Fassung
den neuen Bedingungen anzupassen: Während die neu eingesetzten Flöten mit dem Part der 1.
Oboe sowie der 1. Klarinette die Stimmführung der Holzbläser übernehmen, sind zum einen
die ebenfalls neu vorgesehenen Hörner meist parallel zur 3. Klarinette gesetzt und sind zum
anderen die hinzugekommenen Fagotte eng an die tiefen Streicher sowie an die tiefen Holzbläser gebunden. Obwohl die beiden Ouvertüren musikalisch weitgehend identisch sind, tendiert die zweite Fassung infolge der neuen Instrumentierung zu einem konsequenteren Blocksatz, was zugleich bedingt, dass die Holzbläser in der Regel nicht mehr solistisch, sondern in
voller Besetzung erklingen174. Aufgrund der vollen Holz- und Blechbläserbesetzung bilden
die Blasinstrumente in der tschechischen Fassung ein klares Gegengewicht zu den Streichern,
was als Reaktion auf den lauteren Streicherklang tschechischer Orchester verstanden werden
kann175. Schliesslich konnte nur eine Verstärkung des Bläserapparates das gewünschte
Gleichgewicht zwischen den Instrumentengruppen gewährleisten, da der Streicherpart weitgehend unverändert in die zweite Fassung übernommen wurde. Dass Martinů eine solche
Balance anstrebte, zeigt nicht zuletzt die geringfügige Änderung in den letzten fünf Takten
der Ouvertüre: Während in der französischen Fassung die Schlusstakte von den Bläsern und
173
Zitat Martinů, Brief Martinůs an Miloš Šafránek, vom 22. März 1959, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 62.
174
Die verstärkte Tendenz zum Blocksatz der tschechischen Fassung im Vergleich zur französischen tritt in den
T 12-16 nach Z 0 besonders deutlich zutage, werden doch Bläser und Streicher in der tschechischen Fassung
nun neu rein alternierend eingesetzt.
175
Ausgelöst durch die weitverbreitete Bewunderung der französischen Holzblasinstrumente aufgrund von deren
durchsichtigem Klang (vgl. Vignal, Französische Orchestertradition (1992), S. 80), fand im Prag der 1920er
Jahre eine rege Diskussion darüber statt, ob man die tschechischen Blasinstrumente durch französische
ersetzen sollte. Da Martinů befürchtete, dass die ungleich leiseren französischen Blasinstrumente im
tschechischen Streicherklang untergehen würden, stellte er sich explizit gegen diesen Vorstoss. Martinů, O
dechových nástrojích francouských [Von den französischen Blasinstrumenten] (1924), in: Šafránek, Domov
hudba a svet, S. 39-40.
168
dem Klavier (über einem Orgelpunkt von Celli und Kontrabässen) dominiert werden, sind die
tieferen Streicher hier parallel zu den Bläsern gesetzt – die Ouvertüre endet neu im Mischklang der vollen Besetzung.
Dass ausgerechnet in der ‚sprachunabhängigen‘ Orchesterbesetzung grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Fassungen zu finden sind, mag überraschen – die Auswirkungen
betreffen primär die Ouvertüre sowie die ersten drei Szenen, nicht aber die beiden letzten, wo
Martinů vermutlich wegen der hervorragenden Bedeutung der Chöre von einer Uminstrumentierung abgesehen hat. Während die tschechische Fassung abgesehen vom Klavier die
übliche Besetzung eines grossen Orchesters vorschreibt, unterscheidet sich die französische
Version insofern von der späteren, als darin die Oboen und Klarinetten dreifach statt nur doppelt angegeben sind, dagegen aber vollständig auf Flöten, Fagotte und Hörner verzichtet
wird176. Obgleich Martinů 25 Jahre nach deren Entstehung die ungewöhnliche Besetzung der
französischen Mariken nur mit dem englischen Wort Funny zu kommentieren vermochte –
die tschechische Version verwendet ein grosses Orchester mit Klavier –, könnte gerade die
Bestimmung für eine Aufführung in Frankreich den Ausschlag für die abweichende Orchestrierung gegeben haben177. Bereits wenige Monate nach seiner Ankunft in Paris veröffentlichte
Martinů einen dezidierten Artikel in den Listy hudební matice über den französischen Orchesterklang hinsichtlich von dessen Vorzügen und Schwächen im Vergleich zu tschechischen Orchestern, wobei das tschechische Pendant wohl primär in der Tschechischen Philharmonie zu sehen ist, der er selbst einige Jahre als zweiter Geiger angehört hatte178. Dass er
insbesondere am schlanken Klang der französischen Oboen und Klarinetten Gefallen fand,
jedoch den Flöten mit dem undenkbaren Tremolo nichts abgewinnen konnte, scheint in
direkter Weise seinen Niederschlag in der Orchestrierung der Mariken de Nimègue gefunden
zu haben, die erstere sogar dreifach besetzt, von letzteren dagegen vollständig absieht179. Mit
Rimsky-Korsakows einflussreicher Orchestrierungslehre liesse sich zudem argumentieren,
dass die meist in hoher Lage gesetzten Oboen mit ihrer Tonqualität als naiv-lustig in Dur
176
Orchesterbesetzung des französischen Einakters Mariken de Nimègue: 3 Oboen, 3 Klarinetten, 2 Trompeten,
2 Posaunen, Klavier, Schlagzeug, Streicher. Orchesterbesetzung des tschechischen Opernaktes Mariken z
Nimègue: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba, Klavier,
Schlagzeug, Streicher.
177
Zitat Martinů, Brief von Martinů an Miloš Šafránek, vom 29. März 1959, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 62.
178
Zu Martinůs Anstellung als 2. Geiger in der Tschechischen Philharmonie von 1920-23 siehe Mihule, Martinů
(2002), S. 85-108; Šafránek, Bohuslav Martinů (1964), S. 84; Šafránek, Domov, hudba a svět (1966), S. 37;
Erismann, Martinů (1990), S. 62-64.
179
Zitat Martinů, O dechových nástrojích francouských [Von den französischen Blasinstrumenten], in: Šafránek,
Domov hudba a svet, S. 40.
169
durchaus eine Affinität zu mittelalterlichen Spielen vermitteln, weshalb ihnen innerhalb der
Holzbläser die dominierende Rolle zugefallen sein könnte180. Finden sowohl zwei Trompeten
als auch zwei Posaunen Verwendung – eine Reduktion gegenüber der tschechischen Fassung,
die vermutlich mit dem kleineren Orchester zusammenhängt –, so scheint ähnlich wie bei den
Flöten auch bei den Hörnern Martinůs Geschmacksurteil hinsichtlich französischer Instrumente für einen Verzicht ausschlaggebend gewesen zu sein. Dass er es vorzog, den vollen
Klang und die Signalwirkung der Hörner gänzlich preis zu geben, zeigt das Ausmass seiner
Abneigung: Am wenigsten sympathisch ist das Horn, das zur Hälfte dem Atem, zur Hälfte der
Gestik zugehörig ist, es ist am Ende weder das eine noch das andere181.
