Essen macht Geschlecht

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TITEL
Foto: Mauritius
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Dr. Jana Rückert-John · Dr. René John
Essen macht Geschlecht
Zur Reproduktion der Geschlechterdifferenz durch kulinarische Praxen
Geschlechterdifferentes Verhalten in verschiedenen
gesellschaftlichen Handlungsbereichen aufzuzeigen,
scheint seit einiger Zeit wieder von großem Interes­
se zu sein. Schaut man sich den Sachbuchmarkt an,
so erfährt man, warum Frauen schlecht einparken
und Männer nicht zuhören können sollen.
Für den Bereich der Ernährung lassen sich Schlagzeilen wie „Frauen essen anders, Männer auch“ finden.
Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie Verhaltensunterschiede als „ganz natürlich“ erklären und den
genetischen Anlagen zuschreiben. Aus soziologischer
Perspektive lassen sich die präsentierten Befunde zum
geschlechterdifferenten Ernährungsverhalten anders
interpretieren. Dieses Verhalten hängt nicht vom geschlechtlichen Körper ab, sondern ist eine Ausdrucksform der jeweiligen Geschlechterrolle.
Ernährung im Fokus 9-05 | 09
Unterschiede im Ernährungsverhalten
­zwischen Mann und Frau
Die aktuellen Ergebnisse der Nationalen Verzehrsstudie (NVS II) aus 2008 zeigen deutlich, auf welche geschlechtsspezifischen Unterschiede im Ernährungsverhalten die naturwissenschaftlich geprägte Ernährungsforschung rekurriert. Auch hier finden sich die bereits
durch andere Studien bekannten Unterschiede im Ernährungsverhalten zwischen Männern und Frauen erneut bestätigt. Vier zentrale statistische Zusammenhänge zwischen verzehrten Nahrungsmitteln und Geschlecht können dafür als exemplarisch gelten (Max
Rubner-Institut 2008).
Ein erster Befund der NVS II besagt, dass Frauen 129
Gramm Gemüse pro Tag essen und Männer 112 Gramm.
Dazu zählen Gemüse (ohne Saft), Pilze und Hülsen-
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Beim Konsum alkoholischer Getränke, dem vierten Befund, liegen Männer abermals vorn (Abb. 2). Sie nehmen
durchschnittlich pro Tag 308 Gramm alkoholische Getränke zu sich, Frauen lediglich 81 Gramm. Damit trinken Männer fast viermal mehr alkoholische Getränke als
Frauen. Auffällig ist, dass Männer über 80 Prozent der
alkoholischen Getränke als Bier und etwa 15 Prozent als
Wein trinken. Bei Frauen ist der Anteil von Bier (48 Prozent) und Wein (47 Prozent) etwa gleich. Die ­Differenz
zu 100 Prozent entspricht bei beiden Geschlechtern der
Kategorie Spirituosen und Sonstiges. Die Empfehlungen der DGE lauten hier: maximal 20 Gramm reinen
Alkohol pro Tag für Männer und 10 Gramm pro Tag
für Frauen.
Frauen scheinen sich demnach – nimmt man die Empfehlungen der DGE als Referenz – gesünder zu ernähren als Männer. Sie verfügen häufig auch über ein höheres Ernährungswissen: Die bei der NVS II abgefragten
Produkte, wie probiotischer Jogurt oder ACE-Getränke,
kannten Frauen häufiger als Männer. Als weiteres Indiz
für eine gesündere Ernährung der Frauen gilt auch ihre
geringere Prävalenz von Übergewicht und Adipositas:
50,6 Prozent übergewichtige oder adipöse Frauen stehen
66 Prozent übergewichtigen oder adipösen Männern gegenüber.
Spätestens nach einer derartigen Darstellung der Befunde ist die Frage nach Erklärungen dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede im Ernährungsverhalten angezeigt. Ernährungswissenschaftliche Studien wie die
NVS II liefern hierzu jedoch wenige oder unbefriedigende Antworten. Ihre Leistungsfähigkeit besteht in der
Beschreibung von Unterschieden im Ernährungsverhalten. Das Geschlecht gilt dabei als vorsoziales Differenzierungskriterium. Damit bleiben das Zustandekom-
120
Männer
Frauen
100
Gramm pro Tag
Ein zweites Ergebnis, das sich auf den Obstverzehr bezieht, entspricht ebenfalls diesem Muster: Frauen essen
mit durchschnittlich 278 Gramm pro Tag mehr Obst,
Obsterzeugnisse und Trockenobst als Männer mit 230
Gramm. Die DGE empfiehlt täglich zwei Portionen
(Frisch-)Obst, das sind 250 Gramm.
