Wissenswert

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion:
Heike Ließmann
Wissenswert
Hör-Lexikon Politik (2)
Populismus
Von Stefan Fries
28.10.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Regie: Jochen Nix
Sprecher:
O-Töne in dabs: (p) Populismus*
Musikakzente
08-149
COPYRIGHT:
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Seite 2
Anmoderationsvorschlag:
„Das ist doch populistisch, was Sie da vorschlagen“ – Vorwürfe wie diese stehen in der politischen
Auseinandersetzung sehr schnell im Raum. Die Worte „populistisch“ oder „Populist“ werden gerne
benutzt, um einen politischen Gegner abzuwerten, um ihn in den Augen des Wählers verächtlich zu
machen und seine Vorschläge als unseriös zu kennzeichnen. Was in der politischen Diskussion
alltäglich ist, nutzen manche Parteien gar als grundsätzliche Strategie – besonders die Linke hat sich
in den vergangenen Jahren zu einer populistischen Partei entwickelt. Stefan Fries über einen Begriff
der politischen Auseinandersetzung: der Hör-Lexikon-Beitrag Populismus.
Seite 3
O-Ton 3
# 21 Oskar Lafontaine
„Wenn wir die durchschnittliche Steuer- und Abgabenquote Europas hätten,
dann wären alle sozialen Kürzungen der letzten Jahre überflüssig gewesen, und
ich fordere noch einmal alle neoliberalen Professoren, Journalisten und
Politiker auf, diesen Satz zu widerlegen. Solange sie ihn nicht wiederlegen
können, sollen sie aufhören, uns billigen Populismus vorzuwerfen.“
0´22
Sprecher
Billiger Populismus – ein beliebtes Schlagwort in der politischen
Auseinandersetzung, das Oskar Lafontaine hier aufgreift. Der Partei- und
Fraktionschef der „Linken“ im Bundestag sieht sich diesem Vorwurf oft
ausgesetzt. Aber nicht nur er – der Begriff scheint in der politischen Diskussion
mittlerweile inflationär verbreitet. Nur allzu gerne wird er zur Diffamierung des
politischen Gegners verwendet, und ist dabei selbst nebulös und schwammig.
Hauptsache: anklagend. Wenn also ein Politiker einem Kollegen Populismus
vorwirft, so meint er meistens folgendes:
O-Ton 4
Decker, 1´53-2´26
„Er meint, dass der Politiker seinen Job nicht verantwortungsvoll wahrnimmt.
Er wirft ihm vor, dass er lediglich Stimmungspolitik betreibt, Stimmungen
hinterherläuft, eine populäre Meinung vertritt, sich beim Publikum anbiedert,
statt verantwortungsvoll zu handeln. Also er wird eigentlich seiner Aufgabe als
Politiker nicht gerecht.“
0´33
Seite 4
Sprecher
...sagt Professor Frank Decker, Politikwissenschaftler und PopulismusForscher an der Universität Bonn. Das Streben nach Popularität ist ja zunächst
einmal nichts Schlechtes: verständlich sein, volksnah, ist das nicht sogar im
besten Sinne demokratisch?
Nun ja, wenn dabei mehr als nur eine Vorliebe für oberflächliche und rein
verbale Lösungen übrigbliebe:
O-Ton 12b
Ronald Schill auf Wahlkampfveranstaltung
Projekt: FRIES Populismus v2 / Clip: nicht länger dulden/Todesstrafe
„Wir werden nicht länger dulden, dass Hamburg, unser schönes, geliebtes
Hamburg dem Verbrechen schutzlos ausgeliefert wird.“
Publikum skandiert „Todesstrafe“!
Sprecher
Die Emotionen schlugen so hoch beim Wahlkampfauftritt von Ronald Schill im
Jahr 2001, dass selbst die Todesstrafe für einige wieder machbar schien.
Populismus ist in der deutschen Politik in zweierlei Formen anzutreffen.
