Michael Nerurkar (Institut für Philosophie, TU Darmstadt) – 11/2012 Was heißt ‚transzendental’ bei Kant? Mit dem Ausdruck ‚transzendental’ kennzeichnet Kant bekanntlich das eigentümliche und neuartige der mit der Kritik der reinen Vernunft eingenommenen Denkungsart. Er verwendet jenen Ausdruck zur Benennung aller Systemhauptteile der Kritik und bedient sich näherhin desöfteren der Wendung „im transzendentalen Verstande“, um das Vokabular der transzendentalen Logik und dessen Gebrauch von einem solchen von Ausdrücken „im empirischen Verstande“ abzugrenzen.1 Bemessen an dem besonderen Stellenwert, der dem Terminus ‚transzendental’ bei Kant zweifelsohne zukommt, scheinen Bedeutung und systematische Funktion dieses Begriffs in der Literatur bislang nicht hinreichend expliziert und rekonstruiert. Häufig wird mit diesem Ausdruck umgegangen, ohne dass ihm zuvor ein klarer Sinn gegeben wurde, oder es scheint schlicht ein gewisses Vorverständnis von ,transzendental‘ vorausgesetzt zu werden – am verbreitetsten hier wohl ,Bedingung der Möglichkeit‘.2 Zwar ist ‚Bedingung der Möglichkeit’ zweifelsohne ein Aspekt jenes Begriffs, dies aber zur Hauptbedeutung von ,transzendental‘ zu erheben, stellt eine einseitige Verkürzung dar, wie sich im Folgenden zeigen soll, wenn der Versuch unternommen wird, dem Ausdruck ,transzendental‘ bei Kant einen präziseren Sinn zu geben. Dies soll geschehen, indem dafür argumentiert wird, dass ,transzendental‘ in einer erläuternden Übersetzung wiederzugeben ist als: auf den Gegenstandsbezug von Vorstellungen bezogen. Damit soll nicht sogleich behauptet sein, dass dies eine vollständige Erklärung des Terminus ,transzendental‘ und seiner Verwendungsweisen bei Kant darstelle, sondern dass es den 1 Eine Vielzahl der in der transzendentalen Logik im transzendentalen Sinne gebrauchten Ausdrücke kann, verschiedenen Bemerkungen Kants folgend (vgl. etwa B 45, B 320), auch in einem logischen Sinne oder in einem empirischen Sinne aufgefasst werden, worauf Kant gleichwohl selten genug hinweist. Entsprechend stellt eine diesbezügliche Differenzierung für viele Textstellen eine vorrangige Interpretationsaufgabe dar. 2 Die Explikation dieses so zentralen Terminus beschränkt sich häufig auf Zitation und Paraphrase der Textstelle B 25 oder Bemerkungen der Art, ‚transzendental’ heiße so viel wie ‚Bedingung der Möglichkeit’ (im Falle Kants dann: von Erkenntnis), oder nicht-empirisch, oder dergleichen. – „Nichts scheint einfacher, als die Antwort auf die Frage, was unter dem Worte ,transzendental‘ zu verstehen ist, und doch lehrt die einschlägige Literatur, dass dies durchaus nicht der Fall ist“ stellte schon seinerzeit der Neukantianer Franz Staudinger fest (Staudinger 1920, S. 215), dessen Einschätzung wohl auch heute noch kaum einer Korrektur bedürftig scheint. Die (bemerkenswert wenigen) Studien, die sich dem Terminus ,transzendental‘ als solchem widmen, divergieren in ihren Ergebnissen stark (hervorzuheben sind insbes. Staudinger 1920, Knittermeyer 1924, Gerresheim 1962, Hinske 1970 und 1998, Bittner 1974, Gideon 1977, Zynda 1980, Röd 1991, Knoepffler 1993). Zum Teil wird hier allerdings kaum über Allgemeinplätze hinausgegangen, textfern argumentiert, die Nichtrekonstruierbarkeit einer eigentlichen Bedeutung von ,transzendental‘ behauptet, oder es werden in systematischer Absicht wenig erhellende Explikationen gegeben. Dass ,transzendental‘, wofür in vorliegendem Aufsatz argumentiert wird, in die Richtung ,Bezogenheit auf den Gegenstandsbezug‘ weist, wird freilich zum Teil auch gesehen (etwa von Gerresheim, Staudinger, Röd, Zynda), jedoch nicht bestimmt genug herausgearbeitet und systematisch entfaltet. Die hier im Folgenden vorgeschlagene Interpretation des Terminus beansprucht allerdings zunächst auch nicht mehr als einen Ansatz darzustellen, dessen umfassende systematische Ausarbeitung hier freilich nicht erfolgen kann, sondern auf spätere Arbeiten zu verschieben bleibt. 1 Kernsinn jenes Begriffs ausmacht und dass dessen weiteren Konnotationen allererst von diesem Kernsinn her verständlich zu machen sind. Die hier vorgeschlagene Deutung besagt genauer, dass dasjenige, was von Kant als ,transzendental‘ gekennzeichnet wird, in verschiedener Weise, nämlich konstitutiv, regulativ, störend oder reflexiv, auf reinvorstellungsmäßige apriorische Gegenstandsbezüge bezogen ist; d. h.: transzendental ist, was als Komponente, Vollzug, Moment oder Instanz zu diesen beiträgt – oder aber auch, was jenen Beitrag reflexiv/höherstufig erkennt.3 Diese Deutung von ,transzendental‘ als ,gegenstandsbezugsbezogen‘ erlaubt es, so wird hier jedenfalls unterstellt, die hauptsächlichen Verwendungen dieses Ausdrucks in der Kritik der reinen Vernunft konsistent zusammenzubringen, 4 was freilich nur in einem umfassenden Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft gezeigt werden könnte, hier also auch nicht zu leisten ist. Im Folgenden soll stattdessen nur die vorgeschlagene Interpretation von ,transzendental‘ anhand einiger einschlägiger Textstellen in der Kritik in Grundzügen entwickelt werden. Es