442 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik 4.2 Augenmuskellähmungen G. Kommerell Unter einer Augenmuskellähmung versteht man eine Bewegungseinschränkung, die durch Schädigung des Mus- Inkomitanz kels, der Übertragungsstelle zwischen Nerv und Muskel oder des zuleitenden Nerven zustande kommt. Eine unvollständige Lähmung heißt Parese, eine vollständige wird als Paralyse bezeichnet. Die Abb. 4.27 zeigt eine Parese des rechten M. rectus lateralis. Zunächst betrachten wir die Verhältnisse bei Fixation des linken, frei beweglichen Auges. Fixiert es in Mittelposition, so schickt das Blickzentrum an alle Augenmuskeln eine mittlere Innervation ab. Diese Impulse werden in dem paretischen rechten M. rectus lateralis nicht in Allgemeine Symptomatik Muskelspannung umgesetzt. Dadurch ist das Gleichgewicht der muskulären und bindegewebigen Drehmomente gestört: Es fehlt das abduzierende Drehmoment Die für alle Augenmuskellähmungen charakteristischen des M. rectus lateralis, sodass die adduzierenden Drehmo- Zeichen werden nachfolgend am Beispiel der Lähmung des rechten M. rectus lateralis dargestellt. Die Zeichen mente überwiegen. Dadurch weicht das Auge aus der Mittelposition in die Adduktion ab, bis zu einer Position, in gelten unabhängig davon, ob die Lähmung durch Schädi- der das Gleichgewicht der Drehmomente wieder her- gung der Muskulatur, der neuromuskulären Impulsüber- gestellt ist. Es entsteht also ein konvergenter Schielwin- tragung oder des zuleitenden Nerven zustande gekom- kel, der in Abb. 4.27 mit a gekennzeichnet ist. men ist. Bei Rechtsblick nimmt der Schielwinkel zu. Erklärung: Normalerweise weist der rechte M. rectus lateralis bei Rechtsblick eine höhere Spannung auf als in Mittelposition. Dementsprechend fehlt bei Lähmung dieses Muskels ein größeres abduzierendes Drehmoment. Umgekehrt nimmt der Schielwinkel bei Linksblick ab, denn in dieser Abb. 4.27 Parese des rechten M. rectus laeralis. Der Schielwinkel nimmt bei Rechtsblick zu. Dabei ist es gleichgültig, ob das frei bewegliche linke Auge im rechten Blickfeld oder das paretische rechte Auge in Mittelposition fixiert: ar und bm sind gleich groß. Die (S)-Zeichen symbolisieren die vom Zentralnervensystem ausgesandten Innervationsimpulse. Am paretischen rechten M. rectus lateralis wirken sie sich nur in geringem Maße aus. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 4.2.1 G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen Richtung schickt das Gehirn an den rechten M. rectus la- Blickwendungsimpuls aussenden, da das paretische Auge teralis ohnehin nur wenige Impulse, deren Verlust im die Mittelposition nur erreichen kann, wenn die man- Falle der Lähmung kaum ins Gewicht fällt. gelnde Zugkraft des gelähmten Muskels durch vermehrte Innervation dieses Muskels und durch verminderte Inner- n Die bei Blickwendung eintretende Änderung des vation seines Antagonisten ausgeglichen wird. Schielwinkels wird als Inkomitanz bezeichnet. Im Gegensatz dazu spricht man von Konkomitanz, wenn der Schielwinkel bei Blickwendung gleich bleibt. 443 Auf die Messung des sekundären Schielwinkels kann man verzichten, da sie keine zusätzliche Information bringt. Mit dem sekundären Schielwinkel erfasst man nämlich nur das Inkomitanzphänomen. So wirkt sich im Beispiel der Abb. 4.27 die Lähmung des rechten M. rectus Sprachlich abgeleitet sind beide Begriffe von dem lateinischen Verb comitare = begleiten. lateralis in gleichem Maße aus, wenn das frei bewegliche linke Auge im rechten Blickfeld oder das paretische rechte Auge in Mittelposition fixiert. Der Rechtswendungsimpuls komitanz. ist in beiden Fällen gleich, und daher sind auch die Schielwinkel ar und bm gleich groß. Gelegentlich findet man Patienten, die es bevorzugen, Die Inkomitanz lässt sich mit einer einzigen Zahl quanti- mit dem paretischen Auge zu fixieren, und daher dauernd fizieren, indem man die Differenz zwischen 2 in gegenü- den sekundären Schielwinkel einstellen. Der Grund ist in berliegenden Blickrichtungen gemessenen Schielwinkeln ermittelt (im Beispiel der Abb. 4.27 ar – aI). Der in Mittel- der Regel, dass sie mit dem paretischen Auge besser sehen als mit dem frei beweglichen. position gemessene Schielwinkel ist als Maß der Parese ungeeignet, da in ihn auch eine vorbestehende Heterophorie eingeht. Die nieder- und hochschwelligen Fasern eines Augenmuskelnerven (Kap. 1.3.2) können unterschiedlich betroffen sein. Daher können unterschiedliche Inkomitanzmuster entstehen. Sind zum Beispiel überwiegend hochschwellige Nervenfasern ausgefallen, können die Augen bis zur Mittellinie noch nahezu konkomitant bewegt werden. Erst bei weiterer Blickwendung bleibt dann das paretische hinter dem frei beweglichen Auge zurück. Sind dagegen vor allem niederschwellige Nervenfasern ausgefallen, resultiert schon im mittleren Blickfeld eine erhebliche Schielabweichung. Dennoch lässt sich das Auge weit abduzieren, da im seitlichen Blickfeld die intakt gebliebenen hochschwelligen Nervenfasern eingesetzt werden (119). Primärer und sekundärer Schielwinkel Differenzialdiagnose zwischen inkomitantem und dissoziiertem Schielen Auch beim dissoziierten Schielen unterscheidet sich der Winkel bei Rechts- und Linksfixation. Im Gegensatz zum paretischen Schielen kommt es beim dissoziierten Schielen aber nicht darauf an, welcher Blickwendungsimpuls beim Fixationswechsel aufgewendet werden muss, sondern darauf, ob das Sehen überwiegend mit dem rechten oder überwiegend mit dem linken Auge erfolgt. Um dieses Kennzeichen des dissoziierten Schielens isoliert zu ermitteln, empfiehlt sich der Fixationswechseltest (66). Durchführung des Fixationswechseltests am Synoptophor (s. Abb. 3.52). Zunächst lässt man das rechte Auge in Mit- telposition fixieren und gleicht den dabei vorhandenen Schielwinkel aus, indem man den linken Synoptophorarm verstellt. Anschließend wechselt man auf die Fixation des linken Auges über und misst erneut den Schielwinkel, Die meisten von einer Augenmuskellähmung betroffenen ohne jedoch die zuvor bei Rechtsfixation eingestellte Posi- Patienten fixieren spontan mit dem frei beweglichen tion des linken Synoptophorarms zu verändern. Das linke Auge. Die dabei ermittelte Abweichung des paretischen Auges bezeichnet man als primären Schielwinkel (Winkel Auge fixiert dann also nicht in Mittelstellung, sondern dort, wo es sich bei Rechtsfixation befand. Nun prüft a in Abb. 4.27). Die bei Fixation mit dem paretischen man, ob das rechte Auge seine Stellung ändert, nachdem Auge ermittelte Abweichung wird als sekundärer Schielwin- es die Fixation an das linke Auge abgegeben hat. Das Aus- kel bezeichnet (Winkel b in Abb. 4.27). maß der Änderung lässt sich bestimmen, indem man den rechten Synoptophorarm so lange verstellt, bis das rechte n Der sekundäre Schielwinkel ist größer als der primäre. Auge beim Umblinken von Links- auf Rechtsfixation keine Einstellbewegung mehr macht. Es ist wichtig, dem jeweils Dies erklärt sich aus der Inkomitanz des paretischen fixierenden Auge vor jedem Umblinken einige Sekunden Zeit zu geben, damit sich die dissoziierte Schielkom- Schielens. Wenn das paretische Auge in Mittelposition ponente durch Verdunkelung des nichtfixierenden Auges eingestellt werden soll, muss das Gehirn einen seitlichen vollständig ausprägen kann. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. n Je stärker die Lähmung, umso ausgeprägter die In- 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik Bleibt die Stellung des rechten Auges beim Umblinken Ein Muskel, der keine Innervationsimpulse erhält, dege- zwischen Links- und Rechtsfixation unverändert, so hat neriert. Diese Degeneration ist jedoch reparabel, wenn die man eine dissoziierte Schielkomponente ausgeschlossen. Ändert sich die Stellung des rechten Auges, so liegt eine Innervation innerhalb von 1 bis 2 Jahren wieder hergestellt wird. dissoziierte Schielkomponente vor. y Mit dem Fixationswechseltest werden auch verborgene Ipsilateraler Antagonist (rechter M. rectus medialis in Abb. 4.27). Es gibt keinen Reflex, der die Innervation des Anteile des dissoziierten Schielens aufgedeckt, denn es ipsilateralen Antagonisten ändert (5). Man sollte daher wird dabei nicht nur die Fixation gewechselt wie beim auch nicht von einer „Überfunktion“ (S. 133) des ipsilate- spontanen Alternieren, sondern zusätzlich das jeweils ralen Antagonisten sprechen. Wohl kommt es aber wegen nichtfixierende Auge verdunkelt, sodass ihm auch die unzureichender Dehnung des Muskels zu einer mecha- Sehkonturen entzogen werden. Bei dem von Bielschowsky beschriebenen Dunkelrotglastest (S. 365), bei dem man nischen Veränderung, die als myostatische Kontraktur bezeichnet wird. Messbar ist die myostatische Kontraktur ein dunkelrotes Filterglas vor das fixierende Auge hält, als Erhöhung der Federkonstanten. Die Federkonstante ist werden zwar auch Verdunkelung und Konturenentzug definiert als diejenige Kraft, die benötigt wird, um den ausgenutzt, nicht aber der Einfluss des Fixationswechsels. Muskel um 1 mm zu dehnen. Deswegen ist der Bielschowsky-Test dem Fixationswech- Die myostatische Kontraktur des ipsilateralen Antago- seltest bei der Aufdeckung einer dissoziierten Schielkomponente unterlegen (52). nisten entwickelt sich aufgrund einer allgemeinen Eigen- Das dissoziierte Schielen ist in der Regel vertikal. Oft zeigt es dabei eine torsionale Komponente: Das nach oben abweichende Auge wird exzykloduziert (im Gegen- erkennen lässt, das durch einen Gipsverband immobilisiert wurde: Die Muskulatur schrumpft, wenn sie nicht mehr gedehnt wird (23, 40, 72). Daher ist das Bein steif, satz zur Skew Deviation, bei der das aufwärts schielende wenn der Gipsverband nach einiger Zeit entfernt wird. Auge inzykloduziert ist (S. 471). Entsprechend kann man ein Auge nur noch schwer mit Bei der sehr seltenen horizontalen Form des dissoziierten Schielens (125) ist abzuklären, ob nicht eher eine un- der Pinzette über die Mittellinie nach außen ziehen, korrigierte Anisometropie vorliegt: Bei Fixation mit dem gar Monate in Adduktion verblieben ist. stärker hyperopen Auge würde sich ein größerer Konvergenzwinkel ergeben als bei der Fixation mit dem weniger Glücklicherweise verliert sich die Kontraktur des M. rectus medialis, wenn der M. rectus lateralis seine hyperopen Auge. Kraft zurückgewinnt. Daher kann die Augenbeweglichkeit schaft der Muskulatur, die sich z. B. auch an einem Bein wenn es wegen einer Abduzenslähmung Wochen oder selbst nach monatelanger Lähmung wieder völlig normal Das dissoziierte Vertikalschielen ist dem Lichtrückenreflex des Fisches ähnlich. Der Lichtrückenreflex bewirkt, dass sich die beim Fisch seitlich stehenden Augen symmetrisch zu dem von oben einfallenden Licht einstellen (35): Schwimmt der Fisch zur rechten Seite geneigt, fällt in sein rechtes Auge weniger Licht als in sein linkes. Um diesen Unterschied auszugleichen, hebt er sein rechtes und senkt sein linkes Auge. Brodsky (11) hat die Hypothese vorgeschlagen, dass der Lichtrückenreflex beim Menschen noch als Erbe aus der Evolutionsgeschichte angelegt sei und sich bei mangelhaft entwickeltem Binokularsehen manifestieren könne. Sekundärveränderungen werden. y Kontralateraler Synergist und kontralateraler Antagonist (linker M. rectus medialis und linker M. rectus lateralis in Abb. 4.27). Am frei beweglichen Partnerauge bleibt die Innervation normalerweise unverändert. Man erkennt dies daran, dass der Patient bei Okklusion des paretischen Auges mit seinem frei beweglichen Auge geradeaus schaut und keine Kopfzwangshaltung einnimmt. Nur wenige von einer Lähmung betroffene Patienten benützen ihr paretisches Auge zur Fixation. Im Beispiel der Abb. 4.27 ist es das rechte Auge. Am frei beweglichen linken Auge findet sich dann das einem normalen Rechtsblick entsprechende Innervationsmuster. y Paretischer Muskel (rechter M. rectus lateralis in Abb. 4.27). Eine Lähmung führt zur Verlängerung des betroffenen Muskels. Theoretisch könnte die damit verbundene Dehnung die Muskelspindeln reizen. Dies führt aber Latente Parese und kompensatorische Kopfhaltung nicht zu einer Aktivierung intakt gebliebener Motoneurone, denn es gibt im Augenmuskel keinen Eigenreflex (90). Eine Parese, die nicht allzu stark ausgeprägt ist, kann durch Fusion überwunden werden. Oft gelingt dies nur n Im Augenmuskel gibt es keinen Eigenreflex. in dem Blickfeldbereich, in dem die Abweichung gering ist. Um diesen Blickfeldbereich nützen zu können, Damit unterscheidet sich der Augenmuskel vom Skelett- nimmt der Patient eine kompensatorische Kopfhaltung muskel (man denke an den Kniescheibensehnenreflex). ein. Bei einer Parese des rechten M. rectus lateralis bevor- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 444 G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen zugt der Patient das linke Blickfeld und wendet seinen duzierende Sakkade verlangsamt, und die adduzierende Kopf nach rechts. Allgemein gilt: hat die Form einer Zuckung mit Rückdrift. Bei der n Der Patient wendet seinen Kopf in die Richtung, in frühkindlichen Esotropie ist die abduzierende Sakkade normal schnell, und es folgt ihr eine nystagmische die der gelähmte Muskel das Auge drehen sollte. 