Einführung in die Analysis

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Skriptum zur Vorlesung
Einführung in die Analysis
von Bernhard Krön
Version vom 02.02.2014
Sommersemester 2013
VO LV-Nr.: 250053, 5 ECTS
UE LV-Nr.: 250054, 4 ECTS
http://homepage.univie.ac.at/bernhard.kroen/Analysis.html
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Zum Vorlesungsaufbau
Einleitung
1
1
4
Kapitel 1. Zahlen und Folgen
1.1. Konstruktion und Axiomatik
1.2. Natürliche Zahlen
1.3. Ganze Zahlen
1.4. Zur Konstruktion der Zahlenbereiche
1.5. Rationale Zahlen
1.6. Folgen
1.7. Konvergenz und geometrische Folgen
1.8. Cauchy-Folgen und Grenzwertsätze
1.9. Intervallschachtelungen
1.10. Reelle Zahlen
1.11. Erweiterte reelle Zahlen
1.12. Vollständigkeit der reellen Zahlen
1.13. Häufungswerte und Häufungspunkte
1.14. Wurzeln
1.15. Komplexe Zahlen
1.16. Konvergenzkriterien für Reihen
1.17. Das Cauchy-Produkt von Reihen
1.18. Die Exponentialreihe
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37
39
Kapitel
2.1.
2.2.
2.3.
2.4.
2.5.
2.6.
41
41
41
46
49
50
51
2. Stetigkeit
Metrische Räume
Stetigkeit in metrischen Räumen
Stetigkeit reeller Funktionen
Stetige Umkehrabbildungen
Limiten zu Exponentialfunktion und Logarithmus
Trigonometrische Funktionen
Kapitel 3. Differentiation
3.1. Differenzierbarkeit
3.2. Erste Ableitungsregeln
57
57
58
Literaturverzeichnis
63
i
Vorwort
Auch wenn mehrere Personen einen längeren mathematischen Text genau korrigiert
haben, werden sich beim erneuten Lesen wieder Fehler finden lassen. In diesem Sinne bitte
ich Sie, dieses Skriptum aufmerksam zu studieren; berichten Sie mir Fehler, auch wenn es sich
nur um Tippfehler handelt. Ich bin auch an kritischen Anmerkungen jeder Art zu Aufbau,
fehlenden Beispielen oder zu unverständlichen Argumenten interessiert. Ihre Kommentare
werde ich laufend einarbeiten und immer wieder aktualisierte Fassungen des Skriptums
auf http://homepage.univie.ac.at/bernhard.kroen/Analysis.html online stellen und
zwar in zwei Versionen: mit Zeilennummerierung, die Ihnen helfen, auf Fehler hinzuweisen,
und ohne Zeilennummerierung, für eine optisch ungestörte Lektüre. Herzlichen Dank an
Lukas Hobel, Stefanie Hofbauer, Andreas Kalb, Florian König, Doris Laßnig, Peter Leitner,
Christine Neuhuber, Christine Pünner, Katrin Schönegger, Tobias Slowiak und Stephan
Wastyn für die Korrektur zahlreicher kleiner Fehler.
Beispiele zu den Übungen finden Sie im Text am Ende der Kapitel und noch einmal in
gesammelter Form. Auch am Ende jedes Kapitels sind sogenannte Theoriefragen formuliert,
die Ihnen bei der Vorbereitung zur Prüfung helfen sollen.
Ich halte mich im Aufbau an kein bestimmtes Lehrbuch. W. Rudins “Principles of
Mathematical Analysis” [10] (nicht zu verwechseln mit seinem Buch “Real and Complex
Analysis”) ist ein Standardwerk im englischsprachigen Raum und auf Deutsch als “Analysis” [8] erschienen (nicht zu verwechseln mit “Reelle und Komplexe Analysis”). Der deutsche
Klassiker von H. Heuser [2] ist ausführlich geschrieben und enthält viele Beispiele. In der
Literaturliste finden Sie weitere wichtige Lehrbücher zur Analysis, die meisten stammen
aus dem deutschsprachigen Raum. Zu empfehlen ist auch das Vorlesungsskriptum [3] von
G. Hörmann und D. Langer, sowie als Nachschlagwerk zum Kurs “Einführung in das mathematische Arbeiten” das gleichnamige Buch [11] von H. Schichl, R. Steinbauer. Dieser Kurs
wird in der Vorlesung vorausgesetzt.
Zum Vorlesungsaufbau
Die folgenden Gedanken zum Aufbau der Lehrveranstaltung richten sich an die mathematisch erfahrenere Leserschaft. Im Weiteren setze ich nur die Lehrveranstaltung “Einführung
in das mathematische Arbeiten” voraus.
Es gibt unzählige Unterlagen und einführende Bücher zur reellen Analysis und trotzdem
habe ich mich entschlossen, ein neues Vorlesungsskriptum zu verfassen. Die Frage, wie die
Vorlesung zur Analysis aufgebaut sein soll und insbesondere, wie reelle Zahlen eingeführt
werden, beschäftigt die universitäre Lehre seit dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, als die Mathematik auf ein strenges formales Fundamet gestellt wurde. Edmund
Landau schreibt 1929 im Vorwort zu seinen “Grundlagen der Analysis” [6]:
“Dies Büchlein ist eine Konzession an die (leider in der Mehrzahl befindlichen) Kollegen,
welche meinen Standpunkt in der folgenden Frage nicht teilen.
Auch wer Mathematik hauptsächlich für die Anwendungen auf Physik und andere Wissenschaften lernt, also vielfach sich selbst weitere mathematische Hilfssätze zurechtlegen
muß, kann auf dem betretenen Pfade nur dann sicher weiterschreiten, wenn er gehen gelernt
hat, d.h. zwischen falsch und wahr, zwischen Vermutungen und Beweisen (oder, wie manche
so schön sagen, zwischen unstrengen und strengen Beweisen) unterscheiden kann.
Darum finde ich es (. . . ) richtig, daß der Studierende bereits im ersten Semester lernt,
auf welchen als Axiomen angenommenen Grundtatsachen sich lückenlos die Analysis aufbaut und wie dieser Aufbau begonnen werden kann. Bei der Wahl der Axiome kann man
bekanntlich verschieden verfahren; ich erkläre es also nicht etwa für falsch, sondern für meinem persönlichen Standpunkt fast diametral entgegengesetzt, wenn man für reelle Zahlen
zahlreiche der üblichen Rechengesetze als Axiome postuliert.”
1
Ganz ähnlich sieht das Charles Chapman Pugh in [7, Section 1.2] “The current mathematics teaching trend treats the real number system R as a given — it is defined axiomatically. Ten or so of its properties are listed, called axioms of a complete ordered field, and the
game becomes: deduce its other properties from the axioms. This is something of a fraud,
considering that the entire structure of analysis is built on the real number system. For what
if a system satisfying the axioms failed to exist? Then one would be studying the empty set!
However, you need not take the existence of the real numbers on faith alone — we will give
a concise mathematical proof of it.”
Landau geht von den Peano-Axiomen aus, wohingegen Pugh natürliche Zahlen ohne
Axiomatik als gegeben annimmt. Wenn wir eine Mathematik betreiben wollen, in der Mengen verwendet werden (und das wollen wir), dann stellt sich eine weitere Frage: Gibt es die
(oder eine) Menge natürlicher Zahlen? Gibt es eine Menge, die die Peano-Axiome der natürlichen Zahlen erfüllt? Auch diese Frage muss beantwortet werden, auch wenn die Antwort
einfach und kurz ist: Die Existenz einer solchen Menge folgt aus dem Unendlichkeitsaxiom
der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre. Und gibt es überhaupt eine Menge? Eine solche
Frage ist als mathematische Frage nicht ganz richtig gestellt, weil ein Objekt offenbar außerhalb der formalen Theorie in der realen Welt gesucht wird. Die Frage müsste lauten: Ist das
Axiomensystem der Mengenlehre widerspruchsfrei? Hier wird die Sache etwas komplizierter: Gödel hat gezeigt, dass jedes hinreichend große widerspruchsfreie formale System die
eigene Widerspruchsfreiheit nicht zeigen kann. Dies trifft auch auf die Zermelo-Fraenkelsche
Mengenlehre zu. Das heißt, wenn wir mit ihr arbeiten, können wir nicht beweisen, dass sie
widerspruchsfrei ist, auch wenn sie es wohl doch ist, woran niemand zweifelt.
“Bei der Wahl der Axiome kann man bekanntlich verschieden verfahren;” (Landau, siehe
oben). Man muss sich nur bewusst werden, welche die axiomatische Basis ist. Grundsätzlich
wäre es möglich, eine rein arithmetische Mathematik zu betreiben (zum Beispiel in der
Zahlentheorie), in der es keine Mengen und auch keine Geometrie gibt, dann genügen die
Peano-Axiome oder andere.
Ein besonderes Axiom der Mengenlehre ist das Auswahlaxiom (axiom of choice), weil
es die Existenz von Objekten impliziert, die nicht konstruktiv beschreibbar sind, weswegen
es von manchen Mathematiker/innen vermieden oder gar abgelehnt wird. Mit ZFC wird die
Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre (ZF) zusammen mit dem Auswahlaxiom (C) bezeichnet.
Sie hat sich als mächtige Grundlage der Mathematik etabliert. Zusammen mit der Prädikatenlogik im Hintergrund lässt sich mit ihr die gesamte Mathematik in einer Theorie vereinen,
das macht ZFC so attraktiv.
Die für uns relevanten Zahlenbereiche lassen sich aus ZF ableiten. Weder die PeanoAxiome noch die Axiome der reellen Zahlen als vollständig geordneter Körper sind für uns
also eine Grundlegung der Zahlenbereiche, sondern nützliche Charakterisierungen. Das heißt,
sie helfen uns, Theoreme folgender Art zu formulieren: Die aus der Zermelo-Fraenkelschen
Mengenlehre konstruierten Zahlenbereiche (insb. die natürlichen und die reellen Zahlen)
erfüllen (zusammen mit den darauf definierten Rechenoperationen) eine bestimmte Liste von
Axiomen und jedes andere Objekt, das diese Axiome auch erfüllt, ist isomorph zu den aus der
Mengenlehre konstruierten Zahlenbereichen. Auch wenn die Axiomatiken der Zahlenbereiche
keine Grundlegungen darstellen, dienen sie als Basislager auf halber Höhe des Berges, von
dem aus wir den Gipfel besteigen können. Unten im Tal befinden sich Logik und Mengenlehre
als Ausgangspunkt.
Das erste Problem bei der von Landau empfohlenen Vorgehensweise ist der enorme
Zeitaufwand, der nötig ist um dies rigoros und vollständig zu tun. Ich beschränke mich
daher bei der Konstruktion der Zahlenbereiche aus der Mengenlehre auf wenige wesentliche
Schritte und verzichte auf die in der Analysis sonst erforderliche Vollständigkeit.
Nachdem Rudin 1953 in [9] die reellen Zahlen zunächst rigoros über Dedekindschnitte
eingeführt hat, schreibt er in seinem Vorwort zur dritten Auflage [10] von 1976 über das
zweite, nämlich das mathematisch-didaktische Problem bei der Konstruktion reeler Zahlen:
2
“Experience has convinced me that it is pedagogically unsound (though logically correct) to
start off with the construction of the real numbers from the rational ones. At the beginning,
most students simply fail to appreciate the need for doing this.”