Beim Verzehr von Fleisch, dem dritten Befund, drehen sich die geschlechtsspezifischen Muster um: Männer essen durchschnittlich 103 Gramm Fleisch pro
Tag, Frauen hingegen lediglich 53 Gramm (Abb. 1).
Männer verzehren damit etwa doppelt so viel Fleisch,
Wurstwaren und Fleisch­erzeugnisse wie Frau­en.
Etwa 2,5 Prozent der Befragten verzehrten im Un­
tersuchungszeitraum kein Fleisch oder keine Fleisch­gerichte. Bei Frauen ist der Anteil mit 3,4 Pro­zent mehr
als doppelt so hoch wie bei Männern, was Anhaltspunkte für einen höheren Anteil an Vegetarierinnen gibt.
men, die Konstitution sowie soziale und kulturelle Hintergründe der Geschlechterkategorie unreflektiert (Setzwein 2004). Geschlecht als „natürliche“, fixe und unabhängige Beschreibungskategorie hat keinen Erklärungswert.
Werden dennoch Erklärungen gesucht, so verweisen
diese meist auf einen physiologisch begründeten unterschiedlichen Bedarf. Mit Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede wie beim Alkoholkonsum haben sie
jedoch begrenzte Aussagekraft.
Erwartbare geschlechtsspezifische Unterschiede entstehen durch diese Art der Forschung ständig aufs Neue.
Am Ende sind lediglich die Auswirkungen der Geschlechterdifferenz in der Ernährung sichtbar. Unterschiede im Ernährungsverhalten lassen sich nur angemessen verstehen, wenn zunächst eine Konzeptualisierung von Geschlecht und Ernährung als soziale Phänomene erfolgt.
80
60
40
20
0
14–18
19–24
25–34
35–50
51–64
65–80
Altersgruppen
Abbildung 1:Täglicher Verzehr von Fleisch (g) nach Geschlecht und Alter (NVS II)
360
Männer
Frauen
320
280
240
Gramm pro Tag
früchte. Zählt man noch Gerichte auf Gemüsebasis hinzu, das sind zum Beispiel Salate aus gekochtem Gemüse
und aus Rohkost sowie Gemüsegerichte mit Soßen oder
überbacken, verdoppeln sich die Angaben annähernd
(Frauen 243 g/d; Männer 222 g/d). Für beide Geschlechter gilt jedoch, dass ihr Gemüseverzehr weit unter den
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) von 400 Gramm Gemüse pro Tag liegt.
200
160
120
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Altersgruppen
Abbildung 2:Täglicher Konsum alkoholischer Getränke (g) nach Geschlecht und
Alter (NVS II)
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TITEL
Ernährung und Geschlecht: Zwei Natur­
aspekte der Gesellschaft
Kaum etwas scheint der Gesellschaft so vorgelagert
zu sein wie das Bedürfnis nach Nahrung und die geschlechtliche Auszeichnung des Menschen. Beides verweist auf den Körper, eine der wichtigsten Bedingungen
des Seins in dieser Welt. Der Körper gibt dem Menschen
mit seinen Reaktionen Auskunft über sein Befinden in
der Welt. So kann er sich als deren Teil begreifen und als
bewusstes Individuum davon unterscheiden. Nahrung
als Bedingung körperlicher Existenz und Geschlecht als
ein Strukturmerkmal körperlicher Form werden darum
gemeinhin der Welt jenseits der Gesellschaft, nämlich
der Natur, zugerechnet. Und das funktioniert im Alltag
ohne Frage hinreichend gut, denn geschlechtliche Ordnung vermittelt soziale Sicherheit.
Aus dem Blick gerät jedoch, dass Nahrung wie auch die
Merkmale des Körpers nicht von sich aus sinnvoll sind,
sondern erst durch die Gesellschaft Bedeutung erlangen.