445 Rückdrift. Eine Lähmung, die durch Fusion überwunden wird, bezeichnet man als latente Parese. Um sicher zu sein, dass Diplopie und Konfusion man eine latente Parese nicht übersieht, sollte man bei latentem Schielen den Winkel unter Ausschluss der Fusion Die meisten von einer Augenmuskellähmung betroffenen und stets in mehreren Blickrichtungen messen, zum Beispiel an einer Tangententafel mit Dunkelrotglas. Handelt Patienten klagen über Diplopie (= Doppelsehen = Doppeltsehen). Die Diplopie kommt dadurch zustande, dass ein es sich um ein latentes Horizontalschielen, genügt der und derselbe Gegenstand auf nichtkorrespondierenden Vergleich zwischen Rechts- und Linksblick. Bei latentem Netzhautstellen abgebildet wird. Gleichzeitig werden unterschiedliche Gegenstände auf korrespondierenden Netzhautstellen abgebildet. Die da- Kopfneigung gemessen werden. durch entstehende Konfusion mit binokularem Wettstreit wird wegen Suppression eines Bildes meistens nicht Veränderungen der raschen Augenbewegungen wahrgenommen. Bei einer Parese laufen die raschen Augenbewegungen in Orientierungsstörungen der Zugrichtung des gelähmten Muskels verlangsamt ab; in entgegengesetzter Richtung haben sie die Form einer Patienten, die mit ihrem paretischen Auge fixieren, ent- Zuckung (4, 69, 112). In Abb. 4.28 ist dies am Beispiel weder spontan oder durch Okklusion erzwungen, leiden einer linksseitigen Abduzensparalyse wiedergegeben. unter Orientierungsstörungen, die z. B. als Vorbeizeigen Die Abduktionssakkade ist verlangsamt, da die Kraft des M. rectus lateralis zur Beschleunigung des Bulbus fehlt. (Past Pointing) deutlich werden: Lässt man einen Kranken mit einer rechtsseitigen Abduzensparese bei Fixation des Nur durch Hemmung des M. rectus medialis gleitet der gelähmten Auges mit dem Finger rasch auf einen vor- Bulbus aus seiner Adduktionsstellung. gehaltenen Gegenstand stoßen, so weicht sein Finger Bei der Adduktionssakkade spiegelt die Zuckung das nor- nach rechts ab. male Innervationsverhalten des M. rectus medialis wider (S. 63): Der Puls beschleunigt das Auge; mit der Stufe drif- n Beim Zielen mit dem paretischen Auge weicht der zeigende Finger in die Zugrichtung des paretischen Muskels ab. tet das Auge wieder etwas zurück. n Bei einer Abduzenslähmung „schleicht“ der Bulbus während der Abduktionssakkade während der Adduktionssakkade. und „zuckt“ Der Grund für die falsche Lokalisation ist, dass das Gehirn die Ausrichtung des fixierenden Auges nicht nach dessen tatsächlicher Stellung beurteilt, sondern nach dem Inner- Differenzialdiagnose zwischen beidseitiger Abduzens- vationsaufwand, mit dem das Auge in diese Stellung ge- paralyse und einer frühkindlichen Esotropie mit Abdukti- bracht wurde. Bei einer Lähmung ist dies irreführend: onseinschränkung: Bei der Abduzensparalyse ist die ab- Um das rechte Auge bei einer rechtsseitigen Abduzensläh- y mung in Mittelposition fixieren zu lassen, ist Rechtsblickinnervation erforderlich. Folglich wähnt das Gehirn das Auge im Rechtsblick, obwohl es tatsächlich geradeaus blickt. Die falsche Lokalisation stört nicht nur beim Zielen mit der Hand, sondern auch beim Laufen. So kann es vorkommen, dass ein Patient mit einer rechtsseitigen Abduzensparese am rechten Pfosten einer Tür anstößt. Der Lokalisationsfehler des Gehirns ist um so größer, je Abb. 4.28 Abduzensparalyse links. Die Abduktionssakkade des linken Auges (erste Auslenkung des unteren Kurvenzugs) ist verlangsamt, die Adduktionssakkde (zweite Auslenkung des unteren Kurvenzugs) hat die Form einer Zuckung. weiter der Blick in die Zugrichtung des paretischen Muskels gewendet wird. Beim freien Umherblicken ändert sich die visuelle Lokalisation der Umwelt dauernd. Viele Patienten beschreiben diese Störung als Schwindel. Auch Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Vertikalschielen muss in neun Blickrichtungen und bei 446 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik die vestibulären Kompensationsbewegungen (S. 69) fallen Die Regenerationsfähigkeit der Nervenfasern ist im am paretischen Auge zu klein aus. Die daraus folgende, Prinzip unbegrenzt. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich vom Gehirn nicht erwartete Verschiebung des Netzhautbildes führt zu unzweckmäßigen Ausgleichbewegungen des Körpers (8, 110). Der Patient macht dann einen unbe- neurogene Paresen nach Ablauf von 12 Monaten nur noch ausnahmsweise bessern (25). Ist eine Erholung nach dieser Zeit nicht eingetreten, muss man davon aus- holfenen Eindruck und kann bis zur Übelkeit beeinträch- gehen, dass die ausgesprossten Axone auch zukünftig tigt sein. Diese Symptome können eine Allgemeinkrank- nicht zum Muskel finden werden. Entweder besteht die heit vortäuschen. ursprüngliche Schädigungsursache fort (z. B. der Druck eines Tumors) oder die Nervenfasern können das Narben- n Der von der Augenmuskelparese ausgelöste Lokalisationsfehler des Gehirns kann Schwindel, Übelkeit und unkoordinierte Körperbewegungen bewirken. Zur Differenzierung ist eine diagnostische Okklusion des paretischen Auges sinnvoll. gewebe an der Läsionsstelle nicht durchdringen. Bei unvollständiger Lähmung ist die Aussicht auf Heilung günstiger als bei vollständiger. Der Grund ist, dass die Muskelfasern bei unvollständiger Lähmung nicht nur von den Nervenfasern gefunden werden können, die Sprossen, die innerhalb des Muskels von intakt gebliebe- gen meist innerhalb weniger Tage, indem sich das Gehirn nen Nervenfasern abzweigen. an die Lähmung anpasst (S. 447 f). Nervenschäden und deren Heilung Sekundäre Konkomitanz Lähmungsbedingte Inkomitanzen können nach Monaten Bei der Läsion motorischer Nerven unterscheidet man drei ihre typische Ausprägung verlieren. Dies ist in einigen Fäl- verschiedene Schweregrade: len gut dokumentiert (4, 51). n Neurapraxie: Obwohl die Nervenfasern nicht struktu- rell unterbrochen sind, können sie keine Aktionspoten- n Inkomitantes, durch eine Lähmung hervorgerufe- tiale leiten. n Axonotmesis: Die Nervenfasern sind unterbrochen, die nes Schielen kann allmählich in konkomitantes Schielen übergehen. Eine solche sekundäre Konkomitanz ist jedoch selten und tritt keineswegs zwangsläufig auf. Schwann-Scheiden sind aber intakt geblieben. n Neurotmesis: Sowohl die Nervenfasern als auch die Schwann-Scheiden sind durchtrennt. In allen drei Fällen kann die Lähmung des Muskels voll- Vom nichtparetischen Begleitschielen kann die sekundäre ständig sein. Erst im Verlauf lässt sich zwischen den drei Konkomitanz nur durch die Vorgeschichte unterschieden Schweregraden unterscheiden. Bei der Neurapraxie erholt werden. Bei konkomitant schielenden Kindern kann sich die Funktion rasch, sodass man bereits nach einigen Tagen oder wenigen Wochen eine wesentliche Besserung zwar ursprünglich eine Parese vorgelegen haben. Dies ist aber äußerst selten. feststellen kann. Nach einer Axonotmesis und nach einer In Abb. 4.29 ist die Entwicklung der sekundären Kon- Neurotmesis kommt es zu einer Degeneration des distalen komitanz am Beispiel einer linksseitigen Abduzensparese Nervenfaserabschnitts, und der Stumpf muss erst aus- schematisch wiedergegeben. Bei der frischen Lähmung wachsen, bis die Nervenfaser wieder Kontakt mit dem findet sich eine inkomitante Esotropie: Lässt man das ge- Muskel aufnehmen kann. Bei der Axonotmesis ist die Re- sunde rechte Auge drei Positionen einnehmen, die in generation problemlos, da die Nervenfasern die ihnen ur- gleich großen Abständen über das Blickfeld verteilt sind, sprünglich zugeordneten Muskelfasern wieder finden, indem sie durch den Führungsschlauch der intakt geblie- so zeigt sich, dass das linke Auge mit zunehmendem Linksblick immer weiter zurückbleibt. Ein Jahr später benen Schwann-Scheiden auswachsen. Bei der Neurotme- hat sich das Bild gewandelt: Der Schielwinkel nimmt bei sis sind die Schwann-Scheiden zerstört, und die auswach- Linksblick nicht mehr zu, und die Abstände zwischen senden Nervenfasern müssen ihren Weg durch eine bin- den drei Positionen sind jetzt an beiden Augen gleich degewebige distalen groß: Es ist ein konkomitantes Schielen entstanden. Ver- Schwann-Scheiden erreichen. Dabei können sie sich leicht gleicht man den alten mit dem neuen Zustand, so zeigt „verirren“, indem sie auf Schwann-Scheiden treffen, die sie in einen falschen Muskel leiten (104). Die Folge ist eine Fehlinnervation, die sich hauptsächlich beim sich die Besserung vor allem bei der 3. Position. Daraus N. oculomotorius störend auswirkt, da nur dieser Nerv Blickfeld schließen. Narbe suchen, bevor sie die kann man auf eine gute Heilung im Wirkungsfeld des paretischen Muskels und auf eine weniger gute im mittleren mehrere Augenmuskeln versorgt (4.2.4). Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. vom zentralen Stumpf auswachsen, sondern auch von Glücklicherweise verschwinden die Orientierungsstörun- G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen 447 Differenzialdiagnose bei konkomitanter Esotropie nach Abduzensparese: n Es kann bereits vor der Lähmung eine Esophorie bestanden haben, die infolge der Parese manifest geworden ist. n Es kann eine Kombination von Augenmuskellähmungen zu einer Konkomitanz geführt haben, wenn zu einer rechtsseitigen eine linksseitige Abduzensparese hinzugekommen ist. Zentralnervöse Kompensation Bei Lähmungen, die fusional überwunden werden, kommt es zu einer zentralnervösen Kompensation. Diese zeigt sich darin, dass der unter Trennung des Binokularsehens (z. B. an einer Tangententafel mit Dunkelrotglas) gemessene Schielwinkel kleiner wird. Eine solche Anpassungs- Was hat sich inzwischen abgespielt? Die für starke Abduktion zuständigen Nervenfasern sind besser regeneriert fähigkeit ist als Orthophorisation bekannt (59, 100). Im Falle des Lähmungsschielens kann der Winkel je nach als diejenigen, die für die Muskelspannung im mittleren Blickrichtung um einen unterschiedlichen Betrag ange- Blickfeld zuständig sind (51). Anders ausgedrückt: Bei se- passt werden (2, 31, 99, 120), so z. B. bei einer rechtsseiti- kundärer Konkomitanz haben die hochschwelligen Ner- gen Abduzensparese mehr im rechten als im linken Blick- venfasern den Wettlauf der Reinnervation gewonnen und feld. Dadurch kann das Fusionsblickfeld größer werden, sind zu vielen Muskelfasern ausgesprosst, bevor die nie- obwohl der eigentliche Heilungsvorgang am Nerven derschwelligen Nervenfasern zur Stelle waren. noch nicht in Gang gekommen ist. Für die prognostische Bielschowsky (4) vermutete als Ursache der sekundären Konkomitanz eine Kontraktur des ipsilateralen Antagonis- Beurteilung bedeutet dies, dass eine Besserung des Beschwerdebildes nicht unbedingt als Heilung der ursächli- ten. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Kontraktur des chen Läsion gedeutet werden darf. M. rectus medialis das linke Auge um so stärker zurück- Bei Vertikalmotorenparesen spielt auch eine Rolle, wie halten würde, je weiter es abduziert werden sollte. Die Kontraktur müsste also besonders in der 3. Position der der Patient während der Anpassung seinen Kopf hält (67). Neue Untersuchungen sprechen dafür, dass dabei Abb. 4.29 eine Besserung behindern und sich im Sinne propriozeptive Meldungen des N. trigeminus hilfreich einer Inkomitanz, nicht einer Konkomitanz, auswirken. sind (60). Bielschowsky hatte offenbar selbst Zweifel an seiner Erklärung, denn er schrieb (4, S. 99): „Man kann sich freilich schwer vorstellen, wodurch die relativ weit gehende Bei nur mäßig ausgeprägter Parese sollte man versuchen, das Binokularsehen mit Hilfe von Prismen auf- Gleichmäßigkeit der spastischen Verkürzung des Antago- fachsehens zunächst nur klein und für den Patienten nisten zustande kommt.“ kaum brauchbar ist, kann es sich innerhalb von Tagen Wie aus Abb. 4.29 hervorgeht, entsteht die sekundäre zubauen. Selbst wenn das erzielte Feld binokularen Ein- Konkomitanz nicht nur durch Abnahme des Schielwinkels durch zentralnervöse Anpassung wesentlich vergrößern (47). Wichtig ist, dass durch die Prismen überhaupt erst in der 3. Position, sondern auch durch Zunahme des einmal die Chance zur Aufnahme binokularer Zusammen- Schielwinkels in der 1. Position. Als Erklärung kommt zwar die auf S. 444 beschriebene myostatische Kontraktur arbeit geboten wird. Mit der Anpassung kann sich nicht nur der Schielwinkel des Antagonisten in Betracht. Möglicherweise spielt aber eine größere Rolle, dass das adduzierende Drehmoment verringern, sondern es kann sich auch der Ablauf der Au- der geraden Vertikalmotoren bei länger bestehender Abdu- zenslähmung zunimmt. Normalerweise ist es nur gering, innervatorischen Pulses die Verlangsamung der Sakkaden immerhin teilweise aus (20, 53, 79, 120). Auch werden die weil die Umlenkschlaufen (S. 33 f, 61) ein Abrutschen Folgebewegungen durch Anpassung beschleunigt (80). genbewegungen bessern. So gleicht eine Verstärkung des bei der Adduktion verhindern. Wenn das Auge aber Eine Anpassung der Sakkadenamplitude spielt nicht nur wegen Lähmung des M. rectus lateralis lange Zeit in Adduktion steht, werden die Umlenkschlaufen überdehnt, bei Paresen eine Rolle, sondern auch bei ungleicher Größe der Netzhautbilder, so z. B., wenn eine Anisometropie und die Vertikalmotoren können nach nasal abrutschen. durch eine Brille korrigiert wurde: Bereits nach 20 min Dabei erhalten sie ein adduzierendes Drehmoment. macht das Auge, dessen Netzhautbild vergrößert wurde, Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Abb. 4.29 Sekundäre Konkomitanz. Entwicklung einer konkomitierenden Esotropie aus einer Abduzensparese. Die schwarzen Scheiben symbolisieren die Pupillenpositionen in drei verschiedenen Blickrichtungen. 448 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik größere Sakkaden als das Partnerauge. Eine solche Anpas- Patienten eingesetzte Blickimpuls auf beide Augen gleich sung kann sogar bei Mikrostrabismus gelingen (41). aus. An den Skelettmuskeln ist das anders: Eine leichte n Orientierungsstörungen (Störungen der egozen- Lähmung des Arms muss nicht auffallen, da die Muskelkraft auf der rechten und linken Seite schon vor Eintritt trischen Lokalisation) verschwinden nach Tagen durch zentralnervöse Anpassung. einer Parese verschieden ist. Ferner kann der Patient eine Lähmung vortäuschen, indem er sich bei der Prüfung In den meisten Fällen genügt es, den Schielwinkel bei benutzt, sind die Orientierungsstörungen in wenigen Blickauslenkungen um 20h zu bestimmen. Stärkere Blick- Tagen verschwunden. Wird der Patient dann plötzlich ge- auslenkungen sind nur erforderlich, wenn das Inkomit- zwungen, mit dem frei beweglichen Auge zu fixieren, wirkt die Anpassung zunächst fort, und der Patient greift anzverhalten im mittleren Blickfeld nicht eindeutig ist. Bei der Bewertung muss man allerdings berücksichtigen, in der umgekehrten Richtung vorbei. Um dem Patienten dass auch Gesunde bei extremer Blickauslenkung eine In- ein ständiges Hin und Her seiner Anpassung zu ersparen, komitanz aufweisen können. Auf eine Schielwinkel- sollte man eine Okklusion, die zur Vermeidung von Dop- bestimmung bei Blickauslenkungen von nur 5, 10 und pelbildern erforderlich ist, immer auf ein und dem selben, 15h kann man verzichten, wenn man nur feststellen will, in der Regel dem paretischen Auge tragen lassen. welche Muskeln gelähmt sind. Für therapeutische Entscheidungen sind diese Messwerte aber nützlich, so z. B. für die Planung einer Ausgleichsoperation am nicht paretischen Auge oder für die Beurteilung, ob eine Prismen- 4.2.2 Allgemeine Diagnostik Eine Lähmung kann die Muskeln eines oder beider Augen brille Hilfe verspricht. Subjektive Untersuchungen betreffen. Bei der Analyse einer beidäugigen Lähmung ist man auf die Messung der monokularen Bewegungsstrecke Subjektive Untersuchungen, bei denen man sich auf die (monokulares Blickfeld, S. 133) angewiesen. Normalerweise beträgt die monokulare Bewegungsstrecke bei Ab- Angaben des Patienten stützt, lassen sich rascher und genauer durchführen als objektive Messungen. Vorausset- duktion und Adduktion etwa 50h, bei Hebung 40h und zungen für subjektive Tests sind aber ein ausreichendes bei Senkung 60h (24, 26, s. Abb. 1.79). Allerdings kann Sehvermögen beider Augen, eine normale Netzhautkor- man das Ausmaß der Lähmung an der monokularen respondenz und keine Suppression. Bewegungsstrecke nicht sicher ablesen, da der Blick- Besonders geeignet ist die Tangententafel nach Harms (27, Kap. 3.1), da die Kopfhaltung und damit die Blickrich- impuls von der Mitarbeit des Patienten abhängt. tung an diesem Gerät besonders gut zu kontrollieren ist. n Ist die Lähmung auf ein Auge beschränkt, sollte man stets die Möglichkeit nützen, die Beweglichkeit des paretischen Auges mit der des gesunden Auges zu vergleichen. Dabei ergibt sich der Vorteil, dass man an der Position des Ein weiterer Vorteil der Tangententafel nach Harms besteht darin, dass sie, im Gegensatz zur Untersuchung am Hess-Schirm, eine Messung der Zyklodeviation erlaubt. Objektive Untersuchungen gesunden Auges feststellen kann, welchen Blickimpuls der Patient gerade einsetzt. Fehlen die Voraussetzungen für eine subjektive Prüfung, Um die Beweglichkeit beider Augen vergleichen zu können, muss man ausschließen, dass der Patient die Bilder so muss man sich auf den objektiven Befund (Kap. 3.1) stützen. Dabei sollte man die Schielstellung in den ver- beider Augen fusioniert. Nur wenn man den Schielwinkel schiedenen Blickrichtungen beurteilen, indem man über mit einem das Binokularsehen dissoziierenden Test in eine Taschenlampe peilt und beobachtet, ob das schie- mehreren Blickrichtungen misst, kann man eine latente lende Auge bei Drehung des Patientenkopfes im Vergleich Parese erfassen und von latentem Begleitschielen unter- zum Hornhautreflex zurückbleibt (Abb. 4.30). Ungenau und scheiden. daher nur bei grober Parese empfehlenswert ist es, die Be- An der Inkomitanz lässt sich eine Lähmung selbst dann weglichkeit allein nach der Position der Hornhaut in feststellen, wenn sie nur sehr gering ist. Dies liegt an zwei Besonderheiten der Augenmuskeln: Zum einen kann man Bezug auf die Lidspalte zu beurteilen. Ausmessen lässt sich eine einseitige Parese mit dem al- davon ausgehen, dass die Muskelkraft vor Eintritt der Pa- ternierenden Prismenabdecktest, den man in mehreren rese seitengleich war. Zum anderen wirkt sich der vom Blickrichtungen ausführt. Untauglich ist diese Methode Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. eines Arms weniger anstrengt als bei der des anderen. Wenn der Patient das paretische Auge ständig zur Fixation G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen 4.2.3 449 Spezielle Diagnostik Regeln Bei einseitiger Parese erfolgt die Feststellung des gelähmten Muskels aufgrund von zwei Regeln: 1. Die Blickposition mit der größten Schielabweichung zeigt die Wirkungsrichtung des gelähmten Muskels an. 2. Das Vorzeichen der Schielabweichung zeigt an, ob ein Muskel des rechten oder des linken Auges mit der nach der 1. Regel ermittelten Wirkungsrichtung gelähmt ist. Dabei sind folgende Vorzeichen zu unter- Konvergenz p C - Divergenz p D - rechtes über linkem Auge p S - rechtes unter linkem Auge p – Wie die beiden Regeln angewandt werden, zeigen die folAbb. 4.30 Lähmung des linken M. rectus lateralis. Der Untersucher peilt über ein Fixierlicht und beobachtet, wie sich der Reflex auf der linken Hornhaut nach temporal verschiebt, wenn er den Kopf des Patienten nach rechts dreht. genden Beispiele. Im Falle der Abb. 4.30 findet sich die größte Schielabweichung bei Linksblick; nach der 1. Regel ist also ein Linkswender gelähmt. Infrage kommen entweder der rechte M. rectus medialis oder der linke M. rectus lateralis. Nach der 2. Regel entscheidet man zwischen diesen allerdings, wenn eines der Augen die Fixation nicht auf- beiden Muskeln: Da es sich um eine konvergente Abweichung handelt (Vorzeichen „C“), muss ein Auswärtswen- nehmen kann. Diese Situation kommt in der neuro- der gelähmt sein. Betroffen ist also der linke M. rectus ophthalmologischen Diagnostik öfters vor, zum Beispiel, lateralis. wenn außer einem Augenmuskelnerv auch ein Sehnerv geschädigt ist. In den Beispielen der Abb. 4.31, 4.32 und 4.34 sind Messergebnisse wiedergegeben, die an der Tangententafel nach Harms gewonnen wurden. (Obwohl eine Schielwinkelbestimmung bei Fixation des paretischen Auges für die Fusionsblickfeld Diagnose einer Augenmuskellähmung unnötig ist [4.2.1], sind die entsprechenden Werte hier aus didaktischen Um die Behinderung des Patienten angemessen zu beur- Gründen aufgeführt.) teilen, muss man untersuchen, wie die beiden Augen in den verschiedenen Blickrichtungen zusammen arbeiten. Dies geschieht bei der Prüfung des Fusionsblickfelds. Da Abduzensparese manche Patienten ein Auge exkludieren, empfiehlt es sich, das Binokularsehen in den verschiedenen Blickrich- Im Beispiel der Abb. 4.31 findet sich die größte Schiel- tungen mit Streifengläsern oder mit einem Stereotest zu überprüfen. Bei Verdacht auf Zyklotropie sollte man das abweichung bei Rechtsblick; nach der 1. Regel muss ein Rechtswender gelähmt sein. Zwischen den beiden Rechts- Fusionsblickfeld nicht nur mit einem Fixierlicht, sondern wendern, dem rechten M. rectus lateralis und dem linken auch mit einem horizontalen Strich ermitteln. M. rectus medialis, unterscheidet man nach der 2. Regel aufgrund des Vorzeichens: Da eine konvergente Abweichung vorliegt, muss der rechte M. rectus lateralis betroffen sein. Der Höherstand des rechten Auges von nur 1h bei Rechtsblick ist ohne Bedeutung; er zeigt nicht etwa an, dass auch ein Vertikalmotor gelähmt sei. Bei ausgeprägter Lähmung eines Horizontalwenders findet man nämlich fast stets auch eine geringe Höhenabweichung, und Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. scheiden: 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik Abb. 4.31 Parese des rechten M. rectus lateralis (Tangententafel nach Harms). Abb. 4.32 Parese des rechten M. obliquus superior. Die Diagnose stützt sich auf das bei Blick nach links unten zunehmende Aufwärtsschielen des rechten Auges, auf die Zunahme des Schielwinkels bei Kopfneigung nach rechts und auf die Exzyklotropie. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 450 G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist zu bedenken, dass Seite des paretischen Auges verstärkt sich die vertikale die Innervation der Vertikalmotoren für die ursprüngliche Abweichung, bei Neigung zur Gegenseite nimmt sie ab freie Beweglichkeit programmiert war. Dieses Programm, in dem zufällige Anomalien des Bänder- und Muskelappa- (s. Abb. 4.32). Der Patient bevorzugt deshalb eine Neigung zur Gegenseite der Parese (Abb. 4.33). Dieses Kopfneige- rats berücksichtigt waren, passt nicht mehr. Zum anderen phänomen hat Nagel (76) als erster beschrieben. Biel- kann eine Vertikalabweichung bei großem horizontalem schowsky hat das Phänomen genauer untersucht und Schielwinkel dadurch vorgetäuscht werden, dass der bekannt gemacht. Kopf bei der Messung ein wenig zu einer Schulter geneigt wurde. 