Funktionell-anatomische Aspekte von Störungen der Augenbewegungen PD Dr. phil. Helmut Hildebrandt Zentralkrankenhaus Bremen-Ost Universität Oldenburg Visuelles System • Das visuelle System lässt sich klinisch unter drei Gesichtspunkten betrachten: • autonomes Nervensystem und Sehstörungen, • motorische Steuerung des Sehens (Blickparesen) und • visuelle Wahrnehmung und Sehen (Gesichtsfeldausfälle). Autonomes Nervensystem und Sehen • Sympathicus und Parasympathicus nehmen Einfluss auf das Sehen. • Die wesentlichen Aufgaben des autonomen Nervensystems beim Sehen liegen in der Steuerung der Pupillengröße und Lidbreite. • Wie bei den anderen Zielorten wirken Sympathicus und Parasympathicus prinzipiell antagonistisch, faktisch aber komplementär, weil sich durch die antagonistische Wirkung eine bessere Feinsteuerung erreichen lässt, aber auch weil das Zeitfenster der Wirkung ein anderes ist (der Parasympathicus bewirkt eine schnelle, quasi instantane Veränderung, der Sympathicus eine langsame Änderung). • Die Modulation der Pupillenweite beim Schreck und bei psychischer Erregung wird deshalb vermutlich durch den Parasympathicus gesteuert. Dagegen ist die Öffnung der Pupillen im Wachzustand eher das Ergebnis der langsam und andauernden Wirkung des Sympathicus. • Die Pupillenweite ist ein guter Indikator für psychischen Stress und mentale Belastung, wenn man sie per Pupillometrie messen kann. • Bei einer relativen Verengung der einen Pupille im Verhältnis zur anderen Pupille spricht man von Anisokorie. Sympathische Innervation • Die sympathische Nervenbahn verlässt das Zentralnervensystem nicht wie die anderen Hirnnerven im Hirnstamm, sondern in Höhe des Thorakalmarks (C2, Th2) und erreicht dann die Augenhöhle in Verbindung mit der Carotis interna. Wesentliche Zielorte des Sympathicus sind der Musculus dilatator pupillae, Musculus tarsalis superior und inferior, Musculus orbitalis sowie die Schweißdrüsen und Blutgefäße um das Auge herum. Unterbrechungen des Sympathicus bewirken das Horner Syndrom • Verengung der Lidspalte (Auge im Halbschlaf) (Musculus tarsalis superior) • Miosis = relative Verengung der Pupille (Übergewicht des Musculus sphincter pupillae bei Lähmung des Musculus dilatator pupillae) • Enophthalmus (das Auge ist eingefallen und zwischen Augapfel und Augenhöhle kann man einen Zwischenraum ertasten) (Lähmung des Musculus orbitalis) • Hinzu kommen Anhidrosis (trockene Haut) und Vasodilatation (gerötete Haut). Parasympathische Innervation • Die parasympathische Innervation des Auges nimmt ihren Ursprung in den Westphal-Edinger-Kernen und zieht dann zusammen mit dem Nervus oculomotorius (als der innere Anteil des N. okulomotorius) bis in die Augenhöhle. Dort wird der Musculus sphincter pupillae innerviert, d.h. das Zusammenziehen der Pupille bei Lichteinfall gesteuert. Folge einer Schädigung ist dann Mydriasis, d.h. eine max. weit geöffnete Pupille, die nicht auf Lichteinfall reagiert (fehlende direkte Lichtreaktion bei vorhandener indirekter Lichtreaktion). Neuroanatomie der parasympathischen Innervation Lichtreaktion • Die Afferenzen zu den Westphal-Edinger Kerne verlaufen mit dem Nervus opticus bis Höhe des Corpus geniculatum laterale. Ohne dieses zu erreichen, ziehen sie zur Area praetectalis und zu den Westphal-Edinger Kernen und zwar bilateral. Ist der Nervus opticus durch eine Schädigung betroffen, dann kommt es folglich zu einem Ausfall der direkten (ipsiläsionalen) und indirekten (kontraläsionalen) Lichtreaktion. In diesem Fall braucht aber keine Mydriasis vorzuliegen, weil jetzt der efferente Bogen nicht tangiert zu sein braucht. Umgekehrt führt eine Schädigung der Sehbahn ab Corpus geniculatum laterale zwar zur kortikalen Blindheit, hat aber keine Auswirkung auf die direkte und indirekte Lichtreaktion. Ausfall der Lichtreaktion (ohne Mydriasis oder Miosis) bedeutet Schädigung