Die Soziale Arbeit und der wohlfahrtsstaatliche

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Die
Soziale
Arbeit
und
der
wohlfahrtsstaatliche
Transformationsprozess
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P r o fes s i o n
z w i s chen
K o o p er a t i o n
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2
Die Soziale Arbeit und der wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess
Eine Profession zwischen Kooperation und
Dissidenz
Bachelorarbeit von: Tobias Wetter
Bachstrasse 15
9230 Flawil
WS08
an der:
FHS St.Gallen
Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Studienrichtung Sozialpädagogik
begleitet von:
Professor Stefan Ribler
Dozent Fachbereich Soziale Arbeit
Für den vorliegenden Inhalt ist ausschliesslich der Autor verantwortlich.
St. Gallen, 19. März 2014
3
Inhaltsverzeichnis
ABSTRACT.........................................................................................................................................................5
VORWORT.........................................................................................................................................................8
EINLEITUNG
UND
ERKENNTNISLEITENDE
FRAGESTELLUNG ...................................................... 10
1.)
DAS
NORMATIVE
SELBSTVERSTÄNDNIS
DER
SOZIALEN
ARBEIT......................................... 13
1.1)
INTERNATIONALE
DEFINITION
SOWIE
DARSTELLUNG
DER
ETHISCHEN
PRINZIPIEN
SOZIALER
ARBEIT .................................................................................................................................................................... 14
1.2)
DIE
SOZIALE
ARBEIT
ALS
‚MENSCHENRECHTSPROFESSION’......................................................................... 17
1.3)
DIE
SOZIALE
ARBEIT
ALS
‚GERECHTIGKEITSPROFESSION’ ............................................................................ 19
1.4)
VERORTUNG
DES
NORMATIVEN
SELBSTVERSTÄNDNISSES
SOZIALER
ARBEIT ........................................... 21
2.)
DER
GEGENWÄRTIGE
WOHLFAHRTSSTAATLICHE
TRANSFORMATIONSPROZESS ........ 23
2.1)
VOM
WOHLFAHRTSSTAATLICHEN
ARRANGEMENT
DES
INDUSTRIEZEITALTERS
ZUM
‚SOZIALINVESTITIONSSTAAT’ .............................................................................................................................. 23
2.2)
URSACHEN
DES
GEGENWÄRTIGEN
WOHLFAHRTSSTAATLICHEN
TRANSFORMATIONSPROZESSES ......... 25
3.)
DIE
AUSWIRKUNGEN
DES
GEGENWÄRTIGEN
WOHLFAHRTSSTAATLICHEN
TRANSFORMATIONSPROZESSES
AUF
DIE
SOZIALE
ARBEIT ................................................... 30
3.1)
AUSWIRKUNGEN
AUF
ORGANISATIONEN
SOZIALER
HILFE ............................................................................ 31
3.1.1)
‚Konzentration
auf
aktivierbare’................................................................................................... 33
3.2)
AUSWIRKUNGEN
AUF
DEN
HILFSPROZESS ........................................................................................................ 34
4.)
KONFLIKTLINIEN
ZWISCHEN
DEN
EINFLÜSSEN
DES
WOHLFAHRTSSTAATLICHEN
TRANSFORMATIONSPROZESSES
AUF
DIE
SOZIALE
ARBEIT
UND
IHREM
NORMATIVEN
SELBSTVERSTÄNDNIS.............................................................................................. 35
4.1)
AUF
DER
EBENE
DER
INTERAKTION
ZWISCHEN
PROFESSIONELLEN
UND
ADRESSATINNEN
UND
ADRESSATEN .......................................................................................................................................................... 35
4
4.2)
AUF
DER
EBENE
IHRER
GESELLSCHAFTLICHEN
ROLLE .................................................................................. 38
4.3)
WAS
GESCHIEHT
MIT
DEM
NORMATIVEN
SELBSTVERSTÄNDNIS
DER
SOZIALEN
ARBEIT?...................... 40
5.)
SCHLUSSBETRACHTUNG..................................................................................................................... 42
5.1)
WESHALB
DAS
NORMATIVE
SELBSTVERSTÄNDNIS
DER
SOZIALEN
ARBEIT
GERADE
JETZT
SO
WERTVOLL
IST ........................................................................................................................................................ 42
5.2)
REPOLITISIERUNG
SOZIALER
ARBEIT ................................................................................................................ 45
5.2.1)
Erinnerung
an
sich
selbst................................................................................................................. 46
5.2.2)
Exkurs:
Hat
die
Soziale
Arbeit
ein
sozialpolitisches
Mandat?.......................................... 47
5.2.3)
Repolitisierung
im
professionellen
Rahmen
und
der
’Governance‐Ansatz’ .............. 48
5.2.4)
‚Plädoyer
für
eine
reflexive
und
koordinierte
Unfügsamkeit‘.......................................... 50
5.3)
DIE
SOZIALE
ARBEIT
UND
IHRE
WOHLFAHRTSPRODUKTION ....................................................................... 51
5.4)
BEANTWORTUNG
DER
ERKENNTNISLEITENDEN
FRAGESTELLUNG .............................................................. 53
5.5)
PERSÖNLICHE
SCHLUSSBETRACHTUNG ............................................................................................................. 54
6.)
LITERATURVERZEICHNIS................................................................................................................... 58
7.)
QUELLENVERZEICHNIS ....................................................................................................................... 60
5
Abstract
Titel: Die Soziale Arbeit und der wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess –
Eine Profession zwischen Kooperation und Dissidenz
Kurzzusammenfassung:
Die Arbeit beschreibt inwiefern der wohlfahrtstaatliche
Transformationsprozess die Soziale Arbeit in ihrem normativen Verständnis herausfordert.
Autor(en):
Tobias Wetter
Referent/-in:
Prof. Stefan Ribler
Publikationsformat:
BATH
MATH
Semesterarbeit
Forschungsbericht
Anderes
Veröffentlichung (Jahr):
2014
Sprache:
deutsch
Zitation:
Wetter, Tobias. (2014). Die Soziale Arbeit und der wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess. Eine Profession zwischen
Kooperation und Dissidenz. Unveröffentlichte Bachelorarbeit,
FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit.
Schlagwörter (Tags):
Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat, Soziale Arbeit, Neoliberalismus,
Ökonomisierung Sozialer Arbeit
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Ausgangslage
Die Wohlfahrtsstaaten der westlichen Industrienationen unterliegen gegenwärtig grundlegenden Transformationsprozessen, welche in ihrer konzeptuellen und strategischen
Ausrichtung allesamt ähnliche Merkmale aufweisen. Dass die Profession Soziale Arbeit
von diesen Veränderungen nicht unberührt bleibt, versteht sich angesichts ihrer Verankerung im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement des Industriezeitalters von selbst.
Ziel
Äusserst spannend ist in dieser Hinsicht die Frage, inwiefern der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess die Soziale Arbeit in ihrem normativen Selbstverständnis herausfordert. Dieser Frage geht diese Arbeit nach. Dabei handelt es sich
aus fachlicher Perspektive um ein hochbrisantes Thema, denn das normative Selbstverständnis Sozialer Arbeit ist ein konstitutives Moment ihrer professionellen Identität.
Vorgehen und Erkenntnisse
Unter dem Hinweis, dass es sich aufgrund verschiedener Strömungen innerhalb der
Sozialen Arbeit keineswegs um einen unumstrittenen Gegenstand handelt, wird zunächst das normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit herausgearbeitet. Darauf
folgt eine Charakterisierung des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses, wobei aufgezeigt wird, dass dieser vorwiegend auf ökonomischen Motivationsstrukturen beruht. Schliesslich werden die Auswirkungen dieses Prozesses auf Organisationen sozialer Hilfe und davon abgeleitet auf den Hilfsprozess skizziert. Dabei
wird dargelegt, dass der entscheidende Druck des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses auf die Soziale Arbeit über die politische Steuerung der Organisationen
sozialer Hilfe erfolgt. Im Herzstück dieser Arbeit werden dann mittels Verknüpfung der
zuvor behandelten Themen die Konfliktlinien zwischen den Einflüssen des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses auf die Soziale Arbeit und ihrem normativen
Selbstverständnis aufgezeigt. Solche Linien sind auf der Interaktionsebene zwischen
Professionellen und Adressatinnen und Adressaten, aber auch auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Rolle auszumachen. Durch die kontextuelle Betrachtung dieser Konfliktlinien wird deutlich, dass der wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess das Potential
beinhaltet, die Soziale Arbeit sukzessive zu unterwandern und so ihr normatives Selbstverständnis zu entwerten. Bei dieser Entwertung handelt es sich aber keineswegs um
einen Vorgang, welchem gegenüber die Soziale Arbeit hilflos ausgeliefert ist. Deshalb
wird auch die Rolle der Profession sowie die ihrer einzelnen Angehörigen in dieser Arbeit immer mitberücksichtigt. Möchte die Soziale Arbeit ihr normatives Selbstverständnis
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verteidigen, muss sie sich mit den Herausforderungen, welchen gegenüber sie sich im
Rahmen des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses ausgesetzt sieht, aktiv
auseinanderzusetzen. Sie muss als Profession gezielt und koordiniert handeln, da ihr
ansonsten eine zunehmende Fremdbestimmung droht. In der Schlussbetrachtung werden Handlungsansätze vorgestellt, welche der Sozialen Arbeit helfen könnten, ihr normatives Selbstverständnis in dieser für sie äusserst schwierigen Zeit zumindest ansatzweise zu verteidigen. Im Mittelpunkt stehen dabei Wege und Konzepte zur Repolitisierung Sozialer Arbeit.
wichtige Literaturquellen
Maaser, Wolfgang. (2010). Lehrburch Ethik- Grundlagen, Problemfelder und Perspektiven. Juventa Verlag; Weinheim und München.
Olk, Thomas. (2009). Transformation im deutschen Sozialstaatsmodell. In Fabian Kessl
& Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Soziale Arbeit ohne Wohlfahrtsstaat? Zeitdiagnosen,
Problematisierungen und Pespektiven (S. 23- 34). Juventa Verlag; Weinheim und
München.
Lutz, Ronald. (2008). Wandel der Sozialen Arbeit. Krise der öffentlichen Kassen und des
Sozialstaats. APuZ, Aus Politik und Zeitgeschichte, 12- 13, S. 3- 10.
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Vorwort
Von Beginn weg stand fest, dass ich mich im Rahmen dieser Bachelorarbeit mit der politisch hochbrisanten und so aktuellen Thematik des gegenwärtig stattfindenden wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses und seinen Auswirkungen auf die Soziale
Arbeit befassen möchte. Die fachbezogene Motivation, mich diesem Themenbereich
zuzuwenden, bestand zu Beginn des Entstehungsprozesses dieser Arbeit vornehmlich
darin, Handlungsansätze auszumachen, welche der Sozialen Arbeit helfen könnten, ihre
professionelle Identität angesichts einer während dieses Prozesses wohl zunehmenden
Fremdbestimmung zumindest in Ansätzen zu verteidigen.
Dann stellte ich fest, dass für mich diese Thematik nur in einem grösseren Zusammenhang zufriedenstellend bearbeitet werden kann. Dieser beinhaltet Aspekte wie eine Auseinandersetzung mit dem normativen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit, eine Charakterisierung des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess oder
auch die zu erwartenden Auswirkungen von diesem auf Organisationen sozialer Hilfe.
Erst so können Handlungsansätze zur Verteidigung der professionellen Identität Sozialer
Arbeit in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Denn erst durch diese kontextuelle Betrachtung wird der diesbezügliche Handlungsdruck für die Soziale Arbeit
plausibel. Obwohl ich dann in der Schlussbetrachtung auf Handlungsansätze eingehen
werde, geschieht dies nicht mit dem Anspruch, diese detailliert darzustellen. Das Ziel ist
es aber, entscheidende Bereiche zu thematisieren. Dies wären dann die Ansätze, welche Anschluss für eine darauf aufbauende Bachelorarbeit bieten würden, wobei dann
auch eine tiefere Auseinandersetzung mit den jeweiligen Punkten stattfinden könnte.
Den wahren Wert dieser Arbeit sehe ich deshalb auch weniger in der Identifizierung von
Handlungsansätzen für die Soziale Arbeit, sondern vielmehr darin, dass durch diesen
strukturellen Aufbau bei allfälligen Leserinnen und Lesern der Blick für die entscheidenden Vorgänge geschärft werden kann, welche die Soziale Arbeit in ihrem normativen
Selbstverständnis im Rahmen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses herausfordern. Dies funktioniert aber nur, wenn auch die Rolle der Sozialen Arbeit selbst mitreflektiert wird. Denn obwohl der Druck, welchem sie gegenwärtig
ausgesetzt ist, zweifellos gross ist und häufig als belastend empfunden wird, gehe ich
mit Kessel und Otto (2009) davon aus, dass die Soziale Arbeit letztlich Teil dieses
Transformationsprozesses ist. Für diese Arbeit bedeutet dies, dass, wenn von einem
9
wohlfahrtsstaatlichen Gefüge, egal welcher Prägung gesprochen wird, von einem dynamischen Gefüge, welches die Soziale Arbeit eben auch unweigerlich selbst mit produziert und mit reproduziert, ausgegangen wird (vgl. S. 9- 10).
Meine persönliche Motivation, die Bachelorarbeit über diese Thematik zu schreiben ist
folgende: Da moderne Gesellschaften, auch mit Hilfe der Sozialen Arbeit, dazu tendieren, soziale Probleme zu privatisieren, bin ich der festen Überzeugung, dass neben unseren Adressatinnen und Adressaten auch eine demokratische, jedoch zunehmend segregierte, entsolidarisierte und entpolitisierte Gesellschaft auf eine starke, politische und
ethisch fundierte Profession Soziale Arbeit angewiesen ist (vgl. Hermann, Stövesand,
2009, S. 200). Denn wie es Wolfgang Maaser (2013) treffend ausdrückt, guckt „wohl
kaum ein Beruf (..) der Gesellschaft so in den Bauch wie die Soziale Arbeit“(S. 9) es tut.
An dieser Stelle ist es mir ein grosses Anliegen, mich bei Herrn Professor Stefan Ribler
für seine hochwertige und geduldige Begleitung bei der Entstehung dieser Arbeit zu bedanken. Ebenfalls möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, ohne deren grosszügige Unterstützung diese Bachelorarbeit und überhaupt das ganze Studium nicht möglich
gewesen wären.
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Einleitung und erkenntnisleitende Fragestellung
Dass die Wohlfahrtsstaaten der westlichen Industrienationen gegenwärtig rasanten Veränderungsprozessen unterliegen, ist nicht nur der Fachliteratur zu entnehmen. Auch
einem wachen Bürgerauge entgeht in unserer stark medial geprägten Öffentlichkeit
nicht, was sich hinter den Konzepten ‚Agenda 2010’ oder ‚Hartz 4’ in der Bundesrepublik
Deutschland und hinter den Revisionen der Invaliden- und der Arbeitslosenversicherung
in der Schweiz verbirgt.
Dass die Soziale Arbeit von diesen Veränderungen nicht unberührt bleibt, versteht sich
angesichts ihrer Verankerung im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement des Industriezeitalters von selbst (vgl. Mollenhauer, 1959, S. 132, zit. in Kessl, Otto, 2009, S. 7). Dementsprechend gross ist auch ihre Unsicherheit, was die eigene Zukunft anbelangt. Äusserst
brisant ist dabei die Frage, inwiefern der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess die Soziale Arbeit in ihrem normativen Selbstverständnis herausfordert.
Dieser Frage geht diese Arbeit nach. Die ihr zugrundeliegende erkenntnisleitende Fragestellung lautet:
-Inwiefern fordert der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess
die Profession Soziale Arbeit in ihrem normativen Selbstverständnis heraus?
Die vorliegende Arbeit möchte ihren Leserinnen und Lesern einen möglichst umfassenden Einblick in die Thematik ermöglichen. Denn diese Fragestellung erfordert erstmal
eine Auseinandersetzung mit dem normativen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit
sowie eine Charakterisierung des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses. Dadurch können dann die Mechanismen und Entscheidungen, welche im
Rahmen dieses Transformationsprozesses die Soziale Arbeit in ihrem normativen
Selbstverständnis herausfordern, in den Fokus genommen werden. Zudem kann in diesem Zusammenhang auch das Verhalten der Professionellen der Sozialen Arbeit selbst
mitberücksichtigt werden, denn wie Silvia Staub-Bernasconi (2005) betont, begünstigen
nicht nur externe Prozesse deprofessionalisierende Tendenzen, sondern auch der „Anerkennungshunger, den man mit Konformität gegenüber dem Zeitgeist zu stillen versucht“(S. 4). Letztlich erlaubt es diese Fragestellung aber auch Handlungsansätze für
die Soziale Arbeit auszumachen, welche ihr möglicherweise helfen könnten, ihre profes-
11
sionelle Identität, in dieser für sie so herausfordernden Zeit zumindest ansatzweise zu
verteidigen.
Im ersten Kapitel wird das normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit herausgearbeitet. Orientierung bieten dabei hauptsächlich die internationale Definition und die Festlegung der ethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit, welche im Oktober 2004 von den
Generalversammlungen der International Federation of Social Workers (IFSW) und der
International Association of Schools of Social Work (IASSW) in Adelaide, Australien,
verabschiedet wurden. Um noch tiefer in das dabei proklamierte normative Selbstverständnis einzutauchen, folgt darauf eine Auseinandersetzung mit der Bestimmung der
Sozialen Arbeit als ‚Menschenrechtsprofession’ sowie der als ‚Gerechtigkeitsprofession’.
Im zweiten Kapitel folgt eine Darstellung der Charakteristik des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses unabhängig von seinen Auswirkungen auf
die Soziale Arbeit. Zudem wird nach seinen Ursachen gesucht.
Im dritten Kapitel wird der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess in
seinen Auswirkungen auf die Soziale Arbeit beleuchtet. Dabei wird in zwei Schritten vorgegangen: Zuerst werden seine Auswirkungen auf Organisationen sozialer Hilfe und
danach auf den Hilfsprozess betrachtet.
Das Kapitel ‚Konfliktlinien zwischen den Einflüssen des wohlfahrtsstaatlichen
Transformationsprozesses auf die Soziale Arbeit und ihrem normativen
Selbstverständnis’ ist das Herzstück dieser Arbeit. Hier findet die Verknüpfung der zuvor
bearbeiteten Inhalte statt, indem die Einflüsse des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen
Transformationsprozesses auf die Soziale Arbeit auf die Vereinbarkeit mit ihrem normativen Selbstverständnis überprüft werden. Es handelt sich also um ein Kapitel mit einem
hohen Kreativitätsanspruch. Vorgegangen wird auf zwei Ebenen: Zuerst wird die Ebene
des Hilfsprozesses, also der Interaktion zwischen Professionellen und Adressatinnen
und Adressaten Sozialer Arbeit beleuchtet. Danach folgt dasselbe auf der Ebene ihrer
gesellschaftlichen Rolle. Daraufhin wird das letztlich entscheidende Verhalten der Professionellen Sozialer Arbeit selbst beleuchtet.