451 Das Kopfneigephänomen beruht auf einer Störung des Otolithenreflexes. Wie auf S. 70 im Abschnitt über die Phy- siologie dargestellt, wirkt die Schwerkraft bei geneigtem Trochlearisparese Kopf aus einer schrägen Richtung auf den Otolithenapparat. Dies löst eine Gegenrollung der Augen um die sagitAugen durch eine Innervationsänderung aller acht Ver- abweichung beim Blick nach links unten. Nach der tikalmotoren: Vier von ihnen werden aktiviert, und die 1. Regel kommt als gelähmter Muskel entweder der anderen vier werden gehemmt. linke M. rectus inferior oder der rechte M. obliquus supe- Wie wirkt sich der Otolithenreflex z. B. bei einer rechts- rior in Betracht. Das positive Vorzeichen zeigt einen seitigen Obliquus-superior-Parese aus? Bei Kopfneigung Höherstand des rechten Auges an. Nach der 2. Regel handelt es sich also um eine Parese des rechten M. obliquus nach rechts sollte eigentlich der rechte M. obliquus superior aktiv werden. Ist der Muskel gelähmt, fehlt seine ein- superior. wärts rollende Wirkung. Es fehlt aber auch seine sen- Als weiterer Hinweis auf eine Lähmung des M. obliquus kende Wirkung, und daher weicht das Auge nach oben ab. superior findet sich eine Exzyklotropie: Das rechte Auge Das Ausbleiben der senkenden Wirkung des M. obliquus ist auswärts verrollt, sodass horizontale Linien auf einem schrägen Netzhautmeridian abgebildet werden superior bei Kopfneigung erklärt jedoch nur eine Zunahme des Höhenschielens um etwa 2,8h (89). Tatsächlich und dem Patienten nach links gekippt erscheinen. Am beträgt aber die Schielwinkeländerung oft mehr als 10h größten ist die Exzyklotropie bei Abblick. Dies liegt daran, dass die einwärts rollende Wirkung des M. obliquus supe- (105). Man nimmt daher an, dass das Kopfneigephänomen zusätzlich durch eine Anpassung des Otolithenreflexes rior vor allem bei Abblick fehlt. entsteht, die dem Patienten hilft, mit seiner Lähmung zu- Eselsbrücke zur Erkennung des gelähmten M. obliquus superior: recht zu kommen (49, 50, 89). Dies sei wiederum am Beispiel einer Lähmung des rechten M. obliquus superior erklärt (Abb. 4.33): Um binokula- n Man zeigt dem Patienten im unteren Blickfeld res Einfachsehen mit einer möglichst geringen Kopfnei- einen horizontalen Stab. Diesen sieht er so doppelt, dass die beiden Bilder einen Winkel zueinander bilden. Die Spitze des Winkels deutet wie ein Pfeil zur Seite des gelähmten M. obliquus superior. gung zur linken Schulter zu erreichen, wird der Otolithenreflex verstärkt, sodass die noch funktionierenden drei schrägen und vier geraden Vertikalmuskeln beider Typisch für die Trochlearisparese ist auch eine V-Inkomitanz mit leichter Konvergenzstellung bei Abblick. Als Erklärung galt bisher, der M. obliquus superior habe sein abduktorisches Drehmoment verloren. Neuerdings wird diese Erklärung angezweifelt (71): In der Regel habe der M. obliquus superior gar kein abduktorisches Drehmoment, da seine Sehne nicht hinter der Vertikalachse des Bulbus verlaufe. Ursache der Konvergenzstellung bei Abblick sei vielmehr der M. rectus inferior, dessen Ansatz wegen der Exzyklotropie nach nasal verlagert sei und daher ein adduktorisches Drehmoment bekommen habe. Kopfneigephänomen nach Nagel und Bielschowsky Ein weiteres Kennzeichen der Obliquus-superior-Parese ist das Kopfneigephänomen: Bei Neigung des Kopfes zur Abb. 4.33 Obliquus-superior-Parese (rechts) nach Abscherung der Trochlea durch einen Glassplitter. Zunahme der Schielwinkels bei ipsilateraler Kopfneigung (Bielschowsky-Phänomen). Bei der spontan bevorzugten kontralateralen Kopfneigung keine Schielabweichung. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. tale Achse aus. Bewirkt wird diese Gegenrollung beider Im Beispiel der Abb. 4.32 findet sich die größte Schiel- 452 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik Augen bereits bei geringer Linksneigung des Kopfes so innerviert werden, als wenn der Kopf stark nach links geneigt würde. Diese Verstärkung des Otolithenreflexes wird mit einer Schielwinkelvergrößerung bei Rechtsnei- das Auge wegen Exotropie in Abduktion, nimmt die hebende Wirkung des M. rectus superior stärker zu als die senkende Wirkung des M. obliquus superior. Steht das Auge wegen Esotropie in Adduktion, sind die Verhältnisse umgekehrt. gung des Kopfes erkauft, was allerdings nicht stört, da die Rechtsneigung des Kopfes ohnehin gemieden wird. Okulomotoriusparese Dynamisches Kopfneigephänomen Kopfneigephänomen bei nichtparetischem Schrägschielen Auch bei nichtparetischem Schrägschielen kommt ein Kopfneigephänomen vor (33, 65). Bei Exotropie führt Kopfneigung zur Seite des schielenden Auges zur Hebung, bei Esotropie zur Senkung des schielenden Auges. Erklärt werden diese Befunde folgendermaßen (65): Wie bei der normalen Gegenrollung auch, werden zwei Vertikalmotoren des gleichseitigen Auges aktiviert, der M. rectus superior und der M. obliquus superior. Steht Abb. 4.34 In Abb. 4.34 findet sich die größte horizontale Abweichung bei Linksblick. Aufgrund des divergenten Vorzeichens lässt sich schließen, dass der rechte M. rectus medialis (und nicht der linke M. rectus lateralis) gelähmt ist. Die größte vertikale Abweichung besteht beim Blick nach oben. Das negative Vorzeichen zeigt eine Hebungseinschränkung des rechten (und nicht des linken) Auges an. Da das Hebungsdefizit bei Abduktion und Adduktion gleich groß ist (es beträgt jeweils 15h), muss sowohl der M. rectus superior als auch der M. obliquus inferior gelähmt sein. Beim Blick nach unten schlägt die negative Vertikaldivergenz in eine positive um. Daraus ist zu erkennen, dass auch die Senkung des rechten Auges eingeschränkt ist. Da die positive Vertikalabweichung bei Abduktion (S14h) größer ist als bei Adduktion (S7h), muss der M. rectus inferior paretisch sein (und nicht der Rechtsseitige Okulomotoriusparese. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Das dynamische Kopfneigephänomen ist zu beobachten, wenn die Lähmung des M. obliquus superior zusammen mit einer gleichseitigen Lähmung des M. obliquus inferior auftritt. Diese Kombination kommt bei supranukleären Mittelhirnläsionen vor (47, 48). Während des Kopfneigens entsteht am betroffenen Auge ein Nystagmus, dessen langsame Phase bei ipsilateraler Kopfneigung nach oben gerichtet ist, bei kontralateraler nach unten. Es handelt sich dabei nicht um eine Störung des Otolithenreflexes, wie beim statischen Kopfneigephänomen nach Nagel und Bielschowsky, sondern um eine Störung des Bogengangreflexes. G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen M. obliquus superior). Bei Fixation des rechten Auges sind Durch die multiple Sklerose können die Augenmuskelner- im linken oberen Blickfeldbereich keine Schielwinkel ver- ven nur in ihrem faszikulären Verlauf durch das Gehirn zeichnet, da das gelähmte Auge die dort liegenden Blickziele nicht erreichen konnte. betroffen werden. Außerhalb des Gehirns greift die multiple Sklerose die Nerven nicht an. Dass im Beispiel der Abb. 4.34 alle dem Nervus oculomotorius zugeordneten Muskeln gelähmt sind, nämlich 453 Im Folgenden werden spezielle Aspekte der Lähmungen des III., IV. und VI. Hirnnerven herausgestellt. der Rectus medialis, der Rectus superior, der Rectus inferior und der Obliquus inferior, lässt auf einen Schaden Okulomotoriusparese dieses Nerven schließen. Kerngebiet Das Kerngebiet des N. oculomotorius wird nur selten isoliert betroffen, allenfalls von einer Durch- Diagnostische Bedeutung der Lähmungen des III., IV. und VI. Hirnnerven blutungsstörung (7, 86). Bei Tumoren werden wegen der engen Nachbarschaftsbeziehung fast immer auch supranukleäre Strukturen lädiert. Die vom N. oculomotorius versorgten äußeren Augenmuskeln sind mit Ausnahme des M. rectus superior im ipsilateralen Kerngebiet repräsentiert. Da die Nervenfasern Nachdem bestimmte Augenmuskeln als gelähmt identifiziert worden sind, muss entschieden werden, ob das Ge- für die Mm. recti superiores bereits im Kerngebiet zur anderen Seite kreuzen, findet man bei einseitiger Läsion des samtbild dem einer Hirnnervenläsion entspricht. Ist dies Kerngebiets außer einer Lähmung der ipsilateral vom nicht der Fall, muss eine mechanische, myasthenische N. oculomotorius versorgten Muskeln auch eine Lähmung oder eine supranukleäre Lähmung in Betracht gezogen des kontralateralen M. rectus superior. werden. In jedem Fall sollte man Ort und Art der Läsion klären. n Da die Okulomotoriuskerne beider Seiten sehr Häufige Grundkrankheiten der Lähmungen des III., IV. und VI. Hirnnerven sind Trauma, Tumor, Aneurysma und Durchblutungsstörung (48, 88). Je älter der Patient, umso wahrscheinlicher ist eine Durchblutungsstörung, dicht beieinanderliegen, nicht aber die Nerven, sprechen beidseitige Lähmungen für eine Läsion des Kerngebiets und einseitige für eine Läsion des Nerven. bei der man eine Spontanheilung erwarten kann. Diese Regel setzt allerdings voraus, dass nur einer der Hirnner- Verlauf durch das Mittelhirn ven betroffen ist. In diesem Fall kann man zunächst auf das Mittelhirn werden zuweilen nur die den äußeren Au- weiterführende Untersuchungen verzichten und diese genmuskeln zugeordneten Fasern des N. oculomotorius nur veranlassen, wenn sich im Laufe von 2–3 Monaten von einer Durchblutungsstörung betroffen, während die noch keine Heilung anbahnt. Pupillenreaktion intakt bleibt (56, 113). Die Lähmung kann sogar auf nur einen Muskel beschränkt sein (30), n Je älter ein Patient, umso wahrscheinlicher ist eine z. B. auf den M. obliquus inferior (13). Durchblutungsstörung mit nachfolgender Spontanheilung. In ihrem Verlauf durch Der N. oculomotorius läuft durch das Mittelhirn an Strukturen vorbei, die durch den selben Krankheitsprozess mitgeschädigt sein können. Dadurch kann es zu den in Tab. 4.5 genannten Syndromen kommen. Tabelle 4.5 Syndrome bei Schädigung des N. oculomotorius Name geschädigte Struktur neurologisches Zeichen Nothnagel-Syndrom Brachium conjunctivum ipsilaterale zerebelläre Ataxie Benedikt-Syndrom Nucleus ruber kontralaterale Ataxie mit Intentionstremor Weber-Syndrom Hirnschenkel (Pyramidenbahn) kontralaterale Halbseitenlähmung Klivuskantensyndrom Tumor oder Blutung quetscht einen Teil des Temporallappens in den Tentoriumschlitz und auf den N. III Koma, Pupillenerweiterung auf der Seite der Raumforderung Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 4.2.4 454 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik Subarachnoidalraum Durch den Subarachnoidalraum sich bei Beugung des Kopfes nach vorn verschlimmert verläuft der N. oculomotorius in unmittelbarer Nähe der (Meningismus). A. communicans posterior. Dieses Gefäß ist eine Prädilektionsstelle für Aneurysmen. So weist die Kombination von Kopfschmerz und Okulomotoriuslähmung auf ein Aneu- Vor Einführung der Computertomographie hatte die Pupillenerweiterung beim Klivuskantensyndrom eine große Bedeutung, weil sie immerhin die Seite der Raum- rysma der A. communicans posterior hin. Eine Subarachnoi- forderung anzeigte. Heute kann man die Raumforderung dalblutung muss dabei nicht vorhanden sein, denn das mit Hilfe der Computertomographie genauer lokalisieren Aneurysma kann sich lediglich erweitert haben, ohne zu und bei der unverzüglich erforderlichen Entlastungsope- platzen. Der M. sphincter pupillae ist bei der durch Aneu- ration gezielter vorgehen. rysma bedingten Okulomotoriuslähmung meist mit betroffen (117). In den wenigen Fällen, in denen die Pupille zunächst ausgespart bleibt, erweitert sie sich meist inner- Fehlregeneration halb der folgenden Tage. Bei einer Okulomotoriusparese Sind Nervenfasern in den M. levator palpebrae aus- mit Pupillenlähmung sollte man umgehend eine neurora- gewachsen, die eigentlich dem M. rectus inferior zugehör- diologische Untersuchung veranlassen, um einer lebens- ten, wird der Lidheber beim Blick nach unten nicht ent- bedrohenden Aneurysmablutung mit einer Operation zu- spannt, sondern aktiviert, und die Lidspalte ist bei Abblick vorzukommen. Bei einer Okulomotoriusparese ohne Pupil- weiter als auf der gesunden Seite (Abb. 4.35). Eine Fehl- lenlähmung ist die Ursache meist