Ernährung und Geschlecht, wie überhaupt die Natur,
sind soziale Phänomene, die in und durch Kommunikation und Handlungen in ihrer Bedeutung entstehen und
erst so als Bedingungen für weitere Kommunikation
und Handlungen gegeben sind. Der soziale Charakter
dieser Phänomene wird allein schon an deren veränderlichen Be-Deutungen klar: Ernährung und Geschlecht
unterliegen dem sozialen Wandel. Darauf ist insbesondere dann hinzuweisen, wenn in Debatten „natürliche“
Grundlagen zur Erklärung sozialer Unterschiede herangezogen werden. Das Bewusstsein über die soziale Konstitution gesellschaftlicher Umwelt, wie Natur, ist noch
nicht alt. Deshalb kreisen die Debatten wiederholt um
die Dekonstruktion des überkommenen Selbstverständlichen und dessen Verteidigung. Allein der Zweifel an
der Selbstverständlichkeit dieser Phänomene aber hat
ihren unhinterfragbaren Status schon zerstört. Gerade
weil dieser Status nicht wiederzuerlangen ist, gehen die
Debatten weiter.
Ernährung ist eine Praxis, die weit mehr umfasst als die
bloße Aufnahme von Nahrungsmitteln. Vielmehr handelt es sich dabei um eine vielfältige Aneignung der Umwelt, die im engeren Sinne die Unterscheidung des Essbaren vom Nichtessbaren, die Vor- und Zubereitung, die
Art des Verzehrs, die damit verbundenen Körperzustände und die Ausscheidung umfasst. Im weiteren Sinne
betrifft Ernährung auch Landbau, Ökonomie, rechtliche Regelungen, kulturelle Unterscheidungen und andere gesellschaftliche Aspekte. Hirschfelder (2001) betont
sogar, dass das Problem der Ernährung eine besondere Rolle bei der Menschwerdung des Affen gespielt hat.
Beschaffung, Zubereitung und Verzehr haben ohne Frage eine überaus große soziale Bedeutung. Darauf wies
schon Marcel Mauss in seiner Untersuchung zu Tausch
und Gabe 1924 hin. Ernährung beschrieb er als ein soziales Totalphänomen (Mauss 1990). Gerade im Geben
und Nehmen von Nahrung, beim gemeinsamen Verzehr
treten die physischen Nöte hinter der Bildung so­zialer
Bindungen zurück. Die folgende anthropologische Forschung fügte Beispiele um Beispiele an, wie sich die Familie, Freundeskreise und Nachbarschaften beim Essen und beim Tausch von Nahrungsmitteln erneuerten.
Ebenso spielt Ernährung für das nationale Selbstverständnis eine wichtige Rolle, sei es als Teil des eigenen
Wertekanons, sei es als symbolischer Vorrat für Schmähungen anderer. Selbst wenn die daran sichtbar werdenden kulturellen Formen von Ernährungspraxen letztlich
alle im physischen Nahrungsbedürfnis gründen sollten,
was einer zu starken Reduktion gleich käme, so haben
die etablierten Formen der Ernährungspraxen längst
ganz andere Funktionen übernommen, die allein soziale Zwecke erfüllen. Das wird heute in der alltäglichen
Nahrungsaufnahme – zumindest in der westlichen Welt
– deutlich: Der bloße Hunger ist beinahe überall und sofort zu stillen, zum Essen verabredet man sich jedoch
besser ohne knurrenden Magen und mit viel Zeit.
Foto: Mauritius
Ernährung und Ge­
schlecht sind sozia­
le Phänomene. Sie
beeinflussen unsere
Gesellschaft und
werden von ihr be­
einflusst.
Das Soziale der Ernährung
Ernährung im Fokus 9-05 | 09
TITEL
Die soziale Bedeutung des Geschlechts
Ist man bei Ernährung leicht bereit, sie als soziales Phänomen, als Praxis zu akzeptieren, sind die Widerstände
gegen die Erklärung von Geschlecht als ein Naturaspekt
der Gesellschaft ungleich größer. Dabei hat die Erosion
der Selbstverständlichkeit geschlechtlicher Unterscheidungen eine viel längere Geschichte als die der Ernährung. Der Zweifel an der außersozialen Geschlechtlichkeit setzt nicht erst mit Simone de Beauvoirs Erkenntnis ein, dass die soziale Stellung der Frau nicht Folge
ihres Körpers ist, sondern ein gesellschaftliches Arrangement. Diese Aussage konnte sich bereits auf eine fast
hundertjährige Emanzipationsbewegung berufen. Es
lassen sich darüber hinaus weit frühere Hinweise dafür
finden, dass körperliche Unterschiede immer dann herausgestellt wurden, wenn es um die Begründung unterschiedlicher sozialer Stellungen ging. Daran hat sich bis
heute nichts geändert.