In der Schlussbetrachtung findet eine Auseinandersetzung mit den Handlungsansätzen
statt, welche der Sozialen Arbeit helfen könnten, ihr normatives Selbstverständnis zu
verteidigen. Für die ganze Schlussbetrachtung gilt, dass dabei auf die herausgearbeiteten Ansätze nicht sehr detailliert eingegangen wird. Trotzdem werden entscheidende
12
Handlungsansätze für eine zur Verteidigung ihrer professionellen Identität entschlossenen Sozialen Arbeit benannt. Dafür wird mit unterschiedlicher Intensität auf den Themenbereich der Repolitisierung Sozialer Arbeit und auf ihre Verästelung im volkswirtschaftlichen Zusammenhang eingegangen.
Die Schlussbetrachtung beginnt mit dem Unterkapitel ‚Weshalb das normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit gerade jetzt so wertvoll ist’. Dieses dient nicht nur der
Beantwortung der erkenntnisleitenden Fragestellung, sondern auch der normativen
Rechfertigung für weitere Anführungen. Es handelt sich ebenfalls um einen Abschnitt mit
einem hohen Kreativitätsanspruch, denn es werden wiederum zuvor bearbeitete Inhalte
miteinander verknüpft. Das nächste Unterkapitel befasst sich mit der Notwendigkeit einer Repolitisierung der Sozialen Arbeit. Dafür werden zuerst die notwendigen Vorraussetzungen aufgezeigt, worauf in Form eines kurzen Exkurses mittels einer gesellschaftstheoretischen Begründung das sozialpolitische Mandat der Sozialen Arbeit ausgewiesen
wird. Dann werden Konzepte und Strategien für eine allfällige Repolitisierung vorgestellt.
Im Mittelpunkt steht dabei die Vereinbarkeit eines solchen Vorgangs mit dem Prozess
der Professionalisierung wie auch die Notwendigkeit, kooperative Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Kräften einzugehen. Am Ende der Schlussbetrachtung wird eine
wichtige Bewältigungsaufgabe für die Soziale Arbeit in ökonomischer Hinsicht aufgezeigt.
Die Beantwortung der erkenntnisleitenden Fragestellung erfolgt entlang des strukturellen
Aufbaus der Arbeit in Form einer kurzen und prägnanten Zusammenfassung. Nach der
Beantwortung der erkenntnisleitenden Fragestellung folgen in der persönlichen Schlussbetrachtung einige persönliche Anmerkungen des Autors zur Thematik, und es wird ein
Fazit über den Entstehungsprozess sowie das Ergebnis dieser Arbeit gezogen.
Anmerkungen: Wenn in dieser Arbeit von der Sozialen Arbeit gesprochen wird, ist immer
eine professionelle Soziale Arbeit oder die Profession Soziale Arbeit gemeint. Allerdings
wird damit der disziplinäre Aspekt nicht ausgeschlossen. Denn eine Verteidigung ihres
normativen Selbstverständnisses ist nur mittels enger Zusammenarbeit zwischen Profession und Disziplin zu bewerkstelligen, wie in der Schlussbetrachtung deutlich wird.
Und wenn von Organisationen sozialer Hilfe gesprochen wird, sind damit Organisationen
gemeint, in denen Professionelle der Sozialen Arbeit das Angebot repräsentieren. Dabei
handelt es sich beispielsweise um Wohnheime, beratende Organisationen, Tagesstätten, Berufsbeistandschaften oder häufig auch Sozialämter.
13
1.) Das normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit
Die Soziale Arbeit schöpft ihr normatives Selbstverständnis aus ihrem ethischen Hintergrund. An ihrem normativen Selbstverständnis orientiert sie sich hinsichtlich ihrer adressatenbezogenen Ziele und Verhaltensnormen, jedoch beinhaltet es auch die Vorstellung
der Profession über ihre Positionierung innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges, ihr
eigenes gesellschaftliches Rollenbild (vgl. Maaser, 2010, S. 24). Bei der Verortung des
normativen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit handelt es sich nicht um eine Funktionsbestimmung. Es stellt sich also weniger die Frage, was die Soziale Arbeit ist, sondern vielmehr, als was sie sich versteht, was sie sein möchte.
Das normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit ist keineswegs als einheitlich aufzufassen. Martin Albert (2006) spricht aufgrund traditioneller, politischer und idealistischer Strömungen denn auch von einer letztlich unüberwindbaren „Meinungsvielfalt von
ethischen Vorstellungen innerhalb des Berufsfeldes“(S. 64). Versteht sich die Soziale
Arbeit ihrem wohlfahrtsstaatlichen Auftrag entsprechend pragmatisch als ausführendes
Organ der Politik, dem Willensausdruck der Mehrheitsgesellschaft folgend? Oder findet
sie, dass sie ihre Wirkung nur sinnvoll entfalten kann, wenn sie gesellschaftliche Rahmenbedingungen berücksichtigt und diese darüber hinaus auch versucht zu beeinflussen? Oder soll sie gar eine generelle Veränderung der als ungerecht empfundenen gesellschaftlichen Strukturen anstreben, welche dabei als Ursache für soziale Probleme
verstanden werden?
Dem normativen Selbstverständnis immanenten gesellschaftlichen Rollenbild unterliegen neben fachlichen Erwägungen aber auch Vorstellungen und Hoffnungen der Professionsangehörigen was die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Tätigkeit anbelangt.
Bei der Frage der gesellschaftlichen Selbstpositionierung zwischen kooperativem Verhalten gegenüber der Politik und der Verpflichtung gegenüber den eigenen Professionsvorstellungen geht es deshalb auch darum, wie weit die Professionellen Sozialer Arbeit
bereit sind sich, auf Kosten der Anerkennung ihrer Tätigkeit, der Gesellschaft gegenüber
in ein konfrontativeres Verhältnis zu setzen. (vgl. Staub-Bernasconi, 2005, S. 4)
Beim normativen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit handelt es sich also um einen
stark diskursiven Gegenstand. Deshalb ist für diese Arbeit eine Festlegung auf ein innerhalb der Profession mehrheitsfähiges normatives Selbstverständnis notwendig. Dafür
14
wird mit Martin Albert (2006) davon ausgegangen, dass Berufskodexe diesbezüglich
einen Minimalkonsens darstellen (vgl. S. 64). Dabei muss unbedingt berücksichtigt werden, dass es sich bei Berufskodexen der Sozialen Arbeit immer um Momentaufnahmen
handelt, worauf auch Hermann Baum abzielt, wenn er solche als „Zitterwesen“ bezeichnet und darauf verweist, dass in der Sozialen Arbeit heute breit akzeptierte Verhaltensnormen keineswegs schon immer gelebt worden seien (Hermann Baum, S. 156 1996,
zit. in Eisenmann, 2006, S. 246).
Nun erfolgt ein Blick auf die im Jahr 2004 von der ‚International Federation of Social
Workers’ (IFSW) und der ‚International Association of Schools of Social Work’ (IASSW)
verabschiedete Definition Sozialer Arbeit sowie die Darstellung ihrer ethischen Prinzipien (vgl. Avenir Social, 2006). Es handelt sich dabei zwar nicht um einen Berufskodex,
jedoch um ein prägnantes Positionspapier, worauf sich der schweizerische Berufsverband Sozialer Arbeit, Avenir Social (2010) in seinem nationalen Berufskodex hinsichtlich
der Herbeiziehung der darin vertretenen ethischen Prinzipien ausdrücklich beruft (vgl. S.
5). Der schweizerische Berufskodex, wie auch der Abschnitt ‚berufliches Verhalten’ des
‚IFWS’- und ‚IASSW’ Positionspapiers, wird nicht in diese Arbeit übernommen, jedoch in
den weiteren Anführungen mitreflektiert und bei Bedarf erwähnt.
1.1) Internationale Definition sowie Darstellung der ethischen Prinzipien Sozialer Arbeit
„Definition Sozialer Arbeit
Die Profession Soziale Arbeit fördert den sozialen Wandel, Problemlösungen in
menschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen, um ihr Wohlbefinden zu heben. Unter Nutzung von Theorien menschlichen Verhaltens und sozialer Systeme vermittelt Soziale Arbeit am Punkt, wo
Menschen und ihre sozialen Umfelder aufeinander einwirken. Dabei sind die
Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit
Fundamental”(vgl. Avenir Social, 2006).
„Internationale Übereinkommen
Internationale Menschenrechtserklärungen und -übereinkommen bilden allgemeine
Zielmaßstäbe und anerkennen Rechte, welche von der weltweiten Gemeinschaft akzep-
15
tiert werden. Für die Soziale Arbeit besonders relevante Dokumente sind:
• Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
• Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
• Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
• Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung
• Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
• Übereinkommen über die Rechte des Kindes
• Übereinkommen betreffend die Ureinwohner und Stammesvölker (ILOÜbereinkommen 169)”(vgl. Avenir Social, 2006).
„Menschenrechte und Menschenwürde
Soziale Arbeit basiert auf der Achtung des innewohnenden Wertes und der Würde aller
Menschen und den Rechten, welche daraus folgen. Professionelle der Sozialen Arbeit
sollen die körperliche, psychische, emotionale und spirituelle Integrität und das Wohlbefinden jeder Person stützen und verteidigen. Das bedeutet:
1. Das Recht auf Selbstbestimmung achten: Professionelle der Sozialen Arbeit sollen
das Recht der Menschen, ihre eigene Wahl und Entscheidung zu treffen, achten und
fördern, ungeachtet ihrer eigenen Werte und Lebensentscheidungen, vorausgesetzt,
dies gefährdet nicht die Rechte und legitimen Interessen Anderer.
2. Das Recht auf Beteiligung fördern: Professionelle der Sozialen Arbeit sollen die
volle Miteinbeziehung und Beteiligung der Menschen, die ihre Dienste nutzen, auf eine
Art und Weise fördern, dass diese hinsichtlich aller Aspekte ihres Lebens entscheidungs- und handlungsfähig werden.
3. Jede Person ganzheitlich behandeln: Professionelle der Sozialen Arbeit sollen sich
mit der Person als umfassende Ganzheit innerhalb der Familie, der Gemeinschaft sowie
der sozialen und natürlichen Umwelt beschäftigen und sollen sich bemühen, alle Aspekte des Lebens einer Person wahrzunehmen.
4. Stärken erkennen und entwickeln: Professionelle der Sozialen Arbeit sollen ihren
Blick auf die Stärken der Individuen, Gruppen und Gemeinschaften richten und so ihre
Ermächtigung fördern”(vgl. Avenir Social., 2006).
„Soziale Gerechtigkeit
Bezogen auf die Gesellschaft allgemein und in Bezug auf die Menschen, mit denen sie
arbeiten, sind Professionelle der Sozialen Arbeit verpflichtet, soziale Gerechtigkeit zu
fördern. Das bedeutet:
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1. (Negative) Diskriminierung zurückweisen: Professionelle der Sozialen Arbeit haben die Pflicht, (negative) Diskriminierung, sei es aufgrund von Fähigkeiten, Alter, Kultur,
sozialem bzw. biologischem Geschlecht, Familienstand, sozioökonomischem Status,
politischer Meinung, Hautfarbe, rassischen oder anderen körperlichen Merkmalen, sexueller Orientierung oder spirituellem Glauben, zurückzuweisen.
2. Verschiedenheit anerkennen: Professionelle der Sozialen Arbeit sollen die ethnischen und kulturellen Unterschiede der Gesellschaften, in denen sie arbeiten, wahrnehmen und achten und die Verschiedenheit von Individuen, Familien, Gruppen und
Gemeinschaften berücksichtigen.
3. Ressourcen gerecht verteilen: Professionelle der Sozialen Arbeit sollen sicherstellen, dass die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, den Bedürfnissen entsprechend gerecht verteilt werden.
4. Ungerechte Politik und Praktiken zurückweisen: Professionelle der Sozialen Arbeit haben die Pflicht, ihre Auftraggeber, Entscheidungsträger, Politiker/innen und die
Öffentlichkeit auf Situationen aufmerksam zu machen, in denen Ressourcen unangemessen verwendet werden oder in denen die Verteilung von Ressourcen, aber auch
sonstige Maßnahmen und Praktiken unterdrückerisch, ungerecht oder schädlich sind.
5. Solidarisch arbeiten: Professionelle der Sozialen Arbeit haben die Pflicht, soziale
Bedingungen zurückzuweisen, die sozialen Ausschluss, Stigmatisierung oder Unterdrückung begünstigen, und sie haben die Pflicht auf eine integrierende Gesellschaft hinzuarbeiten”(vgl. Avenir Social, 2006).
Wie der Berufsverband Avenir Social (2010), welcher in seinem nationalen Berufskodex
zusätzlich auf die Vereinbarkeit seiner ethischen Prinzipien mit der schweizerischen
Bundesverfassung hinweist, verweisen auch die ’IFSW’ sowie die ’IASSW’ in der Definition Sozialer Arbeit und der Darstellung ihrer ethischen Prinzipien auf die Menschenrechte und Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit als deren Bezugsrahmen (vgl. S. 5).
Um das oben proklamierte normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit noch tiefer
zu ergründen, erfolgt eine Betrachtung der konstitutiven Momente der Gegenstandsbestimmung der Sozialen Arbeit als ‚Menschenrechtsprofession’ sowie derer als ‚Gerechtigkeitsprofession’. Laut Hiltrud von Spiegel (2008) trägt die ‚IFSW’-Definition Sozialer
Arbeit unverkennbar Silvia Staub-Bernasconis Handschrift. Staub-Bernasconi ist es
dann auch, welche die Soziale Arbeit als ‚Menschenrechtsprofession’ postulierte (vgl. S.
28). Eine Gegenstandsbestimmung der Sozialen Arbeit als ‚Gerechtigkeitsprofession’
17
stammt von Mark Schrödter (vgl. 2007). Diesbezüglich muss aber hier noch festgehalten
werden, dass auf dem ‚IFSW’- und ‚IASSW’ Positionspapier die Soziale Arbeit weder als
‚Menschenrechtsprofession’ noch als ‚Gerechtigkeitsprofession’ bezeichnet wird. Jedoch
ist die Bezugsnahme der ethischen Prinzipien aus diesem Fundus sehr explizit.
1.2) Die Soziale Arbeit als ‚Menschenrechtsprofession’
Wie schon erwähnt, wurde die Bestimmung der Sozialen Arbeit zur Menschenrechtsprofession entscheidend von Silvia Staub-Bernasconi geprägt. Auf dem systemischen Paradigma aufbauend, welches „sowohl Probleme von Individuen als auch Probleme im
Zusammenhang mit einer Sozialstruktur und Kultur”(Staub-Bernasconi, 2002, S. 250, zit.
in von Spiegel, 2008, S. 27) integriert, bestimmt Staub Bernasconi die Soziale Arbeit als
Institution zur Bearbeitung Sozialer Probleme (vgl. Staub Bernasconi, 2002, S. 246, zit.
in von Spiegel, 2008, S. 26- 27). Mittels Festlegung von Grundsätzen für die Aus- und
Weiterbildung in der Sozialen Arbeit erklärten die ’IFSW’ und die ’IASSW’ die Menschenrechte als Bezugsquelle für das normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit (vgl.
Staub-Bernasconi, 1995, zit. in Albrecht, 1999, S. 1).
Wolfgang Huber definierte die Menschenrechte treffend: „Als Menschenrechte im weiteren Sinnen sind ... diejenigen Rechte anzusehen, die allen Menschen kraft ihres
Menschseins und unabhängig von Hautfarbe oder Staatsangehörigkeit, politischer oder
religiöser Überzeugung, sozialer Stellung oder wirtschaftlichen Einfluss, Geschlecht oder
Alter zukommen. Diese Menschenrechte werden nicht vom Staat verliehen, sondern
tragen vorstaatlichen Charakter. Sie sind unantastbar und unveräusserlich: weder darf
der Staat sie verweigern oder entziehen, noch kann der oder die einzelne freiwillig oder
gezwungenermassen auf sie verzichten.(...) Träger der Menschenrechte sind immer die
einzelnen menschlichen Personen; es handelt sich also durchweg um Statusrechte der
einzelnen, nicht um Kollektivrechte“(Huber, 2000, S. 583 f., zit. in Maaser, 2010, S. 27).
In der obigen Definition sind die Kernmomente der Menschenrechte auf eine prägnante
Weise erfasst. Menschenrechte gelten für jedes menschliche Wesen. Der im Menschenrechtsverständnis zentrale Würdebegriff „hebt die Selbstzwecklichkeit des Menschen
gegenüber seiner Instrumentalisierung hervor“(Maaser, 2010, S. 25) und ist unveräusserbar und universal. Er gilt immer und überall, für jeden Menschen in jeder Situation.
Denn die Anerkennung der menschlichen Würde findet ihre Begründung in seiner Zuge-
18
hörigkeit zur Gattung Mensch und niemand kann, welches differenzstiftende Argument
von wem auch immer hinzugezogen wird, aus diesem rechtlichen Rahmen veräussert
werden. Dies gilt einerseits für Unterscheidungsmerkmale, wie beispielsweise der Religion oder der Hautfarbe, welche aus historischer Sicht immer wieder angeführt wurden,
aber auch noch gegenwärtig angewendet werden, um bestimmten Menschen oder
Gruppen von Menschen die Würde abzusprechen und ihnen so die Zugehörigkeit zur
Gattung Mensch zu verwehren. Andrerseits gilt dies aber auch für künftige potentielle
Differenzierungsgründe, wie beispielsweise einem hohen Alter oder kostenintensiven
Krankheiten, deren soziale Sprengkraft sich erst allmählich abzuzeichnen beginnt. (vgl.
Maaser, 2010, S. 25- 28).
Zentral im menschenrechtlichen Verständnis gelten die Freiheitsrechte als eine wesentliche Erfahrungsbedingung menschlicher Würde. Freiheitsrechte sind Abwehrrechte gegenüber staatlicher Gewalt und als „erste Konsequenz der Anerkennung des Menschen
als Menschen“(Maaser, 2010, S. 36) zu verstehen. Bei den Freiheitsrechten handelt es
sich unter anderem um das Recht auf körperliche Integrität, auf Lebens- und Sicherheitsansprüche, das Recht auf Gewissens-, Gedanken- und Religionsfreiheit, Freizügigkeits- und Eigentumsrechte sowie das Recht auf den Schutz des Privatlebens. (vgl.
Maaser, 2010, S. 34- 36).