Die Vollständigkeit ist die wichtigste der Eigenschaften, die die reellen von den rationalen
Zahlen unterscheidet. Um sich der Bedeutung dieser Eigenschaft bewusst zu werden, habe ich
gerade aus didaktischen Gründen nicht auf eine Konstruktion der reellen Zahlen verzichtet.
Allerdings stelle ich diese nicht wie sonst üblich an den Beginn der Vorlesung, sondern
arbeite erst eine Zeit nur mit rationalen Zahlen und behandle Konvergenz, Cauchy-Folgen
und Grenzwertsätze bis wir an einen Punkt kommen, wo sich die Konstruktion der reellen
Zahlen zwingend und gleichzeitig auf natürliche Weise ergibt. Allerdings muss man bei dieser
Vorgehensweise später an einer Stelle festhalten, dass vieles, was zuvor über rationale Folgen
gesagt wurde, nun auch für reelle Zahlen gilt. Dies trifft auf alle Aussagen zu, die nur aus den
Körperaxiomen abgeleitet wurden und die Eigenschaft rationaler Zahlen, dass sie Quotienten
ganzer Zahlen sind, nicht verwenden.
Anstatt den Aufbau der Mathematik auszublenden, sollte begründet werden, warum
es notwendig ist, ihn zu kennen. Gerade in allgemein bildenden Schulen sollte auch Platz
für Reflexionen über das Fach an sich sein. Das mathematische Theoriegebäude dient als
Beispiel einer Wissenschaft und hilft das Wesen der Wissenschaft besser zu verstehen. Es ist
wichtig, auch in der Schule über Möglichkeiten und Grenzen einer naturwissenschaftlichen
Theorie nachzudenken und unterscheiden zu lernen zwischen Phänomenen der realen Welt
und erklärenden Thesen, zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft, zwischen Glaube,
Spekulation, Empirie und - wie im Fall der Mathematik - einer formalen Theorie. Deswegen
sollten Lehrkräfte zumindest eine grobe Vorstellung davon haben, was das Theoriegebäude
Mathematik ist, auch wenn Grundlagen der Mathematik in der Schule nicht standardmäßig
unterrichtet werden.
Wir müssen davon ausgehen, dass die meisten Studierenden später nie eine Lehrveranstaltung über Mengenlehre oder Grundlagen der Mathematik belegen werden und dass die
Analysis ihre einzige Chance ist, einen Einblick in dieses Theoriegebäude zu bekommen.
Die verbreitetsten Konstruktionen der reellen Zahlen sind jene mit Cauchy-Folgen und
jene mit Dedekind-Schnitten. Man kann reelle Zahlen auch direkt über Dezimalbrüche
einführen. Dedekind-Schnitte sind intuitiv leicht zu verstehen, das ist ihr Vorteil. Ein Nachteil ist wohl, dass sie abgesehen von der Konstruktion der reellen Zahlen kaum eine Verwendung finden. Das heißt, es wird Zeit und Energie für eine kleine Theorie investiert, deren
einziger Zweck die Konstruktion der reellen Zahlen ist. Ich habe mich für die Konzepte der
Cauchy-Folgen und Intervallschachtelungen entschieden, weil diese auch im späteren Aufbau
der Analysis von großer Bedeutung sind. Bis wir zu dem Punkt gelangen, wo wir reelle Zahlen als Äquivalenzklassen von Cauchy-Folgen definieren, muss viel gearbeitet werden. Diese
Arbeit ist aber nicht umsonst, denn das Kapitel über Folgen und Konvergenz wird im Laufe
dieser Konstruktion bereits großteils abgearbeitet. Auch bekommen wir wichtige Sätze wie
jenen von Bolzano-Weierstrass im Zuge der Konstruktion praktisch geschenkt.
Ich will mit dieser Vorlesung zeigen, wie die Konstruktion der reellen Zahlen auf natürliche Weise motiviert und in den Aufbau der Analysis integriert werden kann, ohne den Umfang der Lehrveranstaltung zu erhöhen.
Potenzen mit reellen Exponenten können bequem über Exponentialfunktion und Logarithmus eingeführt werden. Wenn dafür erst Umkehrfunktionen und stetige Funktionen
behandelt werden müssen, bedeutet das, dass die Exponentialfunktion erst relativ spät behandelt wird. Die Exponentialreihe selbst spielt in verschiedenen Bereichen der Mathematik
eine ganz zentrale Rolle. Aus diesem Grund behandle ich die Exponentialfunktion schon relativ früh im Kapitel über Reihen. Um zu zeigen, dass ihre Umkehrfunktion auf allen positiven
reellen Zahlen definiert ist, verwende ich den Zwischenwertsatz. Daher wird der Logarithmus erst später eingeführt. Wir wollen jedoch schon zu einem früheren Zeitpunkt Wurzeln
ziehen, zum Beispiel beim Wurzelkriterium für Reihen. Wurzeln und rationale Exponenten
3
werden daher schon früher direkt über die Vollständigkeit der reellen Zahlen definiert. An
dieser Stelle könnten durch einen Grenzübergang direkt reelle Exponenten eingeführt werden (siehe z.B. [4, 2]), worauf ich aus Zeitgründen in den Kapiteln zu Reihen verzichte, weil
wir irrationale Exponenten ohnehin erst ab den Kapiteln zur Stetigkeit brauchen.
Einleitung
0.0.1. Die Frage nach dem “Was” und das Fundament. Was ist eine Funktion?
Eine Funktion ist eine Relation. Und was ist eine Relation? Eine Relation ist eine Menge
von Paaren. Egal bei welchem mathematischen Objekt wir die Frage nach dem “Was” stellen, am Ende landen wir immer bei den Mengen. Mathematik beschäftigt sich nicht mit
der Wirklichkeit, sondern mit formalen Modellen. Mengen haben sich als Einheitsmodell
bewährt. Mengen mit bestimmten Eigenschaften bekommen Namen, zum Beispiel “Funktion”. Die Frage, was in der realen Welt tatsächlich eine Funktion ist, stellt sich uns nicht. Für
ontologische Diskussionen ist in der Mathematik kein Platz, das ist Sache der Philosophie
und auch dort ist umstritten, ob sie sinnvoll sind.
Die zweite Zutat, mit der wir das Fundament der Mathematik errichten, ist die Logik.
Moderne höhere Mathematik ist das Treffen von Aussagen über Mengen, sonst nichts. Mengen sind die Objekte, Logik ist die Sprache. So wie die Chemiker ihre Welt aus Atomen
aufbauen, so bauen Mathematiker ihre Welt aus Mengen und Logik.
Nun gibt es auch Kernphysiker, die nicht wissen wollen, was man aus Atomen bauen
kann, sondern die auf der Suche nach dem Ursprung der Dinge Atome in möglichst kleine
Einzelteile zerlegen. Wie sieht das in der Mathematik aus? Was passiert, wenn wir die Frage
nach dem “Was” weiter treiben? Was ist eine Menge? Was ist eine Ausage? Was ist das
Urteilchen der Mathematik? Irgendwann müssen wir ein Zeichen auf ein Papier machen, ein
“x” oder ein “t”, ohne dabei sagen zu können, was das sein soll. Am Ende baut auch die
strengste aller Wissenschaften auf etwas auf, das unsicher und unklar ist, über das wir nichts
wissen und nichts sagen können. Das letzte Urteilchen der Mathematik gibt es nicht. Ab der
ersten Grundsteinlegung ist die Mathematik allerdings zu hundert Prozent sicher und, wenn
wir so wollen, “wahr”. Das ist, was diese Wissenschaft vor allen anderen auszeichnet.
Wie das Gebäude der Analysis auf das Fundament aus Mengenlehre und Logik aufgebaut
wird, ist Inhalt dieser Vorlesung. Im übertragenen Sinn: Dies ist eine Vorlesung über Chemie
und nicht über Kernphysik.
Die Kernphysik der Mathematik wird in Vorlesungen zu Mengenlehre und Logik behandelt. Einige Aspekte daraus sind auch für uns relevant. Ich will insbesondere dazu anregen,
folgende Fragen zu geeigneten Zeitpunkten immer wieder zu stellen.
(1) Wir können zwei Arten von Axiomensystemen unterscheiden: solche, die bis auf Isomorphie ein eindeutiges Objekt bestimmen, von jenen Systemen, die eine möglichst
allgemeine Klasse von Objekten bestimmen. Was sind Beispiele solcher Axiomensysteme und worin besteht der Vorteil einer solchen Axiomatik?
(2) Was besagen die Gödelschen Unvollständigkeitssätze und welche Auswirkungen
haben sie für die Mathematik?
(3) Welche Folgen hat das Auswahlaxiom? Wie sind Objekte beschaffen, deren Existenz mit dem Auswahlaxiom aber nicht ohne das Auswahlaxiom gezeigt werden
kann?
(4) Welche Probleme können sich ergeben, wenn Mathematik ohne axiomatisches Fundament betrieben wird und welche Probleme sind in früheren Jahrhunderten aufgrund fehlender Axiomatiken aufgetreten?
(5) In welchen Studienrichtungen sollten Logik, Mengenlehre oder zumindest die darauf basierende Konstruktion der Mathematik behandelt werden?
4
0.0.2. Mathematik von Menschenhand oder naturgegeben? Die reelle Analysis ist Ergebnis einer Entwicklung, die sich vom 17. Jahrhundert bis in das 19. Jahrhundert gezogen hat. Manche fundamentalen Erkenntnisse zu den Grundlagen der modernen
Mathematik konnten erst im 20. Jahrhundert erlangt werden (z.B. die Gödelschen Unvollständigkeitssätze). Ob Mathematik naturgegeben existiert und wir sie Schritt für Schritt
entdecken, oder ob Mathematik etwas ist, das der Mensch erschafft, ist eine philosophische
und keine mathematische Frage. Unbestritten ist, dass es auch historische Gründe dafür
gibt, dass das Gebäude der modernen Analysis ist so, wie es ist. Es könnte genauso gut ganz
anders aussehen. Der Aufbau der heutigen Mathematik ist, überspitzt formuliert, nur eine
vorherrschende Lehrmeinung, die sich durchgesetzt hat. In der Nichtstandardanalysis wird
beispielsweise mit unendlich kleinen Größen gerechnet und in der konstruktiven Mathematik
auf das Auswahlaxiom verzichtet, denn es impliziert die Existenz von Objekten, die insofern
pathologisch sind, als sie nicht genau beschrieben werden können. Die “vorherrschende Lehrmeinung” die in dieser Vorlesung präsentiert wird, behandelt “gewöhnliche” reelle Zahlen
(nicht jene der Nichtstandardanalysis) und verwendet bei Bedarf das Auswahlaxiom.
Aber nicht nur wie die Analysis aufgebaut ist, sondern auch die Gestalt ihrer Grundlagen (Mengenlehre und Logik) ist ein zum Teil zufälliges Produkt einer historischen Entwicklung. In diesem Sinn ist klar, dass die Mathematik als Theoriegebäude ein Werk von
Menschenhand ist. Dass hingegen das Verhältnis aus Kreisumfang und Kreisdurchmesser
als Grenzwert von verschiedenen schönen Zahlenreihen auftritt, ist nicht uns Menschen zu
verdanken, sondern das ist ein Wunder der Natur. In der aktuellen Forschung der reinen
Mathematik haben gerade jene Teilgebiete, die die spektakulärsten Erkenntnisse liefern und
die meisten Forscherinnen und Forscher in ihren Bann ziehen, auch immer wieder verblüffende Anwendungen außerhalb der Mathematik bzw. tragen diese Teilgebiete externe (d.h. der
realen Welt zuzurechnende) Inputs in sich. Es ist interessant danach zu fragen, ob dies daran
liegt, dass tiefe Mathematik etwas Naturgegebenes ist, oder ob das eine Folge des Umstandes ist, dass unsere Hirne Maschinen unserer Welt und unserer Körper sind und somit von
Natur aus kaum andere interessante Modelle beschreiben können, als solche, die in unserer
Welt Anwendung finden.