eine Durchblutungs- innervation des Lidhebers durch Medialisneurone zeigt störung, wie sie insbesondere bei Diabetes vorkommt. sich an einer Erweiterung der Lidspalte bei intendierter Adduktion (Abb. 4.36). diologische Untersuchung ist nicht vordringlich. Sie sollte Sprießen Nervenfasern in den M. rectus medialis ein, aber erfolgen, wenn die innerhalb von 2–3 Monaten er- die eigentlich zu einem Vertikalmotor gehörten, kann wartete Spontanheilung ausbleibt (12). der M. rectus medialis bei Abduktion nicht vollständig ge- n Zusammenfassung Die neuroradiologische Untersuchung erfolgt bei Okulomotoriusparese mit Pupillenlähmung sofort, ohne Pupillenlähmung erst, wenn sich nach 2–3 Monaten noch keine Spontanheilung anbahnt hemmt werden. Die Folge ist eine Einschränkung der Abduktion (108, 111). Dies darf nicht mit dem Hinzutreten einer Abduzensparese verwechselt werden. Nervenfasern, die eigentlich zur extraokularen Muskulatur gehörten, können auch in den Sphincter pupillae einwachsen. Dann kontrahieren sich einzelne Sektoren der Pupille, wenn der Patient in bestimmte Richtungen blickt. Um dies festzustellen, muss man an der Spaltlampe Bei einer Pupillen- und Akkommodationslähmung ohne Augenbewegungsstörung ist ein Aneurysma unwahr- genau beobachten. Eine primäre Fehlregeneration liegt vor, wenn zuvor scheinlich. Bei einseitiger Lähmung handelt es sich in der keine Parese festzustellen war. Häufigste Ursache ist ein Regel um eine harmlose Läsion des Ganglion ciliare, die später in eine Pupillotonie übergeht (4.5.2, 124). Bei beidseitiger Lähmung ist vor allem an Botulismus zu denken. Unbeabsichtigtes oder beabsichtigtes Einbringen von Atropin oder von anderen Parasympatholytika muss allerdings sowohl bei der einseitigen als auch bei der beidseitigen Pupillenlähmung mit Hilfe des Pilocarpintests ausgeschlossen werden (4.5.2). n Bei allen Pupillenstörungen muss an unbeabsichtigtes Einbringen von Augentropfen gedacht werden. Kopfschmerzen können sowohl bei einem Aneurys- ma als auch bei einer Durchblutungsstörung des N. oculomotorius auftreten. Sie sind daher bei der Unterscheidung zwischen diesen beiden Erkrankungen nur mit Vorbehalt zu verwerten. Typisch für die Subarachnoidalblutung aus einem Aneurysma und weniger kennzeichnend für eine Durchblutungsstörung ist ein Nackenschmerz, der Abb. 4.35 Fehlregeneration nach Okulomotoriusparese (links). Das Oberlid bleibt bei Abblick zurück. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Ein Aneurysma ist unwahrscheinlich, und eine neurora- Eine Fehlregeneration des N. oculomotorius erkennt man am leichtesten am Oberlid (103). G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen 455 Eine einmal eingetretene Fehlregeneration verschwindet nicht. Dies zu wissen ist wichtig, um den Patienten angemessen beraten zu können. So darf man z. B. keine vollständige Heilung in Aussicht stellen, wenn sich das Oberlid bei Abblick hebt. Okulomotoriusparese mit zyklischen Spasmen Wer- den die gelähmten Muskeln in regelmäßigen Abständen von einem Spasmus befallen, handelt es sich um eine Okulomotoriusparese mit zyklischen Spasmen. Von zyklischen Spasmen spricht man, da der Spasmus regelmäßig etwa alle 120 s auftritt. Jede Spasmusphase dauert etwa 20 s. Zyklische Spasmen entwickeln sich fast nur bei angeborener oder in früher Kindheit erworbener OkuloWahrscheinlich werden die zyklischen Spasmen von Neuronen erzeugt, die aufgrund einer Teilschädigung von ihrem supranukleären Anschluss abgekoppelt wurden (54, 61). Diese Neurone gehorchen dann nicht mehr den Blickimpulsen, sondern feuern in einem eigenständigen Rhythmus. Neuromyotonie Bei der seltenen Neuromyotonie han- delt es sich um unregelmäßig auftretende Spasmen des III., IV. oder VI. Hirnnerven. Im Intervall kann die Augenbeweglichkeit völlig normal sein (92). Zugrunde liegt meist ein Tumor im Bereich des Sinus cavernosus, der bestrahlt wurde. Trochlearisparese Der N. trochlearis verläuft nur eine kurze Strecke durch Hirngewebe. Er ist der einzige vollständig kreuzende Hirnnerv. Die Kreuzungsstelle liegt unterhalb der Vierhügelplatte. Hier sind die beiden Trochlearisnerven bei Kopfprellung durch den scharfen Rand des Tentoriumschlitzes Abb. 4.36 Fehlregeneration nach Okulomotoriusparese (links). Lidretraktion bei Adduktion. besonders gefährdet. Dies erklärt, warum der einseitigen Trochlearisparese oft, der beidseitigen fast ausnahmslos eine Kopfprellung zugrunde liegt. Wenn die beiden Musculi obliqui superiores in gleichem Ausmaß gelähmt sind, kann eine vertikale Schielabweichung im mittleren Blick- Meningiom (95), das zwar durch Wachstumsdruck immer wieder einige Nervenfasern unterbrochen hat, zwischen- feld fehlen und nur bei Blick nach rechts und links hervortreten. Trotzdem sehen die Patienten auch im mittleren zeitlich aber genügend Platz gelassen hat, um die Nerven- Blickfeld doppelt, da sich der Ausfall der inzykloduzieren- fasern auswachsen zu lassen. den Wirkung beider Obliqui superiores addiert. Im Abblick kann die Exzyklotropie 25h erreichen. Auch die für Prognose Bei einer Durchblutungsstörung des N. oculo- die Obliquus-superior-Parese typische V-Inkomitanz ad- motorius ist eine vollständige Heilung innerhalb von 2–3 diert sich bei beidseitiger Lähmung und führt bei Abblick Monaten zu erwarten. Gering ist die Heilungschance, zu einer störenden Esotropie (S. 133, 451). wenn die Okulomotoriuslähmung durch ein Aneurysma, durch Tumordruck oder durch ein Trauma entstanden ist. In diesen Fällen kommt es in der Regel zu einer Fehlregeneration. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. motoriusparese. 456 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik n Bei einer beidseitigen Trochlearisparese ist die Vertikaldeviation kleiner, die Zyklodeviation und die V-Inkomitanz aber größer als bei einer einseitigen Trochlearisparese. meisten Fällen normal. Nur einzelne Patienten weisen eine leichte Trochlearisparese auf (32), und nur selten ist eine Parese vorausgegangen (58). Obwohl die Patienten mit Obliquus-superior-Myokymie charakteristische Sehstörungen angeben, werden sie gelegentlich als Hysteriker verkannt. Die Diagnose ist leicht zu stellen, wenn man überhaupt an sie denkt. sollte man nicht nur eine Schädigung des IV. Hirnnerven Die Obliquus-superior-Myokymie wird wahrscheinlich in Betracht ziehen, sondern auch an die Möglichkeit denken, dass die Trochlea verletzt wurde. Oft lässt sich eine durch Druck der A. cerebri posterior auf den Nervus trochlearis hervorgerufen (29, 127). Eine schwerwiegende Er- entsprechende Narbe sehen oder ertasten. Nach Verletzung der Trochlea ist häufig nicht nur die Senkung, son- krankung liegt meist nicht zugrunde. Zwar wurde über einen Fall mit chronischer Bleiintoxikation (77), einen dern auch die Hebung in Adduktion behindert (JaenschBrown-Syndrom, S. 425 ff, 74). Fall mit Adrenoleukodystrophie (77) und einen Fall mit Eine spontan auftretende, isolierte Trochlearisparese ist diese Patienten aber auch andere Krankheitszeichen hat- fast nie Vorbote einer Allgemeinkrankheit und heilt fast ten, bleibt als Regel, dass eine isolierte Obliquus-superior- immer in 1–3 Monaten (78, 91). Bleibt die Heilung aller- Myokymie zwar lästig, aber harmlos ist. gutartigem Astrozytom des Mittelhirns (73) berichtet, da dings aus, sollte man eine neuroradiologische Untersuchung veranlassen, da ein Aneurysma der A. cerebelli superior (17) oder der A. carotis interna (1) zugrunde lie- Prognose und Therapie In vielen Fällen verschwindet die Obliquus-superior-Myokymie spontan. Bei erhebli- gen kann. chen Beschwerden kann das membranstabilisierende Car- Von der Trochlearisparese zu unterscheiden ist der bamazepin (Tegretal) versucht werden. Auch von den Be- nichtparetische Strabismus sursoadductorius (Kap. 2.1), der tarezeptorenblockern Propranolol (118) und Betaxolol (3) früher als angeborene Trochlearisparese bezeichnet wur- wurde in Einzelfällen eine günstige Wirkung beschrieben. de, da er der Trochlearisparese ähnelt: Die Vertikalabwei- Allerdings ist das Verhältnis zwischen Wirkung und Ne- chung nimmt bei Adduktion des betroffenen Auges und benwirkung dieser Medikamente bei der Obliquus-supe- bei Kopfneigung zur Seite des betroffenen Auges zu. Es fehlt aber die Winkelzunahme bei Abblick, also die für rior-Myokymie ungünstig. Eine Exzision der Sehne des M. obliquus superior ist zu die Lähmung charakteristische Inkomitanz. Wenn man in Lokalanästhesie operiert, kann man den Patienten auf- erwägen, wenn die Myokymie über Monate anhält und den Patienten sehr belästigt (32, 82). Die nach der Entfer- fordern, nach unten zu schauen und direkt beobachten, nung der Sehne entstehende Inkomitanz kann durch Ope- dass der M. obliquus superior funktioniert und seine Sehne anzieht (106). ration an anderen Augenmuskeln meist befriedigend ausgeglichen werden. Eine subtotale Exzision oder Rücklagerung der Sehne beseitigt die Myokymie nicht. Erfolge einer neurochirurgischen Dekompression des N. trochlearis (93, 94) sind vor allem deshalb bemerkens- Obliquus-superior-Myokymie wert, weil sie die Hypothese stützen, dass die ObliquusBei der Obliquus-superior-Myokymie zittert ein Auge in superior-Myokymie durch Druck auf den Nerven hervor- unregelmäßigen Abständen. Das Zittern kommt durch gerufen wird. eine unkontrollierte Aktivität einzelner Fasern des N. trochlearis zustande und hat dem entsprechend sowohl eine exzyklorotatorische als auch eine senkende Kom- Abduzensparese ponente (32, 37, 46, 55, 114). Der Patient ist dabei durch torsionelle Oszillopsie gestört und spürt die Bewegung am Die Fasern des N. abducens entspringen im gleichseitigen Auge. Das Zittern ist so fein, dass es meist nur an der Abduzenskern. Da im mittleren Anteil des Kerns auch die Spaltlampe zu sehen ist. Es lässt sich durch Abblick pro- Zellen der internukleären Neurone liegen, die über den vozieren und durch Aufblick hemmen. Während des Ab- kontralateralen Fasciculus longitudinalis medialis in das blicks kann man das Zittern des Auges zwar nicht wahr- Okulomotoriuskerngebiet projizieren und dort den Sub- nehmen, da es in der Aktivität der vielen normal inner- nukleus des M. rectus medialis ansteuern (Kap. 1.3.4), vierten Muskelfasern untergeht. Wenn man den Patienten ergeben sich folgende Regeln für die Diagnostik: aber nach längerem Abblick geradeaus blicken lässt, sind die betroffenen Fasern durch die vorangegangene Blicksenkung noch erregt, und man hat dann eine gute Chance, das Zittern zu sehen. Im Intervall ist der Befund in den Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Bei posttraumatischer Lähmung des M. obliquus superior G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen 457 n 1. Eine Läsion des Abduzenskerns ruft eine ipsilaterale Blicklähmung hervor. 2. Eine isolierte Abduzenslähmung kann nicht Folge einer Kernläsion sein. Bei der Abduzenslähmung kommen viele Ursachen in Betracht. Wichtig zu wissen ist, dass eine Abduzenslähmung auch ein Fernzeichen sein kann, d. h. nicht unbedingt auf den Sitz des zugrunde liegenden Krankheitsherdes schließen lässt. Die Prognose der Abduzenslähmung ist besser als die der Okulomotoriuslähmung, da eine Fehlregeneration ben, dass Abduzensfasern in den M. sphincter pupillae ausgewachsen sind (85). Vorangegangen war nicht nur eine Abduzens-, sondern auch eine Okulomotoriuslähmung. Kombinationslähmungen der Hirnnerven III, IV und VI Es ist für die Bestimmung der Ursache wichtig, ob nur ein Abb. 4.37 Okulomotoriusparese (links). Die Funktionsfähigkeit des N. trochlearis zeigt sich an einer Abwärtsbewegung der nasalen Bindehautgefäße (Inzykloduktion) bei Abblick. einziger Hirnnerv gelähmt ist oder ob mehrere Hirnnerven betroffen sind. Die Kombination einer Lähmung des III. und VI. Hirnnerven zu diagnostizieren, bereitet keine besonderen Probleme. Schwieriger ist es, zu erkennen, auf Kortikosteroide ist für das Tolosa-Hunt-Syndrom typisch, kommt allerdings gelegentlich auch bei Tumor ob zu einer Okulomotoriuslähmung eine Trochlearisläh- vor (44). mung hinzugekommen ist. n Bei jeder Okulomotoriusparese muss geprüft werden, ob gleichzeitig eine Trochlearisparese besteht. 