Freiheitsrechte benötigen aber Teilhaberechte und formale, sowie soziale Gleichheitsrechte zu deren Verwirklichung. Denn erst durch die Möglichkeit der politischen Partizipation, der rechtlichen Gleichheit sowie, für die Soziale Arbeit besonders wichtig, eines
angemessenen Zugangs zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Gütern als Konkretisierung von sozialen Gleichheitsrechten lässt sich ein menschenrechtlicher Freiheitsgedanke realisieren. (vgl. Maaser, 2010, S. 37)
Wolfgang Maaser (2010) erklärt in diesem Zusammenhang, dass ohne eine gerechte
Verteilung gesellschaftlicher Güter die Freiheitschancen im Vorhinein ungleich stark
ausgeprägt seien, weshalb sich „ein realitätsgemässes Freiheitskonzept um den zentralen Aspekt der sozialen Gleichheit bzw. Gerechtigkeit“(S. 37) erweitern müsse. Ein auf
Menschenrechten basierendes Gesellschaftsverständnis ziele deshalb „auf die politische
Realisierung sozialer Rechte“(S. 37) (vgl. S. 37).
Obwohl sich moderne Staaten in ihren Verfassungen auf die unveräusserliche menschliche Würde berufen und infolge dessen Teile der Menschenrechte zu Grundrechten positivierten, also zu gültigem Recht transformierten, handelt es sich bei den Menschenrech-
19
ten grundsätzlich um einen ethischen Bezugsrahmen mit einem hohen Interpretationsbedarf, welcher hinsichtlich seiner Funktion als Grundlage für das normative Selbstverständnis der Profession Soziale Arbeit genauer betrachtet werden muss (vgl. Maaser,
2010, S. 24- 31):
Aus der Reflexion der menschenrechtlichen Spannungsfelder „von Abwehrrechten und
Anspruchsrechten sowie individueller Freiheit und sozialer Gleichheit”(Maaser, 2010, S.
27) schöpft die Soziale Arbeit verstanden als ‚Menschenrechtsprofession’ ihre ethischen
Prinzipien, woran sie sich hinsichtlich ihrem normativen Selbstverständnis orientiert.
Dieses wiederum hilft ihr, ihre adressatinnen- und adressatenbezogenen Ziele sowie
den damit verbundenen Umgang mit ihnen festzulegen, aber auch ihre eigene Positionierung innerhalb der Gesellschaft und somit ihre sozialpolitische Rolle zu definieren.
(vgl. Maaser, 2010, S. 24) Darüber hinaus bieten die Menschenrechte der Sozialen Arbeit auch einen Referenzrahmen, um gesellschaftliche Prozesse beobachten und beurteilen zu können (vgl. Maaser, 2010, S. 49).
Ein menschenrechtliches Professionsverständnis verleiht sich aus dem vorstaatlichen
Charakter, sowie der universalen Geltung der Menschenrechte seine moralische Legitimation (vgl. Albert, 2010, S. 25- 27). Demgegenüber bestehe aber auch die Verpflichtung der Profession, auf die Positivierung dieser hinzuwirken, erklärt Sonja Hug (2007).
Dies gelte insbesondere für die sozialen Gleichheitsrechte, deren Verletzungen im Gegensatz zu deren der Freiheitsrechte nicht als solche eingeklagt werden können. Denn
die Menschenrechte seien ohne „diese Voraussetzung (...) zahnlos“(S. 12), erklärt Hug
weiter. Und letztlich könne die Soziale Arbeit den Menschenrechten, über die Ermöglichung ihrer Einklagbarkeit, zu einem Status als verbindliche, normative gesellschaftliche
Grundlage mit verhelfen (vgl. S. 12- 14).
1.3) Die Soziale Arbeit als ‚Gerechtigkeitsprofession’
Die Bestimmung der Sozialen Arbeit zur Gerechtigkeitsprofession stammt von Mark
Schrödter (2007): „Soziale Arbeit als soziale Institution ist beauftragt mit der Herstellung
sozialer Gerechtigkeit. Unter Bedingungen einer ungerechten Grundstruktur kompensiert
sie die ‚unfaire’ Verteilung gesellschaftlicher Leistungen“(S. 9). Schrödter erklärt, das
Ziel der Sozialen Arbeit sei dabei, exkludierten Menschen die „Teilnahme am ‚Sozialen’“(Baecker, 2000, zit. in Schrödter, 2007, S. 9), zu ermöglichen „indem sie zentrale
20
ungerecht verteilte gesellschaftliche Leistungen jenen gibt, denen sie zukommen”(2007,
S. 9).
Doch was kommt wem zu? Diesbezüglich beinhalten Gerechtigkeitstheorien keine konkreten Lösungen. Sie enthalten keine Vorstellungen des ‚guten Lebens’. Vielmehr bieten
sie der Sozialen Arbeit einen Orientierungsrahmen für die Bewertung von gesellschaftlichen Verteilungsprozessen unter dem Aspekt der Gerechtigkeit deren Vollzugs. (vgl.
Maaser, 2010, S. 52)
Schrödter (2007) unterteilt die theoretischen Referenzrahmen von Gerechtigkeitsurteilen
in die Kategorien des „Nutzens, der Güter und Fähigkeiten“(Sen, 1999, S. 71 f., zit. in
Schrödter, 2007, S. 10). Eine Orientierung am subjektiven Nutzen der Adressaten Sozialer Arbeit, also eine utilitaristische Fundierung Sozialer Arbeit, erachtet Schrödter aufgrund der Problematik „der kostspieligen Vorlieben“(S. 11) für ungeeignet (vgl. S. 11).
Dasselbe gelte für das „Problem der angepassten Wünsche“(Nussbaum, 1990, S. 40 ff,
zit. in Schrödter, 2007, S. 12), einem in der Sozialen Arbeit häufig erlebbaren Phänomen, dass Menschen dazu neigen ihre Wünsche dem Grad ihrer Deprivation anzupassen (vgl. Nussbaum, 1990, S. 40 ff, zit. in Schrödter, 2007, S. 12). Die Orientierung an
gesellschaftlichen Grundgütern hingegen baue auf einer ‚stark-vagen’ Vorstellung dessen auf was es ausmache, ein Mensch zu sein (vgl. Nussbaum, 1990, S. 70, zit. in
Schrödter, S. 12). Dieser Ansatz, welcher entscheidend von John Rawls erarbeitet wurde, erwartet von einer gerechten Gesellschaft, dass sie jeder Bürgerin und jedem Bürger
gewisse gesellschaftliche Grundgüter, wie „Grundrechte und Grundfreiheiten, Freizügigkeit und freie Berufswahl, Befugnisse und Zugangsrechte zu Ämtern und Positionen, ein
gewisses Einkommen und Besitz und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung“(Rawls, 1993, zit. in Schrödter, 2007, S. 12) zur Verfügung stellt.
Eine alleinige Orientierung an gesellschaftlichen Gütern vernachlässige aber das Problem der differenten Verwirklichungsmöglichkeiten und führe deshalb zu struktureller
Diskriminierung, hält Schrödter (2007) fest. Denn die Unterschiedlichkeit der Menschen
in ihrer körperlichen und geistigen Konstitution, sowie verschiedene natürliche und soziale Umweltbedingungen würden so dafür sorgen, dass eine Gleichverteilung gesellschaftlicher Güter wiederum zu starker Ungleichheit führe. Schrödter erklärt, dass nur
ein multidimensionaler Referenzrahmen für Gerechtigkeitsurteile, welcher die Fähigkeiten und somit die Verwirklichungschancen des einzelnen Menschen mitberücksichtige,
der Unterschiedlichkeit der Menschen gerecht werden könne (vgl. S. 13- 14.).
21
Für diese entscheidende Erweiterung des Güteransatzes sorgt der für die Soziale Arbeit
so wertvolle Capability-Approach Ansatz, welcher vor allem von Amartya Sen und Martha Nussbaum vertreten wird. Dieser besagt, eine gerechte Gesellschaft müsse dafür
sorgen, dass die einzelnen Bürgerinnen und Bürger ihre Fähigkeiten so weit ausbilden
können, damit ihnen ein Leben in Würde ermöglicht werde. Gerechtigkeitsurteile unter
dieser Perspektive orientieren sich deshalb an den Chancen der einzelnen Person zu
der Ausbildung bestimmter Fähigkeiten. (vgl. Otto/Ziegler, 2006a; Ziegler, 2004, zit. in
Schrödter, 2007, S. 14)
Als Fähigkeiten, erklärt Schrödter (2007), gelten die sozialen gesellschaftlichen Grundgüter dann, wenn sie in sozialer Erzeugung hervorgebracht, sowie „in sozialer Kooperation gesteigert, akkumuliert und verteilt“(S. 15) und gleichzeitig nicht auf natürlichem
Talent beruhen würden (vgl. 15). Weiter erklärt er, der Capability-Approach Ansatz verlange, dass in einer gerechten Gesellschaft die Prozedur der Verteilung dieser Fähigkeiten analog zur der von Grundfreiheiten oder ökonomischen Gütern ebenso fairnessgeleiteten Kriterien unterliegen müsse. Werde eine Gleichverteilung von Verwirklichungschancen angestrebt, könne dies zwar nur geschehen, wenn eine Vorstellung des Minimums an notwendig erachteten Verwirklichungschancen existiere. Gleichzeitig, so
Schrödter weiter, unterliege aber die wirkliche Bestimmung des sozialen Minimums der
demokratischen Entscheidungsfindung (vgl. S. 15- 17).
1.4) Verortung des normativen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit
In der ’IFSW’- und ’IASSW’- Definition Sozialer Arbeit und der Festlegung ihrer ethischen Prinzipien kommt ein Selbstverständnis von Sozialer Arbeit zum Ausdruck, das, in
welcher Ausprägung und Deutlichkeit auch immer, letztlich als ein politischemanzipatorisches betrachtet werden kann. Inwiefern diese Konzessionen an zeitgeistliche politische Strömungen beinhalten, müsste im Rahmen einer Beobachtung ihrer historischen Entwicklung beurteilt werden. Ein diesbezüglicher Kommentar zum Berufskodex von Avenir Social erfolgt in der Schlussbetrachtung. Auf jeden Fall ist auf dem Positionspapier der ’IFSW’ und ’IASSW’ von einer „Ermächtigung und Befreiung von Menschen“(Avenir Social, 2006, S. 1), von der Sozialen Arbeit als Förderin sozialen Wandels, den Prinzipien der Achtung der Selbstbestimmung sowie dem Recht auf Beteiligung die Rede. Es wird erklärt, dass Professionelle auf eine integrative Gesellschaft
hinwirken und ungerechte Praktiken und Politiken zurückweisen müssen. (vgl. Avenir
22
Social, 2006, S. 1- 3).
Es wird deutlich, dass hier eine Fachlichkeit, welche ausschliesslich am Einzellfall anknüpft, als ein verkürztes Verständnis Sozialer Arbeit betrachtet wird. Soziale Arbeit aus
dieser Perspektive muss sich auch mit der Gesellschaftsstruktur befassen. Professionelle der Sozialen Arbeit werden zu einer kritischen Einstellung gegenüber der Gesellschaft
aufgefordert, um diese bei ihrer Tätigkeit mitreflektieren zu können und um sich, wenn
nötig in politische Diskurse einmischen zu können. In der Orientierung an der vorstaatlichen und universalen Geltung der Menschenrechte sowie der damit verbundenen professionsbezogenen Aufgabe in Richtung derer Positivierung hinzuwirken, kommt dieser
Aspekt besonders deutlich zum Ausdruck. Diese Soziale Arbeit versteht sich als menschenrechts- sowie gerechtigkeitstheoretisch unterlegte Profession, welche fähig ist, auf
eine reflektierte Weise politische Prozesse zu beobachten und zu bewerten (vgl. Maaser, S. 49). In der gerechtigkeitstheoretischen Funktionsbestimmung Sozialer Arbeit von
Schrödter wird zudem deutlich, dass sie sich auch demokratischen Entscheidungsfindungen gegenüber verpflichtet fühlt, solange diese einer transparenten und nachvollziehbaren Prozedur entspringen. Denn sie fühlt sich prinzipiell jedem Menschen gegenüber verpflichtet und möchte nicht einseitig den Interessen derjenigen folgen, die sich im
zivilgesellschaftlichen Diskurs am meisten Gewicht verschaffen können.
Für diese Arbeit bedeutet dies: Wenn vom normativen Selbstverständnis Sozialer Arbeit
gesprochen wird, ist damit ein politisch-emanzipatorisches, menschenrechts- und gerechtigkeitstheoretischer Prägung gemeint. Noch einmal wird hier darauf hinweisen,
dass keineswegs von einem einheitlichen normativen Selbstverständnis der Sozialen
Arbeit ausgegangen werden kann. In diesem Zusammenhang könnte man das Vorgehen bei der Festlegung eines solchen als schon im Kern etwas heikel kritisieren. Eine
Festlegung ist für diese Arbeit aber unerlässlich.
23
2.) Der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess
2.1) Vom wohlfahrtsstaatlichen Arrangement des Industriezeitalters
zum ‚Sozialinvestitionsstaat’
In der Einleitung wurde schon auf die enge Verbindung der Sozialen Arbeit mit der
Wohlfahrtsstaatlichkeit hingewiesen. Um das Wesen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses zu erfassen, ist es aber sinnvoll, ihn erst einmal
isoliert von seinen Auswirkungen auf die Soziale Arbeit zu betrachten.
„Das System der Integrationsmassnahmen (...) unterliegt (...) in der Mehrheit der OECDStaaten einer grundlegenden Transformation“ schreiben Fabian Kessel und Hans-Uwe
Otto (2009, S. 7). Die Autoren, auf die sich diese Arbeit bezieht, argumentieren jedoch
mehrheitlich anhand des deutschen Wohlfahrtsstaates, wobei auch Thomas Olk (2009)
betont, dass alle entwickelten Wohlfahrtsstaaten gegenwärtig in vergleichbarer Weise
von wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozessen tangiert würden, respektive deren
Konzepten und Strategien, hinsichtlich ihrer Unterscheidung zu den Sozialpolitiken des
„alten Typs“(S. 23) allesamt ähnliche Merkmale zugrunde lägen (vgl. S. 23). Deshalb
würde es hier keinen Sinn machen, Unterschiede dieser Prozesse in ihrer nationalen
Ausprägung ausmachen zu wollen, denn entscheidend für diese Arbeit ist es, die gemeinsame Charakteristik dieser Transformationsprozesse einfangen zu können.
Als ein zentrales gemeinsames Merkmal dieser Transformationen betrachtet Olk (2009),
welcher das dabei entstehende wohlfahrtsstaatliche Gebilde als ‚Sozialinvestitionsstaat’
charakterisiert, deren „produktivistischen Charakter“(S. 23). Während der Staat im wohlfahrtstaatlichen Arrangement des Industriezeitalters die soziale Sicherheit der Bürger
garantierte und versucht habe, der Entstehung einer allzu starken sozialen Ungleichheit
entgegenzuwirken, läge dem Investitionsstaat eine grundsätzlich andere Programmatik
zu Grunde, deren Intention im „Beitrag zur Förderung wirtschaftlichen Wachstums durch
die Mobilisierung und Aktivierung der produktiven Potentiale unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen“(S. 23) liegen würde. In der „aktivierenden Ausrichtung”(S. 23) gegenwärtiger und künftiger Sozialpolitiken, die darin bestehe, „auf dem Wege der Durchsetzung
von Verhaltensaufforderungen wie Eigenverantwortung, Lern- und Anpassungsbereit-
24
schaft sowie Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwohl, die Menschen in die
Lage zu versetzen, ihre Inklusion in die Gesellschaft selbst zu organisieren“(S. 23- 24),
sieht Olk das zentrale Ziel im Erlangen einer Passung zum ersten Arbeitsmarkt, wenn
nötig mittels fördernden Umwegen über berufsqualifizierende Massnahmen (vgl. S. 2324).
Die Verknüpfung sozialer Rechte an bestimmte Verhaltensanforderungen erachtet Olk
(2009) als ein weiteres Merkmal des Investitionsstaates. Bestehe dabei aus Sicht des
Leistungserbringers der Eindruck von ungenügender Kooperationsbereitschaft seitens
des Leistungsempfängers, würden diesem Kürzungen oder gar die komplette Streichung
seiner Grundsicherung drohen. „Keine Leistung ohne Gegenleistung“(S. 24) laute das
Credo des Sozialinvestitionsstaates (vgl. S. 24). Ronald Lutz (2008) erkennt angesichts
der unter diesen Verhältnissen zunehmend abverlangten „Aktivierung zur ‚Verantwortung’“ in dem sich transformierenden wohlfahrtsstaatlichen Gebilde denn auch „zweifellos eine Verlagerung der Risiken auf das Subjekt“(S. 4).
Dass dabei der Wind in sozialer Hinsicht ein zunehmend rauerer wird, lässt sich auch
mit einer veränderten Auslegung von gesellschaftlicher Teilhabe im entstehenden wohlfahrtsstaatlichen Gebilde erklären. Denn gemäss Olk (2009) unterliege dem Sozialinvestitionsstaat ein Verständnis von gesellschaftlicher Inklusion, welches sich vom gewohnten insofern unterscheide, dass darunter nicht „Teilhabe in der Gegenwart durch Umverteilung von Geldeinkommen, sondern die Umverteilung von Chancen durch die Investition in Qualifikationen und produktive Kompetenzen der (zukünftigen) Arbeitsbürger“(S.
27) verstanden werde. Soziale Risiken würden weniger über materielle Umverteilung
kompensiert und „konsumtive Sozialausgaben“(S. 27) möglichst geringgehalten. Demgegenüber konzentriere sich die „staatliche Ausgabenpolitik (...) auf diejenigen Leistungen und Bereiche (...) die sozialinvestiven Charakter tragen, also wirtschaftliche Erträge
in der Zukunft generieren”(S. 27) würden. Dies tue sie mittels Investitionen in das Humankapital der Bürger. Diese würden „als Königsweg zur Vorbereitung auf eine Zukunft
in einer globalisierten Welt und Wissensgesellschaft verstanden“(S. 26). In diesem Sinne fände auch eine Verschiebung der sozialpolitischen Zielgruppe hin zu den Kindern
statt, da von Investitionen in diese „die höchsten produktiven Effekte und Gewinnerwartungen in der Zukunft“(S. 27) erhofft würden (vgl. S. 23- 27).
Beim gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess handelt es sich keinesfalls um ein isoliertes gesellschaftliches Phänomen. Vielmehr müsse dieser, so Olk
(2009), mit einem übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Prozess einer „übergreifen-
25
den Wirtschafts- und Modernisierungspolitik“(S. 23) einhergehend verstanden werden,
welche „mit einem veränderten Staats- und Steuerungsverständnis verknüpft”(S. 27) sei
(vgl. S. 23- 27).