Einerseits als Haltung, als politischer Inhalt, als Ersatz-Ideologie, wie hier bei
der Schill-Partei in Hamburg . Häufiger und präsenter tritt der Populist jedoch
als politischer Taktierer auf, um für die eigenen politischen Positionen
möglichst große Zustimmung bei den Wählern zu erreichen. Ihn, diesen sehr
populären Typ des Populisten findet man in allen politischen Lagern. Der PolitPopstar zeichnet sich durch eines oder mehrere der folgenden sechs Merkmale
aus.
Musikalischer Akzent (Pauke, Trompete, .. – sehr kurz!)
Sprecher
Merkmal 1: Die Volksnähe.
Seite 5
O-Ton 5
# 19 Oskar Lafontaine
„Jetzt haben wir eine Fehlentwicklung, die ein Ergebnis des Neoliberalismus ist:
Eine Minderheit von Beziehern von Gewinneinkommen und
Vermögenseinkommen sahnt den ganzen Wohlstandszugewinn ab. Die große
Mehrheit des Volkes wird nicht beteiligt. Deshalb braucht es eine neue
politische Kraft. Wir wollen, dass die Mehrheit des Volkes wieder am
wachsenden Wohlstand beteiligt wird.“
0´23
Sprecher
Populismus-Forscher Frank Decker erläutert die Taktik von Oskar Lafontaine.
O-Ton 6
Decker, 59´16-59´49 (abzgl. letzter Satz)
„Das ist Populismus in Reinform, schon von der Begrifflichkeit. Es ist vom Volk,
vom allgemeinen Volk die Rede, es ist von Minderheiten und von Mehrheiten die
Rede. Der Populismus tritt für die große Mehrheit des Volkes ein. Es wird hier
ein klassischer Sündenbock beschworen, gleichsam verschwörungstheoretisch,
das ist der Neoliberalismus als herrschende Ideologie.“
0´33
Sprecher
In Lafontaines Argumentation zeigt sich zugleich
Musikalischer Akzent
Sprecher
Merkmal 2: Verschwörungstheorien und das Denken in Feindbildern.
Seite 6
Populisten bauen eine klare Frontstellung auf: Da ist „das Volk“ und seine
Fürsprecher – sie selber -, dort ist der Feind, der innere oder äußere –je nach
dem. Der äußere Feind ist der Eindringling – bei Lafontaine meist sehr abstrakt
„die Globalisierung“. Der innere Feind ist derjenige, der dieses Eindringen
betreibt oder zulässt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Gefahr real ist –
wenn sie nur von den Zuhörern als solche empfunden wird. Dann ist das Ziel der
Agitation bereits erreicht.
Musikalischer Akzent
Sprecher
Merkmal 3: Der Appell an ein Wir-Gefühl, an eine kollektive Identität.
O-Ton 7
# 37 Oskar Lafontaine
„Er ist genauso angebracht, wenn über die Köpfe des Volkes hinweg
Sozialreformen nach dem Motto beschlossen werden: Die Oberen werden
entlastet, und die Unteren werden immer stärker belastet. Dann müsst Ihr
sagen: Wir sind das Volk!“
0´16
Sprecher
An wen richtet Lafontaine sich eigentlich mit diesem Appell? Der Populist
richtet sich an eine diffuse Masse, der sich jeder, der will, zugehörig fühlen
kann. Für den Begriff „Volk“ gilt das in hohem Maße.
„Wir sind das Volk“ – damit zitiert Lafontaine den zentralen Schlachtruf der
Bürgerrechtsbewegung der DDR-Wendezeit – ein Aufruf, der erfolgreich war.
Seite 7
Er reiht sich ein und versucht ihn bis in die Gegenwart zu strapazieren. Richtete
sich die Parole damals gegen eine Diktatur, so will Lafontaine heute die Politik
der Regierungsparteien diesem Vorwurf ausliefern.
Musikalischer Akzent
Sprecher
Merkmal 4: Der gesunde Menschenverstand.
Politiker berufen sich gerne auf den sogenannten „gesunden
Menschenverstand“ und machen ihn zum Maß aller Dinge. So auch der
nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, als er für einen
längeren Bezug des Arbeitslosengeldes 1 für ältere Arbeitnehmer eintrat.