Sowohl in der französischen als auch in der tschechischen Fassung der Mariken stellt
der Blocksatz das grundsätzliche Prinzip der Orchestrierung dar, das mit den klaren Wechseln
zwischen Tutti und Streichern sowie zwischen Streichern und Bläsern zur intendierten Durchsichtigkeit des Satzes beiträgt. Gerade wegen der unvollständigen Besetzung der einzelnen
Instrumentengruppen und dem dadurch verstärkten Spaltklang entspricht der französische
Einakter der angestrebten Transparenz weit mehr als der tschechische Opernakt. Zugleich
spiegelt sich in der reduzierten Orchesterbesetzung deutlich Martinůs Auffassung, wonach
französische Orchester hauptsächlich für Kammermusik prädestiniert seien, infolgedessen die
Orchestrierung der französischen Fassung vielmehr kammermusikalischen Idealen als der
Operntradition entspricht182. Im Gegensatz dazu erkannte Martinů die Stärken tschechischer
Orchester gerade in deren voller Besetzung, nicht aber in kleinen Formationen, was wohl den
Ausschlag dazu gab, in der tschechischen Mariken – und in den Hry o Marii überhaupt – die
ungewöhnliche Besetzung der französischen Fassung zugunsten eines (abgesehen vom Klavier) konventionellen grossen Orchesters zu verwerfen.
Während die weitreichenden Unterschiede in der Orchesterbesetzung nicht zwingend zu erwarten waren, vermögen Änderungen in den Gesangspartien als Folge der Übersetzung ins
Tschechische ungleich weniger zu überraschen. Bedingt durch die gänzlich unterschiedliche
Prosodie der beiden Sprachen, konnte der Wechsel vom syllabischen französischen zum syllabotonischen tschechischen Libretto für die Vertonung nicht ohne Folgen bleiben, und dies
um so mehr, als für Martinů neben der Stimmschönheit und einer natürlichen Melodik die
180
Zitat Rimsky-Korsakov, Grundlagen der Orchestration (russische Erstausgabe 1891; hier: 1922), S. 22.
Zitat Martinů, O dechových nástrojích francouských [Von den französischen Blasinstrumenten], in: Šafránek,
Domov hudba a svet, S. 40.
182
Vgl. ebd., S. 40.
181
170
Verständlichkeit das zentrale Anliegen an die Gesangspartien darstellte, weshalb es galt, den
Akzentuierungen der jeweiligen Sprache gerecht zu werden183. Für die französische Fassung
der Mariken bedeutete dies, dass Martinů eine Sprachrhythmik zu berücksichtigen hatte, die
als Folge der syllabisch bestimmten französischen Verslehre die Silbenzahl uneingeschränkt
in den Vordergrund stellte, weshalb selbst bei einer prosodisch getreuen Textbehandlung die
Betonung der Hebungen sekundär erscheinen musste184. Obwohl das französische Libretto
überwiegend aus freien Versen besteht, hielt sich Martinů in der Vertonung insofern an die
syllabische Auffassung der französischen Verslehre, als er von einer Aufwertung im Sinn
einer zusätzlichen Betonung der Hebungen absah. Stattdessen suchte er dem Wortakzent dadurch zu entsprechen, dass er diesen in der Regel auf eine betonte Zählzeiten setzte – nur
selten dagegen durch eine quantitative Umsetzung in Form eines längeren Notenwertes –, was
zwingend eine grundsätzlich auftaktige Melodik der Singstimmen mit sich brachte. Obwohl
dieses Vorgehen in Anbetracht des fehlenden Versmasses den Prosacharakter der Textvorlage
in musikalischer Weise zusätzlich verstärken müsste, fällt dies nur bedingt ins Gewicht, da
Martinů trotz der übernommenen Wortakzente bemüht war, betonte und unbetonte Silben als
quantitativ gleichwertige zu vertonen, was insbesondere bei stummen Silben zum Tragen
kam. Indem der Komponist durchaus in Anlehnung an die französische Verslehre das e muet
respektierte, verzichtete er nicht nur auf eine eindeutige Zuordnung des prosaähnlichen Textes
zur Prosa, sondern machte darüber hinaus das e muet zu einem konstitutiven Element der
Melodik.
Notenbeispiel 51: Mariken de Nimègue [1. Fassung], 4. Szene (Dieu)
Wenngleich die Betonung des e muet der überkommenen Verslehre entspricht, stellt der eigenwillige Umgang damit eine Besonderheit der Textbehandlung in der französischen
Mariken dar, denn während Martinů bisweilen – zumeist im Wortinnern – auf eine
Aufwertung der stummen Silbe verzichtete, tendierte er andernorts zu deren Überbetonung.
So verstösst etwa bei obigem Beispiel das erklingende e muet bei famine aufgrund des unmittelbar nachfolgenden Vokals eindeutig gegen die metrischen Regeln; allerdings vermittelt
183
Zu Martinůs Ideal der Stimmbehandlung siehe Martinů, Autobiografie (1941), in: Šafránek, Domov, hudba a
svět, S. 323 sowie Martinů, K brněnské premiéře [Zur Brünner Uraufführung], in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 222.
184
Vgl. Mazaleyrat, Eléments de métrique française (1990), S. 36-73; Deloffre, Le Vers français (1973), S. 1517; Françillon, Petit Lexique de termes techniques (1989), S. 1.
171
in diesem Fall die Verbindung der stummen Silbe mit einem abwärts gerichteten Oktavsprung
den Eindruck eines Endreims (la peste, la famine), der zwar nicht der traditionellen Metrik,
jedoch in inhaltlicher Weise durchaus der Aufzählung entspricht. Obwohl das französische
Libretto in der Textanlage nicht mit den mittelalterlichen Spielen übereinstimmt, drängt sich
in Anbracht der mittelalterlichen Vorlage dennoch die Vermutung auf, dass Martinů mit der
wiederholten Überbetonung stummer Silben bewusst auf eine prosodische Besonderheit des
mittelalterlichen französischen Theaters rekurrierte. Schliesslich gilt die grundsätzliche Betonung des e muet als wichtiges, im Mittelalter neu eingeführtes Charakteristikum, was von
Dubech vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Verslehre mit folgenden Worten beklagt
wurde: Une remarque indispensable, c’est que l’e muet entre dans la mesure des vers, ainsi
qu’on a peut-être eu l’occasion de le constater. L’impression à nos oreilles est fort
désagréable185.