Martin Albert (2006) erklärt diesen Prozess insofern, dass die Ökonomie „zum übergreifenden Begründungszusammenhang für die Frage“ werde, „wie sich staatliche und gesellschaftliche Systeme organisieren und in Beziehung zueinander setzen“(S. 18) würden und sich dabei zur entscheidenden dominierenden Kraft über alle anderen gesellschaftlichen Felder entwickle. Ökonomisches Denken beeinflusse so nicht nur politische
und kulturelle Entscheidungen, sondern auch die Förderung und Vernachlässigung bestimmter wissenschaftlicher Bereiche und determiniere durch ihre Entwicklung zum zentralen Wertesystem auch die Lebenswelt der Individuen (vgl. S. 18- 19). Seinen verwaltungsbezogenen Ausdruck, so Albert (2006) weiter, fände dieses veränderte Staats- und
Steuerungsverständnis in der Bezeichnung ‚Neue Steuerung’, deren Intention in der
Rationalisierung und Effektivierung staatlicher Verwaltungen liege, welche man mittels
kontrolliert eingesetzter Wettbewerbsstrukturen zu erreichen erhoffe (vgl. S. 28- 29).
Nach Michel Foucault geht dieser Prozess in die Richtung, dass letztlich „aus dem
Markt, dem Wettbewerb und folglich dem Unternehmen etwas (gemacht wird) (...), das
man die uniformierende Kraft der Gesellschaft nennen könnte”(Foucault, 2004b, S.
210f., zit. in. Hermann, Stövesand, 2009, S. 193).
Auf den Wohlfahrtsstaat bezogen, erklärt Olk (2009), hätten diese Verschiebungen zur
Folge dass die ehemals deutliche institutionelle Trennung der Sphären Wirtschafts- und
Sozialpolitik zunehmend verschwinde. Wirtschaftspolitik bediene sich so zunehmend der
Sozialpolitik zur „Verwirklichung ihrer Ziele“ und die Sozialpolitik wiederum trete “in den
Dienst einer übergreifenden ökonomischen Wachstumspolitik”(S. 27) (vgl. S. 27).
2.2) Ursachen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses
Im obigen Kapitel wurde der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess
schon in einem grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet. In diesem Kapitel geht es nun darum, diesen Ansatz zu konkretisieren, aber auch andere Ursachen
für diese Veränderungen zu benennen.
26
Sich ein kohärentes Bild der Ursachen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses machen ist ein schwieriges Unterfangen. Viele Einflussfaktoren
und nur schwer aufeinander zu beziehende Ebenen wirken hier zusammen. Zudem ist
die Verortung der Ursachen auch von den Interessen der jeweiligen Betrachter abhängig. Trotzdem soll hier versucht werden, die entscheidenden Kräfte hinter dem gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess auszumachen, denn nur so kann
ein realistisches Bild entstehen, inwiefern die zu erwartenden Veränderungen für die
Soziale Arbeit mit den Zielen dieser Kräfte zusammenhängen (vgl. Abramovitz, 2006,
Dominelli 2006, Thiersch 2006, zit. in Reisch, 2009, S. 237).
Vor allen anderen Anmerkungen, wird hier auf Silvia Staub Bernasconi (2000) verwiesen, welche zu bedenken gibt, dass es sich grundsätzlich um etwas politisch Gewolltes
handelt (vgl. S. 137). Ähnlich verstehen es auch Bock und Thole (2004), wenn sie
schreiben: „Die Lebenslaufregimes in den westlichen Industrienationen werden riskanter
und unsicherer, auch weil das in den letzten einhundertfünfzig Jahren entwickelte Netzwerk an Sozialleistungen und öffentliche Bewältigungsformen sozialer Risiken Opfer
einer neoliberalen Rationalisierungspolitik wird. Der liberale Wohlfahrtsstaat verliert seinen humanen Anstrich, von denen nicht wenige schon immer behaupten, er sei von Beginn an nur die getönte Fassade eines bürgerlichen Industriekapitalismus gewesen.“(S.
9).
Heinz Jürgen Dahme (2008) begreift den Diskurs um den Wohlfahrtsstaat als einen Krisendiskurs, welcher sich vornehmlich um die Finanzierungsproblematik drehe. Es sei
der zunehmend ausufernde Sozialstaat, welcher als Hauptverantwortlicher für Defizite
im öffentlichen Haushalt ausgemacht werde und in seinem Ausmass den Bürgerinnen
und Bürgern die Eigenverantwortung nehme, da der mögliche Rückgriff auf diesen fest
in deren Erwartungshorizont verankert sei. Dem Vorwurf, der ausgebaute Wohlfahrtsstaat sei Hauptverantwortlicher für Defizite im öffentlichen Haushalt, begegnet Dahme
jedoch mit dem Einwand, dass es sich dabei um eine Simplifizierung handle. Die gegenwärtige Krise der öffentlichen Kasse sei vielmehr eine Folge der „durch den Sozialstaatsabbau verursachten Prekarisierungs- und Exklusionstendenzen“(S. 16), welche
durch das nichteingelöste Versprechen nach Beschäftigungszuwachs der Angebotspolitik verursacht worden sei (vgl. S. 10- 16).
Insofern ist für das Verständnis des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses auch das Verständnis der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen
notwendig. Genauer ausgedrückt, das Verständnis von einem wirtschaftspolitischen
27
Paradigmenwechsel, welcher mit dem global verschärften Wettbewerbsverhältnis der
nationalen Volkswirtschaften, unter anderem als Folge der Weltwirtschaftskrise in den
1970-er Jahren, erklärt wird. In der Bundesrepublik Deutschland fand seit damals eine
Umstellung von einem staatlich organisierten Wohlfahrtskapitalismus, welcher mittels
Instrumenten der Globalsteuerung wie einer gesamtwirtschaftlichen Nachfragesteuerung, in dessen Rahmen eben auch sozial Schwache unterstützt wurden, aber auch
einer nationalen Geldwertsteuerung eine gesamtwirtschaftliche Prozesssteuerung betrieb, zu der wesentlich unternehmensfreundlicheren Angebotspolitik statt (Schanetzky,
2007, Nützenadel, 2005, zit. Dahme, 2008, S. 11).
Im Kern geht es in der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik darum, dass ein schlanker
Staat mittels Einsatz seiner, durch tiefe Steuern für Bürger und Unternehmen, verknappten materiellen Ressourcen sich an den Bedürfnissen der Unternehmen orientiert und
mittels wirtschaftsfreundlichen, deregulierenden Massnahmen, wie der Lockerung des
Kündigungsschutzes, der Aufhebung von Flächentarifverträgen, dem Verzicht auf eine
staatliche Arbeitsmarktpolitik sowie dem Abbau von Sozialleistungen, die Unternehmen
stärkt und somit für ein freundliches Investitionsklima sorgt. (vgl. Dahme, 2008, S. 12)
Unter dem Aspekt der sich verschärfenden globalen nationalstaatlichen Konkurrenzsituation weist Martin Albert auf die Bedeutung des Weltwirtschaftsgipfels im Jahre 1975
hin, in dem „insbesondere die reichen Industrienationen die Liberalisierung der Weltmärkte forciert“(Volhard, 2004, S. 11f, zit. in Albert, 2006, S. 19) hätten, welche nicht nur
materielle Güter betroffen, sondern sich auch auf „zentrale Dienstleistungen im Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitsbereich“(Volhard, 2004, S. 11f, zit. in Albert, 2006,
S. 20) bezogen hätte (vgl. Volhard, 2004, S. 11f, zit. in Albert, 2006, S. 19- 20).
Durch den Zusammenbruch des Realsozialismus in den 1980er Jahren habe dann die
freie Marktwirtschaft in globaler Hinsicht die entscheidende Bedeutungssteigerung erfahren, erklärt Albert (2006) weiter. Diesbezüglich stellt für ihn der Zusammenbruch des
Realsozialismus „nicht nur eine politische Zäsur dar, sondern war ein historischer, kultureller und ökonomischer Wendepunkt“(S. 19). Auf den wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess bezogen sieht Zygmunt Baumann dann auch „überwältigende Beweise
zwischen der universellen Tendenz zu einer radikalen Freiheit des Marktes und dem
fortschreitenden Abbau des Wohlfahrtstaates“(Baumann, 1999, S. 82, zit. in Elsen, Lange, Wallimann, 2000, S. 6).
28
Dass im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement Hilfeleistungen im Wesentlichen aus Versorgung und Betreuung bestanden hätte, erachtet Ronald Lutz (2008) als aktuellen „Bezugspunkt für eine politische und ökonomische Kritik”(S. 3) an der wohlfahrtsstaatlichen
Praxis. Diese Kritik gehe davon aus, so Lutz weiter, dass solche wohlfahrtsstaatlichen
Rahmenbedingungen die Passivität der einzelnen Bürger und Bürgerinnen in Bezug auf
persönliche Belange und somit ihre Abhängigkeit vom System fördere (vgl. Nolte, 2006,
zit. in Lutz, 2008, S. 3). Deshalb würden Rahmenbedingungen gefordert, welche es den
Menschen ermöglichen, „Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen, wobei
der Staat den Menschen eine gewisse Grundversorgung und temporäre Nothilfen”(Lessenich, 2003, zit. in Lutz, 2008, S. 3) garantieren würde.
Hier ist aus fachlicher Perspektive hinzuzufügen, dass die Verdienste von wohlfahrtsstaatskritischen Positionen innerhalb der Sozialen Arbeit unbestritten gross sind, worauf
Kessl und Otto (2009) verweisen, wenn sie zu bedenken geben, dass eben diese es
seien, welche „gerade auch mit Blick auf die Normierungsdimension Sozialer Arbeit
deutliche konzeptionelle und institutionelle Veränderungen herbeigeführt”(S. 17) hätten.
Doch hier ist Identifizierung der Grundmotivation der Kritik wichtig. Denn unterliegt ihr
letztlich eine ökonomische, erscheint diese aufgrund der verwendeten Argumentationsinhalte doch ziemlich janusköpfig. Denn gesellschaftliche Phänomene, die mit einer deregulierten freien Marktwirtschaft im Zusammenhang stehen, wie beispielsweise einem
chronischen Unterangebot an Arbeitsplätzen, lassen sich durch Aktivierung der Menschen nicht überwinden (vgl. Dahme, Wohlfahrt, 2005, zit. in Dahme, 2008, S. 14). Und
wenn es wirklich so ist, wie Kessl und Otto (2009) behaupten, dass erst mehrere Kritikpositionen im Zusammenspiel mittels Verschmelzung zu einer ‚konzeptionellen Koalition’
den Prozess des bisherigen wohlfahrtstaatlichen Umbaus ermöglicht hätten, ist diesbezüglich speziell von Seiten der Sozialen Arbeit gegenwärtig äusserste Vorsicht angebracht (vgl. S. 17). Kräfte, mögen ihre Absichten noch so berechtigt sein, welche sich
auf diese ‚konzeptuelle Koalition’ einlassen, müssen sich gut fragen, inwiefern sie von
solchen mit grundsätzlich anderen Motiven und Zielen instrumentalisiert werden. Für die
Soziale Arbeit geht es auch darum, dass sie Methoden, welche mit der „aktivierenden
Ausrichtung”(Olk, 2009, S. 23) gegenwärtiger Sozialpolitiken im Einklang stehen, immer
kritisch auf ihre Vereinbarkeit mit ihren ethischen Prinzipien überprüft.
Letztlich muss aber auch noch darauf hingewiesen werden, dass im Zusammenhang mit
der Kritik an der Wohlfahrtstaatlichkeit, welche in ihrer Finanzierungsproblematik gründet, auch die erwarteten demographischen Herausforderungen, besonders was die Ver-
29
änderungen im Generationenzusammenhang anbelangt, eine beträchtliche Rolle spielen
(vgl. Kessl, Otto, 2009, S. 8).
Ein zusätzlicher Grund für die gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Veränderungen, der
hier nur kurz und ohne auf seine eigenen Ursachen einzugehen angeschnitten wird, ist
der Umstand eines in den letzten Jahren schwindenden sozialen Zusammenhaltes auf
gesamtgesellschaftlicher Ebene. Die durch soziale Auflösungstendenzen verursachten
gesellschaftlichen Segmentierungsvorgänge scheinen soweit fortgeschritten, dass bestimmte soziale Gruppen zunehmend zur Forderung von einseitigen Privilegien tendieren. (vgl. Schröer, 2004, S. 110- 111)
Neckel und Körber sprechen von einer „Americanization of European welfare politics“(Neckel und Körber, 1997, S. 318, zit. in Schröer, 2004, S. 111) im Verlaufe derer
selektive Sicherungssysteme entstünden, „die protektionistisch von der Mehrheitsklasse
gegenüber der neuen Unterklasse der Langzeitarbeitslosen, der illegalen Migranten und
Obdachlosen verteidigt“(Neckel und Körber, 1997, S. 318, zit. in Schröer, 2004, S. 111)
würden.
30
3.) Die Auswirkungen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen
Transformationsprozesses auf die Soziale Arbeit
In der Fachliteratur herrscht Einigkeit darüber, dass die Auswirkungen des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses für die Soziale Arbeit als eine derer institutionalisierten Instanzen enorm sind: „Soziale Arbeit verliert ihre bisherige wohlfahrtsstaatliche
Einbettung“ verkünden Birgit Bütow, Karl August Chassé und Rainer Hirt im Sammelband ‚Soziale Arbeit nach dem sozialpädagogischen Jahrhundert’ (vgl. Bütow, Chassé,
Hirt, 2007, S. 7, zit. in Kessl und Otto, 2009, S. 7). Thomas Olk (2009) bezeichnet die
Auswirkungen des sich verändernden wohlfahrtsstaatlichen Gefüges auf die Soziale
Arbeit als „weitreichend“ und prophezeit, dass ihr „im Koordinatensystem zwischen Sozialpolitik, Bildungspolitik und Familienpolitik eine neue Rolle und Position zugewiesen“(S. 27) werde. Und wenn Wolfgang Schröer (2004) zu bedenken gibt, dass die Soziale Arbeit jahrelang „wie selbstverständlich vom ‚wohlfahrtsstaatlichen Prinzip der Inklusion’“(S. 110) ausging, wird deutlich, dass die Soziale Arbeit vor gewaltigen Herausforderungen steht. Dass dabei selbst ein derart konstitutiver Moment wie ihr normatives
Selbstverständnis, davon wird vorausgreifend ausgegangen, zumindest stärker als in
der Vergangenheit unter Rechtfertigungsdruck gerät, lässt erahnen, wie weitreichend
diese Veränderungen jegliche Strukturelemente der Sozialen Arbeit betreffen werden.
Für die Beantwortung der erkenntnisleitenden Fragestellungen ist an dieser Stelle eine
Beschäftigung mit den gegenwärtigen und zu erwartenden Auswirkungen des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses auf Organisationen sozialer Hilfe gewiss am
sinnvollsten, da innerhalb dieses Elements Sozialer Arbeit dem Aufeinandertreffen zwischen dem normativem Selbstverständnis Sozialer Arbeit und den Auswirkungen des
gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses seine ungeheure Brisanz entweicht. Denn letztlich habe vieles innerhalb dieses Prozesses, was als Deregulierung daherkomme, „eine wesentlich stärkere Steuerung sozialarbeiterischer Organisationen“ zur Folge, wie Wolfgang Maaser (2013, S. 11) festhält. An dieser Stelle sieht er
dann auch „die Bruchlinien, wie sie durch Rahmensteuerungen auf der Ebene der Organisationen und im Ergebnis auf der Ebene der sozialarbeiterischen Interaktion ankommen und sowohl fachlich wie normativ zu diskutieren sind“(S. 11).
31
3.1) Auswirkungen auf Organisationen sozialer Hilfe
Bei der Verortung der Ursachen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses wurde auf Heinz Jürgen Dahme (2008) eingegangen, welcher feststellte,
dass sich die wohlfahrtsstaatliche Kritik hauptsächlich um die Finanzierungsproblematik
drehe (vgl. S. 10). Dass es sich bei den Bemühungen, Einsparungen im wohlfahrtsstaatlichen Sektor vorzunehmen, viel weniger um Absichtserklärungen und viel mehr um
konkrete Gestalt angenommene Aktionsformen handelt, welche bereits Realität erzeugen, bekundet Ronald Lutz (2008) mit der Feststellung, dass „die Soziale Arbeit in der
(...) Sozialwirtschaft angekommen”(Dahme, Kühnlein, Wohlfahrt, 2005,zit. in Lutz, 2008,
S. 4) sei. Weiter erklärt Lutz (2008), dass dessen Akzeptanz zeige „dass ökonomische
Kontexte die Soziale Arbeit immer stärker prägen und steuern“ würden. Es sei „zweifelsohne eine rasante Verstärkung sozialwirtschaftlicher Tendenzen zu beobachten“(S.
4).
Die Auswirkungen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses
auf Organisationen sozialer Hilfe, für die häufig der Ausdruck der ‚Ökonomisierung der
Sozialen Arbeit’ verwendet wird, lassen sich auf den Punkt gebracht folgendermassen
beschreiben: Sie sehen sich zunehmend dem Zwang ausgesetzt, ihr Handeln marktgerechter zu gestalten als sie es in der Vergangenheit taten. Sie müssen ihr Hilfsangebot
zunehmend nach den betriebswirtschaftlichen „Prinzipien der Wirtschaftlichkeit, Effizienz
und Effektivität sowie Steuerungsmechanismen eines modernen Kontraktmanagements
im Kontext von Leistungsvereinbarungen”(Dahme, Kühnlein, Wohlfahrt, 2005,zit. in Lutz,
2008, S. 4) ausrichten, da von ihnen immer häufiger Rechtfertigungen über die Gestaltung der Hilfsprozesse mittels Wirkungskontrollen und Qualitätsdokumentationen abverlangt werden. (vgl. Dahme, Kühnlein, Wohlfahrt, 2005,zit. in Lutz, 2008, S. 4)
Die beschriebenen betriebswirtschaftlich orientierten Umstrukturierungen von Organisationen sozialer Hilfe korrespondieren aber auch mit diesen im Zusammenhang stehenden Entwicklungen, wie beispielweise einer in der Schweiz im Verlaufe des ‚Neuen Finanzausgleichs’ (NFA) teilweise stattfindenden Verschiebung von der Objekt- zur Subjektfinanzierung von Organisationen sozialer Hilfe (vgl. Ribler, 2011, S. 2). Oder der
Tendenz zur Installation persönlicher Budgets für Adressatinnen und Adressaten sozialer Hilfe, wie auch einer Zunahme von marktwirtschaftlichen Ausschreibungen von Aufträgen für Organisationen sozialer Hilfe (vgl. Lutz, 2008. S. 4- 6). Alle diese Veränderungen sorgen für eine gezielte Forcierung von mehr Wettbewerb zwischen Organisationen
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sozialer Hilfe, indem sie in verschärfte Konkurrenzsituationen zueinander versetzt werden (vgl. Lutz, 2008, S. 4).
