Woher? Wohin? Die Zukunft der Parteiendemokratie

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Woher? Wohin?
Die Zukunft der Parteiendemokratie
Dienstag, 11. November 2014, 10.00 – 16.30 Uhr, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
Ein ExpertInnengespräch der Bundesstiftung und der Landesstiftung Baden-Württemberg
im Rahmen des Verbundprojekts „Gut vertreten? Update für Demokratie“
in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum (Berlin)
Sachbericht
Teil 1 - Die Geschichte. Thesen zu Ursprung und Wendemarken der Parteientwicklung
Inputs: Prof. Dr. Richard Stöss, Freie Universität Berlin und Prof. em. Peter Lösche, Universität
Göttingen, Institut für Politikwissenschaften
Der historische Hintergrund der ersten Parteiengründungen war geprägt vom Wandel des
absolutistischen Herrschaftssystems und der Ständegesellschaft hin zu einem demokratischen
Verfassungsstaat. Dies bestimmte die damaligen Aufgaben der Parteien: die nationale Einheit
gewährleisten, eine Verfassung ausarbeiten, die BürgerInnen in diese einbinden, die Zivilisation
aufrechterhalten und so die Modernisierung der Gesellschaftsordnung vorantreiben.
Viele Parteien entstanden im frühen 20. Jh. aus radikalen, revolutionären und aufständischen
Bewegungen, als diese ihre Dynamik verloren („ausgekühlte Empörungsgruppen“). Mit der Umbildung
zur Organisationsform „Partei“ war eine Institutionalisierung verbunden, die Voraussetzung für die nun
erforderliche kontinuierliche Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess war.
Diese Einbindung der Parteien in den Staat hat sich bislang so verstärkt, dass viele
BürgerInnen sie als halbstaatliche Agenturen oder sogar als Teil des Staates
wahrnehmen, abgekoppelt von dem Prozess der Willensbildung. Deswegen nehmen viele
gar nicht mehr daran teil, in der Annahme, dass ihre Stimme sowieso keinen Einfluss hätte.
Folglich sinkt die Wahlbeteiligung und es wird vermehrt von „Politikverdrossenheit “
gesprochen.
Ursprung von Parteien waren auch die zahlreichen sozio-ökonomischen, sozio-politischen und
weltanschaulichen Konflikte der damaligen Zeit (bspw. Kapitalismus vs. Sozialismus, Konservative vs.
Revolutionäre, Staat vs. Kirche,…). Dabei vertraten die Parteien jeweils eine spezifische
Konfliktposition und spiegelten so die Konfliktstruktur der Gesellschaft wieder.
Viele dieser Konflikte, wie z.B. Kapitalismus vs. Sozialismus, sind heute nicht mehr aktuell.
Trotzdem sind Anti-Aspekte nach wie vor Anlass für Parteiengründungen, v.a. von
Protestparteien, die sich häufig gegen alles aussprechen, für das die (Regierungs-)Parteien
aus ihrer Sicht zu stehen vorgeben. Gleichzeitig wird die Palette der Konflikte stetig erweitert:
Nationalismus vs. Globalisierung ist in den letzten Jahren in den Vordergrund getreten. Dabei
haben rechte Parteien als Abgrenzungsparteien Vorteile gegenüber den etablierten
Parteien, die sich untereinander annähern. Dieser Neo-Populismus ist durchaus als Gefahr
ernst zu nehmen.
Seit jeher waren Parteien also das Mittel der BürgerInnen, ihre Herrschaft auszuüben; sie
repräsentierten ihre Anhänger und artikulierten deren Interessen. Um jedoch eine Zersplitterung in
unzählige Interessensgruppen zu vermeiden, ist eine gemeinsame Grundlage notwendig: Parteien
dürfen nicht nur repräsentativ, sondern müssen auch integrativ wirken, d.h. Flexibilität und
Kompromissfähigkeit sind in gewissem Maße unverzichtbar für eine stabile Regierung. Dieser
Konsens bestand in der Weimarer Republik noch nicht und begünstigte ihr Scheitern.
Aus dem Prozess des Lernens aus solchen „Kinderkrankheiten“ der deutschen Demokratie
hat sich quasi eine Umkehrung ergeben. Die Parteien legen den Schwerpunkt ihres
politischen Handelns heute eher auf die Integrations- denn auf die
Repräsentationsfunktion; deutlich zu sehen daran, dass nach fast jeder Wahl
Koalitionsgespräche stattfinden, zumeist erfolgreich. Diese Repräsentationsschwäche hängt
mit einer (inhaltlichen) Annäherung der Parteien genauso zusammen wie mit der Tatsache,
dass viele BürgerInnen nicht wählen gehen, weil sie ihre Interessen mit wenig Nachdruck
vertreten oder in Koalitionen verfälscht sehen.
