Werkstätten am Markt Zur Einführung Von Jochen Walter Dieses Buch wendet sich an alle Führungskräfte und Mitarbeiter von Werkstätten für behinderte Menschen, die tagtäglich damit beschäftigt sind, ihre behinderten Werkstattbeschäftigten auf geeigneten Arbeitsplätzen zu fördern. Es richtet sich insbesondere an alle „Werkstatt-Praktiker“, die immer wieder aufs Neue herausgefordert sind, geeignete Arbeitsplätze zur Abarbeitung von Aufträgen Dritter oder zur Entwicklung, Herstellung und Vermarktung eigener Produkte und Dienstleistungen zu generieren. In der Bundesrepublik Deutschland existieren rund 700 anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) mit insgesamt mehr als 2300 Betriebsstätten. Hier arbeiten weit über 270.000 behinderte Beschäftigte, die von rund 40.000 Fachkräften unterstützt werden (Zahlen mit Stand 2008). Der Gesamtumsatz aller Werkstätten wird auf 2 Milliarden Euro geschätzt. WfbM sind somit ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Aufgaben der WfbM Ihr Auftrag besteht in der beruflichen Rehabilitation behinderter Menschen, die auf dem sog. Ersten Arbeitsmarkt aufgrund ihrer Behinderung (noch) nicht (wieder) Fuß fassen können. Durch ein möglichst ganzheitliches Setting, das sowohl die persönliche und berufliche Bildung als auch die Heranführung an die möglichst selbständige Abarbeitung mehr oder weniger komplexer Arbeitsaufträge umfasst, sollen die Werkstattbeschäftigten in die Lage versetzt werden, ihre Leistungsfähigkeit (wieder) zu steigern und entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen. Je nach ihren Leistungspotenzialen arbeiten die Werkstattbeschäftigten (zunächst) auf unbestimmte Zeit in der Werkstatt und/oder werden durch gezielte Maßnahmen auf die Integration in den Ersten Arbeitsmarkt vorbereitet. Zur Förderung der behinderten Mitarbeiter bedarf es einer breiten Palette an Arbeitsplätzen, d.h. Werkstätten sind in der Regel in unterschiedlichen Gewerken und Branchen am Markt aktiv und stellen unterschiedliche Produkte her bzw. erbringen unterschiedliche Dienstleistungen. Sie haben in der Regel drei Kundengruppen: – die zu fördernden Werkstattbeschäftigten (und ggfs. deren Eltern/Angehörige) – die Kostenträger, die Reha-Leistungen für die Werkstattbeschäftigten finanzieren und – die Auftraggeber/Firmenkunden, die Produkte und Dienstleistungen nachfragen. Die Rolle der WfbM zur Förderung der behinderten Menschen sowie ihre Rolle als Anbieter von Gütern und Dienstleistungen sind also zwei Seiten derselben Medaille. Nur wenn die Werkstatt sowohl ein überzeugendes pädagogisches Konzept zur Förderung ihrer Beschäftigten umsetzt als auch am Markt erfolgreich agiert und damit attraktive, abwechslungsreiche sowie unterschiedlich anspruchsvolle Arbeitsplätze vorhalten kann, kann die berufliche Rehabilitation der Werkstattbeschäftigten optimal gelingen. Dabei kommt der Arbeitsgestaltung, also der Anpassung der Strukturen und Prozesse der Auftragsarbeiten an die Bedarfe und das Leistungsvermögen der behinderten Beschäftigten eine Schlüsselrolle zu. Entstehungsgeschichte eng mit Lohnfertigung verknüpft Als Werkstätten entstanden, also in den 1960er und 70er Jahren, war das tayloristische Prinzip der Arbeitsteilung in der industriellen Fertigung auf dem Vormarsch. Arbeitsvorgänge wurden immer stärker fragmentiert, um sie rationeller und unabhängiger vom Qualifikationsniveau der Beschäftigten zu gestalten. Dies begünstigte die Auftragslage der Werkstätten, und so ist ihre Entstehungsgeschichte eng mit der sog. Lohn- und Auftragsfertigung im Sinne der „verlängerten Werkbank“ für Industriebetriebe verknüpft. Die in den 80er Jahren folgende Automatisierungswelle und die damit einhergehende starke Erhöhung der Komplexität von Planung und Fertigung sowie der in den 90er Jahren stark an Bedeutung gewonnene Dienstleistungssektor stellen nach wie vor eine große Herausforderung für die meisten WfbM dar. Komplexe Informationssysteme, globale und schnell wechselnde Planungs- und Fertigungsstrukturen, die