Nicht der Druck, die Kosten gering zu halten, sei die entscheidende Veränderung für
Organisationen sozialer Hilfe, denn dieser existiere schön länger (vgl. Dahme, Kühnlein,
Wohlfahrt, 2005, zit. in Lutz, S. 4). Vielmehr erkennt Lutz (2008) diese in der Umstellung
zur Klientenversorgung als marktwirtschaftlich angebotenes Produkt, dem ökonomische
Abwägungen zugrunde lägen (vgl. S. 4). Für die Organisationen sozialer Hilfe mit ihrer
bisherigen sachzielorientierten Ausrichtung der Bedarfsdeckung, welche viel eher ‚altruistischen’ als gewinnorientierten Motivationsstrukturen entsprang, kommen diese Veränderungen einer kulturellen Revolution gleich (vgl. Boessenecker, 2004, S. 11- 18, zit. in
Buestrich, Wohlfahrt, 2008, S. 17).
Denn in ihrer stark quantitativen Prägung stossen sich betriebswirtschaftlich orientierte
Umstrukturierungen von Organisationen sozialer Hilfe mit einem Strukturmerkmal Sozialer Arbeit, welches seinen Ausdruck im Begriff des ‚Technologiedefizits’ findet. Bei der in
der Sozialen Arbeit grundsätzlich in Koproduktion mit ihren Adressatinnen und Adressaten hergestellten sozialen Hilfe sind jegliche versuche Messbarkeit herzustellen, als problematisch zu betrachten. Aufgrund der diversen, teilweise auch nicht ergründbaren Einflussfaktoren auf den Hilfsprozess ist ein kausaler Ursache-Wirkungszusammenhang,
somit auch der Zusammenhang zwischen der Gestaltung der professionellen sozialen
Hilfe und dem Grad der Zielerreichung nicht herzustellen. (vgl. von Spiegel, 2008, S. 42)
Hier menschelt es eben: Ob eine Person, welche in ihrem Umgang mit Suchtmitteln
Fortschritte erzielen konnte, diese beispielsweise wegen der guten Beziehung zur professionellen Fachkraft, wegen der angewendeten Methode, einer neuen Liebe oder wegen einer erfolgreichen Umstellung auf ein neues Antidepressivum erreichte, kann niemand sagen. Auch weiss niemand, ob der Grund in einer ungenügenden Gestaltung der
professionellen sozialen Hilfe liegt, wenn sich ihr Suchtverhalten innerhalb des nächsten
Monats wieder verschlechtert. Liegt dann die Effektivität der Zielereichung bei 25%?
Und wenn die betroffene Person ein halbes Jahr später komplett frei von Suchtmitteln
lebt, inwiefern kann dies noch mit der professionellen sozialen Hilfe in den Zusammenhang gebracht werden, obwohl sie vielleicht genau dank dieser ihre Handlungsfähigkeit
entscheidend erweitern konnte?
Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Qualität der professionellen sozialen
Hilfe mit betriebswirtschaftlichen Instrumenten nicht zu erfassen ist, kombiniert mit der
33
Tatsache, dass die Ökonomisierungsdebatte und der Anstoss zur Ökonomisierungsdynamik ihren Ausgangspunkt ausserhalb der Fachlichkeit der Sozialen Arbeit haben, und
wohl viel mehr in der Motivation, finanzielle Einsparungen zu erzielen, denn in einer aufrichtigen Forderung nach qualitativer Verbesserung professioneller sozialer Hilfe zu verorten sind, lässt sich der Spagat zwischen dem normativen Selbstverständnis der in ihr
tätigen Professionellen Sozialer Arbeit und den ihnen aufgetragenen betriebswirtschaftlichen Anforderungen den Organisationen sozialer Hilfe zunehmend vollziehen werden
müssen, nur erahnen (vgl. Galuske, 2001, S. 312, zit. in Buestrich, Wohlfahrt, 2008, S.
17).
Abgesehen von den Bedenken in professionsethischer Hinsicht, auf die später eingegangen wird, sind hier seitens der Sozialen Arbeit dringend auch qualitative Bedenken
angebracht. Denn „zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit besteht ein trade off“(Finis
Siegler, 1997, S. 155, zit. in Buestrich, Wohlfahrt, 2008, S. 19). Rationalisierungsprozesse, das heisst gleichzeitiges Verfolgen von Wirtschaftlichkeits- und Qualitätszielen, sind
nur solange solche, wie auch Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind. Sind diese
ausgeschöpft, können mittels weiteren Ressourceneinsparungen nur noch Rationierungsprozesse stattfinden, welche zwangsweise zu Lasten der Qualität erfolgen, respektive eine Qualitätsverminderung der professionellen sozialen Hilfe zur Folge haben. (vgl.
Finis Siegler, 1997, S. 155, zit. in Buestrich, Wohlfahrt, 2008, S. 19)
3.1.1) ‚Konzentration auf aktivierbare’
Eine im Bezug auf die erkenntnisleitende Fragestellung dieser Arbeit hochinteressante,
analytisch gut nachvollziehbare Entwicklung, welche mit einer Erschaffung einer zunehmend marktkonformen Ausrichtung von Organisationen sozialer Hilfe einhergehen könnte, hat Ronald Lutz (2008) folgendermassen beschrieben: Er stellt die Hypothese auf,
dass in Zukunft vielleicht nur noch vermeintlich ‚aktivierbare’ Menschen professionelle
soziale Hilfe erhalten würden, Menschen also, welche von den Organisationen sozialer
Hilfe, zynisch ausgedrückt, als lohnende Investitionsobjekte betrachten werden würden.
Denn Organisationen sozialer Hilfe, so Lutz weiter, würden sich im Verlauf des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses, aufgrund der zunehmenden Konkurrenzsituation, in der sie sich befänden, gezwungenermassen zunehmend auf eben diese erfolgsversprechenden Adressatinnen und Adressaten fokussieren. Denn von diesen würden sie sich erhoffen, die mit den Leistungsträgern vertraglich festgelegten Ziele zu er-
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reichen, um den für die Organisationen überlebenswichtigen wirtschaftlichen Erfolg erzielen zu können (vgl. S. 8- 10).
Je mehr die Entwicklung in die oben skizzierte Richtung ginge, desto mehr würde die
Umrahmung der anderen Gruppe an Kontur gewinnen. Nämlich die Gruppe derer Menschen, bei denen Aktivierungsbemühungen als nicht erfolgsversprechend eingeschätzt
werden und welchen gemäss neuer wohlfahrtsstaatlicher Doktrin lediglich eine äusserst
knapp bemessene Basisversorgung zugestanden wird, deren Intention paradoxerweise
in der Absicht liegt, einen, in diesen Fällen aber gar nicht möglichen aktivierenden Effekt
zu erzielen. In diese Basisversorgung wäre die Soziale Arbeit mittels Organisation von
Suppenküchen, Tafeln, Notunterkünften und Kleiderkammern involviert. Würde dieser
Zustand eintreten, hätte parallel dazu eine de facto Spaltung in eine ‚weiche’ und eine
‚harte’ Soziale Arbeit stattfinden müssen. Diese Begriffe werden teilweise schon heute
verwendet. Eine ‚weiche’, sozialwirtschaftlich, dienstleistungs-theoretisch ausgerichtete
Soziale Arbeit, welche auf Autonomie ihrer Adressatinnen und Adressaten zielt und davon klar abgrenzbar eine ‚harte’ Soziale Arbeit, welche sich an einer Grundversorgung
beteiligt, die durch ihre äusserst knappe Ausprägung eine Verfestigung von Armut und
Exklusion verursacht, da sie dadurch den Möglichkeitshorizont, dieser Situation zu entkommen, drastisch reduziert. (vgl. Lutz, 2008, S. 8- 10)
3.2) Auswirkungen auf den Hilfsprozess
Natürlich hat der wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess auch Auswirkungen auf
die Gestaltung des Hilfsprozesses innerhalb von Organisationen sozialer Hilfe. Eine in
Bezug auf die Thematik dieser Arbeit besonders brisante lässt sich folgendermassen
skizzieren: Anhand des dem wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses innewohnenden Aktivierungsparadigmas wird von Organisationen sozialer Hilfe und somit unweigerlich auch von den Professionellen Sozialer Arbeit zunehmend verlangt, „Menschen für das Leben in der modernen Gesellschaft fit zu machen, wenn diese daran zu
scheitern drohen”(Belwe, 2008, S. 2). Es gehe dabei um ein neues Verständnis von organisierter, sozialer Hilfe, sagt Lutz (2008). Sie bewege sich weg von ihrem klassischen
Selbstverständnis als Instanz der Hilfe und des Betreuens hin zur Unterstützerin ihrer
Adressatinnen und Adressaten in der eigenverantwortlichen und selbstständigen Planung ihres Lebens (vgl. Melcher, 2004, zit. in Lutz, 2008, S. 7). Weiter stellt Lutz fest,
dass demnach auch immer mehr Anwendungen von Massnahmen mit Trainingscharak-
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ter, wie Eltern- und Familienaktivierungstrainings oder Armutsbewältigungstrainings zu
beobachten seien (vgl. S. 6). Zwar stellt die Aktivierung ihrer Adressatinnen und Adressaten im Sinne von Emanzipation und somit der Ermöglichung einer autonomen Lebensgestaltung einen zentralen Anspruch der Sozialen Arbeit an ihr diesbezügliches
Handeln dar (vgl. Avenir Social, 2006). Unter dem Druck der gegenwärtigen Herausforderungen geht es nach Lutz (2008) aber um weit mehr als eine stärkere Orientierung an
diesem Grundsatz. Vielmehr handle es sich dabei geradezu um eine „’aktivierungspädagogische’ Neuformulierung”(Kessl, Otto, 2002, S. 44- 456, zit. in Lutz, 2008, S. 6).
4.) Konfliktlinien zwischen den Einflüssen des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses auf die Soziale Arbeit und ihrem normativen Selbstverständnis
An dieser Stelle soll betont werden, dass es sich, was die Szenarien ‚Konzentration auf
aktivierbare’ sowie die ‚aktivierungspädagogische Neuformulierung’ anbelangt, nicht um
solche handelt, die zwangsläufig in dieser Form eintreffen müssen. Auch aus Gründen,
auf die später noch eingegangen wird, werden sich in der Realität wohl einige Aspekte
von diesen stärker und andere weniger stark durchsetzen. Trotzdem handelt es sich um
gut nachvollziehbare Entwicklungen, die keineswegs aus der Luft gegriffen sind. Und um
im nächsten Kapitel die Konfliktlinien auszumachen, welche vom wohlfahrtstaatlichen
Transformationsprozess ausgehend, die Soziale Arbeit in ihrem normativen Selbstverständnis herausfordern, ist eine teilweise etwas vereinfachende Überspitzung, wie sie
den beiden Szenarien innewohnt, äusserst hilfreich.
4.1) Auf der Ebene der Interaktion zwischen Professionellen und Adressatinnen und Adressaten
Was die Vereinbarkeit der ’aktivierungspädagogischen Neuformulierung’ auf der Interaktionsebene zwischen Professionellen und Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit
mit dem normativen Selbstverständnis Sozialer Arbeit anbelangt, lässt sich eine hochbrisante Konfliktlinie ausmachen: Inwiefern lassen sich diese Einflüsse des wohlfahrts-
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staatlichen Transformationsprozesses mit den, in der Sozialen Arbeit so zentralen Handlungsprinzipien der Achtung der Selbstbestimmung, sowie der Förderung der Beteiligung
der Adressatinnen und Adressaten am Hilfsprozesses vereinbaren?
Aus dienstleistungsfreundlicher Sicht sind diesbezüglich kaum nennenswerte Probleme
auszumachen. Im Gegenteil. Viel eher wird in diesem Zusammenhang so etwas wie das
endgültige Ankommen der Sozialen Arbeit im Dienstleistungsverständnis verbunden,
indem man dadurch offensichtlich eine Entfernung der professionellen Tätigkeit aus der
Dichotomie von Hilfe und Kontrolle erwartet oder gar erhofft (vgl. Lutz, 2008, S. 7- 8).
Denn, so findet beispielsweise Lutz (2008), gehe es unter diesen Umständen darum,
„Menschen Unterstützung zur Bearbeitung von Problemen anzubieten und Massnahmen
durchzuführen, die zwar an den Lebenslagen ansetzen, zugleich aber auch definierte
Vorstellungen der Ziele und des Erfolgs dieser Interventionen transportieren würden.“
Dies sei „ihr ‚neuer’ Begriff einer Dienstleistung, die am Menschenbild der Moderne“(S.
7- 8) ansetze. Und weshalb sollte sich eine Soziale Arbeit im Dienstleistungsverständnis
von den Handlungsprinzipien der Achtung der Selbstbestimmung, sowie der Förderung
der Beteiligung am Hilfsprozess entfernen? Schliesslich geht es ja darum, „die neue
Autonomie der Subjekte zu fördern, dazu beizutragen, dass die Menschen ihr Leben
selbst und in eigener Verantwortung gestalten können“(Lutz, 2008, S. 7).
Unter Berücksichtigung der Konzepte und Strategien, auf denen der wohlfahrtsstaatliche
Transformationsprozess beruht, gibt es aber gute Gründe, dies deutlich anders zu sehen: Heinz-Jürgen Dahme (2008) beispielsweise meint, dass der wohlfahrtsstaatliche
Transformationsprozess letztlich mit einer deutlich autoritärer werdenden Gesellschaft
zusammenhänge (vgl. Dahrendorf, 1997,S. 47,zit. in Dahme, 2008, S. 16). Deshalb
können auch, so Dahme weiter, in diesem Rahmen zunehmend verwendetes Managementjargon und Kundenmetapher nicht über den häufigen Zwangscharakter und weiterhin asymmetrische Beziehungen zwischen Leistungsträger und -empfänger hinwegtäuschen (vgl. Dahme und Wohlfahrt, 2005, zit. in Dahme, 2008, S. 14).
In Bezug auf die im ersten Absatz des Kapitels skizzierte normative Konfliktlinie müssen
deshalb folgende Fragen gestellt werden: Wo ist die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Zwang? Und wo ist der Übergang von kooperativer Hilfsprozessgestaltung
und Beteiligung aufgrund eingeschüchterter Fügsamkeit seitens der Adressatinnen und
Adressaten? Wenn Ziele und Erfolgsbewertung schon vorgegeben sind, wo sind dann
diese Prinzipien im Hilfsprozess überhaupt noch zu verorten? Bei der zeitlichen Verein-
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barung des nächsten Termins? Es wäre naiv anzunehmen, dass in der Vergangenheit
diese Prinzipien kompromisslos durchgesetzt wurden, doch künftig muss wohl deutlich
häufiger gefragt werden, ob eine Berufung auf diese, unter dem Damoklesschwert der
drohenden Kürzung oder gar kompletten Streichung einer ohnehin schon äusserst
knappen Grundsicherung, nicht zu einer kompletten Farce verkommt. Wenn Lutz (2008)
sagt, es ginge unter den veränderten Bedingungen darum, „Ressourcen des Einzelnen
zu fördern und fordern“(S. 4), kann diesem begegnet werden, dass es zwischen dem
durch die fachexterne Zielformulierungen und Erfolgsbewertungen implizierten Ressourcenverständnis und dem des normativen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit sehr wohl
Überschneidungen, ganz sicher aber Unterscheidungen gibt. Einschüchterungsfähigkeit
jedenfalls wird in der Sozialen Arbeit, zumindest offiziell, nicht als Ressource bezeichnet.
Der Begriff Aktivierung lässt im Kontext des adressatenbezogenen Handelns Sozialer
Arbeit einen grossen Interpretationsspielraum zu. Ist der Aktivierungsprozess erfolgreich, wenn eine Person mehr Eigenständigkeit in ihrer Lebensgestaltung erarbeitet,
also ihren Grad an persönlicher Autonomie erweitern kann? Oder wird er erst in dem
Moment als erfolgreich bewertet, wenn sich die ‚aktivierte’ Person im ersten Arbeitsmarkt befindet und ihren Lebensunterhalt selbstständig bestreiten kann? Der Teufel liegt
hier im Detail: Wer bereit ist, sich bei der Auslegung dieses Begriffs nicht zu sehr von
der professionellen Perspektive eingrenzen zu lassen, der kann damit auch besser darlegen, weshalb sich die Soziale Arbeit den fachexternen Implikationen, welchen gegenüber sie sich im Rahmen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses zunehmend ausgesetzt sieht, offen verhalten soll. Mittels der Forderung nach
Aktivierung ihrer Adressatinnen und Adressaten, wird von der Sozialen Arbeit wohl aber
zunehmend die Zweite der oben genannten möglichen Auslegungen abverlangt (vgl.
Olk, 2009, S. 24). Deshalb muss hier festgehalten werden, dass diese Aktivierungsbemühungen und –erwartungen, unter Berücksichtigung von strukturellen Unzulänglichkeiten, wie beispielsweise „fehlende Arbeitsplätze, rassistische Ausgrenzungstendenzen
gegenüber Bewerbern/-innen oder fehlende Teilhabemöglichkeiten für chronisch Kranke“(Kessl, Otto, 2009, S, 17) zu dem führen, was Heinz-Jürgen Dahme in Anlehnung an
Robert Castel als Exklusionsmanagement der ‚Überflüssigen’ bezeichnet (vgl. Dahme,
Wohlfahrt, 2005, zit. in Dahme, 2008, S. 14). Adressaten und Adressatinnen Sozialer
Arbeit würden die Fachkräfte unter diesen Umständen als fordernde Zubringer eines
Gesellschaftssystems erleben, welches Menschen überfordert und exkludiert, die ihnen
hauptsächlich vermitteln, dass sie sich entwickeln müssen, um den Ansprüchen des
Niedriglohnsektors zu genügen.
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Auf der Interaktionsebene zwischen Professionellen und Adressatinnen und Adressaten
Sozialer Arbeit ist aufgrund der Einflüsse des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses in die Soziale Arbeit, welche ihren Niederschlag in dem finden, was Ronald Lutz
als ‚aktivierungspädagogische Neuformulierung’ charakterisiert, hohes Konfliktpotential
mit ihrem normativen Selbstverständnis auszumachen. Wird dabei berücksichtigt, dass
die Massnahmen, welche Professionelle der Sozialen Arbeit auf dieser Ebene im Verlaufe des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses ausführen werden müssen, zunehmend fachextern „definierte Vorstellungen der Ziele und des Erfolgs dieser Interventionen transportieren”(Lutz, 2008, S. 7), lassen sich deutliche Unvereinbarkeiten mit den
für die Soziale Arbeit zentralen Handlungsprinzipien der Achtung der Selbstbestimmung
sowie der Förderung der Beteiligung ihrer Adressatinnen und Adressaten ausmachen.