Nach dem 2.Weltkrieg und mit zunehmender wirtschaftlichen Erholung und Wohlstandsverbreitung
entstand das Phänomen Volkspartei. Innerhalb der sich ausbildenden Konsensgesellschaft wurde
eine umfassende Integration möglich, d.h. es konnten viele BürgerInnen mit ähnlichen Interessen
hinter einer Partei versammelt werden. Ziel dieses Parteientyps war es, die Masse der Gesellschaft
als WählerInnen zu gewinnen und zu halten, sodass das einzelne Parteimitglied letztlich an
Bedeutung verlor.
Daraus ergibt sich folgende Paradoxie: früher waren die BürgerInnen auf die Partei
angewiesen zur Vertretung ihrer Interessen, heute sind die Parteien auf die BürgerInnen
angewiesen zur Erhaltung ihrer Macht. Abgesehen von der kompletten Umkehrung des
ursprünglichen Parteigedankens liegt hier der Ausgangspunkt für die Entwicklungen in den
nächsten Jahrzehnten.
Des Weiteren erwies sich die vielgerühmte Stabilität des 2½-Parteiensystems, wie es in den
50er Jahren noch bestand, als Irrtum; es gründeten/ spalteten sich Parteien. Die
Zersplitterung des deutschen Parteiensystems ist angesichts der Geschichte und auch der
heutigen Situation jedoch durchaus als Normalität anzusehen. Es ist davon auszugehen,
dass es sich bei der Volkspartei zunehmend um ein Auslaufmodell handelt, auch weil
die Pluralisierung in der Gesellschaft schneller denn je voranschreitet. Wie sich am Beispiel
der anhaltenden Stimmen- und Mitgliederverluste der SPD zeigen lässt, wird es für die
Parteien stetig schwieriger, über ihr Milieu hinaus WählerInnen zu binden.
In den 70er Jahren kam der Begriff „Kartellpartei“ auf. Im Zuge der zunehmenden Hinwendung der
Parteien zum Staat wurde die Repräsentationsfunktion vernachlässigt und die Parteien näherten sich
untereinander programmatisch an. Aufgrund mangelnder inhaltlicher Unterscheidungsmerkmale
entschieden die WählerInnen anhand der aufgestellten Kandidaten und richteten sich dabei meist
nach ihrer persönlichen Stimmung.
Daraus ist heute die professionalisierte Wählerpartei entstanden, die sich Statistiken und
Umfragen bedient, um mit ihrem Programm möglichst viele BürgerInnen anzusprechen.
Einerseits steht dies im Widerspruch zu der im Zusammenhang mit der Volkspartei
beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklung, andererseits resultiert daraus eine
fortschreitende inhaltliche Vereinheitlichung der Parteien, die wiederum für noch geringere
Attraktivität (und Wahlbeteiligung) sorgt: die Wählerstimme kann keinen richtungsweisenden
inhaltlichen Einfluss mehr ausüben und scheint so sinnlos.
Dagegen sind in den letzten Jahren zahlreiche alternative Partizipationsmöglichkeiten (z.B.
Petitionsplattformen, NGOs, Lobbyverbände,…) entstanden, die den Parteien als Mediatoren
– Mittler zwischen BürgerInnen- und Politikebene – Konkurrenz machen. Daran zeigt sich
auch, dass sich die Form der Bürgerbeteiligung gewandelt hat und spontaner geworden ist,
was auch Grund für die abnehmende Bereitschaft ist, Parteimitglied zu werden.
Umso wichtiger für die Parteien ist heute die Präsentation des Kandidaten, weswegen nicht
nur im Wahlkampf mittlerweile PR- und Umfragenexperten zum Einsatz kommen. Abgesehen
davon hat sich die Benennung des politischen Personals als Hauptaufgabe der
modernen Partei („A party is to elect“) herauskristallisiert.
Fazit: Die historisch gegebenen, anfänglichen Aufgaben haben Parteien bislang in ausreichendem
Maße erfüllt. Die heute bestimmende Elitenauswahlfunktion ist eine Aufgabe, die wahrzunehmen
allein Parteien in der Lage sind und die sie in unserem politischen System unersetzlich machen. Es ist
also nicht das Ende der Partei gekommen – zumindest noch nicht – es haben sich ihre Funktionen
und Organisationsformen lediglich entsprechend der geschichtlichen Entwicklung verschoben.