Dass sich Martinů in der französischen Fassung der Mariken auf die syllabisch
geprägte, mittelalterliche Deklamationspraxis stützte, und durch die weitgehend konsequente
Umsetzung bisweilen eine zu starke Akzentuierung unbetonter Silben und damit eine Nivellierung der Betonungen herbeiführte, spiegelt sich nicht zuletzt in einer – im Vergleich zur
tschechischen Fassung – gleichmässigeren, ansatzweise monotonen Rhythmik. Entspricht die
bisweilen eintönige Sprachbehandlung in der französischen Mariken durchaus den Gepflogenheiten der mittelalterlichen Rezitation, so zeichnet sich die tschechische Fassung durch
eine subtile Umsetzung qualitativer und quantitativer Akzente aus186. Martinů vertonte die
relativ freien, zwischen Trochäen und Daktylen changierenden Verse des tschechischen
Librettos gemäss der Intonation der einzelnen Worte, also ausschliesslich der ungebundenen
Rede der Prosa, nicht aber einer Verslehre gehorchend. Dies brachte eine ungleich prägnantere Rhythmik mit sich, die zwar nicht mehr mit einer mittelalterlichen Praxis in Verbindung
gebracht werden kann, stattdessen jedoch mehrfach zu prosodisch begründeten Rhythmen
führte, die als Vokalmotive die Melodik zu prägen vermochten. Die gelöstere Textbehandlung
in der tschechischen Fassung im Vergleich zur tendenziell starrer anmutenden französischen
tritt gerade in den nicht taktmetrisch gebundenen Rezitativen der Mezihra (Zwischenspiel)
klar zutage, wo die Prosodie des Librettos das allein bestimmende Moment der Vertonung
darstellt (siehe Notenbeispiel 52). Während die Gesangsstimmen in der französischen Version
überwiegend in Achteln voranschreiten und spätestens mit der völligen Silbengleichsetzung
185
186
Zitat Dubech, Histoire générale illustrée du Théâtre, Bd. 2 (1931), S. 91.
Vgl. Deloffre, Le Vers français (1973), S. 56: On peut conclure que la diction poétique ancienne était simple,
monotone [...].
172
bei cette date jegliche Dynamik einbüssen, wirkt die tschechische Fassung nicht nur wegen
der neu eingeführten Vorhalte, sondern vor allem aufgrund der lebhafteren Rhythmisierung
ungleich spannungsreicher.
Notenbeispiel 52: Mariken de Nimègue [1. Fassung] und Hry o Marii, II. Akt, 4. Szene, nach Z 48
(Mariken)
Die prinzipiellen Unterschiede zwischen der Prosodie des (mittelalterlichen) Französischen
sowie derjenigen des Tschechischen führten insbesondere in den ersten drei Szenen, die einen
raschen Handlungsablauf und viel Text aufweisen, zu beträchtlichen Änderungen in der
Stimmführung und damit im Charakter der Gesangspartien. In den letzten beiden Akten dagegen, die über weite Teile vom Chor bestritten werden, der nur gelegentlich handlungsrelevante Aussagen zu machen hat und oft in ostinaten Satzfragmenten verharrt, stimmen die beiden Fassungen über weite Teile miteinander überein. Als Erklärung für die nahezu unveränderten Solistenpartien kann daher angeführt werden: Nur in der zweiten Hälfte, in der die
Melodien (in den Singstimmen) frei und lang sind, sind sie [die Melodien] geblieben, die
Adaption des Textes war vermutlich einfacher187. Obwohl die freier gesetzte Melodik in der
vierten und fünften Szene eine weitgehend unveränderte Übernahme der Gesangspartien
zweifellos begünstigt haben mag, ist dennoch offenkundig, dass Martinů gerade in diesen
beiden Szenen bemüht war, den tschechischen Text der rhythmischen Struktur der französischen Fassung so weit wie möglich anzunähern. Dabei war unabdingbar, die für die französische Mariken charakteristische Auftaktigkeit zu bewahren, was in der tschechischen Fassung
um so mehr ins Gewicht fallen musste, als die grundsätzliche Erstsilbenbetonung der tschechischen Sprache eine auftaktige Melodik zur Ausnahme werden lässt (siehe Notenbeispiel
53). Als Mittel bot sich hierbei die Unterbetonung betonter Silben von inhaltlich sekundärer
Bedeutung an (jíž me; se; jíž se; jako), die auf unbetonter Zählzeit den bedeutungstragenden
Worten (oči; otvírají; plní; v ráji) vorangestellt wurden, was zwar künstliche, jedoch kaum als
solche erkennbare Auftakte ermöglichte188.
187
188
Zitat Martinů, Brief Martinůs an Miloš Šafránek vom 22. März 1959, in: Šafránek, Divadlo Bohuslava
Martinů, S. 62.
Damit griff Martinů ein Mittel auf, das insbesondere im 19. Jahrhundert dazu diente, in Anlehnung an
Shakespeare und Schiller in Blankversen zu schreiben, obwohl diese im Grunde der Prosodie des
Tschechischen entgegenlaufen; siehe etwa den Beginn von Smetanas Braniboři v Čechách [Die
Brandenburger in Böhmen] (1865). Vgl. Tyrrell, Czech Opera (1988), S. 256-258.
173
Notenbeispiel 53: Mariken de Nimègue [1. Fassung] und Hry o Marii, II. Akt, 5. Szene, T 15 nach Z 63 bis
T 4 nach Z 64 (Mariken)
Hinsichtlich Martinůs Umgang mit dem prosodisch grundsätzlich anders gearteten tschechischen Libretto lässt sich festhalten, dass er gerade in der vierten und fünften Szene von der
Möglichkeit profitierte, grosse Teile der französischen Fassung zu übernehmen, in den ersten
drei jedoch davon Abstand nahm, da die ungleich schwierigere Ausgangslage eine adäquate
Umsetzung der tschechischen Prosodie nur schwerlich zugelassen hätte. Allein beim Namen
der Titelheldin verzichtete Martinů auf eine prosodische Anpassung an die slawische Sprache,
wird sie doch keineswegs mit der tschechischen Erstsilben-, sondern ausschliesslich mit der
französischen Endsilbenbetonung gerufen, so dass das anapästisch rhythmisierte Mariken als
einzige Reminiszenz an die französische Sprache der Erstfassung in den tschechischen
Opernakt Eingang gefunden hat, und dies mit einer Konsequenz, die das Vokalmotiv sogar
wiederholt den Orchestersatz prägen lässt.