0.0.3. Was ist Analysis? Das zentrale Objekt dieser Vorlesung sind reelle Funktionen, also Funktionen von R nach R. In weiteren Lehrveranstaltungen zur Analysis werden
auch Funktionen in mehreren Veränderlichen betrachtet. In der komplexen Analysis (auch
“Funktionentheorie” genannt) wird mit komplexen anstatt reellen Zahlen gearbeitet.
Reelle Funktionen sind ein absolut unverzichtbares Modell in Naturwissenschaft, Technik
und praktischen Anwendungen aller Art. Um als Mathematiker sinnvoll mit ihnen arbeiten
zu können, müssen wir sie im “unendlich Kleinen” betrachten und verstehen, das heißt,
wir zoomen mit einem Mikroskop immer tiefer und tiefer an einer Stelle hinein. Das ist die
herausragende Eigenschaft der reellen Zahlen: Egal wo wir uns mit dem Mikroskop unendlich
tief hineinzoomen, immer wird dort, wo wir das tun, am Ende etwas zu sehen sein, ein
Punkt und kein Loch. Die Menge der reellen Zahlen ist aber nicht mit dieser Eigenschaft
vom Himmel gefallen, sondern eben so konstruiert, dass sie diese Eigenschaft hat, dass sie
eben keine “Löcher” hat. Die Mathematiker nennen das Vollständigkeit.
Das sich-beliebig-nahe-Annähern heißt in der Mathematik Konvergenz. Sie steckt in allen zentralen Begriffen der Analysis: in der Stetigkeit, der Ableitung, im Integral usw. Damit
Konvergenz funktioniert, brauchen wir Zahlenbereiche, die keine “Löcher” haben, die eben
vollständig sind. Um die zentralen Begriffe der Analysis wirklich zu begreifen, ist es also
hilfreich, schon die reellen Zahlen zu begreifen und zu verstehen, warum Analysis mit ganzzahligen Brüchen alleine nicht funktionieren kann, denn die Menge der ganzzahligen Brüche
(die Menge der rationalen Zahlen) hat sehr wohl “Löcher”. Betrachten wir die rationalen
Zahlen als Zahlenstrahl und zoomen uns mit dem Mikroskop an jener Stelle in die Tiefe,
wo die Zahlen, deren Quadrat größer 2 ist, auf die Zahlen treffen, deren Quadrat kleiner als
5
6
2 ist, dann zeigt sich an dieser Stelle ein Loch. Es gibt keinen ganzzahligen Bruch, dessen
Quadrat gleich 2 ist.
Eine offene Kugel ist die Menge aller Punkte, die zu einem bestimmten Punkt (dem
Mittelpunkt) einen Abstand haben, der kleiner als der gegebene Radius ist. Im dreidimensionalen Raum, sind Kugeln das, was wir uns gemeinhin unter Kugeln vorstellen. In der
Ebene sind offene Kugeln Kreisscheiben ohne Randlinie und am Zahlenstrahl sind Kugeln
offene Intervalle (ohne Randpunkte). Ein innerer Punkt einer Menge ist ein Punkt, der Mittelpunkt einer Kugel (bzw. eines Intervalls) ist, welche ganz in der Menge enthalten ist. Im
Gegensatz zu den inneren Punkten berühren Randpunkte einer Menge den Bereich außerhalb der Menge. Wenn eine Menge nur aus inneren Punkten besteht, nennen wir sie offen.
Beispiele sind offene Intervalle aber auch Vereinigungen von offenen Intervallen. Offene Mengen sind Gegenstand der Topologie, der Lehre von der Gestalt von Objekten und Räumen.
In der Topologie werden offene Mengen nicht über Kugeln sondern allgemeiner durch eine
Axiomatik definiert.
Begriffe wie offene Mengen, Kompaktheit, Konvergenz oder Stetigkeit sind Grundbegriffe
der Topologie. Wenn Studierenden die Analysis beigebracht wird, gibt es zwei Ansätze:
Entweder man geht der Terminologie der Topologie soweit wie möglich aus dem Weg und
jongliert stattdessen vermehrt mit kleinen Parametern (meist ε und δ), oder man versucht,
diese manchmal technisch erscheinenden Rechnungen mit Parametern zu vermeiden und
greift auf die Terminologie der Topologie zurück. Topologische Grundbegriffe im Kontext
reeller Zahlen zu begreifen, bedeutet zwar, eine gewisse Abstraktion vollziehen zu müssen,
dies ist jedoch ohnehin notwendig, um die nötigen Grundvorstellungen zu entwickeln. Ist
dieser Schritt der topologischen Abstraktion einmal getan, werden die Grundbegriffe besser
verständlich und mit ihnen zu arbeiten wird leichter.
Die Analysis ist geprägt durch das Aufeinandertreffen von Arithmetik und Topologie,
von konkreten Rechnungen und abstrakten Überlegungen, in deren Mittelpunkt der Grenzwertbegriff steht.
0.0.4. Bevor wir beginnen. Kommen Sie nicht in Versuchung, zu glauben, dass es
ausreicht, sich beim Studieren auf die rechnerischen Aspekte der Analysis zu beschränken.
Ihre wichtigste Aufgabe ist es, die theoretischen Grundbegriffe gut zu verstehen und sie in
Beweisen anwenden zu können. Lernen Sie nichts auswendig, sondern bemühen Sie sich zu
verstehen.
Es ist in diesem Kurs nicht möglich, das Semester auch nur ein paar Wochen ohne intensive Arbeit vorrüber ziehen zu lassen, um dann vor der Prüfung punktuell den versäumten
Stoff nachzuholen. Der Stoff ist aufbauend. Sie müssen theoretische Konzepte verinnerlichen
und sich mit ihnen aktiv auch im Rahmen der Übungen auseinandersetzen, um Sicherheit
zu gewinnen. Das erfordert viel Zeit. Ein oder zwei Vorlesungen zu versäumen und den Stoff
nicht nachzuholen, kann bereits dazu führen, dass Sie den Anschluss verlieren.
KAPITEL 1
Zahlen und Folgen
1.1. Konstruktion und Axiomatik
Von der Schule kommend müssen wir uns davon verabschieden, Zahlen als etwas bloß
Naturgegebenes zu behandeln. Jeder weiß zwar, wie man Schafe zählt, 1, 2, 3,. . . , aber was
ist diese Eins, was ist dieser Zweier? Im Alltagsgebrauch ist es nicht notwendig, den Begriff
einer Zahl zu präzisieren, aber in der höheren Mathematik hat sich eine rein anschauliche
Herangehensweise als nicht praktikabel erwiesen. Wenn wir ohne klare Definitionen komplexe
Mathematik betreiben wollen, entstehen schnell Missverständnisse und Widersprüche.
Natürliche, ganze, rationale, relle und komplexe Zahlen sowie ihre grundlegenden Eigenschaften sind Stoff der Lehrveranstaltung “Einführung in das mathematische Arbeiten”.
Die Konstruktionen der Zahlen werden in dieser Einführung in die Analysis in kurzgefasster
Form dargestellt und nur einzelne Punkte genauer besprochen. Für eine ausführlichere Darstellung sei auf [11, Kapitel 6] verwiesen. Auch die im Folgenden erwähnten Axiomensysteme
können dort nachgelesen werden.
Die Zahlenbereiche benötigen keine axiomatische Grundlegung, sondern werden auf
Mengenlehre und Prädikatenlogik aufgebaut und danach axiomatisch charakterisiert. Wichtig sind vor allem die Peano-Axiome der natürlichen Zahlen sowie die Axiome eines vollständig
geordneten Körpers für die reellen Zahlen.
1.2. Natürliche Zahlen
Das Fundament, auf das wir aufbauen, besteht aus Mengenlehre und Logik. Mengen werden heute meistens durch das sogenannte Zermelo-Fraenkelsche Axiomensystem eingeführt,
welches Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde.
Die leere Menge, die mit { } oder ∅ bezeichnet wird, ist ein Urteilchen der höheren
Mathematik. Das Unendlichkeitsaxiom ist eines der Zermelo-Fraenkelschen Axiome und besagt, dass es eine Menge M gibt, die die leere Menge als Element enthält, und die mit jedem
ihrer Elemente x auch die Menge x ∪ {x} enthält. Eine Menge, die das Unendlichkeitsaxiom
erfüllt, enthält die leere Menge ∅ und somit auch ∅ ∪ {∅} = {∅}. Da sie {∅} enthält, muss
sie nach dem Unendlichkeitsaxiom auch {∅} ∪ {{∅}} = {∅, {∅}} enhalten, usw. Die Menge
der natürlichen Zahlen inklusive der Null ist definiert als der Durchschnitt aller Mengen,
die das Unendlichkeitsaxiom erfüllen:
N0 := {∅, {∅}, {∅, {∅}}, {∅, {∅}, {∅, {∅}}}, . . .},
das ist die Menge die nur das enthält, was sie enthalten muss um das Unendlichkeitsaxiom
zu erfüllen - und nicht mehr. Für x in N0 heißt x ∪ {x} der Nachfolger von x, er wird mit
x0 bezeichnet.
Definition 1.2.1. Die Abbildung + : N0 × N0 → N0 ist rekursiv gegeben durch
(1.2.1.1)
+(x, ∅) = x und
(1.2.1.2)
+(x, y 0 ) = +(x, y)0 .
Den Elementen von N0 geben wir Namen. Wir schreiben 0 statt ∅, 1 statt 00 = {∅},
2 statt 000 = {∅, {∅}}, 3 statt 0000 = {∅, {∅}, {∅, {∅}}} usw. Außerdem schreiben wir x + y
7
8
1. ZAHLEN UND FOLGEN
statt +(x, y). Also entspricht (1.2.1.1) der Identität x + 0 = x und (1.2.1.2) entspricht
x + (y + 1) = (x + y) + 1 bzw. x + y 0 = (x + y)0 .
Wieviel ist 1 + 1 bzw. +(00 , 00 )? Aus (1.2.1.2) folgt +(00 , 00 ) = +(00 , 0)0 und (1.2.1.1)
impliziert +(00 , 0)0 = (00 )0 = 000 = 2. Also ist 1+1 = 2. Es ist 000 nur eine andere Schreibweise
für (00 )0 , das ist also der Nachfolger des Nachfolgers von 0, den wir mit 2 bezeichnen.
Die Multiplikation natürlicher Zahlen wird über wiederholte Addition definiert. Kommutativität und Distributivgesetze lassen sich Induktiv zeigen, was wir aus Zeitgründen
nicht durchführen wollen.
Die Multiplikation natürlicher Zahlen ergibt sich durch wiederholte Addition. Für natürliche Zahlen x, y schreiben wir x < y, wenn x ∈ y ist. Zum Beispiel ist 0 < 2 weil ∅ ∈ {∅, {∅}}
ist. Diese Relation ist eine totale Ordnung auf N0 .