Es ist eine allgemeine Schwerpunktverlagerung von den BürgerInnen hin zum Staat zu erkennen, die
mit Konturenverlust, einer Entkoppelung vom Willensbildungsprozess und der altbekannten
Demokratieverdrossenheit einhergeht. Doch eine ungebremste Kritik an den Parteien, wie sie häufig
geäußert wird, oder auf Einflusslosigkeit begründete Passivität, wie sie bei fast jeder Wahl zu Tage
tritt, ist unangemessen und wenig konstruktiv. Denn die Aufrechterhaltung der Demokratie ist nicht
allein von den Parteien zu leisten; ihre Stärke hängt in entscheidendem Maße von der
Zivilgesellschaft, die dahinter steht, ab!
Eine einfache Aufforderung zu mehr Partizipation hat dabei nur einen geringen Effekt. Vielmehr ist die
Weiterbildung dieser Zivilgesellschaft notwendig, um den Partizipationswillen von unten neu zu
beleben. Nichtsdestotrotz liegt es auch bei den Parteien, durch Weiterentwicklung und Anpassung
aktiv zur Verbesserung ihrer Situation beizutragen.
Teil 2 - Die Idee. Zur neuen Aktualität des Parteigedankens
Inputs: Dr. Thomas Biebricher, Goethe-Universität Frankfurt/M., Institut für Politikwissenschaften und
Peter Siller, Leiter Abteilung politische Bildung Inland, Heinrich-Böll-Stiftung
Der Überlegung, was heute Aufgaben von Parteien sind, was in ihrem Verantwortungsbereich liegt
und was für Erwartungen an sie gestellt werden (normative Herangehensweise), muss eine
entscheidende Eigenschaft der Partei zugrunde gelegt werden: Als institutionalisierter Konflikt bzw.
Differenz (siehe Teil1) kann keine von ihnen behaupten, das Ganze zu vertreten. Nicht umsonst
kommt das Wort „Partei“ von lat. pars = Teil, Anteil, Richtung.
Daraus lässt sich eine Mittlerfunktion der Parteien ableiten. Ihre Aufgabe ist es, nicht einfach die
Interessen der von ihr vertretenen BürgerInnen in die Politik zu übertragen, sondern diese partikularen
Interessen aus der Zivilgesellschaft aufzugreifen und in eine gesamtgesellschaftliche Vision, in
eine partikulare Ausformung des Gemeinwohls zu transformieren.
Dieses Allgemeine stellt sich jedoch nur im Wettstreit der verschiedenen Ansichten vom Allgemeinen,
von Gemeinwohl und Gerechtigkeit heraus. Aufgabe der Parteien ist es demnach auch, diesen
Streit zu organisieren und auszutragen. Momentan passiert dies nur unzureichend; dadurch, dass
die Repräsentationsleistung zu schwach und die Integrationsleistung zu stark ausfallen, ergibt sich ein
unspezifisches Parteienbild.
Da die BürgerInnen ihre Interessen nur unzureichend repräsentiert sehen, generiert sich vor diesem
Hintergrund innerhalb der Gesellschaft eine Skepsis gegenüber den Parteien, ihrer Mittlerrolle und
Fähigkeit zur Gemeinwohlbildung. Die aktuelle Kritik am Parteiensystem rührt auch daher, dass ein
„Kompromiss“ – und eine Koalition ist nichts anderes – im Deutschen negativ mit „Schwäche“
konnotiert ist infolge der zahlreichen undemokratischen Phasen im Lauf der Geschichte bzw. der
fehlenden demokratischen Tradition.
Notwendig ist nun eine innerparteiliche Diskussion über Gemeinwohlvorstellungen, auch wenn
Streit im positiven Sinne schwierig ist und sich oft zwischen Rechthaberei und Harmoniebedürfnis
verliert. Doch der Orientierungsdiskurs muss sich ereignen, um neue Ideologiebildung und
Profilierung der Parteien zu ermöglichen. Denn Parteien bedeuten Pluralität, verschiedene Angebote
an weite Teile der Gesellschaft und ihre umfassende Revision, vor allem in einer Zeit des schnellen
Partikularismus.