Notenbeispiel 54: Mariken de Nimègue [1. Fassung], 3. Szene, T 143-147 (Chor)
Führten neben der Übersetzung des Librettos aus dem Französischen ins Tschechische auch
die unterschiedlichen Klangideale der Prager und Pariser Orchester zu zahlreichen Änderungen in der tschechischen Mariken z Nimègue, so finden sich sowohl in der zweiten als auch in
der vierten Szene Differenzen, die durch keinen der beiden genannten Gründe zu erklären
sind. Dabei ist auffallend, dass diese Abweichungen in der tschechischen Fassung überwiegend auf eine prägnantere Motivik hinzielen und zugleich eine stärkere, musikalisch bedingte
Verbundenheit innerhalb der einzelnen Szenen begünstigen. In besonderem Masse wird dies
in Marikens Tanz in der zweiten Szene deutlich, der aufgrund des rein instrumentalen Satzes
die grundlegende Neuvertonung für die Eingliederung in die tschechischen Hry o Marii nicht
erwarten liesse – schliesslich werden die Tänzer erst im zweiten Teil der Szene durch die
Sänger ausgetauscht. Der erste Teil dieser in beiden Fassungen zweiteiligen Szene, stellt ein
eigentliches auskomponiertes Crescendo dar, das auf dem dynamischen Höhepunkt abrupt
abbricht, um unmittelbar darauf in den zweiten Teil überzugehen, worin Mariken ihr Leben
mit dem Teufel besingt. Die Steigerung kommt in der französischen Fassung einerseits durch
eine stufenweise Beschleunigung sowie andererseits durch eine kontinuierlich an Dichte ge174
winnende Instrumentierung zustande, zu der sich ein zunehmend perkussiver Charakter des
Satzes gesellt. Bei der letzten Temposteigerung (frz. Mariken, 2. Szene, Vivo in T 14 nach Z
22) setzt der im Orchester plazierte Männerchor mit dem ostinaten Ruf Mariken! ein, dies
zunächst alternierend mit dem Orchester singend, jedoch entsprechend dem dynamischen
Höhepunkt bereits in dem kurz darauf anschliessenden Tutti in rhythmisiertes Schreien übergehend (frz. Mariken, 2. Szene, T 1 nach Z 23). Einen halben Takt vor der Fermate, die den
ersten Teil abschliesst, setzt mit einem leisen D-Dur-Sekundakkord (ohne Quarte) ein fünfstimmiger Frauenchor ein, der mit seiner ruhigen, ätherisch anmutenden Stimmung einen klaren Gegenpol zum dröhnenden Fortissimo bildet, und erst im Augenblick des unvermittelten
Verstummens von Orchester und Männerchor überhaupt zur Geltung kommt (frz. Mariken, 2.
Szene, 1 T vor Z 25), um schliesslich das letzte Wort zu behalten. In klanglicher Hinsicht
kommt dies einer Antizipation des Aleluja-Chorals des Frauenchors aus der fünften Szene
gleich – das Sinnbild der Erlösung –, die nicht in die tschechische Fassung Eingang gefunden
hat, übernehmen darin doch ausschliesslich die Violinen die Rolle, die beiden Teile der zweiten Szene durch einen subtilen Klanggrund miteinander zu verbinden – Marikens Hingabe an
den Teufel erfährt hier keinerlei erlösendes Moment mehr.
Während der Tanz Marikens in beiden Versionen als auskomponiertes, sich ekstatisch
steigerndes Crescendo angelegt ist, das in der französischen Fassung in ein rhythmisiertes
Schreien des Männerchors über einem perkussiv pochenden Orchester mündet, zeichnet sich
der analoge Höhepunkt in der tschechischen Mariken durch eine ungleich grössere Melodik
aus. Im Unterschied zur französischen Fassung führt die tschechische bereits zu Beginn des
Tanzes ein neues Motiv ein (Notenbeispiel 55), das auf dem abschliessenden Höhepunkt des
Crescendos sowohl den Orchester- als auch den Chorsatz bestimmt und weitgehend auf die
Perkussivität der französischen Version verzichtet (tsch. Mariken, 2. Szene, T 1-22 nach Z
27).
Notenbeispiel 55: Hry o Marii, II. Akt, 2. Szene, T 3-10 nach Z 15
Durch die vorrangige Stellung, die das neue Motiv hier inne hat, kommt es nicht nur zu einer
ungleich kantableren Stimmung, sondern auch zu einer prägnanten Melodik, die den Tanz als
Ganzes weit mehr abrundet und zu einer zusammenhängenden Einheit formt. Denn während
in der ersten Version die Ekstase in einer durch die Perkussivität bedingten Fragmentierung
175
des Satzes endet, findet die zweite Fassung mit der Parallelführung aller Instrumente sowie
dem vokalisierenden Chor zu einer emphatischen, einheitlichen Bewegung.
Die Bedeutung des in der tschechischen Fassung neu eingeführten Motivs als zusammenfassendes Moment zeigt sich nicht nur im ersten Teil der zweiten Szene, dem Tanz Marikens (Tänzerin), sondern auch im daran anschliessenden zweiten, der Arie Marikens (Sängerin), wo der im 4/4-Takt stehende und durch Tänzer optisch dargestellte Tanz in einen akustischen im Walzertakt übergeht. Während beide Fassungen den verfremdeten Walzer durch
eine allmähliche Reduktion der Instrumentation, Dynamik und Motivik ausklingen lassen,
bleibt in der französischen Version allein ein Ostinato des anapästischen Mariken-Motivs
(vgl. Notenbeispiel 54) in den Streichern zurück. Im Unterschied dazu greift die tschechische
Mariken das im ersten Teil der Szene neu eingeführte Motiv wieder auf (siehe Notenbeispiel
55), das nun zwar durch den 3/4-Takt leicht verzerrt erklingt, aber dennoch eine explizite
Verbindung zwischen dem getanzten und dem gesungenen Tanz schafft (tsch. Mariken, 2.
Szene, T 1-14 nach Z 33). Obwohl die zweite Szene auch in der französischen Fassung mit
einem bereits bekannten Motiv ihren Abschluss findet und damit in indirekter Weise auf die
Titelheldin verweist, ist das verbindende Moment in der tschechischen Fassung ein stärkeres,
da der Tanz durch das innerhalb dieser Szene generierte Motiv zu einer musikalisch bedingten
Geschlossenheit findet.
Verhilft in der tschechischen Fassung von Marikens Tanz das neu eingeführte Motiv
zu einem verstärkten musikalischen Zusammenhang, so übernimmt in der vierten Szene die
‚Jahrmarktsmusik‘, die in beiden Versionen die Szene eröffnet, eine vergleichbare Funktion
(tsch. Mariken, 4. Szene, T 1 bis 15 nach Z 50). Denn während diese im französischen Einakter ausschliesslich in der Orchestereinleitung zur vierten Szene erklingt, kommt es in der
tschechischen Mariken zu zwei Reprisen des Bläservorspiels – dem nahezu einzigen musikalischen Unterschied zwischen den beiden Fassungen (siehe Tabelle 3) –, die neu eine klare
formale Gliederung des Auftritts bewirken (tsch. Mariken, T 9-16 nach Z 54: Reprise der
ersten 8 T des Vorspiels; T 1-7 nach Z 58: Reprise des zweiten Teil des Vorspiels). Die Wiederholungen der prägnanten ‚Jahrmarktsmusik‘ bewirken nicht nur einen übergreifenden
musikalischen Bogen, sondern ermöglichen darüber hinaus, das ‚Spiel des Maškaron‘ sowie
den Streit zwischen Mariken und dem Teufel deutlich voneinander abzuheben. Während die
beiden Ebenen in der französischen Fassung zunehmend verwischen, wird in der tschechischen eine Unterscheidung derselben durch die ‚Jahrmarktsmusik‘ ermöglicht, die spätestens
durch die Reprise am Ende des ‚Spiels des Maškaron‘ gleichsam zum Rahmen der Szene
avanciert (tsch. Mariken, T 9-16 nach Z 54: Reprise der ersten 8 T des Vorspiels). Dass zu176
dem der kurze Dialog zwischen Mariken und dem Teufel, der unmittelbar auf die erste
Reprise der ‚Jahrmarktsmusik‘ folgt (tsch. Mariken, 4. Szene, 5 T vor bis 2 T nach Z 55), in
der tschechischen Fassung nun über einer Reprise des Orchesterparts der Mezihra geführt
wird, ist als weiterer Ausdruck der Absicht zu verstehen, die beiden Handlungsebenen nicht
nur klar voneinander zu trennen, sondern ihnen mithilfe von musikalischen Rückgriffen ein
charakteristisches Idiom zu verleihen.