des Nervus opticus oder des afferenten Bogens des Parasympathicus Augenmuskellähmungen und Blickparesen Lähmungen der Blickbewegung untergliedern sich in: • Periphere Lähmungen einzelner Augenmuskeln • Lähmungen infolge einer Nervenschädigung • Lähmungen der Blicksteuerungen beider Augen infolge einer Hirnstamm oder Mittelhirnschädigung • Lähmungen der Blicksteuerung beider Augen aufgrund einer subkortikalen oder kortikalen Schädigung Diese Hierarchie ist analog zu motorischen Störungen zu sehen, wo einzelne Glieder (periphere Nervenschädigung), Bewegungen oder Koordinationsbewegungen gestört sein können. Kardinalsymptome bei Blickparese sind Doppelbilder und Verschwommensehen. • Doppelbilder treten praktisch nur nach peripheren oder zentralen Lähmungen der Augenmuskeln (und selten nach einseitigen Veränderungen der physikalischen Fähigkeit zur Akkommodation, einseitige Hornhautverkrümmung) auf. • Verschwommensehen kann auch nach Schädigungen im okzipitoparietalen Arealen auftreten, wo die Fusion der beiden Augenbilder reguliert wird. Doppelbilder • Schildert der Patient Doppelbilder oder Verschwommensehen ist eine Prüfung der Augenmuskulatur damit obligatorisch. Die Lage der Doppelbilder macht eine bestimmte Form der Parese wahrscheinlich: sie sind in der Richtung am größten, in der der betroffene Nerv das Auge bewegt. Bei gut kompensierten Augenmuskellähmungen ist eine Diagnostik ohne technische Hilfsmittel kaum möglich. Die 6 Hauptrichtungen der Augenmuskeln Nystagmus • Nystagmus meint das unwillkürliche rhythmische Hinund Herbewegung der Bulbi. • Er wird charakterisiert durch – langsame und rasche Phase; – Richtung des Nystagmus, d.h. horizontaler, vertikaler oder rotierender Nystagmus, die sich durch die rasche Phase ergibt; – Schlagfeld in bezug auf die Mittellinie des Auges. Nicht jeder Nystagmus ist pathologisch. • Häufig ist der Nystagmus ein Zeichen für den Kompensationsversuch der intakten Augenmuskeln. Dies gilt speziell für die rasche Phase Klinisch wichtig sind der • Blickrichtungsnystagmus, der bei gesunden Menschen nach 30 sec. bei extremen Seitwärtsblick auftritt. Gibt es eine Seitendifferenz, tritt er sofort oder bereits bei Beginn der Blickbewegung auf, ist er ein Zeichen für Funktionsstörung in der Formatio reticularis des Hirnstamms. • Blickparetische Nystagmus, der eine langsame Rückkehr zur Mittellinie beim Blick zur paretischen Seite und eine ruckartige Rückkehr bei dem Willkürversuch, die Blickrichtung aufrechtzuerhalten, impliziert. • Downbeat Nystagmus, wo die Augen sich rhythmisch nach unten bewegen. Hinweis auf Läsion in Medulla oblongata. Beim Downbeat Nystagmus kommt es zu Oszillopsien, d.h. die Welt erscheint beim Downbeat in dieselbe Richtung bewegt (-> Schwindel, Überkeit) Okulomotoriuslähmung Eine komplette Lähmung des Okulomotorius führt zu: • Ptosis durch die Lähmung des Musculus levator palpebrae superior und Überwiegen des vom Nervus facialis innervierten Musculus orbicularis oculi • Fixierte Augenstellung mit Blickrichtung nach unten außen (Überwiegens des Musculus rectus lateralis (Abducens) und des Musculus obliquus superior (Trochlearis) • Dilatation der Pupille (Mydriasis), fehlender Lichtreflex ("lichtstarr"), aufgehobene Akkomodation (Musculus ciliaris) • Die einzelnen Komponenten können je nach Lage der Läsion natürlich auch getrennt voneinander auftreten • Ophthalmoplegia interna. Ursachen: epidurales oder subdurales Hämatom mit Druckwirkung des Temporallappens auf Tentoriumschlitz, basales Aneurysma der A. communicans posterior, basale Meningitis, Schädelbasisfraktur • Ophthalmoplegia externa. Ursache ist in der Regel eine Läsion im Kerngebiet, weil bei peripherer Läsion in der Regel die empfindlicheren autonomen Nervenfasern betroffen sind • Eine komplette Okulomotoriuslähmung tritt zumeist nur infolge einer peripheren Schädigung auf. Bei