Der Gedanke, dass Parteien dem Gemeinwohl einer Gesellschaft verpflichtet sind, findet sich bereits
im Parteiengesetz von 1958. Doch es ist strittig, ob dies realistisch ist: Wenn man davon ausgeht,
dass das Gemeinwohl – insbesondere in einer sich schnell partikularisierenden Gesellschaft – nie für
alle in zufriedenstellendem Maße erreicht werden kann, würde folglich die Aufgabe einer Partei
lediglich darin bestehen können, sich mit ihren Vorstellungen am politischen Willensbildungsprozess
zu beteiligen und eine Mehrheit in der Bevölkerung zu gewinnen.
Diese geschichtliche Unklarheit aus der Zeit der Weimarer Republik über den Ausgleich zwischen
Repräsentation und Integration tritt deutlich als noch immer aktuelle Kontroverse hervor, der sich die
Parteien stellen müssen.
Eine Partei darf also weder den Anspruch erheben, alle zu repräsentieren, als auch eine reine
Klientelpartei zu sein. Generell gibt es keinen Widerspruch zwischen einer Orientierungspartei und
einer Konzept-, Programm- oder Personenpartei; es geht darum, den Geltungsanspruch mit einem
weltanschaulichen Orientierungsangebot zu verbinden. Diese Synthese von Einzelinteressen und
Universalität – letztere bleibt ohnehin stets kontrovers – stellt sich als ein Balanceakt dar. Zwischen
Abgrenzung von anderen Parteien, die mit Polarisierung und Einseitigkeit verbunden ist und von den
WählerInnen auch dementsprechend empfunden wird und inhaltlicher Annäherung durch Ausrichtung
an dem/der DurchschnittswählerIn, die in ebenso verheerender Vereinheitlichung mündet, gelingt es
den Parteien heute nicht, diese Gegensätze in ausreichender Form auszutarieren.
Die Parteien von heute sind anscheinend nicht so aufgestellt, dass Probleme gelöst werden können
und um diesen Ausgleich zu schaffen. Es drängt sich die Frage auf, ob wir in nächster Zeit das Ende
der Parteien-Ära erleben.
Selbst Intellektuelle rufen zunehmend zum Nichtwählen auf; in Lehrbüchern für StudentInnen im
Bereich Politik wird die Parteiendemokratie tendenziell einschlägig problematisiert, sodass schon die
heranwachsende Bildungselite in Sachen Demokratiebegeisterung und Wahlbeteiligung eigentlich
kein Vorbild für die Gesellschaft sein bzw. werden kann.
Hinzu kommt, dass sich das moderne Wahlverhalten zunehmend dem Konsumverhalten angleicht,
also dass die WählerInnen sich nicht mehr festlegen, auch kurz vor der Wahl noch unentschlossen
sind und beliebig die Partei wie auch die Marken, z.B. im Supermarkt, wechseln.
Dennoch ist es nicht angebracht, eine gänzlich kulturpessimistische Sicht auf dieses Thema zu
vertreten, da kein grundsätzlicher Rückgang von bürgerlichem Engagement zu verzeichnen ist. Dieses
findet lediglich an anderer Stelle statt, bspw. in Vereinen – die Vereinsgründungen nehmen zu.
An dieser Stelle ließe sich überlegen, ob es funktionelle Äquivalente für das Modell „Partei“ gibt und
inwiefern sich diese eignen bzw. den identifizierten Aufgaben gerecht werden können.
Eine NGO vertritt zwar einen Standpunkt und hat ihre Mittel und Wege, um auf sich aufmerksam zu
machen, doch sie hat nicht die wichtige Fähigkeit der Inklusion bzw. Integration, d.h. es gelingt ihr
nicht, über ihr Milieu hinaus breitere Kreise der Zivilgesellschaft an sich zu binden.
Bewegungen wie Occupy Wall Street im Jahr 2011 haben den Parteigedanken auf radikaler Ebene
aktualisiert. Ihr Potential, breite Massen zu mobilisieren und deren Interessen deutlich und z.T.
wirksam gegenüber der Politik zu vertreten, ohne dass so deutliche hierarchische Strukturen
entstehen wie sie innerhalb einer Partei existieren, könnte solche Strömungen durchaus als ParteienErsatz befähigen.
Ein Punkt, der an Parteien kritisiert wird, ist, dass diese einer direkten Partizipation im Wege stünden.