Gegenüber dem Zusammenhang stiftenden, musikalischen Moment der prägnanteren
Motivik steht die Montage als bestimmendes Prinzip des Librettos sowohl der französischen
als auch der tschechischen Mariken, das in beiden Vertonungen seine Entsprechung in der
Aneinanderreihung eigenständiger Stücke unter Verwendung verschiedener Gattungen findet,
vom Choral über den Walzer bis hin zum Marsch. Indem nun in der tschechischen Mariken
eine grössere musikalische Verbundenheit zutage tritt, vermag diese ein deutlicheres Gegengewicht zur montageartigen Anlage zu verleihen, als es die Vertonung der französischen
Fassung ermöglichen würde. Dies ist insofern von Bedeutung, als die tschechische Mariken
bloss einen Opernakt von vieren darstellt und damit ungleich mehr auf einen inneren Zusammenhang angewiesen ist als der französische Einakter, birgt doch die montierte Anlage der
vierteiligen Hry o Marii die Problematik in sich, auseinander zu brechen.
Insgesamt lassen sich die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen in drei Kategorien
zusammenfassen, nämlich die sprachstilistische Neuorientierung des Librettos, aufführungspraktische Bedingungen und die Einbindung der zweiten Fassung in eine vierteilige Oper.
Ebenso wie die Anpassung der Singstimmen an die tschechische Prosodie scheint auch die
unterschiedliche Orchestrierung insofern pragmatisch begründet zu sein, als die Abweichungen in den Gesangsstimmen wie auch in der Orchestrierung auf unvermeidliche Differenzen
zurückgeführt werden können, sei es die Prosodie des Französischen und Tschechischen, sei
es der unterschiedliche Orchesterklang. Ähnlich praktisch bedingt wirken die rein musikalischen Änderungen, die Martinů bei der Umwandlung des französischen Einakters in den
tschechischen Opernakt vornahm und die damit in Zusammenhang gebracht werden können,
dass die montageartige Anlage der Hry o Marii einer grösseren Einheit entgegenwirkt, weshalb es galt, die fehlende textliche Kohärenz mit einer musikalischen zu kompensieren. Im
Unterschied dazu stellt die poetistisch gefärbte Übersetzung Závadas eine nicht zwingende
Änderung dar und steht als einzige in einem direkten Zusammenhang zu einem nationalen
Merkmal – ‚national‘ insofern, als der böhmische Poetismus als erste Ausprägung einer ge-
177
nuin tschechischen modernen Literatur gilt189. Das neu in die zweite Fassung eingeführte
‚nationale‘ Moment ist somit ausschliesslich im Libretto zu finden, wirkt doch die Musik der
tschechischen Fassung nicht ‚tschechischer‘ als diejenige der französischen Version.
189
Vgl. Müller, Der Poetismus (1978), S. 22.
178
Tabelle 3: Die beiden Fassungen von Bohuslav Martinůs Mariken z Nimègue
[Die Schattierungen zeigen diejenigen Stellen an, die weitgehend unverändert in die zweite Fassung übernommen wurden.]
Handlung
Französische Fassung Tschechische Fassung Kommentar
(1. F.)
(2. F.)
T 1-81
T 1-82
Weitgehend identisch
Monolog: Principál
Identisch
Ouvertüre
1. Szene: Im Wald
Der Sprecher erzählt Monolog: Meneur du Jeu
die Vorgeschichte
Mariken verirrt sich im T 1-46: Arie: Mariken
Wald
T 1-54: Arie: Mariken
Inhaltlich weitgehend identisch:
musikalisch zwar auf demselben
Hauptmotiv basierend, jedoch
deutlich von einander abweichend
Warnung des Sprechers Monolog: Meneur du Jeu
Monolog: Principál
Identisch
Der Teufel will Mari- T 47-78: Duett: Teufel, T 55-106: Duett: Teufel, Inhaltlich identisch, musikalisch
ken davon überzeugen, Mariken
Mariken
deutlich von einander abweichend
bei ihm zu bleiben
Warnung des Sprechers T 79: Meneur du Jeu, Chor: T 107: Principál, Chor: Metrisch ungebunden, in beiden
Mariken!
Mariken!
Fassungen identisch
T 80-84: Instrumentales
Fehlt in 2. F.
Zwischenspiel, mit motivischem Rückgriff auf das im
Vorspiel des ersten Szenes
exponierte Hauptmotiv.
Anrufung Gottes durch T 85-106: Choral: Mariken, T 108-128: Choral: Mari- Durch Überlappung in 2. F. um 1
Mariken
Frauenchor
ken, Frauenchor
T kürzer, ansonsten identisch
2. Szene: Der Tanz des Teufels mit Mariken
Tanz des Teufels mit T 1-272: Orchester mit
Mariken
Choreinwürfen ab T 255.
(Mariken, Teufel: kurzzeitiger Austausch der Sänger durch Tänzer)
Mariken, vom Tanz mit
dem Teufel berauscht
Mariken besingt ihren T 273-370: Arie: Mariken
Tanz
Zusammenfassender
Monolog: Meneur du Jeu
Bericht über die sieben
Jahre, die Mariken
zusammen mit dem
Teufel verbracht hat
T 1-335: Orchester mit
Choreinwürfen ab T 162.
(Mariken, Teufel: kurzzeitiger Austausch der
Sänger durch Tänzer)
In beiden Fassungen weist der
Tanz eine deutlich Steigerung in
Tempo und Dynamik auf; musikalisch jedoch stark von einander
abweichend. Der 2. F. liegt neu ein
melodisch deutlich hervortretendes
Hauptmotiv zugrunde.
T 336-350: Choral des Fehlt in 1. F., neu in 2. F. hinzuFrauenchors, der die Rolle gefügt
Marikens übernimmt und
deren Text in der 1. Person
singt.