Schon Aristoteles (1994) bediente sich der Argumentationsfigur, mittels körperlicher Unterschiede, die männliche Vormachtstellung gegenüber der Frau zu begründen. Der Zweifel am vorsozialen Charakter der Geschlechtlichkeit gründet nicht auf die heute unhaltbaren
anatomischen Vorstellungen dieser und anderer Argumentationen. Es ist vielmehr die über die Jahrhunderte
zu beobachtende Wandlungsfähigkeit der anatomischen
Deutungen, die die männlichen und weiblichen Körper
als soziale Konstrukte erscheinen lassen. In seiner Studie
zum Wandel des Geschlechtermodells ab dem 17. Jahrhundert zeigte Laqueur (1992), dass es nie so sehr um die
Exaktheit der Bestimmung sexueller Körpermerkmale
ging, sondern um deren Interpretation im Schema der
etablierten Ungleichstellung von Mann und Frau. Die
Körpermerkmale sind darum nicht schon kulturell zu
nennen, sie sind jedoch unweigerlich der kulturellen BeDeutung ausgesetzt und zwar vor allem im schon etablierten Sinne. Die schon vor Aristoteles angenommene
unterschiedliche Ausprägung gleicher geschlechtlicher
Anlagen wandelte sich in eine unüberbrückbare Differenz zwischen den Geschlechtern. Das Begründungsziel,
die übergeordnete soziale Stellung des Mannes gegenüber der Frau, blieb unverändert, die Argumente änderten sich entsprechend eines neuen Verständnisses von
Wissenschaftlichkeit. Dabei wurde vor allem der weibliche Körper untersucht und pathologisiert (Bergmann
1998), was zur medizinischen Spezialisierung der Gynäkologen führte. Ihr männlicher Gegenpart lässt bis heute auf sich warten. Die Beschreibung körperlicher Anatomie ist eben nicht die Anatomie selbst, sondern schon
deren kulturelle Interpretation, was erst recht gilt, wenn
daraus Folgerungen für soziale Phänomene abgeleitet
werden. Seit ein paar Jahren sind die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften und ihre sozio-psychologische Interpretation diese kurzschlüssige Deutungsallianz eingegangen.
Die heutige Geschlechterdebatte konzentriert sich nicht
mehr allein darauf aufzuzeigen, inwiefern anatomische
Körpermerkmale für die Zuweisung sozialer Stellungen
in Anspruch genommen werden. Vielmehr geht es auch
darum offenzulegen, dass Geschlecht Wahrnehmungskategorien bereitstellt, die nicht ohne weiteres zu hintergehen sind. In kulturell westlich geprägten sozialen
Kontexten werden allein weibliche und männliche Personen erwartet. Diese Erwartung fällt spätestens bei androgynen Irritationen auf. Mit geschlechtlich definierten Körpern verbindet sich nämlich auch die Erwartung
geschlechtsspezifischer Rollen, wie Weinbach (2004)
deutlich machte. Weibliche Geschlechterrollen sind dabei mit Attributen gekoppelt, die ein instabiles Entscheidungsverhalten in dem Sinne auszeichnen, das Frauen
im Wesentlichen wenig riskofreundig auf die jeweiligen
Umstände gestimmt erscheinen lässt. Männer hingegen
werden durch ein stabiles Entscheidungsverhalten attribuiert, was auf größere Sicherheit gegenüber sich wandelnden Umständen hindeutet. Die Attributionen weiblicher Anstrengung und männlicher Fähigkeit bei der
Bewältigung der Verhältnisse sind Stereotype, die derzeit als kulturell universal gelten.
Wie für Ernährung lässt sich auch für Geschlecht zeigen, dass es sich dabei um ein soziales Phänomen handelt, das zwar ebenfalls Anlässe bei der Physis findet,
aber darüber weit hinausgehende soziale Funktionen
hat. Ernährung und Geschlecht sind soziale Be-Deutungen, deren Konstruiertheit sich hinter der Fassade einer vorgeblich vorsozialen Natur versteckt. Andernfalls
könnten weder Ernährung noch Geschlechterrollen so
problemlos die Gesellschaft am Laufen halten.