Nun hat auch die unabhängige Zivilgesellschaft selbst die Möglichkeit, ihre Belange in Form von
direkter Demokratie zu transportieren. Bürgerentscheide wie im Fall von Stuttgart 21 zeigen allerdings,
dass es sich hierbei meistens um wenig konstruktive Verhinderungsarbeit handelt. Was zusätzlich
sowohl den zuvor genannten Bewegungen als auch der direkten Demokratie fehlen, sind Kreativität,
Produktivität und v.a. Kontinuität in der Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess, wie sie die
Arbeit von Parteien prägen (sollten).
Sicherlich tragen die o.g. Beispiele zur unbequemen Situation der Parteien bei bzw. sind Ergebnis der
Suche der BürgerInnen nach anderen Partizipationsmöglichkeiten. Wenn die Parteien nun aber nicht
befürchten müssen, von ihnen verdrängt zu werden, können sie doch in gewissem Maße profitieren:
indem sie Stellung beziehen zu den Themen der NGOs und den punktuellen, Interessens- bzw.
Begeisterungsausbrüchen der Bewegungen und Bürgerbegehren und diese in den modernen
Parteigedanken integrieren, gelingt eine Profilierung mit gleichzeitiger Wiederherstellung der
Bürgernähe, da diese ihre Anliegen in der Politik vertreten sehen. Verbunden damit ist dringender
Diskussionsbedarf (Streit, s.o.), sowohl inner- als auch zwischenparteilich. Die grundlegende Aufgabe,
einen Ausgleich zwischen Repräsentation und Integration zu finden, bleibt bestehen!
Teil 3 - Die Rolle. Funktionswandel der Parteien in einer veränderten Gesellschaft
Input: Prof. Dr. Ulrich Eith, Seminar für Wissenschaftliche Politik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Schon in der Vergangenheit haben sich die Parteien den sich wandelnden Aufgaben angepasst; durch
interne strukturelle Veränderungen ist immer ein funktional adäquater Parteityp entstanden.
Die heutigen, schnell voranschreitenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen stellen die
Parteien einmal mehr vor die Herausforderung, sich in unserer Demokratie zu behaupten, vor allem
vor dem Hintergrund einer verstärkten Forderung der Zivilgesellschaft nach direkter Mitbestimmung in
Form von Bürgerentscheiden.
Seit jeher war die Demokratie in Deutschland eine Parteiendemokratie. Parteien stehen ursprünglich
für ideologische Standfestigkeit und werden als Interessensvertretung gewählt.
Nach dem 2. Weltkrieg kamen Aspekte einer Verhandlungsdemokratie hinzu: im Bundesrat, wo
häufig andere Mehrheiten vorherrschen als im Bundestag und auch in den heute meist obligatorischen
Regierungskoalitionen muss ständig diskutiert, aufeinander zugegangen und eine Einigung gefunden
werden; Vetoplayer müssen eingebunden werden. Der Erfolg dieses Systems hängt entscheidend von
Kompromissfähigkeit und Flexibilität der Parteien ab.
Mit der rasanten Verbreitung der Massenmedien – zunächst gedruckt (Zeitung, Zeitschriften, Plakate,
Flugblätter), später auch digital (Radio, Fernsehen, Internet) – hielten diese unweigerlich Einzug in die
Politik. In dieser Mediendemokratie ist die Präsenz in den Medien unentbehrlich für den politischen
Erfolg, sodass die Parteien in ihrer Strategie einen Schwerpunkt darauf legen. Die Medien
ermöglichen es den Parteien, sich in Form von Umfragen und Statistiken über Probleme und Belange
der BürgerInnen, aber auch über ihre Beliebtheit zu informieren und sich ggf. inhaltlich entsprechend
auszurichten. Besonders während des Wahlkampfs sind die Medien dann das Mittel schlechthin, um
die so entstandene parteiprogrammatische Ideologie zu transportieren und die KandidatInnen in
möglichst positivem Licht der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Eine weitere Entwicklung im deutschen Demokratiesystem findet aktuell statt: Die Bevölkerung
verlangt vermehrt danach, im Rahmen einer Beteiligungs- bzw. Mitbestimmungsdemokratie ihre
Stimme direkt und nicht erst über den Umweg „Parteien“ auf die politische Ebene zu tragen und über
konsultative Beratungs- und Entscheidungsprozesse ihren Einfluss auszuüben.
Noch in den 50er und 60er Jahren galt wählen gehen als Bürgerpflicht, die zu erfüllen mit der
Aufrechterhaltung der Bürgerehre und mit der gewissenhaften und selbstbewussten Einnahme seines
Platzes in der Gesellschaft zusammenhing. Diese einst stark normativ aufgeladene Verbindung ist
schwächer geworden, weil die Demokratie weitläufig als Lebensform verstanden wird, in der die
Mitbestimmung selbstverständlich ist.