ist zunächst erforderlich, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welche Zwecke Kant mit der Kritik der reinen Vernunft verfolgt, d. h. auf welche Problemlage diese überhaupt antwortet. Es handelt sich hierbei, wie wohl naheliegt, aber eben auch zu explizieren ist, um ,transzendentale‘ Fragestellungen.5 In der Kritik der reinen Vernunft ist Kant mit der Untersuchung von Erkenntnis befasst, dies jedoch unter einer spezifischen Problemstellung und in einer ausgezeichneten Hinsicht. Kant selbst gibt hierzu verschiedentlich Auskunft. So berichtet er 1772 in einem Brief an Marcus Herz, wie er zur Einsicht in die Notwendigkeit einer völlig neuartigen Untersuchung gelangte und mit welcher Grundfrage sich diese zu beschäftigen habe. Die schon fortgeschrittene Arbeit an seinem metaphysischen System und geplanten Hauptwerk habe Kant aus- Während nach der hier vorgeschlagenen Auffassung ,transzendental‘ eine Gegenstandsbezugsbezogenheit anzeigt, bezeichnet Kant die Gegenstandsbezogenheit selbst von Vorstellungen als deren objektive Gültigkeit und objektive Realität (vgl. B 117, B 137, B 150, B 298, A 109). 3 4 Diese Behauptung ist allerdings sogleich insofern einzuschränken, als erstens Kant selbst scheinbar ,transzendental‘ und ,transzendent‘ zum Teil durcheinanderwirft – dieser in der Literatur ja auch häufig ausgesprochene Eindruck jedenfalls stellt sich ein, wenn man seine eigenen Bemerkungen zum Unterschied dieser Begriffe in den Prolegomena mit dem Text der Kritik der reinen Vernunft zusammenhält (vgl. Prolegomena, AA 4, 373; auch Hinske 1998, S. 1381 f., Knoepffler 2001, S. 129). Zweitens ist in der Kritik auch stellenweise ein eher uneigentlicher Gebrauch von ,transzendental‘ festzustellen, der sich an das hier als Kernsinn desselben herausgestellte bloß anlehnt bzw. nur einige seiner weiteren Konnotationen geltend macht. Drittens wären auch Kants Verwendungen von ,transzendental‘ in Kontexten der praktischen Philosophie (beispielsweise ,transzendentale Freiheit‘) zu integrieren, was ebenfalls eine Aufgabe größeren Umfanges darstellt. Es soll hier auch gar nicht ausgeschlossen werden, dass dieser anfänglich (in der Kritik der reinen Vernunft) streng auf Gegenstandsbezüglichkeit fokussierte Terminus im Zuge der weiteren Denkentwicklung Kants (d. h. insbesondere in den späteren Kritiken) gewisse Bedeutungserweiterungen und –verschiebungen erfährt, hin zu einem allgemeineren Titelwort für das kritische Philosophieren. 5 Der allgemeine Zweck der Kritik der reinen Vernunft ist bekanntlich der, die Metaphysik in eine wissenschaftliche Form zu bringen (vgl. B XXXVI). Was hier als das eigentliche Vorgehen der Kritik herausgestellt werden soll, ist Mittel oder Weg hierzu: Eine Antwort auf die transzendentale Frage eröffnet allererst die Perspektive auf eine echte, wissenschaftliche Metaphysik. 2 setzen müssen, da jene Grundfrage seinen „metaphysischen Untersuchungen“ allererst vorauszuschicken und zu beantworten sei: so bemerkte ich: daß mir noch etwas wesentliches mangele, welches ich bey meinen langen metaphysischen Untersuchungen, sowie andre, aus der Acht gelassen hatte und welches in der That den Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys:, ausmacht. Ich frug mich nemlich selbst: auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?6 Das den eigentlich metaphysischen Fragen vorausliegende Problem, das Kant beschäftigt, ist das der „Beziehung“ unserer Vorstellungen „auf den Gegenstand“. Nun gibt es für Kant Vorstellungen unterschiedlicher Arten und so auch unterschiedliche Arten der Beziehung auf Gegenstände – Kant aber interessieren hier vor allem vorstellungsmäßige Bezüge auf Gegenstände eines ganz bestimmten Typs, nämlich die apriorischen Gegenstandsbezüge. Denn unproblematisch scheint Kant, wie „[d]ie passive[n] oder sinnliche[n]“, d. h. die empirischen Vorstellungen, „etwas vorstellen d. i. einen Gegenstand haben könne[n]“: Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das subiect von dem Gegenstande afficirt wird, so ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sey und wie diese Bestimmung unsres Gemüths etwas vorstellen d. i. einen Gegenstand haben könne.7 Der Gegenstandsbezug empirischer Vorstellungen ist für Kant unproblematisch, weil hier der Gegenstand die Ursache der Vorstellung ist, die Vorstellung also auf Affektion zurückgeführt werden kann. Die Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand (ihre objektive Gültigkeit) ist dann dadurch gesichert, dass die Vorstellung nur durch den Gegenstand hervorgebracht worden sein kann.8 Auch die Möglichkeit des Gegenstandsbezugs der Vorstellungen eines (nicht menschlichen) „intellectus archetypi“, sowie die „Conformitaet derselben mit den obiecten“ seien, so Kant, zumindest „verständlich“: wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des obiects activ wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die Göttliche Erkentnisse als die Urbilder der Sachen vorstellet, so würde auch die Conformitaet derselben mit den obiecten verstanden werden können.9 6 An Marcus Herz, 