4.2.5 Retraktionssyndrom (Stilling-Türk-Duane) Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Auge wegen der Okulomotoriusparese in Abduktion steht, sodass der M. obliquus superior nur inzykloduzierend und kaum sen- Dem Retraktionssyndrom liegt ein angeborener Defekt kend wirken kann. Man lässt den Patienten mit dem frei des N. abducens zugrunde (36, 70). Die Ursache ist in beweglichen Auge von oben nach unten blicken und be- den meisten Fällen unklar. Als eine Möglichkeit wurde obachtet am motilitätsgestörten Auge die nasalen Binde- das Schlafmittel Thalidomid (Contergan) identifiziert. Sel- hautgefäße. Bewegen sie sich nach unten, wird das Auge ten wird das Retraktionssyndrom vererbt (68). also inzykloduziert, so funktioniert der N. trochlearis (Abb. 4.37). Fehlt die Inzykloduktion, ist der N. trochlearis n Zusammenfassung gelähmt. Sind mindestens zwei okulomotorische Hirnnerven einer Seite betroffen, handelt es sich um ein Sinus-cavernosus-Syndrom. Nicht selten ist dabei auch die Sensibilität Kardinalzeichen des Retraktionssyndroms n Einschränkung der Abduktion und der Adduktion n Retraktion des Bulbus bei intendierter Adduktion n kleiner Schielwinkel im mittleren Blickfeld des vom N. trigeminus innervierten Bereichs gestört, vor allem die des 1. Asts. Beim Sinus-cavernosus-Syndrom muss zwischen einem Tumor und dem entzündlichen Tolosa-Hunt-Syndrom un- Das Retraktionssyndrom betrifft in der Regel nur ein Auge. Meist ist es das linke (S. 438, 549; Tab. 5.7). Den terschieden werden. Wegweisend sind die neuroradiolo- Grund für diese Seitenbevorzugung kennt man noch gischen Befunde und der Verlauf. Eine rasche Besserung nicht. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. kaum zu befürchten ist. Als Rarität wurde aber beschrie- 458 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik Pathogenese Im Embryonalstadium wachsen norma- lerweise in jeden Muskel nur die für ihn bestimmten Nervenfasern ein. Fehlt der N. abducens mehr oder weniger vollständig, akzeptiert der M. rectus lateralis auch Okulomotoriusfasern. Als Resultat weist der M. rectus lateralis drei verschiedene Bereiche auf: erstens, wenn der N. abducens teilweise erhalten geblieben ist, einen normal innervierten Bereich; zweitens einen vom N. oculomotorius fehlinnervierten Bereich und drittens einen gar nicht innervierten und daher fibrotisch umgewandelten Bereich. Da der Anteil dieser drei Bereiche verschieden groß ist, ergibt sich von Fall zu Fall eine sehr unterschiedliche Ausprägung des Retraktionssyndroms (43). des N. oculomotorius stammen kann. Am häufigsten sind es Nervenfasern, die eigentlich den M. rectus medialis hätten erreichen sollen. Dann entstehen die oben aufgeführten drei Kardinalzeichen. Nicht selten findet sich beim Retraktionssyndrom aber auch eine A- oder V-Inkomitanz. Dies könnte daran liegen, dass in den M. rectus lateralis Nervenfasern eingewachsen sind, die eigentlich in den M. rectus inferior bzw. superior gehörten. Weiterhin hängt die Ausprägung des Retraktionssyndroms davon ab, ob nieder- oder hochschwellige Nervenfasern (Kap. 1.3.2) eingewachsen sind. Wegen der großen Bandbreite und der fließenden Über- Abb. 4.38 Angeborenes Retraktionssyndrom (links, Typ I). gänge ist eine Einteilung des Retraktionssyndroms in bestimmte Typen etwas willkürlich. Dennoch sei hier die in der Literatur vielfach zitierte Einteilung von Huber (38) wiedergegeben. y Retraktionssyndrom Typ I. Dieser Typ kommt am häu- schwellige und keine hochschwelligen Medialisnervenfasern eingewachsen sind. y Retraktionssyndrom Typ II. Kennzeichnend ist eine ge- figsten vor. Kennzeichnend ist eine ausgeprägte Ein- ringe Einschränkung der Abduktion und eine ausgeprägte schränkung der Abduktion und eine geringe Einschränkung der Adduktion. Einschränkung der Adduktion. Im Beispiel der Abb. 4.39 ist die Abduktionseinschrän- Im Beispiel der Abb. 4.38 kann das linke Auge nicht über kung des linken Auges nur gering, da der M. rectus latera- die Mittellinie abduziert werden. Ursache ist, dass sich lis einen Anteil mit normaler Innervation durch Abdu- der M. rectus lateralis nicht verkürzt; vielmehr erschlafft zensfasern aufweist. In der Mitte des Blickfeldes besteht er entsprechend seiner Innervation durch Medialisfasern. eine Exotropie, da der M. rectus lateralis nicht locker las- Durch gleichzeitige Erschlaffung des M. rectus medialis sen kann. Dafür sind wahrscheinlich zwei Gründe maß- tritt der Bulbus nach vorn und spreizt die Lider auseinan- gebend: Erstens ist ein Teil des M. rectus lateralis von der. In der Mitte des Blickfeldes besteht nur eine geringe Esotropie, und bei 17h Rechtsblick stehen die Augen paral- Okulomotoriusfasern fehlinnerviert und zweitens ist ein anderer Teil des Muskels überhaupt nicht innerviert und lel, was eine Gesichtswendung nach links von 17h er- daher fibrotisch. Die Adduktion des linken Auges ist er- zwingt. Bei stärkerer Blickwendung nach rechts ergibt heblich eingeschränkt, und es kommt zu einer deutlichen sich ein Adduktionsdefizit, weil der M. rectus lateralis Retraktion. Hochschwellige Medialisfasern innervieren nicht locker lässt, sondern wegen seiner Fehlinnervation einen Teil des M. rectus lateralis und führen zu einer pa- durch Medialisneurone angespannt wird. Durch Kontrak- radoxen Verkürzung des Muskels. Parallele Augenstellung tion des M. rectus medialis und des M. rectus lateralis mit entsprechender Kopfzwangshaltung findet sich bei wird der Bulbus nach hinten gezogen, so dass die Lider zu wenig gespreizt werden: Die Lidspalte verengt sich. 10h Linksblick. Adduktionsdefizit und Retraktion sind im Fall der Abb. 4.38 gering, da in den M. rectus lateralis nur nieder- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die Variationsbreite wird noch dadurch vergrößert, dass die Fehlinnervation von unterschiedlichen Anteilen G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen y 459 Retraktionssyndrom Typ III. Kennzeichnend ist eine aus- geprägte Einschränkung sowohl der Abduktion als auch der Adduktion. Dies beruht darauf, dass der M. rectus lateralis die gleiche Innervation erhält wie der M. rectus medialis. Daher werden beide Muskeln bei intendierter Adduktion aktiviert und bei intendierter Abduktion gehemmt und der Bulbus bewegt sich nur in sagittaler Richtung: Bei intendierter Adduktion wird er retrahiert und bei intendierter Abduktion gelangt er nach vorn. In seltenen Fällen kann die Innervation des M. rectus lateralis bei intendierter Adduktion sogar stärker sein als die des M. rectus medialis, sodass eine paradoxe Abduktion zustande kommt (123). y Vertikalabweichung in Adduktion. Beim Retraktionssyn- Auf- und Abblick und intendierter Adduktion zu einer zu starken Hebung und/oder Senkung des betroffenen Auges (Abb. 4.40). Dies erklärt sich wahrscheinlich wie folgt (42, 101, 102): Bei intendierter Adduktion wird die Spannung in den beiden Horizontalmotoren so hoch, dass die Umlenkschlaufen (S. 33) nicht mehr imstande sind, die Muskeln im Nullgradmeridian zu halten. Bei Aufblick rutschen die Horizontalmotoren im Bereich des Äquators nach oben ab und erhalten dadurch ein hebendes Drehmoment. Bei Abb. 4.39 Angeborenes Retraktionssyndrom (links, Typ II). Abblick rutschen sie nach unten ab und erhalten ein senkendes Drehmoment. Kernspintomographisch ließ sich das Abrutschen in der von Bloom u. Mitarb. (6) 1991 durchgeführten Untersuchung allerdings noch nicht nachweisen, wahrscheinlich wegen der ungenügenden Auflösung des Instruments. y V-, A- und X-Inkomitanz. Nicht selten sieht man beim Re- traktionssyndrom eine Änderung des horizontalen Schielwinkels bei Auf- und Abblick (84, 115). Als Ursache kommt in Frage, dass der M. rectus lateralis nicht nur von Medialisfasern innerviert wird, sondern auch von Rectus-superior- und/oder Rectus-inferior-Fasern. Für diese Deutung sprechen mehrere EMG-Befunde (38, 39, 81, 83, 109). Manche Autoren favorisieren aber nicht eine innervationelle, sondern eine mechanische Erklärung (28, 75, 115). y Retraktion bei intendierter Abduktion. Diese Motilitäts- störung ist sehr selten. Sie wurde als Fehlinnervation des M. rectus medialis gedeutet (63, 87). In manchen Fällen liegt jedoch ein M. retractor bulbi zugrunde, der normalerweise nur bei Hunden und Schafen vorkommt (75). Abb. 4.40 Angeborenes Retraktionssyndrom (links, Typ II). Bei Blick nach rechts oben rutschen die Horizontalmotoren vom 0h-Meridian des Bulbus nach oben ab und erhalten dadurch eine hebende Wirkungskomponente. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. drom, gleich welchen Typs, kommt es nicht selten bei 460 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik 4.2.6 Angeborene okulofaziale Parese (Möbius-Syndrom) 4.2.8 Störung der neuromuskulären Übertragung Beim Möbius-Syndrom ist eine angeborene horizontale Um die Myasthenia gravis und andere Störungen der Augenbewegungsstörung mit einer Fazialisparese kom- neuromuskulären Übertragung verständlich zu machen, biniert. In den meisten Fällen ist die Lähmung seitengleich seien einige physiologische Bemerkungen vorangeschickt ausgeprägt, sodass der Patient einen maskenartigen Ge- (Abb. 4.41). sichtsausdruck hat. An den Augen können sich supra- Acetylcholin ist der Botenstoff, mit dem die Erregung nukleäre und infranukleäre Lähmungen überlagern. Entsprechend vielfältig sind die pathologisch-anatomischen Befunde (116). vom Nerv auf den Muskel übertragen wird. Vorrätig gehalten wird das Acetylcholin in vielen kleinen Bläschen, die in das Ende einer jeden Nervenfaserendigung eingevenfaserendigung eintrifft, schütten die Bläschen ihr Ace- Eine familiäre Häufung wurde aber beschrieben. In den meisten Fällen lässt sich die Ursache nicht ermitteln. tylcholin in den synaptischen Spalt aus. Von dort gelangt das Acetylcholin an Rezeptoren auf der Muskelfaser. Gegenüber einer jeden Nervenenfaserendigung befinden sich auf der Muskelfaser etwa 30 bis 40 Millionen Acetylcholinrezeptoren (57). Sobald sich ein Acetylcholinmolekül an einen Rezeptor bindet, depolarisiert sich die 4.2.7 Fibrosesyndrom Membran der Muskelfaser an dieser Stelle. Wenn dies an einer ausreichenden Zahl von Rezeptoren geschieht, überträgt sich die Erregung auf die Muskelfaser. Ins- Beim Fibrosesyndrom handelt es sich um eine angeborene gesamt dauert die neuromuskuläre Übertragung nur Augenbewegungsstörung, die in der Regel mit Ptosis ver- wenige Millisekunden. bunden ist. Die Augenbewegungen sind auf das untere Blickfeld beschränkt. Dadurch sind die Patienten gezwungen, den Kopf in den Nacken zu legen, wenn sie geradeaus sehen möchten. Bei dem Versuch, den Blick zu heben, kommt es zu nystagmusähnlichen Konvergenz- und Divergenzbewegungen. Besonders deutlich werden diese abnormen Vergenzen, wenn man versucht, den vertikalen vestibulookulären Reflex auszulösen. Die abnormen Vergenzen zeigen, dass eine innervatorische Störung vorliegen muss. Wahrscheinlich ist die Fibrose der Augenmuskeln, nach der das Syndrom benannt ist, nur eine Folge dieser Innervationsstörung (18, 22). In vielen Fällen findet sich das Fibrosesyndrom auch noch bei Geschwistern und bei einem Elternteil, sodass autosomal (Kap. 2.2). dominante Vererbung anzunehmen ist Abb. 4.41 Synapse zwischen Nervenendigung und Muskelfaser bei Myasthenie. Mit dem Eintreffen jedes Aktionspotenzial werden Acetylcholinmoleküle (Ach) aus der Nervenendigung in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. Gelangen die Acetylcholinmoleküle an eine ausreichend große Zahl intakter Rezeptoren der Muskelfaser (die man sich viel länger als gezeichnet vorstellen muss), so wird eine Kontraktion ausgelöst. Bei der Myasthenie ist ein Teil der Acetylcholinrezeptoren zerstört (ausgekreuzt). Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. lagert sind. Mit jedem Aktionspotenzial, das an der Nern Das Möbius-Syndrom tritt meist sporadisch auf. G. Kommerell 4.2 Augenmuskellähmungen 461 kommt differenzialdiagnostisch allenfalls eine chronisch Myasthenia gravis progressive externe Ophthalmoplegie in Betracht (4.2.9), die aber nicht wechselhaft ist. Die Myasthenia gravis beruht auf einer Zerstörung von Acetylcholinrezeptoren. Ursache der Zerstörung ist ein Ermüdbarkeit Autoimmunprozess: Die Acetylcholinrezeptoren werden Verschlimmerung bei anhaltender Belastung typisch. wie ein Fremdstoff vom eigenen Körper bekämpft (34). Dies lässt sich wie folgt erklären: Beim Eintreffen der ers- Für diesen Autoimmunprozess spielt der Thymus eine ten Aktionspotenziale schüttet die Nervenfaserendigung wichtige Rolle (122). Hier gibt es Neurofilamente, die die im Überschuss so viel Acetylcholin aus, dass etwa viermal gleichen Oberflächenstrukturen besitzen wie die Acetyl- so viele Rezeptoren erregt werden, wie zur neuromusku- cholinrezeptoren. Gegen diese Oberflächenstrukturen werden Antikörper gebildet, die dann sekundär auch die lären Übertragung notwendig sind. Beim Eintreffen weiterer Aktionspotenziale an der Nervenfaserendigung auf den Muskelzellen sitzenden Acetylcholinrezeptoren nimmt die Ausschüttung von Acetylcholin allmählich ab. angreifen (64). Dieser Mechanismus erklärt die günstige Normalerweise reicht dies zur Aktivierung der Muskelfa- Wirkung der Thymektomie. ser noch aus. Bei der Myasthenia gravis können die wenigen verbliebenen Acetylcholinrezeptoren mit dem an- n Die Myasthenie kann in jedem Lebensalter auftreten, auch schon bei Säuglingen (62). fänglichen Überschuss von Acetylcholin noch alle erregt werden, und dies kann zur Übertragung des Aktions- Aus noch ungeklärten Gründen (57) werden der Lidheber, potentials auf die Muskelfaser ausreichen. Nimmt die Ausschüttung von Acetylcholin dann aber ab, wird die die geraden und schrägen Augenmuskeln sowie der Wahrscheinlichkeit immer geringer, dass genügend viele M. orbicularis oculi von der Myasthenie besonders früh Acetylcholinrezeptoren mit dem Überträgerstoff bedient und ausgeprägt betroffen (97). Bleiben die Krankheits- werden. erscheinungen über ein bis zwei Jahre auf die Augen be- Am M. levator palpebrae wird die Ermüdbarkeit als Pto- schränkt, ist eine spätere Generalisierung unwahrschein- sis besonders deutlich. Bei manchen Patienten entwickelt lich. In 50–80 % der Fälle werden jedoch im Laufe der Zeit sich die Ptosis erst nach einigen Stunden des Wachseins. auch Muskeln des übrigen Körpers betroffen. Bei einer Lähmung der Schlundmuskulatur kann die Myasthenie lebensbedrohlich werden, vor allem durch Verschlucken Bei anderen lässt sich eine Ermüdbarkeit bereits innerhalb weniger Minuten nachweisen, indem man den SimpsonTest (107) durchführt: Man lässt den Patienten extrem und nachfolgende Lungenentzündung. Etwa 20 % der Pa- nach oben blicken. Sinkt dabei das Oberlid allmählich tienten erleben eine spontane Remission der Erkrankung. ab, so ist die Diagnose einer Myasthenie nahezu sicher Rückfälle können aber noch nach Jahren auftreten. (Abb. 4.42). Es gibt auch Patienten, deren Lidheber bereits innerhalb weniger Millisekunden ermüdet. Dies zeigt sich, n Zusammenfassung Typische Zeichen der Myasthenie n Beschränkung der Lähmung auf die äußeren Augenmuskeln (intakte Pupillenreaktion) wenn man den Patienten von unten in die Mitte blicken lässt: Das Oberlid wird nur im ersten Moment ausreichend gehoben und sinkt danach gleich wieder ab. Dies ergibt den Eindruck einer Lidzuckung (Lid Twitch nach n Lähmungsmuster, das nicht dem III., IV. oder VI. Hirnnerven Cogan, 15). Man muss allerdings berücksichtigen, dass zugeordnet werden kann n Beidseitigkeit n Wechselhaftigkeit n Ermüdung bei anhaltender Beanspruchung. eine Lidzuckung auch bei Fehlregeneration eines geschä- Okuläre Manifestation Selten ist die myasthenische digten Okulomotoriusnerven vorkommt, und zwar dann, wenn überwiegend hochschwellige Motoneurone in den M. levator palpebrae eingewachsen sind. Belastungstest an der Tangententafel An den Augen- Parese auf einen einzigen Augenmuskel begrenzt. Eine de- muskeln lässt sich die Ermüdbarkeit am besten mit kompensierende Heterophorie kann vorgetäuscht werden, einem Dunkelrotglas an der Tangententafel nachweisen. wenn kontralaterale Antagonisten betroffen sind. So liegt Man fordert den Patienten auf, etwa 30 s lang in der Zug- z. B. bei einer Lähmung beider Recti laterales die Fehldiag- richtung des paretischen Muskels zu blicken und prüft, ob nose einer Esophorie nahe. Besonders verdächtig auf eine sich die Schielabweichung ändert. Im Falle der Myasthe- Myasthenie ist, wenn eine Augenbewegungsstörung mit nie vergrößert sich der Winkel dabei in der Regel. Aller- einer Schwäche des Lidschlusses einhergeht, denn eine Lähmung des N. facialis wäre wegen der großen Ent- dings kann er auch abnehmen, wenn der kontralaterale Synergist bei der Belastung stärker ermüdet als der schein- fernung von den okulomotorischen Nerven sehr un- bar allein betroffene Agonist. Anschließend lässt man wahrscheinlich. Bei derart komplexen Lähmungsbildern den Patienten wieder in Mittelposition fixieren und ver- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Für die myasthenische Parese ist eine 462 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik Durch Kombination verschiedener Ermüdungserscheinungen kann bei der Myasthenie eine Verlangsamung der Adduktionssakkade und ein dissoziierter Nystagmus des abduzierten Auges zustande kommen, ein Bewegungsmuster, das dem der internukleären Ophthalmoplegie entspricht (4.3.5). Daher kann die Myasthenie im Anfangsstadium mit der multiplen Sklerose verwechselt werden. Tensilon-Test Die intravenöse Injektion von Tensilon (ICN Pharmaceuticals Inc.) erhöht die Konzentration des Acetylcholins im synaptischen Spalt durch Hemmung der Acetylcholinesterase. Bei vermehrtem Angebot von Acetylcholin nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass alle dass dies zur Übertragung des Aktionspotenzials auf die Muskelfaser ausreicht. Es empfiehlt sich, den Tensilon-Test in Gegenwart eines Anästhesisten durchzuführen. Bereitzuhalten ist eine Spritze mit 0,5 mg Atropin und eine weitere Ampulle mit 0,5 mg Atropin als Reserve. Das Tensilon wird fraktioniert injiziert. Eine Ampulle enthält 10 mg Tensilon. Man gibt zunächst 1 mg und wartet unter Pulskontrolle die Verträglichkeit ab. Dann kann man in Abständen von ca. 2 min mit ansteigender Dosis nachspritzen, zunächst Abb. 4.42 Myasthenische Ermüdung des rechten M. levator palpebrae bei anhaltendem Aufblick (Simpson-Test). 2 und schließlich 4–7 mg. Bei Myasthenie ist eine Besserung der Paresen in der Regel bereits mit 1–3 mg nach 1–2 min zu erkennen, die nach weiteren 5–10 min wieder abklingt. gleicht den nun vorhandenen Winkel mit dem vor der Der Tensilon-Test erlaubt es, die Diagnose einer Myas- Blickbelastung festgestellten. Ein deutlicher Unterschied thenia gravis mit großer Wahrscheinlichkeit zu sichern legt den Verdacht auf Myasthenie nahe. Wichtig ist, dass oder zu verwerfen. Wichtig ist, den Test zu einer Zeit das Dunkelrotglas auch zwischen den einzelnen Ablesun- durchzuführen, zu der die Paresen möglichst ausgeprägt gen vor einem Auge verbleibt, damit eine Wechselhaftig- sind. Bei deutlicher Ptosis und bei starker Einschränkung keit durch fusionale Impulse vermieden wird. der Augenbeweglichkeit kann man die Wirkung des Tensilon ohne Hilfsmittel beobachten. Bei geringer Einschrän- Ermüdung bei Sakkaden Eine intrasakkadische Ermü- kung der Beweglichkeit empfiehlt es sich, die Änderung dung zeigt sich daran, dass große Blickzielbewegungen des Schielwinkels unter Ausschluss der Fusion zu beurtei- zwar zu Beginn normal schnell sind, sich gegen Ende len, z. B. mit dem alternierenden Prismenabdecktest. aber verlangsamen (126). Eine postsakkadische Ermüdung erkennt man an einer Rückdrift, die sofort einsetzt, nach- Dabei sollte der Patient in die Richtung mit dem größten Schielwinkel blicken. Jede unter Tensilon auftretende Än- dem das Ziel erreicht wurde (96). Entsprechend der oben derung spricht für Myasthenie. In der Regel verkleinert beschriebenen Lidzuckung ergibt sich eine Zuckung des Auges. Durch die postsakkadische Rückdrift kann eine sich der Winkel (16). Er kann sich aber auch vergrößern, wenn der weniger paretische kontralaterale Synergist Serie von Nachstellrucken erforderlich werden, sodass auf Tensilon besser anspricht als der stärker paretische eine nystagmusähnliche Bewegungsfolge entsteht. Agonist. Eine Zuckung des Auges kommt zwar auch bei nicht- Es gibt nur wenige Myastheniker, die auf Tensilon nicht myasthenischen Lähmungen vor, jedoch immer nur in einer Richtung, der Zugrichtung des nicht betroffenen An- ansprechen. Ein negatives Testergebnis schließt daher tagonisten (s. Abb. 4.28). Kennzeichnend für Myasthenie Testergebnis sind die folgenden zwei Gründe in Betracht ist, wenn die Zuckung sowohl bei Ab- als auch bei Adduktion bzw. sowohl bei Hebung als auch bei Senkung auf- zu ziehen: Zum einen kann bereits eine Dauerbehandlung mit einem Acetylcholinesterasehemmer (zum Beispiel Py- tritt. Die Amerikaner sprechen in einem solchen Fall an- ridostigmin) laufen, sodass Acetylcholin im synaptischen schaulich von Jelly-like Eye Movements. Spalt auch ohne Tensilon schon im Überschuss vorhanden eine Myasthenie nicht sicher aus. Für ein falsch negatives Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. verbliebenen Acetylcholinrezeptoren erregt werden und 4.2 Augenmuskellähmungen ist. Zum anderen kann die Schädigung der Acetylcholin- geeignete Broschüre zusammengestellt, in der sich rezeptoren schon sehr weit fortgeschritten sein. Extrem eine Liste der verdächtigen Medikamente mit Aus- selten kann der Tensilon-Test auch einmal bei einer nichtmyasthenischen Lähmung schwach positiv ausfallen. weichmöglichkeiten befindet. Die Komplikationsrate des Tensilon-Tests ist bei Gesun- Therapie Die Allgemeinbehandlung der Myasthenia den gering (21). Als zwar sehr seltene, aber dramatische gravis sollte durch einen darin besonders erfahrenen Neu- Komplikationen sind aber Herzstillstand und Asthmaan- rologen oder Internisten geleitet werden. In Betracht zu fall beschrieben worden. Diese Komplikationen entstehen ziehen sind Cholinesterasehemmer (zum Beispiel Mesti- dadurch, dass das Tensilon nicht nur die Cholinesterase an non), immunsuppressive Medikamente und Thymekto- der quergestreiften Muskulatur hemmt, sondern auch die mie. Im Rahmen dieses Buches können nur lokale Behand- am vegetativen Nervensystem. Tensilon wirkt also wie eine Vagusreizung. Das bereit gehaltene Atropin dient dazu, die vegetativen Acetylcholinrezeptoren blockieren lungsmöglichkeiten besprochen werden. Gegen Doppelbilder kann man Prismenfolien unterschiedlicher Stärke empfehlen, die der Patient je nach Be- zu können. Bei Asthma sowie bei schwerem Herzleiden darf auf seine Brille klebt. Nützlich kann auch eine Sektor- sollte auf den Tensilon-Test ganz verzichtet werden. folie zur Abblendung des diplopischen Blickfeldanteils Eine nach Ausschluss von Asthma und Herzrhyth- sein. Wenn das Binokularsehen gar zu unsicher ist, muss musstörung ungefährliche Alternative für den Tensilon- man ein Mattglas verschreiben. Manche Patienten kom- Test ist die Gabe eines Dragees von 60 mg Mestinon. men mit einer Ptosisbrille zurecht. Steht das Herabhängen Der Effekt lässt sich allerdings erst nach etwa einer Stunde feststellen. des Oberlides im Vordergrund und funktioniert der M. frontalis noch verhältnismäßig gut, kann eine vorsich- Weiterführende Untersuchungen eine Implantation von Fascia lata, die aus dem Oberschen- n Der Patient sollte einem elektrophysiologisch versierten kel des Patienten entnommen wird. tig dosierte Ptosisoperation erwogen werden, insbesondere Neurologen mit der Frage einer Generalisierung vorgestellt werden. Außer der klinischen Untersuchung führt der Neurologe dann auch eine Elektromyographie Lambert-Eaton-Syndrom der Handmuskeln durch. Im Falle einer Myasthenie wird das Aktionspotenzial bei wiederholter Reizung Im Gegensatz zur Myasthenia gravis ist die neuromusku- des N. ulnaris allmählich kleiner, denn das von einer läre Übertragung beim Lambert-Eaton-Syndrom