Mit der Änderung sowohl von Demokratie- und Politikverständnis, der BürgerInnen- als auch der
PolitikerInnenrolle, also der gesamten politischen Kultur, stellen sich die Anforderungen an die
Parteien uneinheitlich dar. Für sie bilden die passive Erwartung einer effektiven Lösung und die aktive
Mitgestaltung dieser die beiden Seiten der Medaille ihres Erfolgs in der heutigen Gesellschaft, die es
beide wahrzunehmen gilt.
Momentan sind die Parteien jedoch nicht diejenigen, die den Prozess voranbringen, sondern die, die
sich mehr schlecht als recht daran anzupassen versuchen. Für Politiker – in Regierung und
Opposition gleichermaßen – bedeutet dies, dass sie sich nicht nur an ihren Beliebtheitswerten und
anderen statistisch-theoretischen Zahlen orientieren dürfen, sondern sich konkret für bestimmte
Themen einsetzen müssen. Die Unzufriedenheit der BürgerInnen mit den Parteien als
Interessensvertreter wurde bereits als Ursache für das stärkere Aufkommen von Bürgerentscheiden
identifiziert. Wenn diese der Mobilisierungsgrund ist, stellt sich für die Parteien auch die Frage nach
der eigenen Mobilisierungsfähigkeit.
Auch wenn der derzeitige „Boom“ der direkten Demokratie nur eine Modeerscheinung, ein kurzzeitig
breit unterstützter Problemlösungsversuch sein mag, bietet sich hier eine Chance für Parteien: wenn
sie sich den Bürgerbegehren selbstbewusst stellen, wenn sie bei in der Bevölkerung
auftretenden Kontroversen (z.B. Stuttgart 21) Position beziehen, besteht die Möglichkeit,
Sympathien und sogar Parteibindungen zurückzugewinnen. Auch eine Verstärkung der
innerparteilichen Mitbestimmung trägt dazu bei, dass sich die Mitgliedschaft in einer Partei wieder
lohnt; diese erscheint nicht mehr als reine Karrieristen-Organisation.
Auf Parteien haben solche Volksentscheide noch weitere Auswirkungen. Zum einen werden sie vom
Legitimationsdruck entlastet, denn für eine Entscheidung, die das Volk getroffen hat, können sie nicht
verantwortlich gemacht werden. Genauso ergibt sich für die Parteien, die in Vorhinein die Meinung der
Mehrheit vertreten haben und diese nun umsetzen, ein Legitimationsgewinn, da mit bewiesener
Sicherheit ein Großteil der Bevölkerung dahinter steht. Außerdem wird die Politik über Volksinitiativen
um neue Themen bereichert („Gaspedal“); allerdings ist es häufig der Fall, dass von PolitikerInnen
mühsam errungene Kompromisse abgelehnt und zunichte gemacht werden („Bremspedal“).
Wenn die Zivilgesellschaft ihr Recht auf Partizipation so deutlich von den Parteien einfordert, muss sie
aber auch die entsprechende Rolle mit allen Verantwortungen einnehmen und ihre Möglichkeiten aktiv
nutzen. Doch es wird bei jeder Wahl offensichtlich, dass die Wahrscheinlichkeit der politischen
Beteiligung mit dem sozialen Status zusammenhängt. Aufgrund von Uninformiertheit bspw. fallen
untere Gesellschaftsschichten häufig heraus, was auch in einer Beteiligungs- bzw.
Mitbestimmungsdemokratie wiederum Parteien und ein repräsentatives System erforderlich macht.
Des Weiteren dürfen in einer Beteiligungs- bzw. Mitbestimmungsdemokratie Parteien keinesfalls
kampagnenfähig sein. Am Beispiel der Schweiz lässt sich die Problematik verdeutlichen: durch
Missbrauch, also unter Androhung einer Volksinitiative gegen eine Entscheidung der
Regierungsparteien kann eine einzelne, kleine Oppositionspartei die gesamte Politik lahmlegen. Wird
sie nun in die Regierung aufgenommen, um dies zu verhindern, folgen die anderen
Oppositionsparteien schlimmstenfalls ihrem Beispiel. Es käme zu einer Allparteienregierung und
letztlich auf dasselbe hinaus – die Lähmung des Politikapparats.