T 351-468: Arie: Mariken
Text weitgehend identisch, musikalisch deutlich verschieden
Monolog : Principál
Identisch
179
3. Szene: Im Gasthaus
Im Gasthaus
T 1-46: Betrunkenenchor
T 1-56: Betrunkenenchor
Inhaltlich weitgehend identisch,
musikalisch verschieden
T 47-194: Teufel, zwei T 57-255: Teufel, Trinker, Inhaltlich weitgehend identisch,
Trinker, Mädchen, Chor Mädchen, Chor (sowie musikalisch verschieden
(sowie getanzte Rolle der getanzte Rolle der Mariken)
Mariken)
Monolog: Meneur du Jeu
Monolog: Principál
Identisch
Mariken verleitet einen
Trinker zum Mord,
worauf sie ihrerseits
den Mörder ersticht
Monolog des Sprechers: Warnung und
anschliessende Überleitung zum Zwischenspiel
Zwischenspiel: Dialog [T 1-21] Metrisch unge- [T 1-21] Metrisch unge- Weitgehend identisch, in beiden
Marikens mit dem bunden, Duett: Mariken, bunden, Duett: Mariken, Fassungen je zweimal durch dieTeufel
Teufel
Teufel
selbe ‚Jahrmarktsmusik‘ durchbrochen.
4. Szene: ‚Das Spiel von Maškaron‘
Das ‚Spiel von Maškaron‘
‚Spiel von Maškaron‘:
Während
Maškaron
versucht, Gott gegen
die Menschen aufzuwiegen, besänftigt die
Mutter Gottes ihren
Sohn
T 1-15: ‚Jahrmarktsmusik‘
auf Bühne
T 16-102: ‚Spiel von Mascaron‘: Terzett: Mascaron,
Gott, Mutter Gottes; Chor
T 1-15: ‚Jahrmarktsmusik‘
auf Bühne
T 16-102: ‚Spiel von Maškaron‘: Terzett: Maškaron,
Gott, Mutter Gottes; Chor
T 103-110: ‚Jahrmarktsmusik‘
Indem Mariken am T 104-161: Terzett: Mutter T 111-173: Terzett: Mutter
Dialog zwischen der Gottes, Mariken, Teufel; Gottes, Mariken, Teufel;
Mutter Gottes und Chor
Chor
ihrem Sohn teilnimmt,
findet sie zu Gott zurück
T 174-180: ‚Jahrmarktsmusik‘
Der Teufel wirft Mari- T 162-202: Orchester mit T 181-221: Orchester mit
ken vom Himmel auf gleichzeitigem
Monolog gleichzeitigem
Monolog
die Erde herunter
des Meneur du Jeu, der die des Principál, der die GeGeschehnisse beschreibt
schehnisse beschreibt
Mariken nähert sich T 203-216: Nachspiel des T 222-235: Nachspiel des
Jesus
Orchesters (sowie getanzte Orchesters (sowie getanzte
Rolle der Mariken)
Rolle der Mariken)
Identisch
Orchestersatz in beiden Fassungen
identisch, Singstimmen leicht
verschieden
In 2. F. neu hinzugefügt
T 104-110 der 1. F. nicht in 2. F.
übernommen, ab T 111 wieder
identisch weiter
In 2. F. neu hinzugefügt
Orchestersatz in beiden Fassungen
identisch, Singstimmen leicht
verschieden
Identisch
5. Szene: Der Tod Marikens
Die sterbende Mariken T 1-31: Arie: Mariken
preist Gott
T 1-31: Arie: Mariken
Orchestersatz in beiden Fassungen
identisch, Singstimmen leicht verschieden
Alleluja des Frauen- T 32-118: Choral : Frauen- T 32-125: Choral : Frauen- Weitgehend identisch. Abweichors
chor
chor
chung: T 66-70 der 1. F. entsprechen T 66-77 in der 2. F.
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ZWISCHEN POETISMUS UND ‚BEKENNTNISOPER‘
Als grundsätzlich ideologische Richtung, die dem reinen Ästhetizismus abgeschworen hatte
und stattdessen für die Verankerung einer gesellschaftlich relevanten Lebenskunst in der zu
poetisierendenden Welt plädierte, ist der böhmische Poetismus durch unterschiedliche Ansätze geprägt, die Funktion von Kunst neu zu bestimmen190. Dies geschah nicht zuletzt deshalb im Geiste des Kommunismus, weil sich die Exponenten des Poetismus weitgehend auf
die Mitglieder der bereits 1920 gegründeten, kommunistischen Gruppe Devětsil – der
tschechische Name für das stinkende Kraut ‚Pestwurz‘ – beschränkten, eine politische Ausrichtung, die sich mehr oder weniger explizit in der Haltung gegenüber der Funktion von
Kunst sowie in den unterschiedlichen Manifesten niederschlug191. Gerade bei den beiden
wichtigsten Vertretern des Poetismus zeigt sich eine stark differenzierende Auffassung hinsichtlich der Rolle der Kunst, denn während Karel Teige bemüht war, mit der ‚Poesie‘ den
Geist des Menschen zu reinigen und ihn damit auf eine zukünftige sozialistische Gesellschaft
vorzubereiten, suchte Vítězslav Nezval nicht einer gesellschaftlichen Utopie wegen, sondern
um die verkümmerte Phantasie anzuregen, nach dichterischen Techniken192.
Der Poetismus ist die Methode, wie man die Welt ansieht, damit sie zum Gedicht wird. Er besteht nicht aus Themen, die ihm seine Gegner zuschreiben. Es gibt überhaupt keine Themen 193.
Bedingt durch den Verzicht auf eine ausschliesslich ideologische Zielsetzung, dem die Auffassung einer weitgehend autonomen Welt der ‚Poesie‘ zugrunde lag, wollte Nezval die Verbindung zum Leben in einer vagen Weise dadurch aufrechterhalten, dass er statt auf eine Revolution auf eine Sensibilisierung des Menschen zielte. Dem Künstler räumte er die grösstmögliche Freiheit ein, war es doch dessen Aufgabe, mithilfe der Phantasie die beherrschende
Logik zu überwinden, was zwingend in immer neuer Weise geschehen musste, denn jede,
auch die zunächst ungewöhnlichste Art der Dichtung wird zur Konvention, sobald sie zu oft
190
Zitat Illing, Jan Mukařovský und die Avantgarde (2001), S. 79; siehe auch Vlašin, Slovník literární teorie
(1984), S. 278.
191
Zu ‚Devětsil‘ siehe u.a. Brousek, Der Poetismus (1975), S. 57-75; Drews, Die slawische Avantgarde und der
Westen (1975), S. 84-97; Müller, Der Poetismus (1978), S. 26-28.
192
Vgl. Müller, Der Poetismus (1978), S. 37-38, 69; Drews, Die slawische Avantgarde und der Westen (1975),
S. 87, 95. Zu Karel Teige siehe u.a. Srp, Karel Teige 1900-1950 (1994).
193
Nezval, Kapka inkoustu [Ein Tintentropfen] (1928), in: Dílo XXIV, S. 179.
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gebraucht worden ist194. Nezvals Poetismus kreiste hauptsächlich um die Sprache, deren
Dynamik er dadurch freizusetzen beabsichtigte, dass er das Wort als Zeichen auf dieselbe
Stufe wie die Realität als Bezeichnetes stellte – die Worte, die die Wirklichkeit abbilden, sind
in der Tat selbst die Wirklichkeit –, infolgedessen sprachliche Veränderungen unweigerlich
die Wirklichkeit beeinflussen195. Der Forderung nach Phantasie entsprechend, spielte die
Assoziation als Alchimistin, schneller als das Radio, in Nezvals Schaffen eine vorrangige
Rolle, die darüber hinaus nicht nur die Bedeutung der Metapher sowie der Assonanz, sondern
auch diejenige des Reimes untermauerte, da dieser wundersame Freundschaften zwischen
Worten herzustellen vermöge196.