präsynap- Nervenfaser ausgelöste Aktionspotenzial wird auf eine tisch gestört: Das Acetylcholin kann nicht in ausreichen- immer kleiner werdende Zahl von Muskelfasern über- der Menge aus der Nervenendigung in den synaptischen tragen. Unter Tensilon erholt sich die neuromuskuläre Spalt ausgeschüttet werden. Ursache sind Antikörper Übertragung. n Eine Computertomographie des Thorax gibt Aufschluss gegen die spannungsabhängigen Kalziumkanäle. Die Anti- darüber, ob ein Thymom oder eine Thymushyperplasie vorliegt. liegt ein kleinzelliges Bronchialkarzinom zugrunde. Von der Lähmung betroffen sind vorwiegend die Ske- n Ein Internist sollte klären, ob der Patient weitere Auto- lettmuskeln. Ptosis kommt aber vor. Im Gegensatz zur immunerkrankungen hat. Häufig mit Myasthenie kom- Myasthenia gravis gibt es beim Lambert-Eaton-Syndrom biniert sind rheumatische Erkrankungen, Schilddrüsen- keine Ermüdungsreaktion. Im Gegenteil: Bei anhaltendem erkrankungen und Lupus erythematodes. Aufblick fällt das Oberlid nicht herunter, sondern es hebt n Das Serum sollte auf Antikörper gegen Acetylcholin- körper entstehen in 2/3 der Fälle paraneoplastisch. Meist sich. rezeptoren untersucht werden. Allerdings findet man gerade bei der okulären Myasthenie in der Hälfte der Fälle keine Erhöhung des Titers. n Viele Medikamente können die Myasthenie verschlim- mern oder gar auslösen. Verdächtig sind insbesondere Antibiotika, kardiovaskuläre Medikamente, Antikonvulsiva, psychotrope Medikamente, Rheumamittel, Spas- 4.2.9 Chronisch progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO) molytika und chininhaltige Grippemittel. Die Deutsche Myasthenie Gesellschaft1 hat eine auch für Patienten Die CPEO ist eine über Jahre allmählich zunehmende Lähmung aller äußeren Augenmuskeln unter Einschluss des M. levator palpebrae. Die Muskeln der Pupille und des Zi1 www.dmg-online.de 463 liarkörpers sind nicht betroffen. Die CPEO kann in jedem Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. G. Kommerell 4 Störungen der Augen-, Lid- und Pupillenmotorik Lebensalter beginnen, von der Kindheit an bis zum mittleren Erwachsenenalter. Je früher, um so schwerer ist der Verlauf. Da die Muskeln beider Augen meist symmetrisch gelähmt sind, schielen die Patienten in der Regel nicht. Meist suchen sie den Augenarzt wegen allmählich zunehmender Ptosis auf. Ausnahmsweise ist die Lähmung der Augenheber ausgeprägter als die der Lidheber. In diesen Fällen entsteht nicht eine Ptosis, sondern durch den verstärkten Hebungsimpuls eine Retraktion der Oberlider (98, 4.4.5). Bei den meisten Patienten mit CPEO ist auch der M. orbicularis oculi betroffen. An der Skelettmuskulatur findet man nur geringe Lähmungen, am ehesten noch an den rumpfnahen Muskeln (57). Eine Kombination von CPEO mit Pigmentklümpchen in der Netzhaut (im Gegensatz zur Retinitis pigmentosa liegen sie vorwiegend im Zentrum und sind mit keiner wesentlichen Sehstörung verbunden), Reizleitungsstörung des Herzens und Minderwuchs wird als Kearns-Sayre-Syndrom bezeichnet. und weiblichen Nachkommen weiter gegeben werden, wie das bei der Leberschen Optikusatrophie der Fall ist. Glücklicherweise geschieht dies bei der CPEO aber nur in etwa 5 % der Fälle (121). Dies lässt sich wie folgt erklären: In jedem Mitochondrion existiert die mitochondriale DNA 5- bis 10-mal, und jede Körperzelle enthält bis zu 1000 Mitochondrien. Daher gibt es die mitochondriale DNA in jeder Körperzelle bis zu 10.000-mal. In aller Regel ist nur ein Teil dieser DNA-Moleküle mutiert, ein Umstand, der als Heteroplasmie bezeichnet wird. Bei der Reifung der Eizelle vermehren sich die DNA-Moleküle so stark, dass schließlich etwa 100.000 Exemplare vorliegen. Zur Vermehrung in der Eizelle zugelassen wird aber nur eine kleine Auswahl, und das sind überwiegend die DNA-Moleküle, die die CPEO-Mutation nicht tragen. Ungeklärt ist noch, warum sich die CPEO fast nur an den Augenmuskeln manifestiert, obwohl die Skelettmuskeln denselben Gendefekt tragen. Auch weiß man noch nicht, warum die CPEO im Laufe des Lebens fortschreitet. Ein (allerdings bisher nicht nachgewiesener) Grund könnte in einer ungünstigen Entwicklung der Heteroplasmie liegen: Die mutierten DNA-Moleküle könnten sich im Laufe des Lebens stärker vermehren als die normalen. Da die Reizleitungsstörung des Herzens lebensbedrohend Therapie sein kann, müssen Patienten mit CPEO regelmäßig elek- der CPEO aufzuhalten. Obwohl das Coenzym Q10 bei der trokardiographisch untersucht werden, vor allem auch CPEO vermindert ist, bringt eine Substitution keine Bes- vor geplanten Operationen, damit rechtzeitig ein Herz- serung (9, 10). schrittmacher implantiert werden kann. Es ist bisher nicht gelungen, das Fortschreiten In den seltenen Fällen, die durch asymmetrischen Befall der Augenmuskeln eine Schielstellung mit Diplopie auf- Pathogenese Der CPEO liegt eine Funktionsstörung der Mitochondrien zugrunde (57). Dadurch ist die Bereitstel- weisen, kann man mit einer Prismenbrille helfen. Mit einer Ptosisoperation muss man sehr zurückhaltend lung von Energie in Form von Adenosintriphosphat = sein, da die Gefahr einer Hornhautaustrocknung groß ist. ATP beeinträchtigt. Um diese Störung wenigstens einiger- Dies erklärt sich aus dem Fehlen des Bell-Phänomens maßen zu kompensieren, werden die Mitochondrien im und der meist zusätzlich vorhandenen Lähmung des Lid- Plasma der betroffenen Zelle vergrößert und vermehrt. schlussmuskels. Wenn der M. frontalis noch einigerma- Die betroffenen Muskelzellen bekommen wegen der dich- ßen funktioniert, kommt eine vorsichtig dosierte Ptosis- ten Bepackung mit Mitochondrien im Lichtmikroskop das operation mit Brauenaufhängung des Oberlids in Betracht. Aussehen von „Ragged red Fibers”. Es kann ratsam sein, die Ptosisoperation zunächst nur an einem Auge durchzuführen, um nur eine Hornhaut dem Die ATP-Bildung ist durch eine Veränderung der mitochondrialen DNA beeinträchtigt. Dabei gibt es drei Möglichkeiten, die durch molekulargenetische Untersuchungen eines zur Probe entnommenen Stückchens der Skelettmuskulatur unterschieden werden können: Punktmutation, singuläre Deletion oder multiple Deletionen. Bei etwa 60 % der CPEO-Patienten liegt eine singuläre Deletion vor, die mehrere tausend Basenpaare betreffen kann (19). In diesem Fall wird die CPEO so gut wie nie weiter vererbt. Bei etwa 20 % der CPEO-Patienten findet man multiple Deletionen. Deren Ursache liegt meist in einer Mutation der im Zellkern liegenden chromosomalen DNA („intergenomische Kommunikation”, 19), die nach den Mendel-Regeln weiter vererbt wird, entweder autosomal dominant oder autosomal rezessiv. Bei etwa 5 % der CPEO-Patienten lässt sich eine Punktmutation identifizieren. Bislang bleiben etwa 15 % der CPEO-Patienten, bei denen die molekulargenetische Untersuchung noch keinen Gendefekt zeigen kann. Man könnte erwarten, dass primäre Veränderungen der mitochondrialen DNA (deren Ursache nicht in der chromosomalen DNA liegt), von betroffenen Müttern an alle ihre männlichen Risiko des Austrocknungsschadens auszusetzen. Differenzialdiagnose Die CPEO muss von Motilitäts- störungen unterschieden werden, die durch eine Hirnstammläsion entstehen. Dies ist nicht schwierig, da bei der CPEO alle Arten von Augenbewegungen in gleichem Maße beeinträchtigt sind. So sind die Bewegungsstrecken sowohl beim Folgen als auch beim vestibulookulären Reflex eingeschränkt, und die Sakkaden laufen verlangsamt ab. Bei den Hirnstammläsionen sind dagegen die einzelnen Arten von Augenbewegungen meist in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Im Gegensatz zur Myasthenie entwickelt sich die CPEO schleichend über Jahre, und die Lähmungen ändern sich nicht im Laufe eines Tages oder bei Belastung. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 464 G. Kommerell 4.3 Supranukleäre Augenbewegungsstörungen 4.2.10 Symptomatische Therapie der Augenmuskellähmungen 465 entgegenzuwirken, ist nicht entscheidend, da sich die Kontraktur ohnehin löst, wenn der paretische Muskel seine Kraft zurückgewinnt. Nur wenn eine Reinnervation ausbleibt, kann man etwa einen Monat vor der geplanten Operation auf die Okklusion des frei beweglichen Auges Bei störender Diplopie empfiehlt es sich, stets ein und überwechseln, um den Bewegungsspielraum des pareti- dasselbe Auge zu okkludieren. Dadurch vermeidet man schen Auges zu erweitern. die Orientierungsstörung, die bei jedem Seitenwechsel Bei geringer Parese sollte man stets versuchen, den in zu erwarten wäre. Wenn der Patient mit dem frei be- Mittelposition gemessenen Schielwinkel mit Prismenfo- weglichen Auge gut sehen kann, sollte das paretische lien zu korrigieren. Der Patient wird diese Korrektur um okkludiert werden. Nur bei Kleinkindern sollte man alternierend okkludieren, um eine Schielamblyopie zu so eher annehmen, je geringer die Inkomitanz und je geringer die Zyklotropie ist. Im Zweifelsfall lohnt sich ein vermeiden. Versuch über drei Tage, um die Chance zu bieten, dass lassen, um der Kontraktur des ipsilateralen Antagonisten 4.3 sich das binokulare Blickfeld durch zentralnervöse Anpassung erweitert (S. 447 f). Supranukleäre Augenbewegungsstörungen In diesem Kapitel sind die wichtigsten supranukleären Augenbewegungsstörungen unter pathophysiologischen Horizontale einseitige Blicklähmung und diagnostischen Gesichtspunkten zusammengefasst. neurophysiologischen Bevor man eine Blicklähmung diagnostiziert, sollte man Grundlagen und Untersuchungstechniken werden voraus- eine psychogene Hemmung der Blickwendung in Betracht gesetzt. ziehen. In solchen Fällen ist der Patient nicht dazu zu bringen, den Blick über die Mittellinie zu einer Seite zu Die in Kap. 1.3 beschriebenen wenden. Charakteristisch für die psychogene Hemmung der Blickwendung ist eine normale Okulomotorik im übri- 4.3.1 Blicklähmungen gen Blickfeld. Insbesondere sieht man keine Sakkadenverlangsamung beim Blick von der „guten“ Seite zur Mitte. Außerdem funktionieren Optokinetik und vestibulookulä- Blicklähmungen sind Störungen der Beweglichkeit beider rer Reflex, und es findet sich kein Nystagmus. Augen. Sie kommen durch Schädigung der supranukleären Schaltstrukturen zustande, die für konjugierte Augen- Pontine Läsion bewegungen zuständig sind. Läsion ipsilateral, und zwar entweder im Abduzenskern Unter dem althergebrachten Begriff „Blicklähmung“ wird heute meist eine Beeinträchtigung des Sakkadenpul- Bei der pontinen Blicklähmung liegt die oder in der paramedianen pontinen retikulären Formation (PPRF; s. Abb. 1.81, 1.82, 4.45). ses verstanden. Jedenfalls wird der Begriff im vorliegen- Bei einem Schaden des Abduzenskerns sind sowohl die den Kapitel so gebraucht. Da die verschiedenen Typen Motoneurone des N. abducens betroffen als auch die in- der konjugierten Augenbewegung von unterschiedlichen ternukleären Neurone, die zu den kontralateralen Moto- Strukturen im Gehirn veranlasst werden, können die Folgebewegung und der vestibulookulärer Reflex bei einer neuronen des M. rectus medialis projizieren. Daher sind alle Arten konjugierter Augenbewegungen zur Seite der Blicklähmung ausgespart sein. Läsion gestört. n Bei einer reinen Blicklähmung ist die Beweglichkeit lateral gerichteten Augenbewegungen aus: Betroffen sind des rechten und des linken Auges in gleichem Ausmaß eingeschränkt, und der Patient schielt nicht. die Blickzielbewegungen, auch die vom kontralateralen Bei einem Schaden der PPRF fallen nur die raschen, ipsi- Blickfeld zur Mitte gerichteten, sowie die schnellen Phasen des optokinetischen und vestibulären Nystagmus. Eine reine Blicklähmung ist jedoch selten. Wegen der engen Nachbarschaft der Blickzentren zu den Kernen Die Folgebewegungen sowie die langsamen Phasen des optokinetischen und vestibulären Nystagmus bleiben da- und Wurzeln der Hirnnerven III, IV und VI ist die Blickläh- gegen ungestört (75). mung häufig mit Lähmungsschielen kombiniert. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Kaufmann, H.: Strabismus (ISBN 9783131297235) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Das Argument, man müsse das paretische Auge fixieren