Notwendigkeit der engen Vernetzung mit den Firmenkunden, verbunden mit der Anforderung, ihnen flexible Systemlösungen anzubieten, ist häufig nicht kompatibel mit für WfbM eher vorteilhaften stetigen und gut planbaren Produktionsabläufen. In den 80er Jahren begannen Werkstätten zunehmend damit, ergänzend zur Lohn- und Auftragsfertigung Eigenprodukte herzustellen, die zumeist über externe Vertriebspartner vermarktet wurden. In der Mehrzahl waren dies austauschbare Massenprodukte wie z.B. Keramikware, Kerzen oder einfache Kunsthandwerkprodukte. Seit den 90er Jahren kommen auch komplexe und originäre Eigenprodukte auf den Markt, die im Sinne einer eigenen Markenbildung von den WfbM selbst vertrieben und weiterentwickelt werden. Unterteilung der Marktaktivitäten von WfbM Dieses Buches beschäftigt sich mit der Stellung der Werkstatt im Markt der Güter und Dienstleistungen und zwar speziell mit der Vermarktung eigens entwickelter Produkte und Dienstleistungen. Hier liegt aus unserer Sicht ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für WfbM, um ergänzend zur vorherrschenden Auftragsfertigung Nischen zu besetzen und neue Arbeitsplätze für Werkstattbeschäftigte zu generieren. Wie lassen sich selbst entwickelte Produkte und Dienstleistungen in das Gesamtgeschehen einordnen? Generiert werden Erlöse der Werkstätten aus Lieferungen und Leistungen durch – grob unterteilt: a) mehr oder weniger stabile Auftragsauslastung für einen oder mehrere Firmenkunden oder b) die Entwicklung, Herstellung und Vermarktung eigener Produkte oder Dienstleistungen. Die Auftragsarbeiten für Firmenkunden können weiter unterteilt werden in: a1) die Herstellung fremd entwickelter Produkte („verlängerte Werkbank“) – mehrheitlich ist dies Auftragsfertigung von genau vorgegebenen (Teil-)Produkten (z.B. für die Automobilindustrie) in der Regel für nur einen einzigen Kunden – und a2) Dienstleistungen, die für mehrere Kunden erbracht werden (können) durch genau auf die Firmenkunden zugeschnittene Prozesse (z.B. Scanning/Digitalisierung von umfangreichen Akten/Dokumenten). Bei der Herstellung eigener Produkte oder Dienstleistungen kann weiter unterteilt werden in: b1) austauschbare Massenprodukte in der Regel ohne eigenes Marketing/eigenen Vertrieb (z.B. Keramikprodukte, die in Werkstattläden verkauft werden), wobei die Marketingentscheidungen regelmäßig dem externen Vertriebspartner obliegen oder b2) originäre (oft sehr komplexe) Produkte/Dienstleistungen mit eigenen Zielen, Strategien und Marketingentscheidungen (z.B. ein selbst entwickeltes und vermarktetes Produkt-Programm). Chancen und Risiken von Auftragsfertigung bzw. Eigenprodukten Wie schon in der Tabelle zu sehen, sind sowohl mit der Auftragsfertigung als auch mit Eigenprodukten unterschiedliche Chancen und Risiken verbunden. Auftragsfertigung bietet die große Chance einer kontinuierlichen Auslastung als spezialisierter Zulieferer bzw. Outsourcing-Partner. Im besten Falle bestehen solche Partnerschaften über viele Jahre und die daraus resultierende Zusammenarbeit ist stetig und gut planbar. Die Risiken sind: Abhängigkeit vom Auftraggeber, schwankendes Auftragsvolumen, je nach Komplexität der Zuarbeit relativ geringe Wertschöpfung und eine tendenziell wachsende Konkurrenz durch Billiglohnanbieter inner- und vor allem außerhalb Deutschlands. Gerade in einer Wirtschaftskrise, wie sie zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Beitrags (Mai 2009) zu verzeichnen ist, haben sehr viele Werkstätten im Bereich der Auftragsfertigung – z.B. für die Automobilindustrie – mit massiven Auftragseinbrüchen zu kämpfen. Umso wichtiger erscheint ein weiteres Standbein, auch wenn Auftragsfertigung auf absehbare Zeit das Hauptbetätigungsfeld für WfbM bleiben dürfte. Die Entwicklung, Herstellung und Vermarktung eigener Produkte und Dienstleistungen bietet die Chance zur Führung eines selbst gesteuerten Geschäftsfeldes, verbunden mit dem Aufbau des entsprechenden unternehmerischen Know-hows und der Erzielung von Deckungsbeiträgen. Aufgrund