4.2) Auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Rolle
Man stelle sich vor: Die Soziale Arbeit wird zur Exklusionsmanagerin des Niedriglohnsektors eines von der Wirtschaft dominierten Gesellschaftssystems, welches in seiner
gegenwärtigen Ausrichtung „dadurch gekennzeichnet ist, dass Profite privatisiert und in
den Händen weniger konzentriert werden, während ihre grundlegenden Kosten, wie
Umweltzerstörung und gesellschaftliche Ungleichheit, sozialisiert werden”(Mulally, 1998,
zit. in Hermann und Stövesand, 2009, S. 199). Zudem konnte dieses System, die in der
Phase einer entscheidenden ideologischen Konkretisierung, nämlich im Rahmen der
Umstellung von einer nachfrageorientierten zur einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, gemachten Versprechen nach Beschäftigungszuwachs nie einlösen und wird im
Gegenteil bezichtigt, entscheidende soziale Folgeprobleme, wie unter anderen Arbeitslosigkeit oder Armut, erst entscheidend verschärft zu haben (vgl. Dahme, 2008. S. 1516). Und jetzt soll sich die Soziale Arbeit gegenüber den gegenwärtigen Veränderungen,
welche mindestens ebenso ideologieverdächtig erscheinen, pragmatisch fügen oder
ihnen besser noch vorauseilen. Lutz weist auf Kritiker hin, welche die ‚aktivierungspädagogische Neuformulierung’ Sozialer Arbeit, als „Erziehung zur Armut“(vgl. Kessl, Reutlinger, Ziegler, 2007, zit. in Lutz, 2008, S. 6) bezeichnen. Vom Szenario der ‚aktivierungspädagogischen Neuformulierung’ ausgehend, lässt sich somit auch eine gesellschaftliche Rolle Sozialer Arbeit skizzieren, welche mit ihrem normativen Selbstverständnis nur schwer vereinbar wäre. Hier liessen sich Unvereinbarkeiten mit mehreren
Prinzipien ihres normativen Selbstverständnisses ausmachen. Vor allem würde sie in
dieser Rolle aber gegen die gerechtigkeitstheoretischen Postulate, welche von ihr eine
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Zurückweisung von ungerechten Politiken und Praktiken sowie eine Verpflichtung, auf
eine gerechte und integrierende Gesellschaft hinzuwirken, verstossen.
Die Einflüsse des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses auf
die Soziale Arbeit, welche hinsichtlich der Vereinbarkeit mit ihrem normativen Selbstverständnis wahrscheinlich das grösste Konfliktpotential beinhalten, münden in der von Lutz
skizzierten Tendenz einer ‚Konzentration auf aktivierbare’ von Organisationen sozialer
Hilfe. Der Gedanke wirkt beinahe schon grotesk: Würde diese Prophezeiung so Realität
werden, wäre die Soziale Arbeit durch das Handeln ihrer Professionellen direkt an der
Entstehung und Aufrechterhaltung einer Schicht stärkst marginalisierter Menschen beteiligt (vgl. Lutz, 2008, S. 8- 9). Das Brutale dabei ist, dass sie nur schon durch die Erfüllung ihrer Aufgaben in den für ihren Lohnerwerb letztlich unhintergehbaren Organisationen sozialer Hilfe diese Entwicklung unweigerlich mit vorantreiben. Oder anders ausgedrückt: Nur schon durch den Umstand, dass die Professionellen nicht ihre Arbeitsstelle
kündigen und ihre Erwerbstätigkeit sowie ihr Tätigkeitsfeld wechseln, was unter gegenwärtigen Umständen der angespannten Arbeitsmarksituation auch gar nicht so einfach
wäre, sind sie in diese Vorgänge involviert (vgl. Albert, 2006, S. 102).
Auf der Professionsebene muss davon ausgegangen werden, dass eine damit verbundene Trennung der Sozialen Arbeit in zwei Flügel das Ende eines menschenrechts- und
gerechtigkeitstheoretischen Professionalisierungsprojekts Soziale Arbeit bedeuten würde. Die ‚weiche’ Soziale Arbeit bräuchte wohl keinen nennenswerten ethischen Hintergrund mehr, denn eine Soziale Arbeit welche sich als Dienstleistung versteht, hätte sich
wohl aus der Dichotomie von Hilfe und Kontrolle herausgeredet (vgl. Lutz, 2008, S. 7- 8).
Und die ‚harte’ Soziale Arbeit wäre weit weg von einem Professionsstatus in der Elendsverwaltung tätig. Ihr könnte man unterstellen, dass sie mit ihrer Basisversorgung die
Exklusion ihrer Adressatinnen und Adressaten reproduziert. Es wäre aber äusserst zynisch, der ‚harten’ Sozialen Arbeit irgendeine Verwicklung in diese Vorgänge vorzuwerfen. Sie wäre vielmehr das Produkt einer Entwicklung, welche mitentscheidend von den
Kräften, welche dann zur ‚weichen’ Sozialen Arbeit gehören würden, vorangetrieben
worden wäre. Denn durch die vielleicht sogar nur allzugern vollzogene Annahme der ihr
im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Transformation zugewiesenen veränderten gesellschaftlichen Rolle, wäre sie es, welche indirekt aber letztlich eben doch entscheidend an
der Entstehung und Aufrechterhaltung einer neuen Schicht exkludierter Menschen beteiligt wäre. Diese Entwicklung beinhaltet solch eine Sprengkraft für die Soziale Arbeit in
ihrem normativen Selbstverständnis, da sie gegen beinahe alle ihre elementaren Prinzipien verstösst. Auch wenn die Soziale Arbeit aufgrund der gegenwärtigen vermeintlichen
40
gesellschaftlichen Dynamik vielleicht gar nicht anders kann, ausser sie würde sich selbst
abschaffen, verabschiedet sich diese Soziale Arbeit wohl in dem Masse von ihrem normativen Selbstverständnis, wie die Entwicklungen im Rahmen des Szenarios ‚Konzentration auf aktivierbare’ Realität werden würden.
4.3) Was geschieht mit dem normativen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit?
Es ist nicht so, dass die Einflüsse des gegenwärtigen wohlfahrtstaatlichen Transformationsprozesses auf Organisationen sozialer Hilfe quasi kausal zu einem Verlust des normativen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit führen würden. Was aber die obigen Szenarien vereint, ist ihr Potential zur Entwertung von diesem. Um diesen Entwertungsprozess zu verstehen, muss aber noch eine zusätzliche analytisch erfassbare Ebene berücksichtigt werden. Sie betrifft das Verhalten der Professionellen der Sozialen Arbeit
selbst. Hier wird ein entscheidender Punkt angesprochen: Denn wie Silvia Staub Bernasconi (2005) betont, begünstigen nicht nur externe Prozesse deprofessionalisierende
Tendenzen. Die Gefahr lauert auch im Innern der Sozialen Arbeit. Zum einen erkennt sie
diese im „Anerkennungshunger, den man mit Konformität gegenüber dem Zeitgeist zu
stillen versucht“(S. 4). Die noch grössere Gefahr sieht sie aber in einer zu grossen Ungewissheit darüber, was die Spezifität einer Profession sei. Daraus folge eine „Konturlosigkeit oder gar Nicht-Identität“(S. 5), welche die Soziale Arbeit aber auch ihre Professionellen, offen für fachexterne Einflüsse mache (vgl. S. 4- 5).
Aber auch wenn sich die Professionellen darüber einig wären, was eine Profession nun
genau ist und sie darüber hinaus auch erpicht wären, an ihrem normativen Selbstverständnis festzuhalten, muss die Frage gestellt werden, inwiefern es ihnen unter den
Umständen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses gelingen könnte, den Spagat zwischen organisationellen und professionellen Anforderungen
zu vollziehen. Leon Festinger geht in seiner ‚Theorie der kognitiven Dissonanz’ davon
aus, dass solche Widersprüche für Menschen nur äusserst schwer auszuhalten seien
und diese deshalb dazu neigen würden, einen Zustand ohne solch eine Gegensätzlichkeit herzustellen (vgl. Festinger, 1978, zit. in Albert, 2006, S. 102). Martin Albert (2006)
äussert sich darauf aufbauend pessimistisch: „Ein Grossteil der Sozialarbeiterinnen löst
derartige Konflikte dahingehend, dass sie sich den ökonomischen Rahmenbedingungen
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anpassen, zumal Veränderungen aufgrund der Abhängigkeit des Lohnverhältnisses akzeptiert werden müssen“(2006, S. 102).
Interessant ist in dieser Hinsicht eine Studie von Christoph Mäder und Eva Nadai, in
welcher sie Professionelle der Sozialen Arbeit, die gewiss unter äusserst schwierigen
Umständen in Sozialämtern tätig sind, hinsichtlich ihrer individuellen Bewältigung dieser
Herausforderung untersuchten. Dabei stiessen sie auf Formen der Konformität wie auf
solche der Dissidenz gegenüber den organisationellen Vorgaben. Sie fanden Professionelle, welche sich bei ihrer Tätigkeit nicht mehr an den professionsethischen Prinzipien
orientierten, sei es gewollt oder in Folge eines unbewussten schleichenden Prozesses,
sie fanden aber auch solche, die an ihrer professionellen Identität festhielten (vgl. Mäder, Nadai, 2004, S. 59- 76, zit. in Staub Bernasconi, 2005, S. 12- 13)
Bei der zweiten Gruppe, bei der, um eine etwas spöttische Bezeichnung von StaubBernasconi (2005) aufzunehmen, „die Deregulierung der Köpfe“(S. 5) nicht eingetroffen
ist, stellt sich die Frage: Wie lange könnten sich diese unter solchen Umständen dem
normativen Selbstverständnis der Profession gegenüber verpflichtet fühlen? Vielleicht
ihre Karriere lang. Immerhin fusst ihre Einstellung auf einem reflektierten Willensentscheid. Dann drängt sich aber eine andere, noch viel wichtigere Frage auf: Wäre unter
Umständen solch einer Dissonanz im praktischen Alltag der Professionellen eine Reproduktion dieser Form professioneller Identität möglich? Theoretisch ja. Aber nur mit einer
starken ethisch fundierten Profession als Rückhalt. Gerade vor dem Hintergrund einer
zunehmenden Spaltung in eine ‚harte’ und eine ‚weiche’ Soziale Arbeit, muss aber davon ausgegangen werden, dass künftig an den Lehrstätten Sozialer Arbeit der Stellenwert einer menschenrechts- und gerechtigkeitstheoretischen Fundierung abnimmt.
Die Profession als Ganzes stünde dann irgendwann vor einer Entscheidung: Ist sie bereit, die Entwertung ihres normativen Selbstverständnisses anzuerkennen und somit
dieses konstitutive Element ihrer professionellen Identität aufzugeben? Der Verlust wäre
dann offiziell. Die andere Möglichkeit wäre, stur am normativen Selbstverständnis festzuhalten, was aber ein gewaltiges Mass an Selbsttäuschung voraussetzen würde. In
diesem Fall wäre die Entwertung des normativen Selbstverständnisses zwar nicht offiziell, aber de facto geschehen.
42
5.) Schlussbetrachtung
Die Argumentationslinie spiegelt sich im strukturellen Aufbau dieser Arbeit wieder. Der
entscheidende Druck vom gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess
auf die Soziale Arbeit in ihrem normativen Selbstverständnis erfolgt über die politische
Steuerung der für den Lohnerwerb ihrer Professionellen unausweichlichen Organisationen sozialer Hilfe, welche zunehmend in Konkurrenzverhältnisse zueinander versetzt
werden. Dadurch hat der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess das
Potential, die Soziale Arbeit sukzessive zu unterwandern und somit auch ihr normatives
Selbstverständnis zu entwerten. Möchte sie es verteidigen, muss ein Ruck durch sie
gehen, denn ihrerseits wären gezielte und koordinierte Reaktionen erforderlich. In der
Schlussbetrachtung werden nun Handlungsansätze dafür gesucht.
5.1) Weshalb das normative Selbstverständnis der Sozialen Arbeit
gerade jetzt so wertvoll ist
Die Rezepte, wie sich die Soziale Arbeit angesichts einer zunehmenden Fremdbestimmung im Verlaufe des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses positionieren
soll, bewegen sich letztlich alle im Spannungsfeld zwischen kooperativem und dissidentem Verhalten (vgl. Staub-Bernasconi, 2005). Hier wird für den zweiten Weg plädiert. Die
Ansicht des Autors dieser Arbeit kommt im folgenden Zitat von Michael Reisch (2009)
besonders gut zum Ausdruck: „Wir haben uns zu weigern, die Unausweichlichkeit des
neoliberalen Projekts hinzunehmen, genau wie wir uns zuvor geweigert haben, die Unvermeidbarkeit von Armut zu akzeptieren“(S. 237). In diesem Sinne ist es zuerst einmal
wichtig, dass die Soziale Arbeit sich nicht aus fehlendem Selbstvertrauen heraus an den
Implikationen des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess orientiert und diese in
vorauseilendem Gehorsam übernimmt (vgl. Gaitanides, 2000, S. 132).
Es gibt mehrere Strömungen innerhalb der Sozialen Arbeit, welche einen politischen
Anspruch in sinnvolle Professionalisierungsprojekte integrieren (vgl. Maaser, 2013). Hier
sei speziell auf die Arbeiten von Bernd Dewe und Hans Uwe Otto (2011) mit ihrem Qualitätsmodus der ’demokratischen Rationalität’ als Kernelement ihres Entwurfs einer reflexiven Professionalitätstheorie verwiesen (vgl. S. 1148).
43
Angesichts der vom gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess ausgehenden Herausforderungen für die Soziale Arbeit, ermöglicht ihr jedoch eine konsequente Orientierung an den Menschenrechten, ergänzt durch eine gerechtigkeitstheoretische Unterlegung, eine denkbar gute Positionierung.
Denn die Menschenrechte bieten der Sozialen Arbeit durch ihren vorstaatlichen und
universellen Charakter eine Möglichkeit der Beobachtung von gesellschaftlichen Prozessen und deren Auswirkungen auf der Metaebene, da sie eine Konstante gegenüber
den dominierenden politischen Strömungen darstellen (vgl. Gore, 1969, S. 56- 68, zit. in
Staub-Bernasconi, 2006, S. 10- 11). Und genau dies benötigt sie jetzt vor dem Hintergrund des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses. Eine menschenrechtstheoretische fundierte Soziale Arbeit kann ihren Professionellen einen Reflexionshintergrund zur Verfügung stellen um diese Entwicklungen zu bewerten, zu beurteilen und wo notwendig zu verurteilen. „Konturlosigkeit“ hingegen, „hat (..) zur Folge,
dass man für jede Mode, jeden neuen Begriff, jedes neue Paradigma offen ist, um sich
eben jenes Quentchen Prestige zu verschaffen, das durch die fehlende Professionalität
nicht zu schaffen ist“, wie es Silvia Staub-Bernasconi (2005, S. 5) treffend formuliert.
Und ohne die explizite Bindung an eine vorstaatliche Instanz ist Soziale Arbeit definitiv
anfälliger, von diesem Prozess eingenommen zu werden. Und gerade vor dem Hintergrund, dass moderne Gesellschaften dazu tendieren, soziale Probleme zu privatisieren,
sollte die Soziale Arbeit wann immer es nur möglich ist darauf hinweisen und darauf
bestehen, dass diese Gesellschaft auf die Profession Soziale Arbeit als Beobachterin
von gesellschaftlichen Prozessen angewiesen ist (vgl. Hermann, Stövesand, 2009, S.
200).
Gerechtigkeitstheorien bieten der Sozialen Arbeit ebenfalls einen hervorragenden Reflexionshintergrund, um gesellschaftliche Prozesse zu beobachten und zu bewerten. Zudem könnte die ihnen enthaltene Berücksichtigung der Abhängigkeit der gesellschaftlichen Verteilungsprozesse von der politischen Entscheidungsfindung helfen, die im Laufe
des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesse zunehmende Diskrepanz zwischen den politischen und organisationalen Anforderungen an sie und ihrem
normativen Selbstverständnis auszuhalten, da dadurch die Unterschiedlichkeit zwischen
dem IST- und dem SOLL-Zustand theoretisch begründet ist. (vgl. Schrödter, 2007, S.
18- 19)
Aus professionsbezogener Sicht beinhaltet eine verstärkte Orientierung an den Menschenrechten für die Soziale Arbeit zudem eine äusserst verlockende Zukunftsperspek-
44
tive: Menschenrechte könnten, wie Gaitanides (2000) zu bedenken gibt, „im Zeitalter des
angeblichen Endes der Ideologien“(S. 133) eine immer grössere Bedeutung erlangen,
wodurch ihnen eine grössere Stabilität als Legitimationsgrundlage für die Soziale Arbeit
zukommen könnte (vgl. S. 133). Sonja Hug (2007) weist darauf hin, dass die Soziale
Arbeit in diesem Zusammenhang selbst eine wichtige Rolle spielt. Denn in dem Masse,
wie es ihr gelänge zur Positivierung sozialer Rechte beizutragen, stärke sie letztlich
auch ihre eigene gesellschaftliche Legitimation (vgl. S. 13- 14).
Eine in ihrer Legitimationsgrundlage gestärkte Soziale Arbeit könnte dann das ihrem
normativen Selbstverständnis immanente gesellschaftliche Rollenbild besser verwirklichen. Und über ein höheres Gewicht auf politischer Ebene könnte sie erfolgreicher Ressourcen für sich selbst als Profession und Disziplin, für ihre Adressatinnen und Adressaten und vor allem für Organisationen sozialer Hilfe mobilisieren. Dadurch könnte sie
auch ihren Einfluss auf diese steigern. Ein für das Überleben ihrer professionellen Identität entscheidender Punkt, denn, wie in dieser Arbeit ausführlich dargelegt wurde, erfolgt
der entscheidende Druck des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses auf die
Soziale Arbeit über die politische Steuerung von Organisationen sozialer Hilfe. Diesen
hätte die Soziale Arbeit mit ihrem normativen Selbstverständnis dann auch etwas zu
bieten, denn die Menschenrechte hätten durchaus das Potential, zur Qualitätssicherung
von Organisationen sozialer Hilfe beizutragen (vgl. Hug, 2007, S. 13).
Über einen stärkeren gesellschaftlichen Einfluss stünde der Sozialen Arbeit letztlich
dann auch wieder mehr Raum zur Verfügung, ihre adressatinnen- und adressatenbezogenen Handlungsprinzipien konsequenter durchsetzen zu können. Oder anders ausgedrückt: Gelingt es der Sozialen Arbeit nicht, ihren gesellschaftlichen Einfluss zu erhöhen,
ist auch auf der Ebene des Hilfsprozesses den Einflüssen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses Tür und Tor geöffnet.