O-Ton 8
# 40 Jürgen Rüttgers
„Derjenige, der länger einbezahlt hat, soll auch mehr Geld bekommen als
derjenige, der nur wenig einbezahlt hat. Das ist das, was ich als gerecht
empfinde und was übrigens die meisten Menschen in Deutschland auch als
gerecht empfinden.“
0´11
Sprecher
Auch darin liege zumindest eine Spur von Populismus, sagt
Politikwissenschaftler Frank Decker. Hier werde Alltagsmoral auf die Politik
übertragen. Aber: Was in einem Verein oder einer Familie als gerecht gelten
mag, muss nicht unbedingt auf eine Solidargemeinschaft von 80 Millionen
Bürgern anwendbar sein.
Musikalischer Akzent
Seite 8
Sprecher
Merkmal 5: Die demagogische Vereinfachung komplizierter Verhältnisse.
Dieses populistische Moment ließ sich vor allem im hessischen
Landtagswahlkampf 2008 beobachten. Der CDU-Kandidat Roland Koch
versuchte, die Kriminalität junger Männer, insbesondere junger Ausländer, als
Thema auszuschlachten. Zur Seite sprang ihm unter anderem die damalige
CSU-Generalsekretärin Christine Haderthauer, die Resozialisierung als
„Kuschelpädagogik“ abtat.
O-Ton 9
# 31 Christine Haderthauer
„Da müssen sofort Signale gesetzt werden, da muss ein Sofortarrest erfolgen,
da muss eine sofortige Freiheitsstrafe ohne Bewährung erfolgen. Und ich kann
nicht herangehen mit Maßnahmen, die auf Vernunft, die auf Einsicht oder Reue
setzen, denn das ist bei diesen Tätern leider nicht zu finden.“
0´17
O-Ton 10
Decker, 1´05´42-1´06´22
„Ja, auch hier haben wir ein populistisches Element, nämlich die Vorliebe für
radikale und für einfache Lösungen.(1´05´50) Also der einfache Mann möchte
und versteht eben auch die einfachen Lösungen. Das wird hier als Durchgreifen,
als konsequentes Durchgreifen dargestellt und im Grunde völlig abgelöst von
der Frage, ob diese Lösungen überhaupt tauglich sind. (1´06´14) Das würde ich
ebenfalls als populistisches Moment charakterisieren.“
0´24 0´40
Seite 9
Sprecher
kommentiert Professor Frank Decker ein solches Wahlkampfgebaren. Die
Kampagne propagierte radikale Lösungen wie den Sofortarrest. In Verkennung
und auch Unterschlagung bereits existierender erfolgreicher Programme für
die Arbeit mit strafgefährdeten Jugendlichen.Und sie macht ein weiteres
Element populistischer Taktik deutlich:
Musikalischer Akzent
Sprecher
Merkmal 6: Die Verstärkung von Ängsten.
O-Ton 11
Decker, 13´58-14´21
„Verstärkung der Ängste bedeutet, dass man bewusst eben auch Ängste schürt,
dass man sie herbeiredet, dass man vorhandene Gefahren aufbauscht, dass
man sie dramatisiert, dass man sie emotionalisiert, um sich selber gleichsam
quasi-religiös als Erlöser oder als Retter hinzustellen.“
0´23
O-Ton 12a
Ronald Schill
Richter Ronald Schill, 5´50-6´13
„Das Risiko, hier Opfer eines Straßenraubs zu werden in Hamburg, ist elfmal so
hoch wie in einer vergleichbaren Großstadt wie München. Und das Risiko, Opfer
eines Einbruchdiebstahls zu werden, ist sechsmal so hoch. Das sind alles
Probleme, die hausgemacht sind, weil man hier in Hamburg seitens der Politik
dazu tendiert, Verbrecher mit Samthandschuhen anzufassen.“
0´23
Seite 10
Sprecher
Ronald Schill im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf 2001. Der ehemalige
Amtsrichter, von der Boulevardpresse zum „Richter Gnadenlos“ ernannt, mit
dem einzigen Thema seiner Partei Rechtsstaatlicher Offensive: Kriminalität.