kompletter Okulomotoriuslähmung infolge einer Kernschädigung im Mittelhirn sind immer auch andere Mittelhirnsymptome vorhanden. • Der Patient klagt bei äußerer Okulomotoriuslähmung über schräg- und nebeneinanderstehende Doppelbilder N. oculomotorius Trochlearislähmung • Beim Blick geradeaus steht die Augenachse am erkrankten Auge höher. Beim Blick nach unten innen rotiert das Auge. Doppelsehen tritt bei jeder Blickrichtung, mit Ausnahme des Blickes nach oben auf. Um Doppelbilder zu vermeiden, wendet der Kranke seinen Kopf etwas nach der gesunden Seite, senkt das Kinn und neigt den Kopf zur kontralateralen Schulter. • Schrägstehende, etwas übereinander stehende Doppelbilder! • Diagnostisch ist bei der Trochlearislähmung die Fehlhaltung des Kopfes deutlicher als die Fehlstellung des Auges Abduzenslähmung • Beim Blick geradeaus ist das erkrankte Auge nach innen gedreht (Strabismus convergens paralyticus) und kann nicht nach außen gewendet werden. Beim Blick nach nasal dreht das Auge infolge des Überwiegens des Musculus obliquus inferior nach oben innen. Die Abduzenslähmung kommt relativ am häufigsten vor (wegen des peripheren Verlaufs des Nervs). Bei einer Läsion im Abduzenskerngebiet kommt es häufig (1) zu einer Mitläsion für den Facialis-Nerv und (2) einer horizontalen Blickparese, weil die horizontalen Blickbewegungen in der paramedianen Formatio reticularis generiert werden. • Doppelbilder stehen gerade und nebeneinander, nicht übereinander Lage Abducens und Facilias im Hirnstamm Komplette Lähmung aller drei Nerven • Bei einer kompletten Lähmung aller drei Augennerven blickt das Auge geradeaus und kann in keine Richtung bewegt werden, die Pupille ist weit und reagiert nicht auf Lichteinfall (Ophthalmoplegia totalis). Motorische Störungen nach Blickparese • Im Akutstadium kommt es bei Okulomotoriusläsionen nicht selten zu einer subjektiven räumlichen Dislokation von Objekten (“past pointing”), speziell bei Blickrichtung in Richtung des paretischen Augennervs. Dieses Symptom drückt sich darin aus, dass die exakte Raumposition des fixierten Objektes mehr angegeben werden kann und durch Fehlgreifen. • Die Ursache für „Past pointing“ ist bis heute nicht endgültig geklärt. Der Grund könnte eine zentral verarbeitete Efferenzkopie sein, die durch die Augenmuskellähmung abweicht. Da Past pointing aber klinisch häufiger auftritt, wenn das intakte Auge verschlossen ist und bei Blickrichtung dorthin, wo der paretische Muskel hinzieht, könnte auch eine periphere Störung der propriozeptiven Information aus den Augenmuskeln der Grund sein. Störungen konvergenter Augenbewegungen • Im wesentlichen zählen hierzu Sakkaden und langsame Augenfolge. Die Nah-, Fernkonvergenz ist ein weiterer Aspekt dieser Koordination. • Das Problem besteht also in der koordinierten Aktivität zumeist unterschiedlicher Muskelgruppe der beiden Augäpfel, d.h. nicht von Bewegungen sondern Handlungen. Störungen der Konvergenz • Konvergente Blickbewegungen werden durch zwei Zentren im Mittelhirn und im Hirnstamm gesteuert, die wiederum unter kortikaler Kontrolle stehen. • Horizontale Blickbewegungen werden durch ein Zentrum in der parapontinen retikulären Formation generiert (in ventraler Nähe zum Abduzenskern). • Vertikalen Blickbewegungen werden von Kernen im Mittelhirn und unter Einschluss der Colliculi superior gesteuert. • Die Nah-, Fernkonvergenz wird durch das Mittelhirn geleistet. Neuroanatomische Grundlagen der Steuerung koordinierter Augenbewegungen Nah- und Fernkonvergenz (Störung [= Konvergenzparese] findet sich beim dorsalen Mittelhirnsyndrom meist in Kombination mit vertikaler Blickparese) Horizontale Blickparesen • Die horizontale Blickbewegung erfordert Koordination des Abduzens (Musculus rectus lateralis) und des Okulomotorius (kontralateraler Musculus rectus medialis). • Bei Schädigung der Steuerung der parapontinen