Das Prinzip der vollständigen Induktion lässt sich ebenfalls aus Axiomen der Mengenlehre ableiten, insbesondere mithilfe des Unendlichkeitsaxioms: Wenn für alle n ∈ N0 eine
Aussage A(n) die Aussage A(n + 1) impliziert und die Aussage A(0) wahr ist, dann ist die
Aussage A(n) für alle n ∈ N0 wahr.
Die Peano-Axiome, welche die natürlichen Zahlen charakterisieren, sind etwas älter als
die Zermelo-Fraenkelschen Axiome der Mengenlehre. Dass die oben mengentheoretisch eingeführten natürlichen Zahlen die Peano-Axiome erfüllen, ist für alle, die mit Mengen arbeiten
wollen, ein zu beweisendes Theorem und nicht die Grundlegung der natürlichen Zahlen.
Beispiel 1.2.2 (Übungsbeispiel 1). Zeigen Sie 3 + 2 = 5 bzw. +(0000 , 000 ) = 000000 unter
Verwendung der Definition der Addition natürlicher Zahlen.
1.2.3 (Theoriefrage 1). Was besagt das Unendlichkeitsaxiom und wie kann damit die
Menge der natürlichen Zahlen definiert werden?
1.3. Ganze Zahlen
Wir schreiben (a, b) ∼ (c, d), wenn a + d = b + c ist. Das ist eine Äquivalenzrelation auf
N0 × N0 .
Definition 1.3.1. Die Menge der ganzen Zahlen Z ist definiert als Quotientenmenge
(N0 × N0 )/ ∼. Verknüpfungen Summe ⊕ : Z × Z → Z und Produkt : Z × Z → Z definieren
wir durch
[(a, b)] ⊕ [(c, d)] := [(a + c, b + d)],
[(a, b)] [(c, d)] := [(ac + bd, ad + bc)].
Zum Beispiel entspricht die Äquivalenzklasse
{(0, 2), (1, 3), (2, 4), (3, 5), (4, 6), . . .}.
der ganzen Zahl -2 in unserem natürlich-anschaulichen Zahlenverständnis. Die Zahl 3 entspricht z.B. [(3, 0)] oder [(5, 2)]. Die Summe 3 + (−2) ist formal [(5, 2)] ⊕ [(0, 2)] = [(5, 4)].
Der Äquivalenzklasse [(5, 4)] entspricht die Zahl 1 in unserer Anschauung. Die Definition
des Produkts wird verständlicher durch die Identität
ac + bd − ad − bc = (a − b)(c − d).
Um zu zeigen, dass die Summe von [(a, b)] und [(c, d)] wohl definiert ist, muss gezeigt werden, dass [(a + c, b + d)] nicht von der Wahl der Repräsentanten (a0 , b0 ) ∈ [(a, b)] und
(c0 , d0 ) ∈ [(c, d)] abhängt. Es seien also (a0 , b0 ) ∈ [(a, b)] und (c0 , d0 ) ∈ [(c, d)] zwei beliebige
Repräsentanten. Wegen (a0 , b0 ) ∼ (a, b) und (c0 , d0 ) ∼ (c, d) ist a0 +b = a+b0 und c0 +d = d0 +c.
Daraus folgen a0 + c0 + b + d = a + c + b0 + d0 und somit (a + c, b + d) ∼ (a0 + c0 , b0 + d0 )
und [(a + c, b + d)] = [(a0 + c0 , b0 + d0 )]. Also erhalten wir unabhängig von der Wahl der
Repräsentanten immer die gleiche Summe, was zu zeigen war.
Ganze Zahlen mit einem Repräsentanten (n, 0), n ∈ N, nennen wir positiv, die mit einem
Repräsentanten (0, n) negativ und die ganze Zahl, die (0, 0) enthält, nennen wir die Null.
1.4. ZUR KONSTRUKTION DER ZAHLENBEREICHE
9
Für zwei natürliche Zahlen m, n ist [(m, 0)] ⊕ [(n, 0)] = [(m + n, 0)]. Das heißt, wenn wir
natürliche Zahlen n durch [(n, 0)] ersetzen und die Addition + der natürlichen Zahlen durch
die Addition ⊕ der ganzen Zahlen ersetzen, sehen wir, dass die natürlichen Zahlen zusammen
mit ihrer Addition sich als Teil der ganzen Zahlen darstellen lassen. Im Folgenden betrachten
wir N0 daher als Teilmenge von Z und schreiben auch + und · statt ⊕ und . Wir halten
fest, dass (Z, +, ·) ein Ring ist, ohne alle Rechengesetze zu überprüfen.
Die Ordnung der ganzen Zahlen konstruieren wir mithilfe der Ordnung der natürlichen
Zahlen, indem wir [(a, b)] < [(c, d)] schreiben, falls a + d < b + c ist.
Beispiel 1.3.2 (Übungsbeispiel 2). Zeigen Sie x · 2 = x + x, für alle x ∈ Z bzw. [(2, 0)] [(a, b)] = [(a, b)] ⊕ [(a, b)] unter Verwendung der Definition von Addition und Multiplikation
ganzer Zahlen.
Beispiel 1.3.3 (Übungsbeispiel 3). Zeigen Sie das Distributivgesetz für ganze Zahlen,
also
[(a, b)] ([(c, d)] ⊕ [(e, f )]) = [(a, b)] [(c, d)] ⊕ [(a, b)] [(e, f )],
für alle [(a, b)], [(c, d)] und [(e, f )] in Z.
1.3.4 (Theoriefrage 2). Wie ist die Menge der ganzen Zahlen definiert? Definieren Sie
Addition und Multiplikation ganzer Zahlen und zeigen Sie, dass die Addition wohl definiert
ist.
1.4. Zur Konstruktion der Zahlenbereiche
Bevor wir weitere Zahlenbereiche definieren, wollen wir das Prinzip beschreiben, das hinter diesen Konstruktionen steht. Ganze Zahlen sind Äquivalenzklassen von Paaren natürlicher Zahlen. Natürliche Zahlen werden also verwendet, um Ganze Zahlen zu konstruieren,
gleichzeitig sehen wir natürliche Zahlen auch als ganze Zahlen an. Welche ist nun die richtige natürliche Zahl 2, jene Zahl 2 = {∅, {∅}}, die wir durch das Unendlichkeitsaxiom aus
der Mengenlehre erhalten haben, oder die Äquivalenzklasse [(2, 0)] = [({∅, {∅}}, {})], die ein
Element von Z ist?
Die für uns relevanten Zahlenbereiche N, Z, Q, R und C können alle axiomatisch charakterisiert werden, siehe [11, Kapitel 6]. Das heißt, sie erfüllen jeweils eine Liste an Axiomen
und je zwei Zahlenbereiche, die diese Axiome erfüllen, sind zueinander isomorph in dem Sinn,
dass sie strukturell gleich sind. Isomorphe Zahlenbereiche sind bis auf die Bezeichnung ihrer
Elemente gleich. Formal: Wenn +1 : M1 ×M1 → M1 und +2 : M2 ×M2 → M2 zwei Abbildungen (Verknüpfungen) sind, dann nennen wir (M1 , +1 ) und (M1 , +2 ) isomorph, wenn es eine
Bijektion f : M1 → M2 gibt, für die x +1 y = z genau dann gilt, wenn f (x) +2 f (y) = f (z)
ist.
Es sei N = N0 \ {0} = {1, 2, 3, . . .} und Z+ = {[(n, 0)] ∈ Z | n ∈ N}. Dann ist
f : N → Z+ ,
n 7→ [(n, 0)],
+
ein Isomorphismus (N, +) → (Z , ⊕), weil
k + m = n ⇐⇒ [(k, 0)] ⊕ [(m, 0)] = [(n, 0)].
Strukturell sind (N, +) und (Z+ , ⊕) also gleich, nur ihre Elemente sehen anders aus. Da wir
uns nur für die strukturellen (algebraischen) Eigenschaften der Zahlenbereiche interessieren
und nicht für das Aussehen ihrer Elemente, sprechen wir auch nicht von diesen und jenen
natürlichen Zahlen, sondern nur von den natürlichen Zahlen.
Andere Axiomensyteme sind hingegen so formuliert, dass sie möglichst allgemein gehalten sind, das heißt, dass sie möglichst viele Mengen umfassen. Beispiele sind die Axiomensysteme für Halbgruppen, Gruppen, Ringe oder Körper. Die ganzen Zahlen zusammen mit
ihrer Addition bilden zum Beispiel eine Gruppe. Es gibt jedoch noch viele andere Gruppen, die sich strukturell wesentlich voneinander unterscheiden. Sich mit diesen Gruppen zu
befassen, ist eine eigene wichtige Teildisziplin der Mathematik: die Gruppentheorie.
10
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Die natürlichen Zahlen sind ein Beispiel einer Halbgruppe, die ganzen Zahlen mit ihrer
Addition und Multiplikation sind ein Beispiel eines Rings und die rationalen, reellen und
komplexen Zahlen sind Beispiele von Körpern, vergleiche [11, Kapitel 5].
1.4.1 (Theoriefrage 3). Was bedeutet es, dass (Z+ , ⊕) und (N, +) isomorph sind?
1.5. Rationale Zahlen
Wir schreiben ab statt a · b für ganze Zahlen a, b und (a, b) ≈ (c, d), wenn ad = cb.
Lemma 1.5.1. Die Relation ≈ auf Z × N ist eine Äquivalenzrelation.
Beweis. Reflexivität und Symmetrie sind klar. Angenommen, es ist (a, b) ≈ (c, d) und
(c, d) ≈ (e, f ), also ad = cb und cf = ed. Dann ist adf = cbf , cf b = edb und daher adf = edb,
woraus af = eb bzw. (a, b) ≈ (e, f ) folgt. Das heißt, die Relation ist auch transitiv.
In diesem Beweis haben wir nur mit ganzen Zahlen gerechnet. Daher dürfen wir keine
Division verwenden.
Die Menge der rationalen Zahlen definieren wir als
Q := (Z × N)/ ≈ .
Statt (a, b) schreiben wir auch
a
b
oder a/b.
Zum Beispiel sind
3
1
und
2
6
Elemente der selben ≈-Äquivalenzklasse. Es ist (1, 2) 6= (3, 6) aber [(1, 2)] = [(3, 6)]. Man
beachte, dass per Definition die Nenner dieser Brüche stets positiv sind.
Lemma 1.5.2. Jede rationale Zahl enthält genau ein Paar (x, y) mit ggT(x, y) = 1.
Umgekehrt, wenn ggT(x, y) = 1 und (x, y) ≈ (a, b), dann gibt es ein n ∈ N0 , sodass (a, b) =
(nx, ny).
Beweis. Es sei q eine rationale Zahl und (a, b) ∈ q. Wenn wir a und b in ihrer eindeutigen Primfaktorzerlegung (siehe [11, Satz 5.3.45]) anschreiben und gemeinsame Faktoren
streichen, erhalten wir (x, y) mit ggT(x, y) = 1.
Es sei (x0 , y 0 ) ein beliebiges Paar in q mit ggT(x0 , y 0 ) = 1. Aus (x, y) ≈ (x0 , y 0 ) folgt
0
xy = x0 y. Jeder Primfaktor von y 0 teilt y, weil er x0 nicht teilt, folglich ist y 0 |y. Umgekehrt
folgt mit dem gleichen Argument y|y 0 . Da y und y 0 natürliche Zahlen sind, ist y = y 0 . Somit
ist auch x = x0 . Also ist (x, y) = (x0 , y 0 ) und (x, y) eindeutig.