21. Februar 1772, Briefwechsel, AA X, 130 7 An Marcus Herz, 21. Februar 1772, Briefwechsel, AA X, 130 8 So auch das Bild, das Kant in der Einleitung zur KrV, in § 1 der Transzendentalen Ästhetik und in der Einleitung zur Transzendentalen Logik zeichnet (wenngleich zu bemerken ist, dass zwischen den in diesen drei Einleitungspassagen jeweils skizzierten Modellen des Erkenntnissachverhalts bedeutsame Unterschiede bestehen, auf die es hier aber nicht ankommen soll): „Gegenstände“ „rühren“ „unsere Sinne“ und „bewirken“ „Vorstellungen“ (B 1). „[D]er Gegenstand“ „affizier[t]“ „das Gemüt“, und durch die „Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden“ „bekommen“ wir Vorstellungen (B 33); der Gegenstand hat eine „Wirkung [...] auf die Vorstellungsfähigkeit“ (B 34); empirische Vorstellungen setzen „die wirkliche [wirkende, MN] Gegenwart des Gegenstandes“ (B 74) voraus. 9 An Marcus Herz, 21. Februar 1772, Briefwechsel, AA X, 130 3 Nun geht es Kant aber um den menschlichen Verstand und um eine spezifische Art von Vorstellungen desselben, die dadurch ausgezeichnet sind, dass sie weder durch den Gegenstand hervorgebrachte, noch den Gegenstand hervorbringende Vorstellungen sind: die reinen Verstandesbegriffe. Es stellt sich die Frage, wie es Vorstellungen geben könne, die weder vermittels Affektion durch den Gegenstand hervorgebracht werden (also reine Vorstellungen sind), noch als göttliche Vorstellungen („Urbilder der Sachen“) ihren Gegenstand selbst hervorbringen, und dennoch eine gültige Beziehung auf einen Gegenstand (mithin also ‚Gemäßheit’, „Conformitaet“, Übereinstimmung usw. mit demselben) aufweisen können – eine Beziehung a priori. Kant fragt, „[w]ie aber denn sonst eine Vorstellung[,] die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise afficirt zu seyn[,] möglich“10 sein könne: Ich hatte gesagt: die sinnliche Vorstellungen stellen die Dinge vor, wie sie erscheinen, die intellectuale wie sie sind. Wodurch aber werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns afficiren und wenn solche intellectuale Vorstellungen auf unsrer innern Thätigkeit beruhen, woher komt die Übereinstimmung die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden und die axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne da[ss] diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hülfe entlehnen.11 Dieses Problem formuliert Kant dann auch in §14 der Kritik der reinen Vernunft, also in der Transzendentalen Logik:12 Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich auf einander notwendiger Weise beziehen, und gleichsam einander begegnen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegenstand allein möglich macht. Ist das erstere, so ist diese Beziehung nur empirisch, und die Vorstellung ist niemals a priori möglich. Und dies ist der Fall mit Erscheinung, in Ansehung dessen, was an ihnen zur Empfindung gehört.13 Auch hier also benennt Kant wieder jene verschiedenen möglichen Weisen der Bezogenheit von Vorstellungen und Gegenständen, und zwar nun in schärferer Fassung als zwei Arten von Ermöglichungsverhältnissen – ist es der Gegenstand, der die Vorstellung ermöglicht oder ist es die Vorstellung, die den Gegenstand möglich macht? 14 Doch skizziert Kant hier nun sogleich auch die Lösung für jenes 1772 noch offene Problem: Ist aber das zweite, weil Vorstellung an sich selbst (denn von deren Kausalität, vermittels des Willens, ist hier gar nicht die Rede,) ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht 10 An Marcus Herz, 21. Februar 1772, Briefwechsel, AA X, 130 11 An Marcus Herz, 21. Februar 1772, Briefwechsel, AA X, 131 12 Vgl. zum Status des Arguments A 92-93/B 124-126 Kants Bemerkungen in der Vorrede zur A-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft (A XVII). 13 B 124 14 Wobei unter dem Fall der Hervorbringung der Gegenstände durch Vorstellungen nun die durch Handeln hervorbringende Beziehung auf Gegenstände verstanden ist (d. h. Vorstellungen als Willensbestimmungen), während ein göttliches Vorstellen nicht mehr thematisiert wird. Auch jener Fall der Vorstellung-Gegenstands-Beziehung im menschlichen Handeln wird von Kant hier als nicht von Interesse beiseitegeschoben. 4 hervorbringt, so ist doch die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdenn a priori bestimmend, wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen.15 Die fraglichen Vorstellungen wären demnach für die Gegenstände „a priori bestimmend“ (würden sich also a priori auf solche beziehen), wenn sie die Bedingungen und Formen abgäben, etwas als Gegenstand zu erkennen, wenn sie mithin also schon die Bedingungen und Formen wären (oder enthielten), etwas überhaupt als Gegenstand zu denken, d. h. als solchen und in seiner Gegenständlichkeit zu entwerfen. Solche Vorstellungen hätten dann die Funktion, den Gegenstand in seinem Gegenstandsein selbst zu bestimmen, nicht in seinem spezifischen So-Sein und auch nicht in seinem Dasein. Die transzendentale Analytik nun, jener Teil der transzendentalen Logik, den Kant als „Logik der Wahrheit“16 bezeichnet, stellt die „Prinzipien [vor], ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann“, und denen „keine Erkenntnis widersprechen [kann], ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgend ein Objekt, mithin alle Wahrheit“17. Im Gegensatz zur allgemeinen Logik, die „von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt“18 abstrahiert (und nur mit allgemeinsten Gesetzen des Verstandes und der Vernunft, d. h. des ‚Denkens überhaupt’ zu tun hat), lässt sich also „[i]n der Erwartung [...], daß es vielleicht Begriffe geben könne, die sich a priori auf Gegenstände beziehen mögen“, eine transzendentale Logik konzipieren, „die es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu tun hat, aber lediglich so fern sie auf Gegenstände a priori bezogen werden“19. Die spezifische Reflexionshinsicht der transzendentalen Logik ist hier deutlich ausgesprochen: Sie nimmt, wie auch die allgemeine Logik, die Gesetze des Denkens in den Blick – dies dann jedoch näherhin (und in einer gegenüber der letzteren ausgezeichneten Weise) „lediglich“ in der Hinsicht der Gegenstandsbezüglichkeit des Denkens. 20 Was Kant problematisiert und einer Klärung zuzuführen sucht, ist die Möglichkeit des apriorischen Gegenstandsbezugs von nicht-empirischen (d. h. reinen) Vorstellungen (insbesondere Begriffen) eines 15 B 125 16 B 87 17 B 87 18 B 79 19 B 81. Hervorhebungen durch Unterstreichung sind von mir hinzugefügt. 20 Während die allgemeine reine Logik also die allgemeinen formalen Gesetze des Denkens (Formbedingungen von Gedanken als solchen und ihrer Verhältnisse untereinander) untersucht, ist die transzendentale Logik mit den Gesetzen der Beziehung von (formal korrekt gebildeten) Gedanken auf Gegenstände befasst. Jene formuliert zwar notwendige Bedingungen des Gegenstandsbezugs (weil sie notwendige Bedingungen des Gedanke-Seins überhaupt formuliert). Aber erst die Transzendentalphilosophie bzw. transzendentale Logik legt für Begriffe, „die sich auf ihre Gegenstände a priori beziehen sollen“ die Bedingungen solchen Bezugs „in allgemeinen aber hinreichenden Kennzeichen“ (B 175) dar. 5 menschlichen Verstandes.21 Damit unterscheidet sich Kants Unternehmung von früheren erkenntnistheoretischen Untersuchungen, etwa eines Descartes oder eines Hume, die noch mit der Rechtfertigung, den Wahrheitsgründen oder dem Ursprung von Begriffen befasst waren.22 Die transzendentale Logik fragt hier nur nach der Möglichkeit ihres Bezugs a priori auf Gegenstände. Daher gestaltet sich die Antwort auf die „Frage: „quid iuris“23 in Bezug auf gewisse Begriffe (bzw. auf sich auf diese gründende synthetische Sätze a priori) auch nicht etwa als logische Deduktion aus anderen Begriffen, als empirische Deduktion aus der Erfahrung oder als irgendwie geartete inhaltliche Ableitung, sondern als die Rechtfertigung bzw. der Nachweis der von ihnen beanspruchten Gültigkeit a priori von Gegenständen. Die Beantwortung der Frage ,quid iuris?‘ besteht in der Erklärung der Möglichkeit des Geltens jener Begriffe von Gegenständen bzw. ihrer Beziehung auf Gegenstände, sie ist der Nachweis der „Rechtmäßigkeit“24 des Anspruchs jener in Frage stehenden Begriffe auf Gegenstandsgültigkeit, die Erklärung wie und warum sie a priori auf Gegenstände bezogen sind. Dies betrifft aber, wie gesagt, nicht empirische Begriffe, sondern lediglich diejenigen, die „zum reinen Gebrauch a priori (völlig unabhängig von aller Erfahrung) bestimmt sind“ und von denen „man aber doch wissen muß, wie diese Begriffe sich auf Objekte beziehen können, die sie doch aus keiner Erfahrung 21 Der Ausdruck ,a priori‘ (wie entsprechend auch ,a posteriori‘) wird hier so gedeutet, dass er einen spezifischen Modus des Bezugs von Vorstellungen bezeichnet (bzw. allgemeinlogisch gesprochen: ihres Gebrauchs, also ihrer Bildung, Analysis, Synthesis, Subsumtion usw.) (vgl. auch die oben zitierten Stellen B 125 und B 81, sowie die im Folgenden zitierte Stelle B 117). Ein Bezug a priori ist ein nicht durch Empirisches (Affektion) vermittelter Bezug von Vorstellungen auf Gegenstände (oder auf andere Vorstellungen), umgekehrt ist ein Bezug a posteriori ein solcher, der sich auf Empirisches gründet. Mit ,rein‘ und ,empirisch‘ hingegen wird die Herkunft von Vorstellungen (bzw. ihres Inhalts) unterschieden: Reine Vorstellungen sind solche, „denen gar nichts Empirisches beigemischt ist“ (B 3). Der Ausdruck ,empirisch‘ erfüllt für Kant also eine mehrfache Funktion: Erstens (und synonym mit ,a posteriori‘) als ,a priori‘ gegenübergestellt, um den Gebrauch/Bezug von Vorstellungen zu qualifizieren. Zweitens als Gegensatz zu ,rein‘, um den Ursprung oder Status einer Vorstellung zu kennzeichnen. (Anders beispielsweise H. Tetens, der ,rein‘ als „synonym mit ,apriorisch‘“ (Tetens 2006, S. 81) bezeichnet, obwohl doch Kant selbst den Unterschied deutlich herausstellt – dass ,rein‘ dann aber auch eine Teilklasse des Apriorischen bezeichnet, liegt freilich auf der Hand (vgl. B 3).) Desweiteren stellt Kant auch ,empirisch‘ und ,transzendental‘ einander gegenüber, insofern das letztere ja immer auch ,a priori‘ und ,rein‘ mitbedeutet, dabei allerdings doch ebenfalls nicht schlechthin mit diesen beiden zu identifizieren wäre (vgl. B 80). 