retikulären Formation kommt es zu einer horizontalen Blickparese. • Da die Steuerung den ipsiläsionalen Abuzens und kontralateralen Okulomotorius umfasst, schaut der Patient von der Seite, auf der die Läsion lokalisiert ist, weg. • Eine kortikale oder subkortikale Läsion, welche die Aktivierung der parapontinen retikulären Formation vermindert, führt dagegen zur Blickwendung auf die Seite, wo der Herd liegt (häufige Begleiterscheinung beim Neglekt: Déviation conjuguée). Deviation conjugée nach frontaler oder Hirnstammläsion: der Mangeln an unilateraler Innervation zieht Blickabweichung nach sich Kortikale und pontine Blickbewegungsstörungen sind weiter gekennzeichnet durch: – Keine Augenmuskellähmungen bei kortikaler Läsion, häufig zusätzliche Augenmuskellähmung oder Pupillenmotorikstörung bei pontiner Lokalisation. – Pontine Läsionen bilden sich langsamer zurück (speziell bei frontale (nicht parietaler) Läsion Rückbildung in der Regel nach 6 bis 8 Wochen). – Bei pontiner Läsion ist häufig zusätzlich Gleichgewichtsstörung bzw. Ataxie (Kleinhirnbeteiligung) vorhanden. Internukleäre Ophthalmoplegie Bei intakter Konvergenzbewegung beider Augen und Lähmung des einen Auges beim willkürlichen Blick nach nasal (Musculus rectus medialis) incl. gleichzeitigem monokulärem Nystagmus des anderen Auges (infolge der Überanstrengung des im Prinzip intakten Nervus abducens) spricht man von einer internukleären Ophthalmoplegie. Neuroanatomische Grundlage der internukleären Ophthalmoplegie Neuroanatomischer Hintergrund für die internukleäre Ophthalmoplegie ist eine Unterbrechung der Bahnen für konvergente Blickbewegungen hinter der parapontinen retikulären Formation. Okulomotorius und Abduzens sind intakt (siehe die intakte Konvergenzbewegung und die Möglichkeit der Abduktion bei der Blickführung). Infolge der Bahnunterbrechung wird der Okulomotoriuskern nicht aktiviert, das entsprechende Auge bleibt zurück. Eineinhalb Syndrom • = horizontale Blickparese in eine Richtung (z.B. nach rechts) durch Schädigung der rechten parapontinen retikulären Formation und gleichzeitiger internukleärer Ophthalmoplegie (durch Unterbrechung der Verbindung zum ipsilateralen Okulomotoriuskern). Die Patienten können dann nur das linke Augen nach links bewegen (bei Nystagmus), dass rechte Auge ist fixiert. • Die Schädigung beruht auf einer einseitigen Läsion in der dorsalen Ponshaube Läsion Vertikale Blickparese Eine bilaterale vertikale Blickparese legt immer den Verdacht einer Mittelhirnschädigung nahe. Bei umfassenden Läsionen kann es zum Parinaud-Syndrom oder Sunrise Syndrom kommen, bei dem die Augen gesenkt sind und nicht angehoben werden können. Für das Vorliegen eines Parinaud Syndroms ist zudem eine gestörte Konvergenzbewegung für sich nähernde Objekte notwendig. Zumeist liegt zusätzliche Läsion der Okulomotorius vor. Steuerung der vertikalen Blickbewegung durch Netzwerk des Fasciculus longitudinalis medialis, dem N.oculomotorius und dem Nucleus trochlearis im Hirnstamm • Die vertikalen Blickbewegungen werden durch zwei Zentren generiert. Häufig sind nur die Willkürbewegungen und die geführten Bewegungen gestört. Reflektorisch ausgelöste vertikale Blickbewegungen bleiben möglich, wenn der Kopf passiv geneigt wird und ein Objekt fixiert werden soll („Puppenkopfphänomen“). • Die Rolle der Colliculi superior für vertikale Blickparesen ist umstritten – gesichert ist die Bedeutung von ventral von ihnen gelegenen vertikale Blickbewegungszentren. Vertikales Eineinhalbsyndrom Fragen • Welche Augenmuskelnerven gibt es, welche Aufgabe haben sie? • Welche neuronale Struktur ist für die Anpassung der Pupillenweite verantwortlich? • Was ist eine deviation conjugée und wie erklärt sie sich? • Beschreibe das Problem bei internuklärer Ophthalmoplegie mittels einer neuroanatomischen Zeichnung • Wann kommt es zur vertikalen Eineinhalbsyndrom?