Es sei ggT(x, y) = 1 und (x, y) ≈ (a, b). Aus (x, y) ≈ (a, b) folgt xb = ay und ggT(x, y) =
1 impliziert x|a und y|b. Also gibt es natürliche Zahlen m, n mit a = mx und b = ny. In xb =
ay eingesetzt ergibt das nxy = mxy und daher m = n beziehungsweise (a, b) = (nx, ny). Die Verknüpfung : Q × Q → Q sei definiert durch
[(a, b)] [(c, d)] := [(ad + bc, bd)]
Es ist zu zeigen, dass diese Abbildung wohl definiert ist, dass also die Wahl des Repräsentanten der Äquivalenzklasse keine Auswirkung auf das Ergebnis der Verknüpfung hat. Nach
Lemma 1.5.2 gibt es (a0 , b0 ) ∈ [(a, b)] und (c0 , d0 ) ∈ [(c, d)] mit
ggT(a0 , b0 ) = ggT(c0 , d0 ) = 1,
(a, b) = (ma0 , mb0 ) und (c, d) = (nc0 , nd0 ). Die Gleichung
[(a, b)] [(c, d)] = [(ad + bc, bd)] = [(ma0 nd0 + mb0 nc0 , mb0 nd0 )] =
[(mn(a0 d0 + b0 c0 ), mn(b0 d0 ))] = [(a0 d0 + b0 c0 , b0 d0 )] = [(a0 , b0 )] [(c0 , d0 )]
1.5. RATIONALE ZAHLEN
11
besagt, dass die Verknüpfung für beliebige Repräsentanten (a, b), (c, d) immer dasselbe
Ergebnis wie die eindeutig bestimmten relativ primen Repräsentanten (a0 , b0 ), (c0 , d0 ) liefert.
Somit ist die Wahl der Repräsentanten (a, b), (c, d) unerheblich und die Verknüpfung wohl
definiert.
Wenn wir z.B. von der rationalen Zahl 32 sprechen, meinen wir deren Äquivalenzklasse.
Wir schreiben
2
4
=
3
6
und meinen damit, dass die Äquivalenzklassen dieser Brüche ident sind, auch wenn (2, 3)
und (4, 6) verschiedene Elemente von Z × N sind. Statt
−1
1
kann −
2
2
geschrieben werden, auch wenn dieser Ausdruck nicht die Form
a
b
mit a ∈ Z und b ∈ N hat.
Aus der Ordnungsrelation auf Z erhalten wir eine Ordnungsrelation auf Q, indem wir
[(a, b)] ≤ [(c, d)] schreiben, falls ad ≤ bc ist. Für diese Relation auf Q muss gezeigt werden,
dass sie wohl definiert ist und die Axiome einer Ordnungsrelation erfüllt. Die rationalen
Zahlen bilden mit ihrer Addition, ihrer Multiplikation und dieser Ordnungsrelation einen
geordneten Körper, siehe [11, Kapitel 6.3].
Definition 1.5.3. Wir sagen, dass zwei Mengen gleich mächtig sind, bzw. gleich viele
Elemente haben, wenn sie bijektiv aufeinander abgebildet werden können. Eine Menge heißt
unendlich abzählbar wenn sie gleich viele Elemente wie N hat und abzählbar, wenn sie endlich
oder unendlich abzählbar ist.
Anschaulich ist eine Menge abzählbar, wenn alle ihre Elemente in einer Reihe aufgeschrieben werden können: Es wird ein erstes Element gewählt, dann ein zweites, drittes usw.
und zwar so, dass jedes Element der Menge in dieser Aufzählung einmal vorkommt. Die
Bijektion bildet das erste Element der Aufzählung auf die natürliche Zahl 1 ab, das zweite
auf die Zahl 2 ab usw.
Satz 1.5.4. Die Mengen Z und Q sind abzählbar.
Beweis. Die ganzen Zahlen können abgezählt werden durch
0, 1, −1, 2, −2, 3, −3, . . .
Die ganzzahligen Brüche ordnen wir nach folgendem Diagonalschema an, wobei kürzbare
Brüche weggelassen werden. Die verbleibenden nicht kürzbaren Brüche sind Repräsentanten
der positiven rationalen Zahlen.
1/1 →
.
2/1
↓ %
3/1
.
4/1
↓ %
5/1
1/3 → 1/4
1/5 →
.
%
2/2
2/3
2/4
.
%
3/2
3/3
%
4/2
1/2
%
Nehmen wir die Null und die negativen Zahlen hinzu, erhalten wir folgende Abzählung
der rationalen Zahlen Q (bzw. ihrer gekürzten Repräsentanten):
12
1. ZAHLEN UND FOLGEN
0,
1
1 1
1 2
2 3
3 1
1 1
1 2
2
, − , , − , , − , , − , , − , , − , , − ,...
1
1 2
2 1
1 1
1 3
3 4
4 3
3
Beispiel 1.5.5 (Übungsbeispiel 4). Zeigen Sie, dass die Verknüpfung
: Q×Q → Q
mit
[(a, b)]
[(c, d)] := [(ac, bd)]
wohl definiert ist.
Beispiel 1.5.6 (Übungsbeispiel 5). Zeigen Sie, dass es für jede nicht leere endliche Menge
M eine Bijektion zwischen der Menge der Teilmengen von M mit gerader Mächtigkeit und
der Menge der Teilmengen von M mit ungerader Mächtigkeit gibt.
Beispiel 1.5.7 (Übungsbeispiel 6). Es sei M eine nicht leere Menge und F die Menge
aller Funktionen M → {0, 1}. Zeigen Sie, dass es keine Bijektion zwischen M und F geben
kann und leiten Sie daraus ab, dass die Potenzmenge einer Menge stets mehr Elemente als
die Menge selbst hat.
Hinweis: Angenommen es gäbe eine Bijektion f : M → F, dann betrachten Sie die
Funktion g : M → {0, 1}, die jedes m ∈ M abbildet auf
(
1, falls f (m)(m) = 0
g(m) =
.
0, falls f (m)(m) = 1
1.5.8 (Theoriefrage 4). Konstruieren Sie die Menge der rationalen Zahlen aus den ganzen und den natürlichen Zahlen über eine Relation. Zeigen Sie, dass diese Relation eine
Äquivalenzrelation ist. Definieren Sie Addition und Multiplikation rationaler Zahlen.
1.5.9 (Theoriefrage 5). Zeigen Sie, dass Q abzählbar ist.
1.6. Folgen
Definition 1.6.1. Ein Folge in einer Menge ist eine Abbildung von den natürlichen
Zahlen in diese Menge.
Eine Folge f : N → M bezeichnet man oft mit (xn )n∈N , wobei xn = f (n) ist. Wir nennen
f (n) = xn das n-te Folgenglied und n den Index von xn . Wenn klar ist, dass die Folge den
Index n hat und dieser N durchläuft, dann schreiben wir auch kurz (xn ) statt (xn )n∈N .
Beispiel 1.6.2.
1. Es ist f : N → Z mit f : n 7→ 2n − 3 eine Folge in Z. Die alternative Schreibweise
ist (2n − 3)n∈N . Gliedweise angeschrieben ist diese Folge
−1, 1, 3, 5, 7, . . .
n
n
(−1)
2. Die Folge f : N → Q mit f : n 7→ (−1)
3n ist in den anderen Schreibweisen ( 3n )n∈N
bzw.
1 1 1 1
− , ,− , ,...
3 6 9 12
3. Für M = {D, 7, ♥, ∗} ist f : N → M mit
(
D n = 1, 2
f (n) =
♥ n≥3
eine Folge in M . Gliedweise angeschrieben ergibt das
D, D, ♥, ♥, ♥, ♥, ♥, . . .
1.6. FOLGEN
13
Definition 1.6.3. Ein Folge (xn )n∈N ist konstant, wenn xm = xn für alle m und n ist.
Ein rationale Folge heißt nach oben (bzw. nach unten) beschränkt, wenn es eine rationale
Zahl c gibt, sodass xn ≤ c (bzw. c ≤ xn ) für alle n in N ist. Eine Folge heißt beschränkt,
wenn die Folge ihrer Beträge (|xn |)n∈N nach oben beschränkt ist.
Die Folge (xn )n∈N heißt monoton steigend (bzw. monoton fallend ) wenn xn ≤ xn+1
(bzw. xn ≥ xn+1 ) ist für alle n ∈ N. Eine Folge, die entweder monoton steigend oder
monoton fallend ist, heißt monoton. Gilt < statt ≤ oder > statt ≥, nennen wir die Folge
streng monoton.
Für eine (Vorzeichen-)alternierende Folge (xn )n∈N gilt entweder x2n > 0 und x2n+1 < 0
für alle n oder x2n < 0 und x2n+1 > 0.
Wir sagen, dass (xn )n∈N eine Eigenschaft ab einer Stelle (oder ab einem Index ) hat,
wenn es ein N ∈ N gibt, sodass die Folge
(xn )n≥N = xN , xN +1 , xN +2 , . . .
diese Eigenschaft hat. Fast alle Elemente einer Menge sind alle Elemente bis auf endlich
viele.
Anstatt zu sagen, eine Folge habe eine Eigenschaft ab einer Stelle, können wir auch
sagen, dass fast alle ihre Glieder diese Eigenschaft haben.
Die erste Folge in Beispiel 1.6.2 ist streng monoton steigend, sie ist nach unten, jedoch
nicht nach oben beschränkt. Die zweite Folge ist alternierend, beschränkt und nicht monoton.
Für die dritte Folge macht es keinen Sinn, nach Monotonie oder Beschränktheit zu fragen,
da unsere entsprechenden Definitionen nur für Folgen rationaler Zahlen gelten. Diese Folge
ist aber ab einer Stelle konstant.
Folgen werden sowohl als Abbildung als auch als Menge ihrer Bildpunkte betrachtet,
also ohne die Indices der Folgenglieder zu berücksichtigen. Zum Beispiel sagen wir “Die
Folge ( n1 )n∈N ist in [0, 1] enthalten” wobei die Folge als Abbildung ja keine Teilmenge des
Einheitsintervalls [0, 1] ist, sondern die Menge ihrer Bildpunkte
1 1 1
{1, , , , . . .}
2 3 4
in [0, 1] enthalten ist. Diese Ungenauigkeit in der Terminologie akzeptieren wir, solange
dadurch keine Missverständnisse entstehen.
Eine Abbildung N0 → M bezeichnen wir ebenfalls als Folge. Manchmal ist es praktischer,
Folgenglieder mit x0 , x1 , x2 . . . zu bezeichnen anstatt mit x1 , x2 , x3 . . .
Beispiel 1.6.4 (Übungsbeispiel 7). Finden Sie rekursive Darstellungen (mit Anfangsbedingung) und explizite Darstellungen der Folgen
(1)
5, 7, 9, 11, 13, 15 . . .
1
1
(2) −2, 1, − 12 , 14 , − 18 , 16
, − 32
,...
(3)
4, 1, 0, 1, 4, 9, 16, 25, 36, . . .