In Wortwahl und Diktion heizen Populisten wie Schill die Stimmung emotional
an. Sie spielen mit Ressentiments und Vorurteilen, die sich in aggressiver Form
gegen den angeblichen Feind entladen.
Längerer musikalischer Akzent (weil Aufzählung der Merkmale beendet)
Sprecher
Die Idee der Demokratie, der Volksherrschaft verpflichtet ihre Politiker, im
Sinne des Volkes zu handeln. Ist es deswegen nicht notwendiger Bestandteil
einer politischen Kultur, der Stimme des Volkes , der „Vox populi“ Gewicht zu
verleihen ? Ausgerechnet Edmund Stoiber, oft selber als Populist
hervorgetreten, zitiert dazu den folgenden Aphorismus:
O-Ton
# 25 Stoiber
„Dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Munde reden. Das ist unser
Motto: Dem Volk aufs Maul schauen!“
Sprecher
Edmund Stoiber zitiert hier übrigens - Martin Luther. „Nicht nach dem Mund
reden“ – das ist die Ergänzung von Franz Josef Strauß. Und darin steckt die
Antwort: Denn im Interesse des Volkes ist nicht unbedingt das, was das Volk als
sein Interesse ansieht. Ein Beispiel: Die heutigen Steuerzahler könnten entlastet
werden – mit höherer Staatsverschuldung. Spätere Generationen wären
dadurch wesentlich stärker be-lastet. „Dem Volk aufs Maul schauen und danach
handeln“, das wäre allzu oft politisch verantwortungslos zu nennen.
Seite 11
Warum erhalten Populisten Aufmerksamkeit, nicht aber andere, die es
durchaus verdient hätten? Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker:
O-Ton 101
Decker, 28´32-29´04
„Und hier muss man eigentlich nüchtern konstatieren, dass es in der
Bundesrepublik genauso wie in fast allen westlichen Demokratien ein Potential
gibt, das Potential einer Wählerschaft, die von den etablierten Parteien nicht
mehr erreicht werden kann, weil sie sich eben, wenn man so will, im
herrschenden Modernisierungsdiskurs nicht mehr wiederfindet. Man bezeichnet
diese Wähler in der Wissenschaft gerne als die Modernisierungsverlierer.“
0´32
Sprecher
Dabei geht es nicht nur um die Teilhabe am materiellen Wohlstand, sondern
auch um die kulturelle Identität, um die Zugehörigkeit zur Gesellschaft
überhaupt.
O-Ton 102
Decker, ca. 27´30-27´55
(....bitte schneiden) „Also es gibt vielleicht auch in der Bundesrepublik einen
Nährboden, es gibt eine Befindlichkeit in der Bevölkerung, die es auch
rechtspopulistischen Parteien ermöglichen sollte, Erfolge zu erzielen, aber es
gibt kein Angebot, kein passendes Angebot, es gibt keine Figur, die in der Lage
wäre, auf dieser Klaviatur zu spielen.“
0´34
Sprecher
Die Rechtspopulisten in Deutschland haben wegen des Erbes einer extrem
populistischen Partei, der NSDAP, nach wie vor mit einem Stigma zu kämpfen.
Seite 12
Die neuen Rechten haben deshalb zum Kampf um die sozial Schwachen und die
Jugendlichen aufgerufen. Sie agieren nunmehr eher mit leisen Tönen, fallen
wenig auf mit ihrer Jugend- und Sozialarbeit.
Es sind die Linkspopulisten, die mit Parolenpolitik Erfolge feiern: Oskar
Lafontaine verdankt sein Comeback dieser Fähigkeit. Es fragt sich, ob das
populistische Talent des Parteichefs der Linken eher dient oder ihr zum
Verhängnis wird.
Aus O-Ton 7 (Lafontaine) wiederholen: „Wir sind das Volk“ evtl. mehrfach...
O-Ton 103 entfällt
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