22 Selbst die Frage nach der Herkunft einer nicht-empirischen Vorstellung ist für die Behandlung ihrer Gegenstandsbezüglichkeit noch irrelevant oder zumindest nachrangig, so dass gerade auch der in der Literatur häufig problematisierte Ursprung oder Erwerb der reinen Verstandesbegriffe in dieser Hinsicht für Kant nicht problematisch werden musste, weil dies in einer transzendentalen Logik keine Frage abgibt – was nicht heißen soll, dass diese Frage nach „Factum“ und „Besitz“ (B 117) von Begriffen nicht zu stellen wäre. Aber sie ist keine transzendentale Frage und daher keine durch transzendentale Logik zu beantwortende. Wohl aus diesem Grund finden sich bei Kant auch insgesamt kaum Überlegungen zu dieser Herkunftsproblematik (vgl. Kants knappe Bemerkung zu einer ,ursprünglichen Erwerbung‘ von Vorstellungen in Entdeckung, AA VIII, 221). 23 B 116 24 B 117 6 hernehme25. Die Beantwortung der Frage nach der „Rechtmäßigkeit“ des Anspruchs reiner Verstandesbegriffe auf eine Beziehung a priori auf Gegenstände nennt Kant entsprechend transzendentale Deduktion: Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transzendentale Deduktion derselben und unterscheide sie von der empirischen Deduction, welche die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden, und daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Factum betrifft, wodurch der Besitz entsprungen.26 Die transzendentale Deduktion ist transzendentale Deduktion genau insofern sie eine „Erklärung der Art ist, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“,27 und sie unterscheidet sich eben dadurch von einer empirischen Deduktion, welche nicht die Gegenstandsbezüglichkeit a priori jener Begriffe, mithin ihren Gebrauch a priori, sondern ihr „Factum“ und ihren „Besitz“, d. h. Gegebenheit, Ursprung und Erwerb betrifft. Damit wird ersichtlich, in welche Richtung der Ausdruck ,transzendental‘ eigentlich weist: Nicht (jedenfalls nicht primär) bezieht sich ,transzendental‘ auf die Rechtfertigung oder die Wahrheit von Vorstellungen. Auch ist ,transzendental‘ nicht schlechthin Synonym für ,Bedingung der Möglichkeit‘ oder ,Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis‘ – denn hierauf zielt ja auch eine empirische Deduktion. Sondern ,transzendental‘ heißt: den Gegenstandsbezug a priori von reinen Vorstellungen oder die Möglichkeit desselben betreffend – oder in Kants eigenen Worten: „transzendental [...] d.i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori“28. Die transzendentale Deduktion einer reinen Gegenstands-Vorstellung ist der Nachweis oder die Erkenntnis der „Rechtmäßigkeit“ ihres Geltungsanspruchs, d. h. Nachweis des Bestehens ihrer Gegenstandsbeziehung und -gültigkeit (objektive Gültigkeit), und sie ist daher auch ein Fall von transzendentaler Erkenntnis, wie sie von Kant an der in der Literatur notorisch falsch aufgefassten Stelle B 25 definiert wird: Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.29 Falsch aufgefasst wird diese Bestimmung, wenn in ihr eine Definition von ,transzendental‘ gesehen wird.30 Tatsächlich geht es Kant hier aber um eine Bestim- 25 B 117 26 B 117 Dass genau dies die Absicht der transzendentalen Deduktion ist, wird beispielsweise von Heinrichs nicht gesehen, der in ihr lieber eine inhaltliche „Spezifikation der Kategorien, ihre Herleitung“ sähe, und sich daran stört, dass Kant „kehrreimartig“ die „objektive Erfahrungsgeltung“ der Kategorien betone (Heinrichs 2004, S. 93 f.) – in welcher dagegen hier ja gerade das eigentliche Interesse der transzendentalen Deduktion gesehen wird. 27 28 B 80. Von ‚Vorstellung’ statt nur von ‚Begriff’ wird hier gesprochen, weil auch in Bezug auf Anschauungen (als jener anderen Art von Vorstellung, neben den Begriffen) bzw. deren reinen Formen die ‚transzendentale’ Frage nach ihrem apriorischen Gegenstandsbezug zu stellen ist. 29 B 25 7 mung des Begriffs transzendentaler Erkenntnis (wobei freilich dann auch um eine Abgrenzung transzendentaler Erkenntnis von anderen Arten der Erkenntnis, nämlich empirischer oder ontologischer Erkenntnis, die nicht Erkenntnis „unserer Erkenntnisart von Gegenständen“, sondern der „Gegenstände“ „selbst“31 sind).32 Vielmehr scheint es umgekehrt doch kaum möglich, der Stelle B 25, an der Kant um eine Definition transzendentaler Erkenntnis bemüht ist, eine Bestimmung von ,transzendental‘ abzulesen, ohne schon über ein Verständnis des Kernsinns dieses Begriffs zu verfügen. Ein allgemeiner Sinn von ,transzendental‘ lässt sich dieser Textstelle nicht ohne Weiteres entnehmen, weil jenes Attribut hier im Besonderen auf ,Erkenntnis‘ bezogen ist, ,transzendental‘ aber, wie in der Kritik der reinen Vernunft vielfach deutlich wird, noch auf vielerlei anderes bezogen werden kann, was selbst kein Fall von Erkenntnis i. e. S. ist (so etwa ,transzendentale Synthesis‘, ,transzendentale Einheit der Apperzeption‘, ‚transzendentale Logik’ usw.). Der Bezug des Attributs ,transzendental‘ auf ein dadurch Attribuiertes bedingt hier immer