Hinsichtlich des Textbuches der Hry o Marii ist ein Bezug zum späten Poetismus nicht
nur durch die Mitarbeit Nezvals, dem Librettisten des ersten Aktes, sowie des Poetisten Vilém
Závada, dem Übersetzer des zweiten Aktes, gegeben, sondern auch durch die freie Bearbeitung mittelalterlicher und volkstümlicher Quellen, kann diese doch als Absicht gedeutet werden, den poetischen Gehalt der Welt durch Rückgriffe auf alle vorhandenen und vergangenen
Stile auszudrücken197. Dennoch ist streng genommen eine eindeutige Zuordnung des Librettos
zum Poetismus nicht zu leisten, da die Hry o Marii einerseits unmöglich mit Teiges gesellschaftspolitischer Intention in Einklang zu bringen sind, und andererseits Nezvals Innovationsprinzip jegliche verbindliche Kriterien von vornherein obsolet erscheinen lässt. Mit dieser Einschränkung lässt sich das Textbuch in vielerlei Hinsicht poetistisch deuten, findet sich
doch ein zumindest latenter Zusammenhang zwischen dem Poetismus und der Oper Hry o
Marii auch im Bestreben, mit dem wirklichen Theater zum Publikum zurückzufinden, was als
Ausdruck einer intendierten Rückkehr der Kunst ins Leben verstanden werden kann. Im Gegensatz dazu muss eine Zuordnung der Musik zum Poetismus ungleich problematischer anmuten, obwohl etwa Martinůs Ideal einer musikalischen Poesie zu einem poetistischen Etikett
verleiten könnte, denn während es sowohl Teige als auch Nezval um eine untrennbar mit der
Wirklichkeit verbundene Poesie der Welt ging – sei es als gesellschaftlicher Zustand, sei es in
der Gleichsetzung vom Wort mit der Realität –, strebte der Komponist eine solche innerhalb
rein musikalischer Grenzen an, also weitgehend unabhängig von aussermusikalischen Gege-
194
Zitat Nezval, Přednáška o avantgardní literatuře [Vortrag über die avantgardistische Literatur] (1930), in:
Ders., Dílo XXIV, S. 224; zur Bedeutung der ‚Innovation‘ für Nezvals Kunstauffassung siehe Müller, Der
Poetismus (1978), S. 73.
195
Zitat Nezval, Chtěla okrást lorda Blamingtona [Sie wollte Lord Blamington bestehlen] (1930), in: Ders., Dílo
XXIV, S. 264.
196
Zitat Nezval, Papoušek na motocyklu [Der Papagei auf dem Motorrad] (1924), in: Ders., Dílo XXIV, S. 14 f.
197
Zu Vilém Závada siehe u.a. Brousek, Der Poetismus (1975), S. 117, 261 f.
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benheiten198. Da es sich beim Poetismus im Grunde um eine ideologisch motivierte Richtung
handelt, ist ein mündliches Bekenntnis dazu gerade in der Musik unabdingbar, ist doch der
Ton im Unterschied zum Wort zu keiner expliziten inhaltlichen Bezugnahme fähig. Dies zeigt
sich beispielsweise darin, dass Nezval in seinem Aufsatz über E. F. Burian ausgerechnet diejenigen Momente hervorhebt, die in hohem Masse der Musikauffassung Martinůs entsprechen, nämlich die Reinigung der Musik von Aussermusikalischem und dem Verzicht auf
Tonmalereien und Leitmotive – der grundlegende musikästhetische Unterschied zwischen den
beiden Komponisten ist weniger im Idiom als vielmehr in Burians Bekenntnis zum Poetismus
zu finden199.
Martinů strebte nicht deshalb nach einer ‚Poesie‘, um in einer allgemeinen Weise die Phantasie des Menschen anzuregen – geschweige denn als Vorbote einer zukünftigen sozialistischen
Gesellschaft –, sondern um die Musik zu ihren ‚Grundlagen‘ zurückzuführen; eine Ausrichtung, die bedingt, dass die Hry o Marii allein mit den künstlerischen Momenten eines Nezvalschen Poetismus in Verbindung gebracht werden können, nicht aber mit dem ideologischen
Kern einer Bewegung, die schliesslich im tschechischen Surrealismus aufgehen sollte200. Dass
ihn dagegen das Ideal einer ‚poetischen‘ Musik nicht davon abgehalten hat, sich bei den Hry o
Marii am zeitgenössischen Theater zu orientieren, liegt in dessen hoher Kompatibilität mit
seiner Musikauffassungen begründet, ermöglichte doch die Betonung des ‚Spiels im Theater‘
eine Vertonung fern jeglicher Psychologisierung. Da Martinů auf eine ‚Entdramatisierung‘
der Oper zielte, worunter er einen Verzicht auf die „dramatische“ Aktion zugunsten der
Situation, der Attitude verstand, lag es zudem nahe, die abendfüllende Oper aus Einaktern
zusammenzufügen, die den Vorteil in sich bergen, nicht ein Drama im Kleinen, sondern nur
ein Teil des Dramas zu sein201. Anstelle einer sich entwickelnden Handlung bestimmen
aneinandergereihte szenische Momente insofern die gesamte formale Anlage der Hry o Marii,
198
Einen direkten Vergleich zwischen Nezval und Martinů stellte etwa Erismann an: Tout l’univers de Martinů
est ici résumé mais aussi sa manière d’agir, de concevoir le rôle de l’artiste et la portée de l’œuvre d’art.
Erismann, Martinů (1990), S. 92. Siehe auch Stöck, Der Einfluss von Surrealismus und Poetismus auf
Martinůs Oper ‚Julietta‘ (2000), S. 680, 683.
199
Zitat Nezval, E. F. Burian (1925), in: Ders., Dílo XXIV, S. 84-87; zu E. F. Burian siehe dessen Schriften von
1925-1938: Paclt, E. F. Burian (1981). Zum musikalischen Poetismus siehe u.a. Smetana, Dějiny české
hudební kultury, Bd. 2 (1981), S. 439-441; zum ‚Osvobozené divadlo‘ [Das Befreite Theater], dem
poetistischen Theater in Prag, siehe Pelc, Zpráva o Osvobozeném divadle [Nachricht vom Osvobozené
divadlo] (1982) sowie Pelc, Meziválečná avantgarda a Osvobozené divadlo [Die Avantgarde der
Zwischenkriegszeit und das Osvobozené divadlo] (1981); zu Jaroslav Ježek, dem wichtigsten Komponisten
des ‚Osvobozené divadlo‘ siehe Holzknecht, Jaroslav Ježek & Osvobozené divadlo (1957).