Ernährungswissenschaftliche Studien wie die NVS II
zeigen den Zusammenhang von Ernährung und Geschlecht oder bieten zumindest Anlässe für die Richtigkeit der Annahme, es handele sich trotz gegenteiliger
Argumente um nichtsoziale Gegebenheiten, denen sich
die Menschen als Mann und Frau beugen müssten. Jedoch stehen hier zwei soziale Phänomene in einem tautologischen Erklärungsverhältnis: Weil Männer männlich essen, sind sie Männer, und für Frauen gilt das auf
ihre Art ebenso. Schon die Formulierung der Frage nach
geschlechtertypischen Ernährungsmustern bedient sich
der kulturellen Interpretation und unterliegt den gegebenen Erwartungen. Dagegen ist einzuwenden, dass sich
ohne Frage beim Essen geschlechterrollenkonforme Erwartungen verwirklichen. Es handelt sich aber um als
Naturaspekte formulierte soziale Erwartungen. Diesen
ist in ihrer sozialen Konstruiertheit durchaus auf die
Spur zu kommen, indem man andere Perspektiven anlegt als die von männlich und weiblich. Aus der Komplexität der Perspektiven ergibt sich unweigerlich ein
Zweifel am monokausalen Zusammenhang zwischen
den gesellschaftlichen Naturaspekten Ernährung und
Geschlecht.
Ernährung und Geschlecht im komplexen
Deutungsgeflecht der Gesellschaft
Vor dem Hintergrund der sozialen Perspektiven auf Ernährung und Geschlecht lassen sich die empirischen Ergebnisse der NVS II anders lesen. Zunächst werden die
suggerierten Evidenzen geschlechtlich differenzierter
Ernährungspraxen dadurch relativiert. So beträgt der
9-05 | 09 Ernährung im Fokus
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Gemüsemehrverzehr der Frauen gegenüber den Männern lediglich 17 Gramm pro Tag. Es stellt sich die Frage, warum aufgrund dieses geringen Unterschieds auf
die Geschlechterdifferenz verwiesen wird. Selbst wenn
man diesen Unterschied über die Zeit extrapoliert,
scheinen die Unterschiede geringfügig und das Salatblatt den Kohl nicht fett zu machen. Weitaus bemerkenswerter sind die den geschlechtlich ausgezeichneten Verzehrsmengen von Gemüse nahezu gleich großen
Abweichungen zu den DGE-Empfehlungen von täglich 400 Gramm. Beim Obst ist die numerische Differenz zwischen den Geschlechtern zwar deutlicher ausgeprägt, doch entspricht diese lediglich einem Apfel pro
Tag. Zudem ist zu erkennen, dass sich die geschlechtlich unterschiedlichen Verzehrsmengen im Alter angleichen. Beim Alkohol ließe sich fragen, ob der höhere reine Alkoholgehalt vom eher weiblichen Getränk Wein
die geschlechtlichen Unterschiede im Alkoholkonsum
zumindest reduziert. Bereits die Darstellung der empirischen Befunde gibt Anhaltspunkte für eine pauschale Fixierung auf die Bestätigung erwartbarer Geschlechterrollenstereotype.
Allein durch die Hinzunahme der Kategorie Alter wird
auch in der NVS II deutlich, dass es keine Ernährungsmuster der Frauen und der Männer gibt und ihre Reduzierung auf zwei Ausprägungen nicht haltbar ist. So
wird die geschlechtlich verschiedene soziale Bedeutung
von Alkohol gerade in der Pubertät deutlich. Alkohol
dient vor allem Jungen zur geschlechtlichen Initiierung.
Größere und relevante Unterschiede im Alkoholkonsum
sind eher hinsichtlich anderer sozialer Strukturierungsmerkmale wie der Schichtzugehörigkeit festzustellen.