Man mag es als realitätsfremd bezeichnen, hier wird es als strategischer Zug betrachtet:
Gerade jetzt sollte sich die Soziale Arbeit auf eine möglichst selbstgesteuerte Professionsentwicklung fokussieren. Auch wenn die oben skizzierte gesellschaftliche Legitimation Sozialer Arbeit noch in weiter Ferne erscheint, hat ein behagliches Festhalten an
ihrem normativen Selbstverständnis auch gegenwärtig eine wichtige Funktion. Nur eine
eigenständige und entschlossene Profession könnte es ihren Professionellen momentan
ermöglichen, die kognitiven Dissonanzen, welchen sie sich in ihrer alltäglichen Tätigkeit
ausgesetzt sehen, auszuhalten. Denn, wie Sonja Hug (2007) es sagt, besteht in ihrer
Tätigkeit in einem besonderen Masse die Gefahr, persönlich Menschenrechtsverletzun-
45
gen zu begehen. Und diese Gefahr wird durch die Verknappung der finanziellen Ressourcen im Verlaufe des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses bestimmt nicht
geringer. Gerade im Zwangskontext bieten die Menschenrechte den Professionellen
Sozialer Arbeit deshalb gegenwärtig einen unverzichtbaren Reflexionshintergrund (vgl.
S. 13)
5.2) Repolitisierung Sozialer Arbeit
Im normativen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit kommt ein ambitioniertes und ehrgeiziges Professionsverständnis zum Ausdruck. Wenn aber Hermann und Stövesand
(2009) zu bedenken geben, dass es auch schon einfacher war, „Studierende oder Lehrende für die kollektive Durchsetzung von Interessen oder die kontinuierliche Mitarbeit in
Ausschüssen oder Räten zu mobilisieren“(S. 196), wird ersichtlich, dass zwischen dem
normativen Selbstverständnis beinhalteten gesellschaftlichen Rollenbild und der Realität
eine ziemlich grosse Lücke existiert. Aus der Handlungsperspektive kann hier dann auch
die gegenwärtig vielleicht grösste Herausforderung für die Soziale Arbeit ausgemacht
werden. Denn möchte sie ihr normatives Selbstverständnis verteidigen, muss sie wieder
politischer werden. In der Bewältigung dieser Aufgabe zeigen sich letztlich ihre Motivation und ihr Wille, an diesem normativen Selbstverständnis festzuhalten.
In dieser Arbeit soll nur kurz darauf hingewiesen werden, dass gewisse entscheidende
Voraussetzungen einer allfälligen Repolitisierung von der Sozialen Arbeit selbst nur
schwer zu beeinflussen sind. Die in dieser Arbeit beschriebenen Verschiebungen im
Gesellschaftssystem können dann auch als Grundlage für eine Entwicklung herangezogen werden, welche ihren Niederschlag darin findet, dass, worüber sich Hermann und
Stövesand (2009) beklagen, der Raum der Selbstverwaltung von Hochschulen schwinde, wobei gleichzeitig der Einfluss der Wirtschaft innerhalb der Hochschulgremien stärker werde. Zudem gehe es in den stark reglementierten Studiengängen eher um „’Employability’ statt um Bildung und kritisches Reflexionsvermögen“(S. 196) (vgl. 196). Das
macht die Herausforderung für die Soziale Arbeit noch grösser, trotzdem aber nicht unüberwindbar. Für ihre Repolitisierung könnten ihr die nachfolgenden Überlegungen behilflich sein.
46
5.2.1) Erinnerung an sich selbst
Michael Reisch (2009) sieht eine zentrale Vorraussetzung für eine Repolitisierung der
Sozialen Arbeit, im Wiedererlangen ihres Sinns für ihr eigenes Handeln (vgl. S. 237).
Interessant ist diesbezüglich Susanne Maurers (2009) Denkfigur der Sozialen Arbeit als
‚Gedächtnis gesellschaftlicher Konflikte’. Dabei verweist sie auf ihre Entstehung „als
Versuch einer ‚lindernden’ oder auch ‚beschwichtigenden’-‚Antwort’ auf die sozialen
Konflikte und Kämpfe der Zeit“(S. 165) als Folge der industriellen Revolution. Zudem
erinnert sie an ihre historische Funktion als Akteurin der Problematisierung und Skandalisierung sozialer Konflikte. Von der Beobachtung ausgehend, dass neue politische Konzepte sozialer Bewegungen neben der versuchten oder realisierten Umsetzung ihrer
Kernidee jeweils als Begleiterscheinung Antworten auf „anderweitig sich entwickelnde
Tendenzen, die politische Sphäre(n) zu öffnen, zu destrukturieren und zu ‚entgrenzen’”(S. 166) hervorgebracht hätten, richtet Maurer mittels ihrer Denkfigur die Aufmerksamkeit auf eine gegenwärtig wenig berücksichtigte Dimension Sozialer Arbeit, nämlich
ihre „Funktion als ‚Gedächtnisort’ oder ‚Gedächtnisspeicher’ für soziale Konflikte in Vergangenheit und Gegenwart“(S. 168) (vgl. S. 165- 168).
Eine bewusst herbeigeführte Herausarbeitung einer Gedächtnisfunktion Sozialer Arbeit
könnte laut Maurer (2009) einer gegenwärtig stark segregierten Gesellschaft, natürlich
inklusive der Sozialen Arbeit selbst, als Speicher für soziale Fragen und soziale Konflikte
dienen und ihr dann die ebenfalls aufgearbeiteten jeweiligen erfolgreichen Antworten
und Auswege aus diesen als Anknüpfungsmöglichkeiten für gegenwärtige politische
Aktivitäten anbieten. Gerade vor dem Hintergrund einer tendenziellen Verniedlichung
vergangener Zeiten können dadurch laut Maurer „die spannungsgeladenen Kräftefelder,
in denen sich Soziale Arbeit historisch entwickelt“ hätte und in welchen „sie auch heute
realisieren“ müsse, eben auch „als solche immer wieder bewusst wahrgenommen werden und aus mehr oder weniger zwangsläufigen Normalisierungs- und Depolitisierungsprozessen zumindest über die historische Rekonstruktion herausgelöst werden“(Maurer, 2001, S. 125- 142, zit. in Maurer 2009, S. 169) (vgl. Maurer, 2001, S. 125142, zit. in Maurer 2009, S. 169).
47
5.2.2) Exkurs: Hat die Soziale Arbeit ein sozialpolitisches Mandat?
Auch wenn bei der historischen Betrachtung der Sozialen Arbeit ihre Politimmanenz
nicht bestritten werden kann stellt sich die Frage: Lässt sich ihr politischer Auftrag auch
empirisch nachweisen? Günter Rieger (2007) weist darauf hin, dass sich massgebliche
Theorien Sozialer Arbeit, wie der prozessual-systemische, der lebensweltliche und der
ökosoziale Ansatz darüber einig sind, dass die Soziale Arbeit einen sozialpolitischen
Auftrag habe. Eine nüchterne, gesellschaftstheoretische Herleitung des sozialpolitischen
Mandats Sozialer Arbeit liefert Rieger, indem er anhand der Luhmannschen Systemtheorie aufzeigt, dass dieses in der gesellschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit gründet
(vgl. S. 86- 91). Diese Herleitung soll hier kurz aufgezeigt werden:
Rieger (2007) verweist dabei auf Bommes und Schär, welche die Funktion Sozialer Arbeit in funktional differenzierten Gesellschaften in der Inklusionsvermittlung, der Exklusionsvermeidung wie der Exklusionsverwaltung ihrer Adressatinnen und Adressaten, bezogen auf die grundsätzlich allen Gesellschaftsmitgliedern zur Teilnahme offenen gesellschaftlichen Funktionssysteme sehen (vgl. Bommes, Schär, 2000, S. 107, zit. in Rieger, 2007, S. 89). Der Auftrag der Sozialen Arbeit als „Zweitsicherung im Wohlfahrtsstaat“(Bommes, Schär, 2000, S. 140, zit. in Rieger, 2007, S. 89) gründe in der Unmöglichkeit, Exklusionsrisiken „in der Form der administrativen Zuteilung von Geld und Sachleistungen und damit auf das Vorhalten von generalisierten sozialpolitischen Massnahmen und Programmen“(Bommes, Schär, 2000, S. 142, zit. in Rieger, 2007, S. 89) abzumildern.
Für Rieger (2007) folgt es der gleichen Logik, wie die Soziale Arbeit beispielsweise die
Exklusion ihrer Adressatinnen und ihrer Adressaten aus dem Wirtschaftssystem zu verhindern oder zumindest deren Konsequenzen zu entschärfen versuche, wenn sie dies
auch auf das politische System bezogen tue. Denn da drohe ihren Adressatinnen und
Adressaten ebenfalls der Ausschluss, wenn er nicht schon längst Tatsache geworden
sei. Rieger spricht in diesem Zusammenhang von ‚Politik als Hilfe’, als einer von mehreren Handlungsformen Sozialer Arbeit. ‚Politik als Hilfe’ bestehe darin, dass die Soziale
Arbeit ihre Adressatinnen und Adressaten zur eigenen politischen Interessensvertretung
befähige. Sei dies nicht möglich müsse sie deren Interesse im politischen Raum vertreten (vgl. S. 88- 91).
48
5.2.3) Repolitisierung im professionellen Rahmen und der ’GovernanceAnsatz’
Gerade durch die Darlegung des sozialpolitischen Mandats Sozialer Arbeit mit Hilfe der
Luhmannschen Systemtheorie wird besonders deutlich, dass sozialpolitisches Handeln
nicht aus ihren fachlichen Auftrag ausgegrenzt werden kann, gleichzeitig aber auch,
dass es streng an diesen zurückgebunden sein muss.
Rieger (2007) schlussfolgert deshalb, dass sich ’Politik als Hilfe’ methodisch ausweisen
müsse. Zudem brauche sie „eine durch Forschung und Praxis gesicherte Wissensbasis“,
müsse ethisch orientiert sein und „dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe“(S. 91) folgen. Er
spricht in diesem Zusammenhang von einer „Professionalisierung der Politisierung“(S.
91). Denn eine Repolitisierung Sozialer Arbeit beherberge auch grosse Risiken, betont
Rieger. Diesen Risiken könne nur mittels Wissensbasiertheit und ethischer Orientierung
der politischen Aktivitäten im Rahmen des fachlichen Auftrags begegnet werden. Als
Gefahr benennt Rieger unter anderem die Möglichkeit der Ideologisierung mit der Konsequenz des Verlustes einer notwendigen kritischen Distanz, einer zunehmenden Paternalisierung der Adressatinnen und Adressaten, aber auch einer möglichen Verdrängung anderer identitätsstiftenden Handlungsformen Sozialer Arbeit, wie beispielsweise
der Beratung, der Betreuung oder der Intervention (vgl. S. 91- 95).
Rieger (2007) erklärt weiter, dass die Soziale Arbeit für eine Repolitisierung im professionellen Rahmen natürlich auf ihre lange einschlägige Tradition und Erfahrung in der
Gemeinwesensarbeit, im ‚Empowerment’, in der Politikberatung sowie in der Lobbyoder in der Gremienarbeit zurückgreifen müsse, andererseits sich von der Politikwissenschaft, auch hinsichtlich ihrer eigenen, sozialarbeitspolitischen Forschung, inspirieren
lassen sollte. Hier verweist er vor allem auf den sogenannten ‚Governance’ Ansatz, einem hochinteressanten, in den Politwissenschaften zunehmend Bedeutung erlangenden
politischen Steuerungskonzept (vgl. S. 96- 99).
Der ‚Governance’ Ansatz ist ein Konzept zur Professionalisierung der Politik im weitesten Sinne. ‚Governance’ steht dabei nach Volker Schneider für „eine erweiterte Sicht
gesellschaftlicher Steuerung“(Schneider, 2004, S. 174, zit. in Rieger, 2007, S. 99). Nach
Rieger (2007) verspricht ‚Governance’ die Erlangung von mehr Gestaltungsmöglichkeiten auf allen politischen Ebenen (vgl. S. 99). Dabei finde eine Verschiebung von der
Staatsorientierung des Politikmachens zugunsten eines Einbezugs des Beitrags von
„zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren“(Bogumil, Holtkamp, 2004, S.
148, zit in Rieger, 2007, S. 99) statt. Diese neue Form des Politikmachens beruhe, so
49
Rieger, auf der Berücksichtigung der verschiedenen Steuerungsmodi „von Gemeinschaft
und Verhandlung über hierarchische Steuerung bis zur Setzung marktwirtschaftlicher
Anreize“(S. 99), beinhalte aber auch eine zielbezogene normative Wertung, welche im
Begriff ‚Good Governance’ ihren Ausdruck finde. Die normative Komponente von ‚Good
Governance’ bestehe in der Orientierung an „Kriterien politischer Legitimität“(S. 100) wie
der politischen Teilhabe, des öffentlichen Vertrauens, der Transparenz sowie der sozialen Gerechtigkeit (vgl. S. 99- 100). Zentral an dieser Perspektive sei die darin immanente Vorstellung der „Überwindung sozialer Exklusion von unten wie oben“(Jann, Wegrich,
2004, S. 201, zit. in Rieger, 2007, S. 100), wobei sich die Aufmerksamkeit auf die Ausbalancierung der Modi politischer Steuerung, nämlich der von Netzwerken, Hierarchien
und dem Markt, richte (vgl. Jann, Wegrich, 2004, S. 201, zit. in Rieger, 2007, S. 100).
Für die Soziale Arbeit hält Rieger (2007) den ‚Governance’ Ansatz für so wertvoll, da er
ihr einen Rahmen zur Verfügung stelle, welcher ihr eine realistische Einschätzung ihrer
Chancen zur politischen Einflussnahme ermögliche (vgl. S. 101). Darüber hinaus verspricht er sich davon überhaupt erst eine Rückerlangung ihres Glaubens an die Möglichkeiten zur gegenwärtigen politischen Einflussnahme, da ‚Governance’ den vermeintlichen Sachzwängen der ‚invisible hand’ des Marktes ein Konzept zur systematischen
„Beeinflussung des Handelns, die Gestaltbarkeit von Organisationen und die Gestaltungskraft von Netzwerken“(Fürst, 2004, S. 53, zit. in Rieger, 2007, S. 101- 102) gegenüberstelle. ‚Governance’ lehre der Sozialen Arbeit, dass ihre sozialpolitischen Handlungen „systematisch, geplant und zielgerichtet“(Fürst, 2004, S. 53, zit. in Rieger, 2007, S.
102) angelegt und von der Initialphase bis zur Evaluation in den Ablauf methodischen
Handelns eingebettet sein müssen. Gerade der Initialphase misst Rieger unter der ‚Governance’ Perspektive eine besondere Gewichtung bei, denn hier müssten gemeinsame
Interessen mit anderen Akteuren ausgemacht werden und der Prozessbeginn organisiert werden (vgl. Fürst, 2004, S. 53, zit. in Rieger, 2007, S. 101- 102).
Dies fordere, so Rieger (2007), die Soziale Arbeit aber dazu heraus, ihre gegenwärtig
noch unbefriedigende Selbstverständigung voranzutreiben. Um in dieser Hinsicht gestalterisches Gewicht zu erlangen, müsse sie sagen können, was für einen Sozialstaat sie
haben möchte und „was soziale Gerechtigkeit, Teilhabe, Freiheit und Verantwortung für
sie bedeuten“(S. 105) würden. Zudem weist Rieger darauf hin, dass der wertbezogene
Grundsatz der politischen Teilhabe des ‚Governance’ Ansatzes die Soziale Arbeit in einem zentralen Prinzip ihres Handelns bestärke: Die Soziale Arbeit dürfe keine Stellvertreterpolitik betreiben, sondern müsse „insbesondere die Partizipationsmöglichkeiten
ihrer Klientel im Sinne des ‚Empowerment’“(S. 104) stärken. Erst wo ‚Empowerment’
50
nicht mehr funktioniere, sei „systematisch und methodengestützt - darauf zu achten,
dass advokatorische Interessensvertretung“ stattfinde „und dabei an die tatsächlichen
Interessen der Klienten zurückgebunden“(S. 104) bleiben würde, schlussfolgert Rieger
(vgl. S 104- 105).
5.2.4) ‚Plädoyer für eine reflexive und koordinierte Unfügsamkeit‘
Einen Ansatz, welcher weniger die Vereinbarung des sozialpolitischen Mandats der Sozialen Arbeit mit ihren Professionalisierungsansprüchen berücksichtigt und deshalb auch
kämpferischer wie der von Rieger erscheint, liefern Cora Hermann und Sabine Stövesand (2007) mit ihrem Pladoyer für eine „reflexive und koordinierte ‚Unfügsamkeit’”(S.
191): Mittels Bezugsnahme auf die von Foucault entworfene Kompetenz der „reflektierten Unfügsamkeit”(Foucault, 1992, S. 15, zit in Hermann, Stövesand, 2007, S. 198),
fordern Hermann und Stövesand ein „kritisches Denken und Handeln“, welches auf ein
„begründetes und aktives Nicht-Einverstanden-Sein mit den dominanten Macht-, Herrschafts- und Regierungslogiken“(S. 198) abziele.
Eine reflektierte Unfügsamkeit gegenüber vorherrschenden Machtstrukturen, müsse
sich, so Hermann und Stövesand (2009), kompromisslos an den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und den Menschenrechten orientieren und in theoretischer Hinsicht stünde
dieser Ansatz „vor der Aufgabe, die Notlagen der Menschen und ihre konkreten Verhaltensweisen mit den strukturellen Bedingungen und materiellen Voraussetzungen analytisch zusammenzudenken ohne in Dichotomien von Unterdrückung und Befreiung, Anpassung oder Widerstand zu verfallen“(S. 199- 200). Darüber hinaus gelte es, so Hermann und Stövesand weiter, die Handlungsspielräume welche eine reflexive Unfügsamkeit eröffne, auch auszunutzen. Vor allem sollen dabei soziale Problemlagen entgegen
der gegenwärtigen Tendenz öffentlich skandalisiert werden (vgl. S. 199- 200).