200
Schamschula, Tschechische Literatur: Aufbruch des Internationalismus (1983), S. 545.
201
Zitat Martinů, [Handschriftliche Notizen zur Oper] (1943), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 197;
Zitat Szondi, Theorie des modernen Dramas (1963), S. 92.
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als nicht nur die vier Akte blosse Ausschnitte aus Dramen darstellen, sondern sogar innerhalb
der einzelnen Szenen das Geschehen weitgehend aus den vertonten Teilen absorbiert wurde –
etwa durch die Verwendung eines auktorialen Sprechers im zweiten, die wiederholte Erzählung desselben Ereignisses im dritten, oder die Traumatmosphäre im vierten Akt.
Indem Martinů – ganz im Geiste des zeitgenössischen avantgardistischen Theaters –
nicht die logische Entwicklung, sondern bloss das Gerüst einer Handlung berücksichtigte,
erreichte er, entsprechend dem eigentlichen Ziel seines Vorgehens, ein grösstmögliches Mass
an musikalischer Freiheit. Der kausale Zusammenhang zwischen Musikauffassung und theaterästhetische Ausrichtung wonach der Ausgangspunkt für die neue Opernform das eigene
musikalische Problem war, liegt darin begründet, dass es ihm primär darum ging, die Musik
in die ihr eigene Sphäre zurückzuführen, und erst als weiteren Schritt zum wirklichen Theater
zu finden202. Während Martinů bei Les trois Souhaits Ribemont-Dessaignes’ Dadaismus vom
Libretto in die Vertonung hineingetragen und auf der Folie der ‚Zeitoper‘ sowohl die Gattung
Oper als auch die Musik mehr negiert als neu definiert hatte, strebte er mit der Trilogie Špalíček, Hry o Marii und Divadlo za bránou explizit eine Erneuerung des Musiktheaters an.
Martinů besann sich vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit
infolge der Weltwirtschaftskrise auf die künstlerische und moralische Verpflichtung als Komponist, beklagte er doch die fehlgerichtete Rezeptionshaltung eines Publikums, das die Musik
längst zu einem alltäglichen Ereignis hat verkommen lassen203. Hinsichtlich des Anspruchs
auf ‚höchste Kunst‘, als Ausdruck einer vom Komponisten wahrgenommenen gesellschaftlichen Verantwortung, lassen sich die Hry o Marii durchaus in die Reihe der nach 1930 entstandenen Bekenntnisopern einordnen, die trotz unterschiedlichster Idiome allesamt von einer
neuen Suche nach bleibenden Werten zeugen – sei es Paul Hindemiths Mathis der Maler,
Ernst Kreneks Karl V. oder Arnold Schönbergs Moses und Aron204.
Während einerseits die Hry o Marii mit Blick auf das gewandelte kompositorische
Selbstverständnis Martinůs eine Bezeichnung als ‚Bekenntnisoper‘ nahe legen, wodurch das
Werk Teil einer übergreifenden ideengeschichtlichen Wende um 1930 wird, so sagt jedoch
andererseits dieser Terminus nichts über die eigentliche Beschaffenheit der Oper aus. Wie
vage der Begriff als reiner Ausdruck einer Geisteshaltung hinsichtlich einer Definition verbindlicher Merkmale letztlich ist, zeigt sich etwa bei der Rolle von Mythos und Geschichte
202
Zitat Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii [Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 206.
203
Zitat Martinů, Hudba v Paříži [Musik in Paris] (1933), in: Šafránek, Domov, hudba a svět, S. 56.
204
Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts (1984), S. 234-246.
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sowie deren nationaler Färbung. Obwohl keine weltanschauliche Botschaft vonnöten ist, sondern vielmehr der persönliche Entwurf einer umfassenden künstlerisch-dramatischen Äusserung eine ‚Bekenntnisoper‘ ausmacht, stellte Danuser dennoch eine typische Verquickung von
religiösen und nationalen Elementen fest, eine Charakterisierung, die mit Blick auf die katholische Thematik der nationalen Spiele vollumfänglich auf die Hry o Marii zuzutreffen
scheint205. Wie wenig diese hervorgehobenen Merkmale als Erklärung für das Werk taugen,
zeigt sich einerseits darin, dass die religiöse Thematik bei der Wahl mittelalterlicher Theaterstoffe als ‚conditio sine qua non‘ unvermeidlich ist, sowie andererseits in der fragwürdigen
‚Nationalität‘ der Oper. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Martinů sich ernsthaft bemüht
hatte, tschechische Vorlagen für die Hry o Marii zu finden, was durch seinen Aufenthalt in
Paris erheblich erschwert wurde, zeugt die Wahl der durch ihre Verbreitung geradezu europäisch anmutenden Legenden nur bedingt von der Absicht, nationale Spiele zu verfassen206.
Allein die verwendeten Volksliedtexte in den letzten beiden Akten sowie das poetistisch
gefärbte Libretto verweisen auf eine spezifisch tschechische Ausprägung, die jedoch durch
ihre Einbettung in die an Gaston Baty orientierte Konzeption viel vom offenkundig ‚Tschechischen‘ einbüsst. Selbst die verschiedenen musikalischen Analogien zu Charakteristiken der
mährischen Volksmusik – in der Überlieferung Janáčeks – können nicht sinnvoll als Hinweis
auf eine intendierte ‚Nationalmusik‘ gedeutet werden, sind sie doch vielmehr das klingende
Resultat der Absicht, die Oper im Volkston zu verfassen, und damit gleichsam das musikalische Pendant zum angestrebten Volkstheater207.
205
Zitat Danuser, Ebd., S. 234; Zitat Martinů, Divadlo za bránou [Das Vorstadttheater] (1936), in: Šafránek,
Divadlo Bohuslava Martinů, S. 242.
206
Zitat Martinů, Divadlo za bránou [Das Vorstadttheater] (1936), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S.
242. Bezüglich Martinůs Suche nach tschechischen Vorlagen siehe Martinů, Poznámky k cyklu Hry o Marii
[Anmerkungen zum Zyklus Hry o Marii] (1935), in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 207. Bei
seiner Suche nach tschechischen Legenden stiess Martinů bloss auf zwei verwendbare Quellen, nämlich Tři
Marie [Die drei Marien] sowie Mastičkář [Der Quacksalber], die ihm jedoch für seine Zwecke nicht
genügend praktikabel erschienen. Zu diesen mittelalterlichen Quellen siehe auch Milena ČesnákováMichalcová, Mysterienspiele in Böhmen und in der Slowakei, in: Csobádi, Welttheater, Mysterienspiel,
rituelles Theater (1992), S. 153-162.
207
Zitat Martinů, Brief Martinůs an František Muzika, vom 30. April 1934 aus Paris, in: Šafránek, Divadlo
Bohuslava Martinů, S. 187; Zitat Martinů, [Interview anlässlich der Uraufführung der Hry o Marii] (1935),
in: Šafránek, Divadlo Bohuslava Martinů, S. 200.
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