Die sachfremde Betonung der Geschlechterdifferenz
wird noch deutlicher, wenn man den Befund zum weiblichen und männlichen Ernährungswissen kritisch beleuchtet. Hier steht eine Differenz zur Diskussion, die
schon längst bekannt ist. Der Informationswert solcher
Aussagen tendiert darum gegen Null, wenn lediglich
Stereotype bedient werden. Interessanter ist es zu fragen, wie diese Stereotype konstituiert und anschließend
Abbildung 3:
Kulinarische ­Ta­xo­nomie und Ge­
schlechterordnung
(nach Setzwein
2004)
statistisch bestätigt werden. Hierzu geben eine Reihe familiensoziologischer und haushaltsökonomischer Untersuchungen Auskunft. Der weibliche Zeitaufwand für
häusliche Arbeit ist ungleich höher als der männliche,
aber das liefert vor allem im Kontext familiensoziologischer Untersuchungen den Hinweis auf die überwiegend
weibliche Verantwortung für das Familien- und Haushaltsleben. Kenntnisse über Lebensmittel sind dann genuiner Bestandteil dieser im Rahmen von Geschlechterrollen zugewiesenen Verantwortlichkeit. Was sich in höherer Lebensmittelkompetenz spiegelt, ist nicht die vorsoziale weibliche Affinität Nahrungsmitteln gegenüber,
sondern eben ein Aspekt der Geschlechterrollenerwartungen. Das betonen die männlich konnotierten Haushaltstätigkeiten vor allem beim Kochen noch zusätzlich,
da sich „männliches Kochen“ eher auf öffentliche und
besondere Situationen wie Grillen, exotische und Feiertagsgerichte konzentriert. Nicht zuletzt die Werbung
macht von diesen Stereotypen hinreichend Gebrauch,
wenn sie Männer im alltäglichen familiären Kochgeschäft als hilflos und unerfahren darstellt. Und auch auf
männliches Publikum abgestellte Zeitschriften bedienen solche Klischees, wenn sie besonders leichte Rezepte
zur Nachahmung empfehlen. Dass es überhaupt solche
Beiträge gibt, deutet aber auf die Veränderung der Geschlechterrollen und umso mehr auf deren soziale Konstruiertheit hin.
Auf der Grundlage der Figur der Geschlechterrollen lassen sich auch andere beobachtbare Differenzen weiblicher und männlicher Ernährungspraxen erklären. Lust
und Verzicht beim Essen und Trinken (Setzwein 2004)
korrespondieren klar mit den Geschlechterattributen
männlicher Fähigkeit und weiblicher Anstrengung. So
ist der Verzicht beim Essen ein überwiegend weiblicher
Aspekt, auf den junge Mädchen schon früh konditioniert werden. Diese Sozialisation, die Diäten für weibliche Personen schon während der Pubertät anempfiehlt,
sexualisiert Kinder entlang der gesellschaftlichen Erwartungen in ihre Geschlechterrollen.
vegatible
Kost
schwere
Küche
leichte
Küche
„starke“
Nahrung
„schwache“
Nahrung
scharfe
Speisen
Rausch
Ernährung im Fokus 9-05 | 09
süße
Speisen
Nüchternheit
Weiblich
Männlich
karnivore
Kost
TITEL
Damit korrespondiert auch der Befund unterschiedlicher Präferenzen beim Fleischkonsum. Gerade Fleisch
gilt als Symbol von Macht, Kraft und Stärke, wie kulturwissenschaftliche Studien gezeigt haben (Fiddes 1993;
Mellinger 2000). Fleisch ist schon wegen dieser symbolischen Bedeutung ein Differenzierungsmerkmal hinsichtlich gesellschaftlicher Stellung. Weil Fleisch im
Laufe der menschlichen Entwicklung spätestens seit
dem Übergang zur Sesshaftigkeit rarer auf den Speiseplänen geworden war und es auch lange blieb, stand
es als Ausdruck einer befriedigenden, einer richtigen
Mahlzeit. Seitdem Fleisch wieder für weite Bevölkerungsteile erreichbar ist, differenzierten sich Fleischarten als rotes und weißes Fleisch mit entsprechend unterschiedlichen Wertschätzungen. Doch nicht nur die
Qualität, auch die Quantität gilt als Ausdruck von Differenz, auch geschlechtlicher, wenn das kleinere Stück
in Restaurants als „Lady-Steak“ bezeichnet wird. Entsprechend der Geschlechterrollenerwartungen gilt
nach der westlich geprägten kulinarischen Taxonomie,
dass Obst und Gemüse schwache Nahrung sind und
darum dem Weiblichen zur Seite stehen, Fleisch und
Alkohol als starke Nahrung entspricht dem Männlichen
(Abb. 1, Setzwein 2004). Denn im geschlechtlichen
Attributionsschema sind Männer fähig, damit adäquat
umzugehen. So wie die unterstellte gesundheitsbewusste Ernährung von Frauen vor allem durch Verzicht und
Disziplinierung erreicht wird, geben sich Männer eher
lustbetont dem Essen wie auch der Regulierung der Folgen durch Sport hin. Darüber hinaus nimmt die durch
Diäten anempfohlene weibliche Askese beim Essen nicht
zufällig pathologische Formen wie Bulimie und Anorexie an (Counihan 2004). Dies als Gesundheitsbewusstsein zu deuten, bewegt sich deutlich jenseits von bloßem
Euphemismus. Der in der NVS II herausgestellte unterschiedliche Anteil übergewichtiger oder adipöser Frauen (50,6 Prozent) gegenüber Männern (66 Prozent) weist
hingegen weniger auf die Geschlechterdifferenz als auf
eine gleiche Problemlage hin. Der Unterschied kann so
leicht als gemeinsames Problem jenseits von geschlechtlicher Zuordnung gelten.