der eigenen strategischen Entscheidungsmöglichkeiten sowie der mehr oder weniger vollständig vorhandenen Wertschöpfungskette (von der Entwicklung über die Herstellung bis zum Vertrieb) können ganz unterschiedliche und im Vergleich zur Auftragsfertigung auch neue Arbeitsmöglichkeiten entstehen. Relativ hohe Investitionen, ein vergleichsweise sehr hoher Aufwand für Marketing und Vertrieb sowie herkömmliche Geschäftsrisiken (z.B. Haftungsrisiken) bilden das Risikopotenzial. Hinzu kommt jedoch Folgendes: Die Kombination aus – kompetenter und insbesondere marktgerechter Produkt- bzw. Dienstleistungsentwicklung, – Erzielung möglichst optimaler Fertigungsstückzahlen (Stückzahlen sind im betriebswirtschaftlichen Sinne Kostenträger) bzw. Dienstleistungsvolumina sowie – die Distribution zum Endkunden zu „realistischen“ Kosten, die zu marktgerechten Preisen führen ist äußerst anspruchsvoll und häufig mit „Anfängerfehlern“ bzw. „Fehlschüssen“ und viel „Lehrgeld“ behaftet. Die Beiträge unseres Buches zeigen sehr anschaulich, welch hohe Bedeutung in diesem Zusammenhang „ein langer Atem“ (nicht nur im finanziellen Sinne) und das Vorhandensein von höchst engagierten Akteuren haben, die – überzeugt vom eigenen Angebot – immer wieder als treibende Kraft fungieren. Zu den Beiträgen dieses Buches Die mittlerweile bestehende Vielfalt eigener Produkte und Dienstleistungen in der Werkstattszene spiegelt sich auch in den folgenden Beiträgen wider. Sowohl eigene Produkte bzw. Produktlinien (FAIRWERK,Bergwinkel Imkereibedarf, NOVOSAN) als auch eigene Dienstleistungen (LiSe Gebäude-, Textil- und Catering-Service, USE-Rundum-Glücklich-Paket) und schließlich Mischformen mit eigenen Produkten und damit zusammenhängenden Dienstleistungen (SAMOCCA Café, Freizeit- und Tagungshotel euvea, Musik-Band Station 17) werden ausführlich vorgestellt. Die Form der Darstellung haben die Autoren auf der Basis eines von den Herausgebern vorgeschlagenen „Grundrasters“ individuell gewählt. So informieren die Buchbeiträge mit unterschiedlichen Schwerpunkten über die jeweilige Entstehungsgeschichte der Geschäftsidee, über die Markt- und Konkurrenzanalyse, die konkrete Projektplanung, den Personal- und Raumbedarf sowie über Marketingstrategien und Markenbildung. Dabei zeigen die Beiträge unterschiedliche Strategien in der mehr oder weniger konsequenten Anwendung, wie zum Beispiel: Nischenstrategien („In der Nische gibt es kaum Konkurrenz“) Lokale Marktarealstrategien („Man kennt die Kunden und diese uns“) Unique-Selling-Point (USP)-Strategien („Sich durch Alleinstellungsmerkmale vom Wettbewerb abheben“) Markenstrategien mit Cross-Selling („Die Kunden entwickeln Markentreue und kaufen verschiedene Produkte/Dienstleistungen von uns“) Qualitätsstrategien („Durch hohe Qualität relativ hoher Preis realisierbar“) Kommunikationsstrategien („Durch laufende, intensive Begegnung mit den Kunden deren Bedarfe möglichst gut kennen“) Innovationsstrategien („Neue, schöne, einzigartige Produkte auf den Markt bringen“). Zugleich wird erkennbar, dass viele Geschäftsideen zunächst ohne eine bewusst zugrunde gelegte Strategie historisch gewachsen, durch Weiterentwicklungen bestehender Geschäftsfelder und manchmal sogar durch einen Zufall entstanden sind. Wahrscheinlich ist es die Mischung aus kreativen, engagierten Akteuren, glücklichen Umständen und auf Wirtschaftlichkeit ausgelegte Strategien, die eigene Produkte und Dienstleistungen von WfbM am Markt erfolgreich sein lassen. Die folgenden Beiträge sollen Mut machen, sich mit diesem Thema weiter auseinanderzusetzen. Wir als Herausgeber freuen uns, wenn die ausgewählten Projekte Anregungen und Impulse bieten für weitere Produkte und Dienstleistungen in Eigenregie von Werkstätten. Nach den insgesamt acht Praxisbeiträgen rundet ein Handlungsleitfaden das Buch ab, der alle Aspekte der Vermarktung eigener Produkte bzw. Dienstleistungen behandelt und in Form von „Checklisten“ wertvolle Hilfestellungen für die eigenen Überlegungen der Leserinnen und Leser bietet.