Zentral dafür und teilweise vergleichbar mit der Intention des ‚Governance’ Ansatzes ist
bei Hermann und Stövesands (2009) Konzept die darin vertretene Ansicht, dass die Soziale Arbeit kooperative Bündnisse mit anderen politischen Akteuren inhaltlicher Konvergenz eingehen müsse, innerhalb derer gegenseitige Anknüpfungspunkte für sozialpolitisches Agieren entstehen könnten (vgl. S. 200). Dabei berufen sich Hermann und Stövesand auf Mauro Lazzaratos Koordinationsgedanke. Dieser beinhalte, dass diesen Kooperationsbündnissen keine konkretisierten politischen Linien oder Ziele vorausgehen
51
dürfen, denn politischer Widerstand solle in diesem Rahmen als Ergebnis „einer konkreten, aus der Situation wachsenden Intelligenz, welche die AktivistInnen dazu verpflichtet,
ihre eigene Identität, ihre Handlungsmittel aufs Spiel zu setzen“(Lazzarato, 2004, zit. in
Hermann, Stövesand, 2009, S. 201) entspringend verstanden werden. Anders sei dies
auch gar nicht möglich, so Hermann und Stövesand weiter, denn „jeglicher Versuch einer Totalisierung oder homogenisierenden Verallgemeinerung, jeglicher Versuch der
Konstituierung eines ausschliesslich der Repräsentation zugewandten Kräfteverhältnisses sowie der Einrichtung hierarchischer Organisationsmodalitäten“(Lazzarato, 2004, zit.
in. Hermann, Stövesand. 2009, S. 201) führe zu einer Zersplitterung der Koordination
(vgl. Lazzarato, 2004, zit. in Hermann, Stövesand, 2009, S. 201). Eine Soziale Arbeit,
welche ihre Rahmenbedingungen beeinflussen oder gar soziale Veränderungen erreichen möchte, müsse die Einbindung in solche Netzwerke suchen, so Hermann und Stövesand weiter. Denn „je grösser der Pool an so genannten Brückenpersonen in den eigenen Netzwerken“ sei, welche „nicht nur in einer sozialen Gruppe/Kultur/Organisation
zu Hause“ wären, „desto mehr Zugänge zu entfernten Ressourcen, zu Informationen
und anderen Denkweisen“(Granovetter, 1973, S. 13- 60, zit. in Hermann, Stövesand,
2009, S. 202) würden sich eröffnen (vgl. Granovetter, 1973, S. 13- 60, zit. in Hermann,
Stövesand, 2009, S. 201- 202)
5.3) Die Soziale Arbeit und ihre Wohlfahrtsproduktion
Ein zweiter Themenbereich, in dem Handlungsansätze für eine Soziale Arbeit, die ihre
professionelle Identität verteidigen möchte, ausgemacht werden können, bezieht sich
auf ihr Verhältnis zur Ökonomie. Unabhängig von der Frage, wem die Soziale Arbeit
über die Verwendung ihrer verfügbaren Mittel Rechenschaft schulde, sei es eine Tatsache, dass sie auf „Erträge aus der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung angewiesen“(S.
5) sei, finden Elsen, Lange, und Wallimann (2000). Um so mehr erstaune es, schlussfolgern Elsen et al., „dass die Beziehungen zwischen Sozialer Arbeit und Ökonomie in den
gegenwärtigen Diskursen der Sozialarbeitswissenschaft relativ wenig reflektiert“ würden,
respektive, dass sich diese Reflexion meist auf den „verengten, mikroökonomischen
(betriebswirtschaftlichen) Blick“(S. 5) beschränke.
Wie in dieser Arbeit genügend ausgewiesen, besteht auf dieser Ebene hinsichtlich der
berufsethischen Prinzipien Sozialer Arbeit erheblicher Klärungsbedarf. Martin Albert
(2006) erklärt, dass es schliesslich die Kluft zwischen sozialarbeiterischer Ethik und
52
ökonomischen Realitäten sei, welche erkennen lasse, „warum die Auseinandersetzung
um die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit so vehement geführt”(S. 64) werde.
Klärungsbedarf besteht für die Soziale Arbeit aber auch auf einer anderen Ebene ihres
Verhältnisses zur Ökonomie bei der eher ihre disziplinäre Seite gefordert ist. Dabei geht
es um die Frage, was die Soziale Arbeit leistet, was sie für die einzelnen Menschen und
die Gesellschaft produziert, welche Werte sie dabei schafft. (vgl. Wendt, 2000, S. 59)
Wolf Rainer Wendt (2000) erklärt, dass bei der ökonomischen Betrachtung von Organisationen sozialer Hilfe zwischen zwei Ebenen wirtschaftlichen Handelns unterschieden
werden müsse. Werde die Leistung von Organisationen sozialer Hilfe auf die äussere
Seite, also die letztlich marktorientierte Seite des betrieblichen ökonomischen Handelns
reduziert, bedeute dies eine Verkennung ihrer Tätigkeit. Denn auf der Innenseite des
betrieblichen ökonomischen Handelns würden Organisationen sozialer Hilfe ihrem sozialpolitischen Versorgungsauftrag entsprechend individuelle und gesellschaftliche Werte
schaffen (vgl. S. 59- 62).
Die Organisationen sozialer Hilfe würden in Koproduktion mit ihren Adressatinnen und
Adressaten, deren Wohlfahrt produzieren, erklärt Wendt (2000). „Wohlfahrtsproduktion“,
so Wendt, heisse, „ein gutes Ergehen von Menschen (Lebensqualität) durch sie selbst
sowie durch soziale Unterstützung und durch Dienste und Einrichtungen zustandezubringen“(S. 63). Jedoch unterliege dieser Leistungserbringung „ein anderes Verständnis
von Produktion“(S. 62) als das den betriebswirtschaftlichen Konzepten immanenten,
eines, das nur sehr begrenzt als marktfähig betrachtet und mit betriebswirtschaftlichen
Instrumenten nicht nachgewiesen werden könne. Eines, das die Erschaffung einer ’humanwirtschaftlichen’ Position benötige, damit es zum Ausdruck gebracht werden könne
(vgl. S. 59- 63).
Die damit zusammenhängende Herausforderung für die Soziale Arbeit sieht Wendt
(2000) im Aufbau eben dieser humanwirtschaftlichen Position. Erst dadurch könne sie
auf eine für sie sinnvolle Weise darlegen, was sie anstrebe, was sie erreiche oder was
sie gegebenenfalls nicht erreiche. Sollte ihr dies gelingen, sieht Wendt darin dann auch
eine „Gegenstrategie zu einer fremdbestimmten Ökonomisierung“(S. 62) der Sozialen
Arbeit (vgl. S. 59- 63).
Die Gedanken von Wendt machen Sinn: Wird davon ausgegangen, dass der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess letztlich vom ökonomischen System
53
dominiert wird, lässt sich daraus schliessen, dass es der Sozialen Arbeit, wenn sie sich
in einer ökonomischen Sprache zu erklären lernt besser gelingen könnte, überzogene
externe ökonomische Forderungen, welchen gegenüber sie sich im Rahmen des gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses ausgesetzt sieht, in die
Schranken zu weisen. Je besser sie auf eine ökonomische Weise argumentieren, sich
ökonomisch zu erklären lernt, desto selbstbewusster und vielleicht auch erfolgreicher
könnte sie sich möglicherweise in einer vom ökonomischen System dominierten Gesellschaft bewegen.
5.4) Beantwortung der erkenntnisleitenden Fragestellung
Der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozesses fordert die Soziale Arbeit in ihrem normativen Selbstverständnis insofern heraus, dass seine
Einflüsse das Potential beinhalten, sie zu unterwandern und dadurch ihr normatives Selbstverständnis zu entwerten. Denn zwischen den Einflüssen der wohlfahrtsstaatlichen Transformation auf die Soziale Arbeit und ihrem normativen
Selbstverständnis sind Konfliktlinien auszumachen, welche unüberbrückbar erscheinen. Diese Konfliktlinien fordern die Soziale Arbeit auf der Ebene der Interaktion zwischen Professionellen und Adressatinnen und Adressaten im Rahmen des
Hilfsprozesses, aber auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Rolle heraus. Diese
Herausforderungen erfolgen zu einem beträchtlichen Teil über die politische
Steuerung von Organisationen sozialer Hilfe. Denn die für den Lohnerwerb der
Professionellen der Sozialen Arbeit unausweichlichen Organisationen sozialer
Hilfe werden im Verlaufe des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses
mittels betriebswirtschaftlichen Umstrukturierungen zunehmend in Konkurrenzverhältnisse zueinander versetzt. Dadurch steigt für diese der Druck, sich gegenüber seinen Einflüssen öffnen zu müssen. Jedoch erfolgt deshalb noch nicht automatisch eine Entwertung des normativen Selbstverständnisses der Sozialen
Arbeit. Denn letztlich ist es das Verhalten der einzelnen Professionellen sowie der
ganzen Profession Soziale Arbeit, welches mitentscheidet, inwiefern sie ihr normatives Selbstverständnis über den Verlauf des wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess hinaus verteidigen kann. Hier ist ihrerseits aber gezieltes und
koordiniertes Handeln notwendig.
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Um ihr normatives Selbstverständnis zu verteidigen, ist für die Soziale Arbeit eine
Repolitisierung unumgänglich. Nur so kann sie ihren gesellschaftlichen Einfluss
soweit steigern, dass sie sich den für ihr normatives Selbstverständnis notwendigen Gestaltungsraum erarbeiten kann. Dafür muss die Soziale Arbeit aber zuerst
den Sinn für ihr eigenes Handeln stärken, wozu eine stärkere Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschichte und Identität notwendig ist. Zudem muss sie den Repolitisierungsvorgang in den Professionalisierungsprozess einbinden können, um
ihren Professionalitätsgrad nicht zu gefährden. Dafür ist sie auf Anregung aus den
Politikwissenschaften angewiesen. Und um überhaupt entscheidendes politisches
Gewicht erlangen zu können, ist für sie die Bildung von Netzwerken und kooperative Arbeitsbündnissen mit anderen gesellschaftlichen Akteuren unumgänglich.
Ausserdem muss sie ihre Verflechtung im volkswirtschaftlichen Zusammenhang
klären. Denn um überzogene fachexterne, ökonomische geprägte Forderungen an
Organisationen sozialer Hilfe in die Schranken weisen zu können, muss es ihr gelingen, eine humanwirtschaftliche Positionierung aufzubauen, welche es ihr ermöglicht, ihre Wohlfahrtsproduktion, respektive ihre Leistungen für den einzelnen
Menschen sowie für die ganze Gesellschaft in einer ökonomischen Sprache auszudrücken und auszuweisen.
5.5) Persönliche Schlussbetrachtung
Zu Beginn der persönlichen Schlussbetrachtung möchte ich ein persönliches Fazit zum
Entstehungsprozess und zum Ergebnis dieser Arbeit ziehen:
Die Phase der Entstehung dieser Arbeit hat mir sehr viel Spass gemacht. Aufgrund der
Breite, der Komplexität und teilweise auch der Tristesse der behandelten Thematik verlangte sie aber auch sehr viel von mir ab. Es mussten diverse Themenbereiche erarbeitet und verstanden werden. Eine grosse Herausforderung war es, dabei eine persönliche
fachbezogene ethische Positionierung zu entwickeln. Dies war nur mit einer intensiven
und ehrlichen Auseinandersetzung mit meiner eigenen politischen Einstellung möglich.
Insofern trug der Entstehungsprozess dieser Arbeit auch zur Konkretisierung meines
eigenen Weltbildes bei. Mit dem Ergebnis dieser Arbeit bin ich sehr zufrieden. Es beinhaltet eine anspruchsvolle und höchst aktuelle Thematik, welche mich zutiefst interessiert. Natürlich konnte ich nicht jeden Aspekt beleuchten, den diese Fragestellung erlaubt hätte. Gerade was die Bewältigungsaufgaben für die Soziale Arbeit anbelangt,
55
wäre der Aspekt der Steuerung ihrer disziplinären Seite hochinteressant gewesen. Wegen den räumlichen, sowie meinen zeitlichen Kapazitäten konnte ich jedoch nicht näher
darauf eingehen. Letztlich denke ich aber doch, dass es ist mir gelungen ist, die ziemlich
viel Raum lassende erkenntnisleitende Fragestellung auf eine pointierte Weise zu beantworten.
Da ich in dieser Bachelorarbeit eine sehr politische Thematik behandelte, war es herausfordernd, meine persönliche Meinung immer einer fachlich-ethischen Argumentationsperspektive unterzuordnen. Denn letztlich sind diese beiden Positionierungen untrennbar miteinander verbunden. Der Rest der persönlichen Schlussbetrachtung soll deshalb
endlich Platz für einige Aussagen bieten, welche explizit meine eigene Meinung ausdrücken. Diese Aussagen erfolgen nicht als kohärenter Text, sondern in Form von Einzelaussagen, welche sich immer auf Inhalte dieser Bachelorarbeit beziehen:
- Manche mögen meine eingenommene Haltung als stur und realitätsfremd bezeichnen.
Ich verteidige sie folgendermassen: Auch wenn der globale Wettbewerbsdruck auf die
schweizerische Volkswirtschaft gross ist, finde ich es falsch, wenn dieser als Vorwand
benutzt wird, um die Starken noch stärker und die Schwachen noch schwächer zu machen. Denn Wirtschaftskrise hin- oder her: Ärmer ist die Schweiz in den letzten Jahren
nicht geworden. Und der Blick auf die Entwicklung der sozialen Ungleichheit in der
Schweiz macht mich wütend. Denn wenn es stimmt, was eine diesbezügliche Studie der
Credit Suisse (2010) belegt, nämlich dass das reichste Prozent der schweizerischen
Bevölkerung sage und schreibe 59% des gesamten Vermögens besitzt, muss seitens
der Sozialen Arbeit auf die gegenwärtigen Sparmassnahmen selbstbewusst und entschlossen reagiert werden
- An der Ansicht, dass sich jede gesunde und arbeitsfähige Person ihren Lebensunterhalt selbstständig erstreiten sollte, habe ich überhaupt nichts auszusetzen. Eine verstärkte Orientierung an diesem Grundsatz muss aber vor dem Hintergrund einer sich
zunehmend verselbstständigenden Wirtschaft kritisch betrachtet werden. Letztlich kann
aus professioneller Perspektive dieser Anspruch nur plausibel vertreten werden, wenn
politisch auch die Notwendigkeit zu einer stärkeren Regulierung der Wirtschaft eingesehen wird.
- Was den Berufskodex von Avenir Social anbelangt, möchte ich folgendes hinzufügen:
Dieser hätte in zwei Punkten konkreter ausfallen sollen. Einerseits hätte expliziter auf die
Menschenrechte eingegangen werden können, indem beispielsweise konkret auf die
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professionsbezogene Verpflichtung, auf die Positivierung der sozialen Rechte hinzuarbeiten, hingewiesen worden wäre. Dabei wäre eine Benennung der Menschenrechtsartikel, auf die sich die jeweiligen sozialen Rechte berufen, für die Professionellen der Sozialen Arbeit äusserst hilfreich gewesen. (vgl. Hug, 2007, S. 12)
Andererseits hätte der nationale Berufskodex auch ganz konkret auf problematische
Entwicklungen aufmerksam machen können. Beispielsweise hätte man auf die Gefahr
einer mit der wohlfahrtsstaatlichen Transformation zunehmenden Verletzung von Freiheitsrechten eingehen können. In diesem Zusammenhang vermisse ich beispielsweise
einen Hinweis auf die gegenwärtig problematische Aufgabenerfüllung von Sozialwerken,
wie etwa der Invalidenversicherung. Stattdessen wird ausschliesslich darauf hingewiesen, dass Professionelle nach Kräften den Missbrauch von Solidarsystemen zu verhindern hätten. Dieser Hinweis wäre soweit auch gar nicht so schlimm, ja sogar sinnvoll.
Aber in seiner isolierten Form wird hier meiner Meinung nach eine Konzession zu viel
eingegangen. Denn im Gegensatz zu der dabei immerhin suggerierten Tendenz zum
Missbrauch von Sozialsystemen seitens ihrer Adressatinnen und Adressaten wird die
gegenwärtig problematische Aufgabenerfüllung dieser vollständig ausgeblendet.(vgl.
Avenir Social, 2010)
- Die Ausbildungsstätten müssen sicherstellen, dass der Zusammenhang zwischen den
Menschenrechten und der Sozialen Arbeit von ihren Studierenden analytisch erfasst
werden kann. Dafür müssen genügend Kapazitäten zur Verfügung gestellt werden. Gerade vor dem Hintergrund der Herausforderungen, vor die der gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozess die Soziale Arbeit stellt, muss sicher gestellt werden,
dass die Studierenden sich ausgiebig mit dem Begriff der menschlichen Würde auseinandersetzen können, dass sie begreifen, was vorstaatlich und universell heisst und was
dies für die Positionierung der Sozialen Arbeit innerhalb der Gesellschaft bedeutet. Nur
so können sie die kognitiven Dissonanzen, welchen sie in ihrer künftigen professionellen
Tätigkeit ausgesetzt sein werden, aushalten.
- Zu einer Entfernung aus der Dichotomie von Hilfe und Kontrolle möchte ich anfügen:
Ich glaube, es ist eine Illusion, die Soziale Arbeit als Dienstleistung zu verstehen. Zwar
verwende ich im praktischen Alltag auch häufig den Klientenbegriff. Dieser könnte aber
meiner Meinung nach einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Die Professionellen Sozialer Arbeit werden immer in Macht- und Herrschaftszusammenhänge verstrickt sein.
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- In dieser Arbeit bin ich ziemlich einseitig auf den wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozess eingegangen, da ich ausschliesslich seine negativen Aspekte beleuchtete.
Einerseits liegt dies an der Form der Fragestellung, aber auch in meiner Überzeugung,
dass die negativen Aspekte bei weitem überwiegen. Bestimmt gibt es auch positive
Entwicklungen in diesem Zusammenhang, wie beispielsweise die Tendenz zur Installation von persönlichen Budgets (vgl. Lutz, 2008. S. 6). Hier wird die Autonomie der Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit auf eine Weise gestärkt, wie es aus professioneller Perspektive nur begrüsst werden kann.
- Ich wünsche mir eine solidarischere und integrativere Gesellschaft, in der die Menschen würdevoll miteinander umgehen. Dieser Wunsch kann aber als Warnung verstanden werden, dass die eingeschlagene Richtung den sozialen Frieden gefährden kann.
Ich bin davon überzeugt, dass es der falsche Weg ist. Denn die Geschichte lehrt uns,
dass ein stabiler Friede nur auf einer solidarischen und integrativen Gesellschaft beruhen kann, welche aktiv der Entstehung einer allzu starken sozialen Ungleichheit entgegenwirkt. An uns soll es jedenfalls nicht liegen. Denn schliesslich sind wir keine „Marionetten an den Fäden kultureller Strömungen oder ein Sandkorn auf der Schaufel der
Geschichte“(Silvia Staub-Bernasconi 2005, S. 5).
58
6.) Literaturverzeichnis
Albert, Martin. (2006). Soziale Arbeit im Wandel. Professionelle Identität zwischen Ökonomisierung und ethischer Verantwortung. VSA-Verlag; Hamburg.
Albrecht, Friedrich. (1999). Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession–Zur Bedeutung
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Ich erkläre hiermit:
dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe und ohne Benützung anderer als der
angegebenen Hilfsmittel verfasst habe.
_______________________
St. Gallen, 19. März 2014
Unterschrift
Veröffentlichung Bachelorarbeit
Ich bin damit einverstanden, dass meine Bachelor Thesis bei einer Bewertung mit der
Note 5.5 oder höher, der Bibliothek für die Aufnahme ins Ausleiharchiv und für die
Wissensplattform Ephesos zur Verfügung gestellt wird. Sie darf auch an Aussenstehende
verkauft werden.
□ ja
□ nein
_______________________
St. Gallen, 19. März 2014
Unterschrift
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