Fazit
Kulturwissenschaftliche, ethnographische und historische Studien können ganz allgemein über die Kontingenz der Formen sozialer Praxen in dem Sinne Auskunft geben, dass jede einfache Ursache-Wirkung-Relation obsolet wird. Studien genuiner Völker zeigen, dass
dort, wo Fleisch nur in sehr geringen Mengen oder im
Überfluss zur Verfügung steht, es seine Bedeutung als
Differenzierungsmerkmal verliert und andere Symbole
für die Markierung sozialer Differenzen auftreten. Auch
historisch lassen sich Wandel und Kontingenz der kulinarischen Ausdrucksformen sozio-struktureller Stellungen zeigen. Diese Stellungen im gesellschaftlichen
Gefüge, deren eine Form eben auch Geschlecht ist, sind
Ressourcen zur Herstellung von Identität. Der Körper ist
eine Gestaltungsaufgabe, bei der Essen ein wichtiges Instrument ist. Dieses muss entsprechend der Geschlech-
terrollen angewandt werden, soll die damit erreichte Geschlechteridentität Chancen auf Akzeptanz haben.
In diesem Sinn ist festzustellen: Essen macht Geschlecht,
denn mittels Essen werden Geschlechterrollen zum Ausdruck gebracht.
Hinsichtlich der geschlechtsorientierten Darstellung der
Ergebnisse der NVS II bleibt festzuhalten, dass nicht die
Ergebnisse derartiger Studien überraschen. Sie sind bekannt und deshalb erwartbar. Eher verwundert, dass solche Untersuchungen in immer gleicher Weise aufgelegt
werden und so zur Reproduktion von Geschlechterstereotypen beitragen. Gerade das beschleunigt deren ohnehin schon längst stattfindenden Bedeutungswandel.
Ein Glossar zum Beitrag finden Sie unter
www.ernaehrung-im-fokus.de in der rechten Serviceleiste
unter „Literaturübersicht“.
Literatur
Aristoteles: Politik. Rowohlt, Reinbek (1994)
Bergmann A: Die verhütete Sexualität. Die medizinische Bemächtigung des Lebens. Aufbau Taschenbuch, Berlin (1998)
Counihan CM: What does it mean to be fat, thin, and female in the
United States? In: Counihan, CM, Kaplan SL (eds.): Food and identity. Identity and power. Routlege, London, 145-162 (2004)
Hirschfelder G: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Campus, Frankfurt (Main),
New York (2001)
Laqueur T: Making sex. Body and gender form the Greeks to Freud.
Harvard University Press, Cambridge, London (1992)
Mauss M: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt (Main) (1990)
Mellinger N: Fleisch. Ursprung und Wandel einer Lust. Campus,
Frankfurt (Main), New York (2000)
Max Rubner-Institut (Bundesforschungsinstitut für Ernährung
und Lebensmittel (Hrsg.): Ergebnisbericht, Teil 1, Nationale Verzehrsstudie II. Karlsruhe (2008)
Setzwein M: Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext. VS-Verlag,
Wiesbaden (2004)
Weinbach C: Systemtheorie und Gender. Das Geschlecht im Netz
der Systeme. VS-Verlag, Wiesbaden (2004)
Für die Autoren
Dr. Jana Rückert-John ist Soziologin und
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Land- und Agrarsoziologie mit Genderforschung der Universität Hohenheim.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ernährungs- und Umweltsoziologie sowie
Genderforschung.
Dr. Jana Rückert-John
Fachgebiet Land- und Agrarsoziologie mit Genderforschung
Universität Hohenheim
70599 Stuttgart
E-Mail:[email protected]
9-05 | 09 Ernährung im Fokus
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