auch eine sinnmäßige Spezifikation des Attributs selbst.33 Eben dies ist gemeint, wenn hier von einem ‚Kernsinn’ des Begriffs gesprochen wird – einem Kernsinn, der in der Anwendung des Attributs ‚transzendental’ eine weitere Ausgestaltung erfährt. Kants hier gegebene Definition der transzendentalen Erkenntnis kann überhaupt nur verständlich werden, wenn schon hinreichend weit geklärt ist, was ,transzendental‘ eigentlich meint, denn die transzendentale Erkenntnis wird hier ja gerade als transzendentale bestimmt, ohne dass Kant zugleich ausdrücklich erklären würde, was denn eigentlich ,transzendental‘ selbst und im Allgemeinen bedeute – Kants Erläuterung dieses Ausdrucks in B 25 ist deutlich genug auf seine Anwendung auf ,Erkenntnis‘ zugeschnitten.34 Wird der Versuch ge- 30 Die Meinung, in dem Satz B 25 sei eine Definition von ,transzendental‘ zu sehen, ist verbreitet. Tuschling etwa zitiert den Satz B 25, um ihm anzuhängen: „[so] lautet die Definition von ,transzendental‘ in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft (B 25)“ (Tuschling 1971, V). Heinrichs spricht in Bezug auf B 25 von der „berühmte[n] Definition von ,transzendental‘“ (Heinrichs 2004, S. 46), ähnlich Okochi von dem „berühmten Satz Kants, in dem er das Wort ‚transzendental’ definiert“ (Okochi 2008, S. 40). Auch Pinder, der sich in seinem Aufsatz Kants Begriff der transzendentalen Erkenntnis hinsichtlich der philologischen Durchdringung des Satzes B 25 wie kein anderer verdient gemacht hat, spricht von der „Tatsache, daß der erste Satz [...] den Begriff ,transzendental‘ definiert“ (Pinder 1985, S. 6). 31 B 316. Auch hier, im ersten Satz des Kapitels Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, geht es um einen Fall transzendentaler Erkenntnis, nämlich um die transzendentale „Überlegung“ (vgl. Nerurkar 2012, S. 114 ff.). Diese hat entsprechend, weil sie transzendentale ist, nicht mit den Gegenständen „selbst“ zu tun, sondern mit den „Bedingungen [...], unter denen wir zu Begriffen [von Gegenständen] gelangen können“ (B 316). 32 Es liegt freilich auf der Hand, dass B 25 auch Aufschlüsse über den Sinn von „transzendental“ gewinnen lassen; nur handelt es sich bei dem fraglichen Satz eben um keine Definition dieses Terminus. Aus dem verbreiteten Vorurteil, Kant definiere hier ,transzendental‘, ergibt sich umgehend das Problem, dass eine Vielzahl anderer Textstellen, an denen Kant den Ausdruck gebraucht, mit der Stelle B 25 inkompatibel werden. Wohl auch aus diesen Gründen konnte in der Forschung die Meinung geläufig werden, Kants vielfältiger Gebrauch des Ausdrucks in der Kritik der reinen Vernunft sei insgesamt ambig und inkonsistent. 33 Anders Rigobello, der eine Sinnentleerung des Hauptwortes behauptet, die durch das darauf bezogene Attribut ,transzendental‘ geschehe (vgl. Rigobello 1968, S. 106, S. 123). 34 Dies trifft auch auf Kants Bemerkung in den Prolegomena zu, das „Wort transzendental“ bedeute bei ihm „niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs Er- 8 macht, aus B 25 den Sinn von ,transzendental‘ herauszulesen, so kann dies nur gelingen, wenn klar ist, dass Kants Rede von einer ‚Erkenntnisart’ hier gerade auf den Aspekt der Gegenstandsbezüglichkeit von Begriffen abzielt – denn GegenstandsbezügGegenstandsbezüglichkeit ist das wesentliche Merkmal von Erkenntnissen im engeren Sinne und im Unterschied zu ,bloßen‘ Begriffen (d. h. insofern sie nur als logische Formen, unter Absehung von ihrem möglichen Gegenstandsbezug – ihrem ‚Inhalt’ –, erwogen werden).35 Wird jener Kernsinn von ,transzendental‘ hier nicht schon in Anschlag gebracht, dann liegt freilich nahe, dass auch die Definition in B 25 falsch aufgefasst wird. Dann mag ,transzendental‘ zwar gedeutet werden als: „mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen [...] beschäftigt“, oder auch als: unsere „Erkenntnisart“ betreffend. Doch liegt dann auch die verkürzende Feststellung nahe, transzendental heiße nichts weiter als: ,die subjektiven Bedingungen von Erkenntnis, d. h. apriorische Elemente der Erkenntnis bzw. des Vorstellens, betreffend‘ – eine Bestimmung, die aber mindestens zu allgemein ist, da unter sie wiederum, wie gesagt, etwa auch die empirische Deduktion fallen würde. Dabei macht doch Kant selbst an der Stelle B 80 die überaus wichtige „Anmerkung“, die ihren Einfluß auf alle nachfolgende Betrachtungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben muß, nämlich: daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse.36 Auch hier geht es Kant um eine Bestimmung transzendentaler Erkenntnis, die er nun gegenüber B 25 näher qualifiziert als einen Fall apriorischer Erkenntnis und zwar genauer als eine apriorische Erkenntnis, „daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind“. 