Ob direkte Demokratie nun „funktioniert“ oder nicht, darf nicht vom Ergebnis der Abstimmungen
abhängig gemacht werden; vielmehr basiert die Einschätzung auf den allgemeinen Vorstellungen von
bzw. Erwartungen an Demokratie in einer Gesellschaft, die aber einem stetigen Wandel unterworfen
sind. Die Parteien müssen sich auf diesen Prozess der Veränderung einlassen, sich über ihre
Basis, ihre Ziele, ihre Rolle und ihre Organisationsform klar werden und sich aktiv daran
beteiligen, indem sie ebendiese Formen von Demokratieverständnis aufgreifen, diskutieren
und weiterentwickeln.
Teil 4 - Die Perspektiven. Gedanken zur Partei 2040
Input: Hanno Burmester, Policy Fellow, Progressives Zentrum, Berlin
Die aktuelle Situation der Parteien in Deutschland macht nicht unbedingt optimistisch. Das öffentliche
Vertrauen in sie befindet sich auf einem Tiefpunkt (Legitimationskrise), dabei sind die Parteien doch
auf gerade diejenigen angewiesen, die diese Umfrageergebnisse erzeugen. Man könnte also sagen,
das Fundament sei erodiert und somit gebe es in Bezug auf die Existenz von Parteien keinen Verlass
mehr auf historische Kontinuität.
Um dennoch fortzubestehen, dürfen sich die Parteien keinesfalls von den gesellschaftlichen
Entwicklungen entkoppeln. Im Gegenteil; Veränderungsgedanken müssen Teil ihrer politischen Logik
sein. Schon Willy Brandt sagte seinerzeit: „Die beste Möglichkeit, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie
mitzugestalten.“ Abwarten ist eine schlechte, passive Art, auf Veränderungen zu reagieren, denn es
bedeutet das Ignorieren seiner eigenen Führungsverantwortung. Es kommt für die Parteien darauf an,
ihre Veränderung nach eigenen Werten und Zielen zu steuern.
Trotzdem sollten die vorherrschenden Trends innerhalb der Gesellschaft dabei nicht ganz außer Acht
gelassen werden. Durch den technologischen Fortschritt und die Digitalisierung haben sich zum
einen Arbeits-, Informations-, Kommunikations- und Partizipationsformen stark gewandelt, ebenso die
Erwartungsprofile der BürgerInnen an Parteien und PolitikerInnen.
In einer Zeit der gesellschaftlichen Fragmentierung und der Individualisierung wird es außerdem
immer schwieriger, „eine Partei für alle“ sein zu wollen.
Der demographische Wandel stellt an die Parteien zusätzlich die Anforderung, auch in den
zunehmend dünner besiedelten ländlichen Gebieten präsent zu sein und die schrumpfende ländliche
Bevölkerung weiterhin zu vertreten. Angesichts des stetig wachsenden Anteils der Alten an der
Gesamtbevölkerung gilt es auch, Begegnungsstelle der Generationen statt Kampfplatz zu sein.
Zum anderen erfährt Weiterbildung momentan einen erheblichen Bedeutungszuwachs, sodass
sich die Nachfrage nach Weiterbildungsangeboten auch an die Parteien richtet und im Bereich
Ehrenamt, der innerhalb von Parteien wichtige Tätigkeiten umfasst, eine Professionalisierung
abzeichnet.
Bei der Analyse der Gründe für einen Parteieintritt stellt der Wunsch nach Selbstbestimmtheit und
vor allem Selbstwirksamkeitserfahrungen eine wichtige Motivationsquelle dar.
Letztere machen viele bereits im Beruf, der zudem oft ein besseres Umfeld bzw. bessere
Voraussetzungen dafür bietet. Die Mitgliedschaft in einer Partei bedeutet dann in erster Linie soziale
Einbindung und Geselligkeit.
Wenn jedoch die Selbstwirksamkeitserwartung von der Partei erfolgreich erfüllt wird, d.h. wenn die
BürgerInnen sehen, was und wie ihr Handeln verändert, wenn sie sichtbare Ergebnisse und ein
Feedback erhalten, lässt sich ihr Potential deutlich besser ausschöpfen.
Ein Eintritt in eine Partei der heutigen Form hat erst einmal keine spürbaren Auswirkungen. Es findet
keine persönliche Begrüßung statt, der Mitgliedbeitrag bedeutet zunächst einen finanziellen Verlust
und für ein einfaches Mitglied sind die Partizipationsmöglichkeiten beschränkt. Die fehlenden
Selbstwirksamkeitserfahrungen führen nach kurzer Zeit zu einem Austritt oder zu einer passiven
Mitgliedschaft.