Beispiel 1.6.5 (Übungsbeispiel 8). Ist die Folge (xn ) mit
n−1
xn = 2
n +2
ab einer Stelle monoton oder alternierend? Wenn ja, ab welcher Stelle? Ist die Folge beschränkt? Hinweis: Berechnen Sie die ersten Glieder der Folge, leiten Sie daraus Vermutungen ab und beweisen Sie diese Vermutungen dann.
Beispiel 1.6.6 (Übungsbeispiel 9). Eine rationale Folge ist rekursiv gegeben durch
xn+1 = x2n + 1.
(1) Für welche Werte von x0 ist diese Folge monoton steigend, monoton fallend, konstant, beschränkt bzw. alternierend?
(2) Bestimmen Sie xn explizit (nur in Abhängigkeit von x0 ).
14
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Beispiel 1.6.7 (Übungsbeispiel 10). Wie Übungsbeispiel 9 nur mit xn+1 = −2xn + 1.
Beispiel 1.6.8 (Übungsbeispiel 11). Die Fibonacci-Zahlen sind rekursiv definiert durch
F0 = 0, F1 = 1 und Fn = Fn−1 + Fn−2 . Es sei
Fn+1
xn =
.
Fn
Bestimmen Sie das Monotonieverhalten der Folgen (x2n )n∈N0 und (x2n+1 )n∈N0 .
Hinweis: Berechnen Sie die ersten Werte und leiten Sie daraus eine Vermutung ab. Diese
beweisen Sie dann z.B. indem sie die Rekursionsgleichung im Zähler der Folgenglieder anwenden. Sollten Sie bereits etwas über Konvergenz von Folgen wissen: Das werden wir auch
für diese Folge zu einem späteren Zeitpunkt behandeln.
1.6.9 (Theoriefrage 6). Was ist eine Folge? Was bedeutet es, dass eine Folge eine Eigenschaft ab einer Stelle besitzt? Stellen Sie zu gegebenen Folgen fest, ob diese ab einer Stelle
konstant, beschränkt, alternierend oder (streng) monoton steigend bzw. fallend sind.
1.7. Konvergenz und geometrische Folgen
Mit Q+ bezeichnen wir die Menge der positiven rationalen Zahlen {x ∈ Q | x > 0}.
Der folgende Hilfssatz ist sehr einfach. Wir formulieren ihn trotzdem als solchen, weil er
insbesondere für die axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen, welche wir noch
nicht definiert haben, wichtig ist.
Lemma 1.7.1 (Archimedische Eigenschaft der rationalen Zahlen).
Für alle ε ∈ Q+ gibt es ein n ∈ N mit n1 < ε. Für alle x, y ∈ Q+ gibt es ein n ∈ N, sodass
nx > y ist.
Beweis. Es sei ε = ab aus Q+ . Dann ist für n = b + 1 die erste Ungleichung n1 < ε
erfüllt. Insbesondere gibt es also für ε = xy ein n ∈ N mit n1 < xy und somit auch y < nx,
wodurch auch die zweite Ungleichung gezeigt ist.
Wir definieren n0 = 1 für alle n ∈ N0 . Potenzen mit Exponenten aus N ergeben sich aus
der Definition der Multiplikation.
Satz 1.7.2 (Ungleichung von Bernoulli). Wenn x ∈ Q, x ≥ −1, und n ∈ N0 , dann ist
(1 + x)n ≥ 1 + nx.
Beweis. Wir beweisen die Aussage mit Induktion nach n. Für n = 0 erhalten wir 1 ≥ 1
und somit ein wahre Aussage. Nach der Induktionsannahme (I.A.) ist die Ungleichung für
n erfüllt; dann ist
(1 + x)n+1 = (1 + x)n (1 + x)
I.A.
≥
2
(1 + nx)(1 + x)
= 1 + (n + 1)x + nx ≥ 1 + (n + 1)x,
womit der Indutionsschritt von n nach n + 1 bewiesen ist.
Definition 1.7.3. Ein offenes rationales Intervall ist eine Menge der Form
(a, b) := {x ∈ Q | a < x < b}
oder
(a, ∞) := {x ∈ Q | a < x} bzw. (−∞, b) := {x ∈ Q | x < b}.
Ein abgeschlossens rationales Intervall ist ein Menge
[a, b] := {x ∈ Q | a ≤ x ≤ b}.
Eine Umgebung in Q einer rationalen Zahl a in Q ist eine Menge U ⊂ Q, für die es ein
ε ∈ Q+ gibt, sodass (a − ε, a + ε) in U enthalten ist.
Eine Menge rationaler Zahlen heißt offen, wenn sie Umgebung jedes ihrer Punkte ist.
1.7. KONVERGENZ UND GEOMETRISCHE FOLGEN
15
Beispiel 1.7.4. Jedes offene Intervall I ist Umgebung in Q jedes seiner Punkte, denn
wenn ε der kleinere der Abstände von x zu den Randpunkten von I ist, dann ist ε > 0,
x ∈ (x − ε, x + ε) ⊂ I und (x − ε, x + ε) eine Umgebung von x in I. Ein abgeschlossenes
Intervall [a, b] ist Umgebung aller Punkte aus (a, b), aber keine Umgebung der Randpunkte
a und b. Eine Menge ganzer Zahlen ist keine Umgebung in Q irgendeines ihrer Punkte.
Lemma 1.7.5. Eine Menge rationaler Zahlen ist genau dann offen, wenn sie eine Vereinigung von offenen Intervallen ist.
Beweis. Es sei O ⊂ Q Umgebung jedes ihrer Punkte. Für jedes x ∈ O gibt es ein
ε(x) > 0 mit (x − ε(x), x + ε(x)) ⊂ O. Dann ist
[
O=
(x − ε(x), x + ε(x))
x∈O
und somit eine Vereinigung offener Intervalle.
Umgekehrt, wenn O ⊂ Q eine Vereinigung offener Intervalle ist, gibt es für jedes x ∈ O
eines dieser Intervalle I mit x ∈ I ⊂ O und dieses I ist nach Beispiel 1.7.4 eine Umgebung
von x in O.
Definition 1.7.6. [Konvergenz einer Folge – topologische Formulierung]
Eine Folge konvergiert gegen einen Punkt, wenn sie in jeder offenen Umgebung des Punktes
ab einer Stelle enthalten ist. So ein Punkt heißt Grenzwert oder Limes der Folge.
Wenn x Grenzwert der Folge (xn )n∈N ist, schreiben wir
lim xn = x,
n→∞
oder wenn klar ist, welcher der Index ist, dann auch lim xn . Wenn wir lim xn = x schreiben,
ohne das weiter zu kommentieren, dann sind damit zwei Aussagen gemeint: Erstens, dass
die Folge (xn )n∈N konvergent ist und zweitens, dass ihr Grenzwert x ist.
Gelegentlich sagt man auch, die Folge (xn )n∈N geht gegen x. Folgen, die nicht konvergent
sind, heißen divergent.
Die Folge, der Grenzwert und die Umgebungen müssen in einer vorher festgelegten
Grundmenge liegen. Was unter einer offenen Menge zu verstehen ist, hängt von der Grundmenge ab. In Q sind das offene Intervalle, in der Ebene offene Kreisscheiben (ohne Rand).
Die allgemeinste Definition einer Umgebung findet sich in der Topologie. Dort werden offene Umgebungen über allgemeine offene Mengen definiert, die bestimmte Axiome erfüllen
müssen.
Verbreitet in der Literatur ist folgende Definition, die für rationale Folgen äquivalent zu
Definition 1.7.6 ist.
Definition 1.7.7. [Konvergenz einer Folge – ε-Formulierung]
Eine Folge (xn )n∈N rationaler Zahlen konvergiert gegen x ∈ Q, wenn es für alle ε > 0 ein
n0 ∈ N gibt, sodass |xn − x| < ε für alle n ≥ n0 .
Satz 1.7.8. Eine Folge rationaler Zahlen hat höchstens einen Grenzwert.
Beweis. Angenommen (xn )n∈N hat zwei verschiedene Grenzwerte a und b, wobei wir
mit a den größeren der Grenzwerte bezeichnen. Dann sind
a−b
a−b
a−b
a−b
,b +
und
a−
,a +
b−
2
2
2
2
zwei disjunkte Umgebungen dieser Grenzwerte; siehe Abbildung 1. Eine Folge kann aber
nicht ab einer Stelle in einer Menge und zugleich ab einer Stelle in einer dazu disjunkten
Menge liegen. Daher führt die Annahme, dass es zwei verschiedene Grenzwerte gibt, auf
einen Widerspruch.
16
1. ZAHLEN UND FOLGEN
b
a−b
2
a
a−b
2
a−b
2
a−b
2
Abbildung 1. Eindeutigkeit des Grenzwerts
Definition 1.7.9. Eine Folge, die gegen 0 konvergiert, heißt Nullfolge. Die Folge ( n1 )n∈N
heißt harmonische Folge und (q n )n∈N0 geometrische Folge.
Beispiel 1.7.10 (Konvergente rationale Folgen).
(1) Eine Folge, die ab einer Stelle konstant ist, ist konvergent.
(2) Die harmonische Folge ist eine Nullfolge.
(3) Für |q| < 1 ist die geometrische Folge (q n )n∈N0 eine Nullfolge.
Beweis. Die Konvergenz einer Folge, die ab einer Stelle konstant ist, folgt unmittelbar
aus der Definition der Konvergenz.
In jedem Intervall (−ε, ε) liegt die harmonische Folge ab einer Stelle, siehe dazu Lemma 1.7.1.
1
1
− 1, also |q| = 1+x
. Wegen |q| < 1 ist x > 0. Nach der Ungleichung
Für q 6= 0 sei x = |q|
von Bernoulli (Satz 1.7.2) gilt
1
1
|q|n =
≤
n
(1 + x)
1 + nx
für alle n ∈ N0 . Es sei (−ε, ε) eine beliebig kleine Umgebung von 0. Die Ungleichung
1
<ε
1 + nx
ist äquivalent zu
1−ε
< n.
εx
Für alle n > 1−ε
εx ist also
1
1
|q|n =
≤
< ε.
(1 + x)n
1 + nx
Daher ist die Folge (|q|n )n∈N0 für jedes ε > 0 ab einer Stelle in (−ε, ε), was zu zeigen war. Beispiel 1.7.11 (Übungsbeispiel 12). Aus der Vorlesung wissen wir, dass eine Menge
rationaler Zahlen genau dann offen ist, wenn sie eine Vereinigung von offenen Intervallen ist.
Daher ist die Vereinigung von beliebig vielen offenen Mengen offen. Gilt dies auch für den
Durchschnitt? Wenn nicht, geben Sie eine Gegenbeispiel an.
Beispiel 1.7.12 (Übungsbeispiel 13). Es sei
xn =
n + (−1)n
n+1
und
1
1
, 1 + i ).
10i
10
Finde für i = 1, 2, 3 jeweils ein N (i), sodass xn ∈ Ui für alle n ≥ N (i).
Anmerkung: Die N (i) müssen nicht minimal gewählt werden.
Ui = (1 −
Beispiel 1.7.13 (Übungsbeispiel 14). Zeigen Sie, dass die Folge (xn ) mit
n
28
xn = 1 − 2
n
gegen 1 konvergiert, indem Sie mit Ihren Argumenten von der Definition der Konvergenz
ausgehen. Hinweis: Beroulli-Ungleichung für genügend große n.