37 Insbesondere aber findet sich hier eine präzise, jedoch leicht zu übersehende Definition von ,transzendental‘, der gegenüber die Stelle B 25 als durchaus nachrangig einzustufen ist: ,Transzendental‘ heißt demnach nämlich nun „die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori“.38 Es handelt sich hier um eine Bestimmung, bei der ,a priori‘ einen zweifachen syntaktischen Bezug aufweist. Als ,transzendental‘ ist nämlich nach dieser Bestimmung zu nennen erstens „die Möglich- kenntnisvermögen“ (Prolegomena, AA IV, 293). Auch dies ist offensichtlich nur eine (allerdings auch gegenüber B 25 weit unpräzisere) Erklärung der transzendentalen Erkenntnis. Zum Unterschied von „Erkenntnis (cognitio)“ zu anderen Vorstellungsarten vgl. B 376 f. Zu logischer Form und Inhalt von Erkenntnissen vgl. B 78 f., B 298. 35 36 B 80 37 Dass hier von apriorischer Erkenntnis (nicht etwa nur von reiner) gesprochen wird, widerspricht nicht dem oben Gesagten, dass ,a priori‘ einen Bezug qualifiziert (und nicht den Begründetheitsstatus, Ursprung o. ä. einer Erkenntnis). Es handelt sich bei der transzendentalen Erkenntnis um eine Erkenntnis, die sich a priori auf etwas, nämlich auf unsere Gegenstandsbezüge bezieht. 38 Diese Stelle wird aufgrund des auf den ersten Blick fehlplatziert scheinenden Klammereinschubs von Herausgebern und Interpreten der Kritik der reinen Vernunft häufig modifiziert, wodurch allerdings gerade der Charakter des Klammereinschubs als einer Definition von ,transzendental‘ aus dem Blick gerät. 9 keit“ von Erkenntnis a priori,39 zweitens „der Gebrauch“ a priori von Erkenntnis. Die transzendentale Erkenntnis heißt dann auch eben deshalb transzendentale Erkenntnis, weil sie Erkenntnis eben dieser beiden durch ,transzendental‘ bezeichneten Sachverhalte ist: Erkenntnis der Möglichkeit und des Gebrauchs von Erkenntnis a priori, also von reinvorstellungsmäßigen Gegenstandsbezugnahmen a priori: Die transzendentale Erkenntnis ist Erkenntnis „dass und wie gewisse Vorstellungen [...] lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind“. In der an den oben zitierten Satz der Stelle B 80 direkt anschließenden Erläuterung verbindet Kant dann beide Bestimmungen – diejenige von transzendentaler Erkenntnis und diejenige von ,transzendental‘ – in einem Satz: Daher ist weder der Raum, noch irgend eine geometrische Bestimmung desselben a priori eine transzendentale Vorstellung, sondern nur die Erkenntnis, daß diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs sind, und die Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf Gegenstände der Erfahrung beziehen können, kann transzendental heißen.40 Auch hier heißt ,transzendentale Erkenntnis‘ „die Erkenntnis, daß [...] Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs sind“ (also Erkenntnis der Wirklichkeit und Möglichkeit solcher Vorstellungen); und ,transzendental‘ heißt desweiteren auch die Möglichkeit ihres Gebrauchs, nämlich „die Möglichkeit, wie sie [reine Vorstellungen] sich [...] a priori auf Gegenstände der Erfahrung beziehen können“ (sowie schließlich auch die Erkenntnis der Möglichkeit dieses Gebrauchs ebenfalls noch ,transzendental‘ zu nennen ist). Es kann also die an der Stelle B 80 den Ausdruck ,transzendental‘ definierende („d. i. ...“) Formel „die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori“ wie folgt aufgefasst werden: ,Transzendental‘ hebt ab auf die Möglichkeit und Wirklichkeit des Gegenstandsbezugs von Vorstellungen a priori – sowie, in einem weiteren Sinne, auch auf alles, was diese Möglichkeit und Wirklichkeit in irgendeiner Weise betrifft. Für die transzendentale Erkenntnis wiederum – von der auch die transzendentale Logik (wie auch die Kritik der reinen Vernunft im Ganzen) ein Fall ist – heißt dies, dass eine solche Erkenntnis gerade Erkenntnis der genannten Möglichkeit und Wirklichkeit darstellt. Eine transzendentale Erkenntnis ist also Erkenntnis a priori des Dass und des Wie der apriorischen Anwendung und Möglichkeit „gewisser Vorstellungen“, nämlich von Anschauungen und Begriffen, bei denen „angewandt“ werden eben heißt: auf einen Gegenstand bezogen werden. Nicht nur Erkenntnis aber kann transzendental sein, sondern Kant gebraucht den Ausdruck in der Kritik der reinen Vernunft in Bezug auf ganz Verschiedenes. Daher wird auch der zu rekonstruierende Kernsinn von ,transzendental‘ durchaus weit ausfallen müssen, um die gesamte Bandbreite dessen abdecken zu können, was von Kant dieserart charakterisiert wird. Die Definition der Stelle B 80 ist die einzige im hierzu erforderten Sinne hinreichend allgemeine Bestimmung des Kernsinns von ,transzendental‘, die Zu bemerken ist, dass hier sowohl gelesen werden kann: ‚der Möglichkeit a priori von Erkenntnis’, als auch ‚der Möglichkeit von Erkenntnis a priori’, was aber, aus nachvollziehbaren systematischen Gründen, auf dasselbe hinausläuft. 