Zudem bieten andere Organisationen wie z.B. Greenpeace die Möglichkeit, weitaus schneller in die
aktive Arbeit eingebunden zu werden, da die Abläufe spontaner, offener und weniger hierarchisch
gestaltet sind.
Das Konzept einer zukunftsfähigen, bürgernahen und lebendigen Partei könnte folgendermaßen
aussehen: bei Eintritt in die Partei wird das Neumitglied automatisch in das parteiinterne Social Media
Network aufgenommen und hat sofort Kontakt zu den anderen Mitgliedern. Mithilfe eines Fragebogens
wird ein persönliches Profil der/des Beigetretenen erstellt, das unter anderem die berufliche Tätigkeit
und Interessen umfasst. Aus diesen Informationen lassen sich dann Vorschläge für Einsatzgebiete in
der Partei ableiten. Ein aktives Mitglied, durch einen Interessensabgleich bestimmt, fungiert als
persönliche/r MentorIn und AnsprechpartnerIn. Es läuft ein ständiger virtueller Austausch, sowohl
innerhalb der „Basis“ als auch mit den Abgeordneten, sodass auch diese „höhere politische Ebene“
sich nicht entkoppelt. Hier kann sich jeder beteiligen und sein Know-How einbringen. Die Ergebnisse
werden schließlich in Programmanträge eingebracht. Über eine Parteiapp findet quasi jederzeit ein
Parteitag statt; es werden in kürzeren Zeitabständen Abstimmungen vorgenommen und das
Informationsangebot ist umfassend, aktuell und für alle zugänglich. Innerhalb der Ortsgruppe
wechseln die Tagungsstätten („Begegnungsräume“) der Ortsvereinssitzung, Bekanntgabe erfolgt im
Kalender des lokalen Parteinetzwerks. Die Landespartei bietet den Mitgliedern Möglichkeiten zur
Weiterbildung und Vergünstigungen wie z.B. kostenlose Kinderbetreuung.
Diese Organisationsform zeichnet sich dadurch aus, dass die Kompetenzen und das Engagement
jedes Mitglieds wahrgenommen und genutzt, aber auch gefordert werden. Individuelle
politische Belange können genauso berücksichtigt werden wie die private und fachliche Stellung.
Eine aktive Einbindung in die Prozesse schafft Nachverfolgbarkeit, Transparenz und
tiefergehendes Verständnis und erleichtert neben der medialen Anbindung zusätzlich die
Beteiligung.
Vom Stand der Technik her ist die Realisation dieses Entwurfs durchaus möglich. Der Aufbau einer
derartigen Infrastruktur ist allerdings mit erheblichen Mehrkosten verbunden und verlangt das breite
Engagement, das zurzeit eben nicht vorhanden ist (Henne-Ei-Problem). Auch für die
Aufrechterhaltung dieses auf eine umfangreiche Betreuung der Mitglieder ausgerichteten Systems
wird Personal benötigt, unter anderem Fachleute für IT und Kommunikation. Damit die Finanzen hier
nicht übermäßig belastet werden, braucht es dringend ehrenamtliche Arbeit – in diesen Positionen
stark professionalisiert. Wer organisiert also die Organisation? Bei aller Konzentration auf das
Wohlergehen der Mitglieder dürfen die Inhalte auch nicht aus den Augen verloren werden.
Des Weiteren ist strittig, ob bspw. die aufgeweichte Hierarchie noch dazu dienlich ist, die als
Hauptaufgabe der Parteien identifizierte Elitenauswahlfunktion zu erfüllen. Innerhalb der heutigen
Parteistruktur muss ein Mitglied für den Aufstieg meist breiten Einsatz zeigen, muss Rückschläge und
Misserfolge hinnehmen und muss um innerparteiliches Gehör und Unterstützung hart kämpfen. Diese
sogenannte „Ochsentour“ kann zum Kompetenzerwerb und zur Charakterbildung beitragen, die
SpitzenpolitikerInnen später benötigen.
Unabhängig davon besteht für die Parteien die Notwendigkeit, ihr Selbstverständnis zu überarbeiten,
hin zu einem Nebeneinander von Begegnung und Konflikt, zu mehr innerparteilicher
Verknüpfung und Zusammenarbeit und insbesondere zu mehr Selbstwirksamkeitserfahrungen.
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