1.8. CAUCHY-FOLGEN UND GRENZWERTSÄTZE
17
Beispiel 1.7.14 (Übungsbeispiel 15). Zeigen Sie, dass die Folge ((−1)n )n∈N nicht konvergent ist. Hinweis: Sie können z.B. einen indirekten Beweis führen, indem Sie eine Zahl
a als Grenzwert annehmen, dann ein geeignetes ε > 0 wählen und einen Widerspruch zur
Definition der Konvergenz ableiten.
1.7.15 (Theoriefrage 7). Formulieren und beweisen Sie die Ungleichung von Bernoulli.
1.7.16 (Theoriefrage 8). Zeigen Sie, dass eine konvergente rationale Folge nur einen
Grenzwert hat.
1.7.17 (Theoriefrage 9). Zeigen Sie die Konvergenz der geometrischen Folge (zum Beispiel mithilfe der Ungleichung von Bernoulli).
1.8. Cauchy-Folgen und Grenzwertsätze
Definition 1.8.1. Eine Folge rationaler Zahlen ist eine Cauchy-Folge, wenn für alle
rationalen ε > 0 ab einer Stelle die Abstände der Folgenglieder zueinander kleiner als ε sind.
Formal: Es ist (xn )n∈N eine Cauchy-Folge, wenn es für alle ε > 0 ein N ∈ N gibt, sodass
|xm − xn | < ε für alle n, m mit n, m ≥ N .
Satz 1.8.2. Jede konvergente Folge ist Cauchy-Folge.
Beweis. Um zu zeigen, dass eine gegen x konvergente Folge (xn )n∈N eine Cauchy-Folge
ist, wählen wir ein beliebiges ε > 0. Da die Folge konvergent ist, liegt sie ab einer Stelle in
(x − ε/2, x + ε/2). Daher gilt auch |xm − xn | < ε ab dieser Stelle und die Folge ist somit
eine Cauchy-Folge.
Satz 1.8.3. Jede Cauchy-Folge ist beschränkt.
Beweis. Wenn (xn ) eine Cauchy-Folge ist, gibt es ein N , sodass |xm − xn | < 1 für alle
m, n ≥ N . Insbesondere ist |xm − xN | < 1 für alle m ≥ N . Daraus folgt, dass die ganze
Folge in der beschränkten Menge
{x0 , x1 , . . . , xN −1 } ∪ [xN − 1, xN + 1]
enthalten und somit selbst beschränkt ist.
Korollar 1.8.4. Jede konvergente Folge ist beschränkt.
Satz 1.8.5. Wenn (xn ) und (yn ) konvergent sind, dann konvergieren auch (xn + yn )
und (xn yn ) und es ist
(1.8.5.1)
lim(xn + yn ) = lim xn + lim yn ,
(1.8.5.2)
lim(xn yn ) = lim xn lim yn .
Beweis. Es sei x := lim(xn ) und y := lim(yn ). Für jedes ε > 0 sind |(xn − x)| und
|(yn − y)| ab einer Stelle kleiner als ε/2. Also ist ab einer Stelle
ε ε
|(xn + yn ) − (x + y)| = |(xn − x) + (yn − y)| ≤ |(xn − x)| + |(yn − y)| < + = ε.
2 2
Somit konvergiert (xn + yn ) gegen den Grenzwert x + y. Für das Produkt der Folgen gehen
wir ähnlich vor:
|xn yn − xy| = |xn yn − xn y + xn y − xy| = |xn (yn − y) + (xn − x)y|
≤ |xn ||yn − y| + |xn − x||y|.
Letzterer Term geht mit wachsendem Index n gegen Null, weil |yn − y| und |xn − x| gegen
Null gehen, weil |xn | beschränkt und y eine Konstante ist. Also ist auch |xn yn − xy| eine
Nullfolge und somit lim(xn yn ) = xy.
18
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Wenn wir die Größen benennen, sieht dieser Beweis so aus: Nach Korollar 1.8.4 ist
(xn )n∈N beschränkt. Daher ist auch (|xn |)n∈N von einer positiven Zahl c nach oben beschränkt. Es sei K := max{c, y} und ε > 0 beliebig. Es gibt ein N sodass |yn − y| < ε/(2K)
und |xn − x| < ε/(2K) für alle n ≥ N . Nun ist
ε
ε
|xn yn − xy| ≤ |xn ||yn − y| + |xn − x||y| ≤ K
+K
=ε
2K
2K
für alle n mit n ≥ N und somit lim(xn yn ) = xy.
Korollar 1.8.6. Wenn lim(xn ) = x und c eine Zahl ist, dann ist
lim(cxn ) = cx.
Beweis. Für yn := c folgt aus Satz 1.8.5:
lim(cxn ) = lim(yn xn ) = lim(yn ) lim(xn ) = lim(c) lim(xn ) = cx.
Satz 1.8.7 (Sandwich-Theorem). Wenn lim(xn ) = lim(zn ) = a, und xn ≤ yn ≤ zn für
fast alle n, dann ist auch lim(yn ) = a.
Beweis. Für jedes ε > 0 ist ab einer Stelle
a − ε < xn ≤ yn ≤ zn < a + ε
und daher
−ε < yn − a < ε
beziehungsweise
|yn − a| < ε.
Somit ist lim yn = a.
Lemma 1.8.8. Wenn lim(xn ) = 0 und (yn ) beschränkt ist, dann ist
lim(xn yn ) = 0.
Beweis. Wenn a ≤ yn ≤ b für alle n, dann ist axn ≤ xn yn ≤ bxn für alle n. Aus
Korollar 1.8.6 folgen lim axn = 0 und lim bxn = 0. Nach dem Sandwich-Teorem 1.8.7 ist nun
auch lim xn yn = 0.
Satz 1.8.9. Wenn (xn ) und (yn ) konvergent sind, yn 6= 0 für alle n und lim(yn ) 6= 0,
dann ist
lim xn
xn
=
.
lim
yn
lim yn
Beweis. Es sei lim xn = x und lim yn = y. Wir betrachten erst die Folge ( y1n )n∈N :
1
1
1
− 1 = y − yn =
|y − yn | .
yn
y
yn y
|yn | |y| | {z }
|{z} |{z}
→0
beschr. konst.
Der erste Faktor der rechten Seite ist beschränkt, der zweite konstant und der dritte strebt
gegen Null. Nach Korollar 1.8.6 ist |y − yn |/|y| eine Nullfolge und nach Lemma 1.8.8 auch
der ganze letztere Term, also strebt 1/yn gegen 1/y. Aus 1.8.5.2 folgt
lim(xn
1
1
1
) = lim xn lim
= x lim ,
yn
yn
yn
was nach dem soeben Gezeigten gleich x/y ist.
Beispiel 1.8.10 (Übungsbeispiel 16). Ist die Folge (xn ) konvergent? Wenn ja, wohin
konvergiert sie? Sie dürfen Satz 1.8.5 und Korollar 1.8.6 verwenden.
1.8. CAUCHY-FOLGEN UND GRENZWERTSÄTZE
(1)
xn =
(1 − 4n2 )2
(1 + 2n)(1 − 2n)(4n + 4)2
(2)
xn =
n3
(n + 1)2
19
Beispiel 1.8.11. Für Zahlen a0 , a1 , . . . , ak , b0 , b1 , . . . , bl , ak 6= 0, bl 6= 0, ist
(
ak
falls k = l,
a0 + a1 n + a2 n2 + . . . + ak nk
bl
=
lim
2
l
n→∞
b0 + b1 n + b2 n + . . . bl n
0
falls k < l.
wobei wir annehmen, dass ak , bl und der ganze Nenner stets ungleich 0 sind.
Beweis. Wenn k = l, dann ist obiger Term gleich
(1.8.11.1)
a0 + a1 n + a2 n2 + . . . + ak nk
=
b0 + b1 n + b2 n2 + . . . bk nk
a0
nk
b0
nk
+
+
a1
nk−1
b1
nk−1
+
+
a2
nk−2
b2
nk−2
+ ... +
+ ... +
ak−1
n
bk−1
n
+ ak
+ bk
.
Nach Beispiel 1.7.10.2 ist lim n1 = 0. Aus Satz 1.8.5.2 folgt
1
11
1
1
lim 2 = lim
= lim
lim
= 0.
n
nn
n
n
Mittels Induktion sehen wir, dass
1
=0
ni
ist für alle natürlichen i ≥ 1. Nach Korollar 1.8.6 ist
lim
n→∞
lim ai
n→∞
1
=0
ni
und Satz 1.8.5.1 impliziert, dass der Zähler der rechten Seite der Gleichung 1.8.11.1 gegen
ak strebt und der Nenner gegen bk . Aus Satz 1.8.9 folgt schließlich die Aussage.
Beispiel 1.8.12 (Übungsbeispiel 17). Ist die Folge (xn ) konvergent? Wenn ja, wohin
konvergiert sie? Verwenden Sie Lemma 1.8.8.
(1)
(2)
(−1)n n2
(n + 3)3
(−1)n n
xn =
1+n
xn =
Beispiel 1.8.13 (Übungsbeispiel 18). Zeigen Sie, dass die Folge n3 /2n n∈N eine Nullfolge ist.
Hinweis: Es folgt n3 /2n ≤ 1/n aus n4 ≤ 2n . Zum Induktionsschritt: Für ausreichend
große n, ist der Faktor, der n4 in (n + 1)4 umwandelt, kleiner als 2.
1.8.14 (Theoriefrage 10). Zeigen Sie, dass jede konvergente Folge eine Cauchy-Folge ist
und dass jede Cauchy-Folge beschränkt ist.
1.8.15 (Theoriefrage 11). Zeigen Sie, dass der Grenzwert der Summe bzw. des Produktes
zweier Folgen gleich der Summe bzw. dem Produkt der Grenzwerte ist.
1.8.16 (Theoriefrage 12). Zeigen Sie, dass der Grenzwert des Quotienten zweier Folgen
gleich dem Quotienten der Grenzwerte ist. Was muss für die Folge im Nenner des Quotienten
vorausgesetzt werden?
1.8.17 (Theoriefrage 13). Formulieren und beweisen Sie das Sandwich-Theorem.
20
1. ZAHLEN UND FOLGEN
1.9. Intervallschachtelungen
Definition 1.9.1. Die Länge `(I) eines offenen Intervalls I = (a, b) oder abgeschlossenen Intervalls I = [a, b] ist definiert als |b−a|. Eine Folge von Mengen (Mn ) heißt abnehmende
oder fallende Mengenfolge, wenn Mn ⊃ Mn+1 ist für alle n.
Eine abnehmende Mengenfolge abgeschlossener Intervalle heißt Intervallschachtelung,
wenn ihre Längen gegen Null gehen. Eine Folge liegt in einer Intervallschachtelung, wenn sie
in jedem der Intervalle ab einer Stelle enthalten ist.
Beispiel 1.9.2. Die Folge (1/n)n∈N liegt in ([0, 1/2n ])n∈N .
Um die Aussage des Beispiels zu beweisen, ist fast nichts zu zeigen; wir müssen beachten,
dass nicht zweimal der selbe Buchtabe “n” verwendet werden darf, wenn der Index der
Intervallschachtelung mit dem Index der Folge verglichen wird, denn das Folgenglied 1/n
liegt nicht im Intervall [0, 1/2n ]. Zum Beispiel liegt 1 nicht in [0, 1/2] und 1/2 nicht in [0, 1/4].