39 40 B 80 10 sich in der Kritik der reinen Vernunft findet. Alle anderen Charakterisierungen Kants von etwas als transzendental bzw. insofern es solches ist, sprechen nur einen bestimmten, näherhin konkretisierten Teilsinn oder Aspekt von ,transzendental‘ aus, nämlich in Abhängigkeit von dem jeweils mit diesem Attribut Versehenen, oder auch in Abgrenzung zu anderen Begriffen (z. B. zu ,empirisch‘ oder ,a priori‘). ,Transzendental‘ benennt eine Möglichkeit und einen Gebrauch apriori von reinen Vorstellungen.41 ,Transzendentale Erkenntnis‘ ist die Erkenntnis dieses ‚Transzendentalen’, das heißt Erkenntnis des Dass des a priori möglichen Gebrauchs von Vorstellungen und des Wie der Möglichkeit eines Gebrauchs a priori dieser Vorstellungen. Dieses Ergebnis kann nun zurückbezogen werden auf die Stelle B 25, die, wie gesagt, nicht ,transzendental‘, sondern ,transzendentale Erkenntnis‘ definiert: Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.42 Nun kann gesehen werden, dass die „Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll“, mit der sich die transzendentale Erkenntnis „beschäftigt“ – d. h. von der die transzendentale Erkenntnis eine Erkenntnis ist – genau „die Möglichkeit der Erkenntnis“ a priori ist, die auch B 80 angesprochen wird. Und: die „Erkenntnisart von Gegenständen“ ist die Art des Gebrauchs a priori von Erkenntnissen (als gegenstandsbezüglichen Vorstellungen). Die Stelle B 25 definiert die transzendentale Erkenntnis allerdings nicht nur positiv, sondern auch negativ in Abgrenzung von nicht-transzendentalen Arten der Erkenntnis, die es etwa „mit Gegenständen“ zu tun hätten, nicht aber mit der „Erkenntnisart [...] so fern diese a priori möglich sein soll“. Die Struktur der von Kant hierzu in Anschlag gebrachten Bestimmung ist von hoher syntaktischer und sachlicher Komplexität, eine eingehendere Analyse der kantischen Bestimmung der transzendentalen Erkenntnis und insbesondere eine tiefere Deutung der Stelle B 25 soll hier aber nicht erfolgen.43 Es sei nochmals zusammengefasst: ,Transzendental‘ heißt die Möglichkeit und Wirklichkeit des Gegenstandsbezugs von Vorstellungen a priori – sowie, in einem weiteren 41 Dies drückt Kant in den Prolegomena – ebenfalls wieder in allgemeinerer und weniger präziser Form – aus, wenn er sich gegen die Gleichsetzung von ,transzendental‘ mit ,transzendent‘ durch den anonymen Rezensenten wendet: „[D]as Wort transzendental, dessen so vielfältig von mir angezeigte Bedeutung vom Recensenten nicht einmal gefaßt worden (so flüchtig hat er alles angesehen), bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern was vor ihr (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen.“ (Prolegomena, AA IV, 373). „Etwas“ das als „transzendental“ bezeichnet wird, geht zwar nicht über Erfahrung ,hinaus‘ (ist nicht transzendent), ist aber auch nicht selbst (nur erst) in Erfahrung (ist nicht immanent, oder auch: nicht a posteriori), sondern geht der Erfahrung ,vorher‘, ist a priori. Wohlgemerkt: Nicht dass es der Erfahrung vorhergeht wird dabei durch ,transzendental‘ angezeigt, sondern dass es dazu „bestimmt ist, [...] Erfahrungserkenntnis möglich zu machen“, aber auch: „zu nichts mehrerem“ als dies. 42 B 25 Vgl. hierzu Pinder 1986, dem in seiner Behandlung der Stelle B 25 jedoch, wie schon angedeutet, nicht in allen Punkten zu folgen ist. 43 11 Sinne, auch alles, was diese Möglichkeit in irgendeiner Weise betrifft. ,Transzendental‘ kann demnach erläuternd übersetzt werden als ,gegenstandsbezugsbezogen‘, und zwar ,bezogen‘ im oben schon angeführten Sinne von: auf verschiedene mögliche Weisen, nämlich entweder konstitutiv, regulativ, störend oder analysierend/reflektierend, auf Gegenstandsbezüge bezogen. So spricht Kant beispielsweise vom transzendentalen Schematismus, der eine konstitutive Funktion erfüllt; von den transzendentalen Ideen, die regulativ sind; von der die Gegenstandsbezüge a priori störenden transzendentalen Amphibolie; oder eben auch von der die Gegenstandsbezüge reflexiv erkennenden transzendentalen Reflexion bzw. Erkenntnis. Entsprechend ist eine transzendentale Logik eine transzendentale Logik, weil sie Logik der apriorischen Gegenstandsbezüglichkeit reiner Vorstellungen ist. Sie ist transzendentale Logik, weil sie mit den Begriffen bzw. der Form des Denkens zu tun hat – als transzendentale Logik aber eben mit dem Denken gerade (und nur) insofern es gegenstandsbezüglich ist. Dass sie dabei mithin mit den Bedingungen der Möglichkeit der Beziehung von Vorstellungen auf Gegenstände zu tun hat – oder kürzer gefasst: mit der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis – liegt auf der Hand. Die einfache Identifikation von ,transzendental‘ mit ,Bedingung der Möglichkeit‘, insbesondere unter Vernachlässigung des wesentlich auszeichnenden Merkmals von Erkenntnis (im Unterschied zu bloßer Vorstellung oder logischer Form), nämlich der Gegenstandsbezogenheit, stellt jedoch eine Verkürzung dar. 12 Literatur Kritik der einen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998. [A/B] Immanuel Kant‘s Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. [AA] Bittner, Rüdiger: Art. „transzendental“, in: Krings, Hermann/Baumgartner, Hans Michael/ Wild, Christoph (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1974, S. 1524– 1539. Gerresheim, Eduard: Die Bedeutung des Terminus „transzendental“ in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Köln 1962. Gideon, Abram: Der Begriff „transzendental“ in Kants Kritik der reinen Vernunft, Darmstadt 1977. Heinrichs, Johannes: Das Geheimnis der Kategorien. 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