Frankfurter Allgemeine Zeitung (7. Juni 1979)

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"Unbedingt zur Wahl gehen" in Frankfurter Allgemeine Zeitung (7. Juni 1979)
Legende: Am 7. Juni 1979, in einem Kommentar zur ersten Direktwahl des Europaparlamentes, unterstreicht die
Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung die Wichtigkeit der Wahlbeteiligung und deren Auswirkungen.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zeitung für Deutschland. Hrsg. EICK, Jürgen; FACK, Fritz Ullrich;
DESCHAMPS, Bruno; FEST, Joachim; REIßMÜLLER, Johann Georg; WELTER, Erich. 07.06.1979, n° 130.
Frankfurt/Main: FAZ Verlag GmbH.
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Publication date: 16/09/2012
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Unbedingt zur Wahl gehen
Von Günther Gillessen
Gegen das Europäische Parlament läßt sich vieles sagen. Es habe fast keine Befugnisse, es könne keine
Gesetze beschließen, es sei nicht imstande, ein Mitglied der Kommission der Europäischen Gemeinschaft
einzusetzen. Es könne kaum Beschlüsse über Ausgaben und Haushalt der Gemeinschaft fassen. Ist dieses
Parlament den Gang zum Wahllokal überhaupt wert?
Diese – wahre – Beschreibung verführt zu falschen Schlüssen. Die Parteien im Wahlkampf halfen den
Wählern nicht, zu verstehen, daß es für sie selbst lohnend und existentiell wichtig für Europa ist, das
Europäische Parlament stark zu machen.
Die Leute, die abschätzig über das Europäische Parlament und die erste Gelegenheit, es direkt zu wählen,
reden, haben keine Phantasie, weder für die Gefahren, die Europa bedrängen werden, noch für die Mittel,
die es sich durch Zusammenschluß beschaffen kann, um sich und seine Lebensweise zu erhalten. Das
Wichtigste an Europa sind die Gewohnheiten, die Regeln und die Institutionen, mit denen sich seine Völker
frei regieren können. Diese Regeln einer politischen Zivilisation sind in Europa erfunden worden.
Damit diese europäische Lebensweise und politische Gesittung fortdauern können, bedarf es heute neuer
Institutionen. Das liegt vor allem daran, daß heute kein europäisches Volk mehr über ein Weltreich verfügt.
Seit der Antike gab es immer wenigstens eine europäische Macht, oft mehrere zugleich, die Weltpolitik für
sich und mittelbar auch zum Vorteil anderer europäischer Völker leistete. Europa schuf sich durch
Reichsbildungen eine günstige weltpolitische Umgebung. Das ist offenkundig nicht mehr möglich.
Am auffälligsten ist Europas Schutzbedürfnis im Bereich der auswärtigen Sicherheit, seiner Versorgung mit
Energie und der Offenhaltung seines Handels mit anderen Erdteilen, in denen die europäischen Völker ihren
Lebensunterhalt verdienen müssen. Europa braucht eine neue, eine weltpolitikfähige Form. Sie soll nicht nur
immer mehr europäische Staaten zu einer Wirtschaftsgemeinschaft verbinden, sie muß auch politische
Führung hervorbringen. Wenn die Hegemonie eines europäischen Staates über alle anderen nicht
hingenommen werden kann, bleibt nur der genossenschaftliche Zusammenschluß.
Jede Bundesverfassung muß ein Gleichgewicht herstellen zwischen dem Schutz der Interessen der Teile und
dem Schutz des Gesamtinteresses. Seit es de Gaulle unter Herbeiführung einer großen Zerreißprobe
gelungen war, dem Brüsseler Ministerrat den Verzicht auf die Wahrnehmung seines verbrieften Rechts zu
Mehrheitsentscheidungen abzuringen, gibt es ein in der Verfassung der Gemeinschaft nicht vorgesehenes
Veto-Recht jedes einzelnen Mitgliedstaates. Es hat das Gewicht der Staateninteressen in der Gemeinschaft
noch mehr verstärkt. Unter dem Gleichgewichtsverlust leidet vor allem die Kommission. Das einst führende
Organ der Gemeinschaft wurde zum nachgeordneten. Auch die Beschlußfassung im Ministerrat selbst war
seitdem erschwert. Es war ein deutliches Eingeständnis der geschwächten Integrationskraft des
Ministerrates, daß die Regierungschefs sich genötigt sahen, selbst als Ober-Ministerrat der Gemeinschaft zu
fungieren.
Die zentrifugalen Kräfte in der Gemeinschaft sind nun seit vielen Jahren über-, die zentripetalen aber
unterrepräsentiert. Das hat Folgen. Wird man annehmen können, daß eine Versammlung nationaler
Regierungen eine gemeinsame Verteidigung samt gemeinsamem Oberbefehl wollen wird? Das elende Ende
der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft lieferte dafür die Antwort. Wird man annehmen können, die
Regierungen der reicheren Länder Europas wollten die „Zahlmeister“ einer Regionalpolitik werden, die sich
mit großen Beträgen auf die schwächsten Regionen Europas konzentrierte? Zwar findet es kein einzelner
Staat unmöglich, in seinem Inneren die reicheren Bürger höher zu besteuern, um den ärmeren helfen zu
können, doch solche Solidarität zwischen europäischen Staaten – ist sie denkbar, ohne zuvor eine politische
Solidargemeinschaft hergestellt zu haben? Eine faire Verteilung des bald knapp und noch teurer werdenden
Erdöls – kann man sie sich ohne den Zusammenschluß vorstellen? Muß es nicht bis dahin eine harte
Balgerei der devisenstärkeren Nationen um den größeren Anteil zu Lasten der Schwächeren geben? Die
Probleme der Wanderarbeiter in der Gemeinschaft – sind sie anders zu lösen als durch eine Verlagerung von
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Industrien und Investitionen der Gastländer in die Länder der Gäste? Welche nationale Regierung aber wird
unter dem Druck der Arbeitslosigkeit im eigenen Lande die politische Kraft dazu aufbringen?
Einer Reform der Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, wie sie nötig wird, stehen viele Hindernisse
im Wege, auch ausdrücklich erklärte Vorbehalte der Parlamente in Paris und London. Ein künftig direkt
gewähltes Parlament der Gemeinschaft kann sich also kaum als verfassunggebende Versammlung
konstituieren. Aber es kann die Debatte über die Verfassung eröffnen und in Gang halten. Es kann öffentlich
darüber streiten. Es kann politisch werben. Es kann der Kommission den Rücken stärken. Es kann über die
Parteien in die nationalen Parlamente zurücksprechen und von dort Druck auf nationale Regierungen
ausüben. Es kann der öffentlichen Meinung in den Ländern Europas Führung geben. Dazu braucht dieses
Parlament Rückenwind. Es braucht die Legitimation einer hohen Wahlbeteiligung.
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