Beweis von Beispiel 1.9.2. Die Archimedische Eigenschaft für rationale Zahlen (Lemma 1.7.1) impliziert, dass es für alle ε = 1/2m ein N ∈ N gibt mit 1/N < ε. Für alle n ≥ N
gilt also 1/n ∈ [0, 1/2m ], das heißt, die Folge liegt in jedem der Intervalle [0, 1/2m ] ab einer
Stelle.
Satz 1.9.3. Eine Folge ist genau dann Cauchy-Folge, wenn sie in einer Intervallschachtelung liegt.
Beweis. Wir nehmen an, die Folge (xn )n∈N liegt in einer Intervallschachtelung (In )n∈N .
Es sei ε > 0 beliebig und IN eines der Intervalle mit `(IN ) ≤ ε. Die Glieder xn liegen ab einer
Stelle in IN . Daher ist |xm −xn | < ε für alle m, n ab einer Stelle und (xn ) eine Cauchy-Folge.
Es sei umgekehrt (xn )n∈N eine Cauchy-Folge. Dann gibt es für jedes k ∈ N ein N (k),
sodass |xm − xn | < k1 ist für alle m, n ≥ N (k). Daraus folgt insbesondere |xN (k) − xn | < k1
für alle n ≥ N (k). Das heißt, dass
1
1
Jk := xN (k) − , xN (k) +
k
k
alle Folgenglieder ab xN (k) enthält. Es ist im Allgemeinen nicht Jk+1 ⊂ Jk , aber für
Ik = J1 ∩ J2 ∩ . . . ∩ Jk
gilt Ik ⊃ Ik+1 . Außerdem ist `(Ik ) ≤ 2/k und jedes Ik enthält fast alle Glieder der Folge,
weil auch jedes der Jk fast alle Folgenglieder enthält. Also ist (Ik ) eine Intervallschachtelung,
in der die Folge liegt.
Satz 1.9.4. In einer Intervallschachtelung liegen entweder nur konvergente Folgen, oder
nur Cauchy-Folgen, die nicht konvergent sind.
Im ersten Fall enthält der Durchschnitt aller Intervalle der Intervallschachtelung genau
einen Punkt und die Folgen, die in der Intervallschachtelung liegen, sind genau jene, die
diesen Punkt als Grenzwert haben. Im zweiten Fall ist der Durchschnitt der Intervalle leer.
Beweis. Dass im Durchschitt aller Intervalle einer Intervallschachtelung nicht zwei verschiedene Punkte liegen, folgt daraus, dass die Längen der Intervalle gemäß der Definition
einer Intervallschachtelung eine Nullfolge bilden.
Wenn der Durchschnitt aller Intervalle nur einen Punkt x enthält, dann sind in jeder
Umgebung (x − ε, x + ε) alle Intervalle enthalten, deren Längen kleiner als ε sind, und das
sind fast alle. Somit enthält eine beliebig kleine Umgebung (x − ε, x + ε) von x fast alle
Glieder einer jeden Folge, die in der Intervallschachtelung liegt. Das heißt, alle Folgen, die
in der Intervallschachtelung liegen, konvergieren gegen x.
Nehmen wir nun an, der Durchschnitt der Intervalle sei leer. Wenn eine Folge, die in
der Intervallschachtelung liegt, einen Grenzwert x hat, dann muss es ein Intervall IN geben,
das x nicht enthält. Da x von IN einen positiven Abstand ε hat, ist (x − ε, x + ε) eine
1.10. REELLE ZAHLEN
21
Umgebung von x, die mit IN disjunkt ist. Es liegen fast alle Glieder der Folge in IN und
nicht in (x − ε, x + ε), das ist ein Widerspruch zur Konvergenz. Also sind die Folgen in der
Intervallschachtelung nicht konvergent.
Um zu erkennen, dass es Cauchy-Folgen gibt, die nicht konvergieren, stellen wir zunächst
ein paar Überlegungen zu Potenzen rationaler Zahlen an:
Beispiel 1.9.5. Wenn x in Q \ Z ist, dann liegt auch xk in Q \ Z für alle k ∈ N.
Beweis. Es sei x = ab aus Q+ \ N mit ggT(a, b) = 1 (siehe Lemma 1.5.2), wobei b ≥ 2,
da x ∈
/ N. In ihrer eindeutigen Primfaktorzerlegung [11, Satz 5.3.45] haben a und b keinen
Faktor gemeinsam. Dasselbe gilt für die eindeutigen Primfaktorzerlegung von ak und bk .
k
Das bedeutet, dass abk nicht gekürzt werden kann und ( ab )k keine ganze Zahl ist.
Korollar 1.9.6. Es gibt keine rationale Zahl, deren k-te Potenz in
N \ {nk | n ∈ N}
ist, für k ≥ 2. Das heißt, es gibt in Q keine k-te Wurzel einer natürlichen Zahl, es sei denn
die Wurzel ist ganzzahlig.
Beispiel 1.9.7. Es sei I0 = [a0 , b0 ] = [1, 2]. Wir definieren rekursiv
(
n 2
) ≥ 2,
[an , an +bn ] falls ( an +b
2
In+1 = [an+1 , bn+1 ] := an +bn 2
an +bn 2
[ 2 , bn ] falls ( 2 ) < 2.
Die ersten drei Intervalle der Folge sind I1 = [1, 1.5], I2 = [1.25, 1.5] und I3 = [1.375, 1.5].
Mit Induktion folgt, dass a2n < 2 < b2n für alle n. Es ist `(In ) = 21n eine Nullfolge und
In+1 ⊂ In , das heißt, diese Intervalle bilden eine Intervallschachtelung.
Angenommen, die Folgen (an )n∈N und (bn )n∈N sind konvergent, dann haben sie denselben Grenzwert, und nach Satz 1.8.5.2 ist
lim a2n = (lim an )2 = (lim bn )2 = lim b2n .
Wegen a2n < 2 < b2n ist nach dem Sandwich-Theorem 1.8.7 dieser Wert gleich lim 2 = 2. Eine
rationale Zahl, deren Quadrat gleich 2 ist, gibt es aber nach Korollar 1.9.6 nicht. Also sind
die Folgen (an )n≥0 und (bn )n≥0 Cauchy-Folgen, weil sie in einer Intervallschachtelung liegen
(Satz 1.9.3), die jedoch nicht konvergent sind, weil sie keinen Grenzwert in Q haben.
1.9.8 (Theoriefrage 14). Zeigen Sie, dass jede Folge, die in einer Intervallschachtelung
liegt, eine Cauchy-Folge ist.
1.9.9 (Theoriefrage 15). Zeigen Sie: Wenn eine konvergente (rationale) Folge in einer
(rationalen) Intervallschachtelung liegt, dann besteht der Durchschnitt aller Intervalle aus
genau einem Punkt, nämlich dem Grenzwert der Folge.
1.9.10 (Theoriefrage 16). Zeigen Sie, dass es ganze Zahlen gibt, die in Q keine Quadratwurzel haben und leiten Sie daraus ab, dass es in Q Cauchy-Folgen gibt, die nicht
konvergieren.
1.10. Reelle Zahlen
Definition 1.10.1. Wir schreiben (xn ) ∼ (yn ), wenn lim |xn − yn | = 0.
Lemma 1.10.2. Die Relation aus Definition 1.10.1 ist eine Äquivalenzrelation auf der
Menge der rationalen Folgen.
Beweis. Es seien (xn ), (yn ), (zn ) beliebige rationale Folgen.
Aus lim |xn − xn | = 0 folgt (xn ) ∼ (xn ) für alle Folgen (Relfexivität).
Wenn lim |xn − yn | = 0, dann ist auch lim |yn − xn | = 0, also folgt y ∼ x aus x ∼ y
(Symmetrie).
22
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Wegen der Dreiecksungleichung ist
|zn − xn | = |(zn − yn ) + (yn − xn )| ≤ |zn − yn | + |yn − xn |.
Daher ist (xn ) ∼ (zn ) falls (xn ) ∼ (yn ) und (yn ) ∼ (zn ).
Mit C bezeichnen wir die Menge aller rationalen Cauchy-Folgen.
Definition 1.10.3. Die Menge der reellen Zahlen ist definiert als Quotientenmenge
R := C/ ∼ .
Jede rationale Zahl q wird auch als reelle Zahl aufgefasst, nämlich als jene Äquivalenzklasse von rationalen Cauchy-Folgen, die die konstante Folge (q)n∈N enthält.
Lemma 1.10.4. Die Intervalle von Intervallschachtelungen, in denen die Cauchy-Folgen
unterschiedlicher reeller Zahlen liegen, haben ab einer Stelle einen positiven Abstand voneinander.
Beweis. Abgeschlossene Intervalle, die keinen positiven Abstand voneinander haben,
haben ein gemeinsames Element. Falls die Intervallschachtelungen keinen positiven Abstand
haben, gibt es also eine Folge, die in beiden liegt, was der Annahme widerspricht, das in den
Intervallschachtelungen die Cauchy-Folgen unterschiedlicher reeller Zahlen liegen.
Wir haben bereits in Satz 1.8.5 gesehen, dass der Grenzwert von Summe oder Produkt
konvergenter Folgen wieder gleich der Summe bzw. dem Produkt der Grenzwerte ist. Um
zu zeigen, dass reelle Zahlen addiert und multipliziert werden können, müssen wir einen
analogen Satz für Cauchy-Folgen zeigen:
Satz 1.10.5. Wir nehmen an, es liegt (xn )n∈N in der Intervallschachtelung ([an , bn ])n∈N
und (yn )n∈N in der Intervallschachtelung ([cn , dn ])n∈N .
Dann ist ([an + cn , bn + dn ])n∈N eine Intervallschachtelung, in der (xn + yn )n∈N liegt.
Wenn an > 0 und cn > 0, für alle n dann liegt (xn · yn )n∈N in der Intervallschachtelung
([an · cn , bn · dn ])n∈N .
Beweis. Aus an ≤ an+1 < bn+1 ≤ bn und cn ≤ cn+1 < dn+1 ≤ dn folgt an + cn ≤
an+1 + cn+1 < bn+1 + dn+1 ≤ bn + dn , also ist
[an+1 + cn+1 , bn+1 + dn+1 ] ⊂ [an + cn , bn + dn ].
Nach Satz 1.8.5 ist
lim(bn − an ) + lim(dn − cn ) = lim((bn + dn ) − (an + cn )) = 0.
Das heißt, die Längen der Intervalle [an + cn , bn + dn ] gehen gegen Null. Also ist gezeigt,
dass ([an + cn , bn + dn ])n∈N eine Intervallschachtelung ist.
Für jedes n sind ab einem Index N die Glieder xm in [an , bn ] und die Glieder ym in
[cn , dn ] enthalten und somit an +cn ≤ xm +ym ≤ bn +dn für alle m ≥ N . Also liegt (xn +yn )
in ([an + cn , bn + dn ])n∈N .
Für das Produkt ist
bn dn − an cn = (bn − an )dn + (dn − cn )an .
Weil (an )n∈N und (dn )n∈N beschränkt und (bn − an )n∈N und (dn − cn )n∈N Nullfolgen sind,
ist nach Lemma 1.8.8
lim(bn − an )dn = lim(dn − cn )an = 0
und somit nach Satz 1.8.5
lim(bn dn − an cn ) = 0.
Außerdem ist
[an+1 cn+1 , bn+1 dn+1 ] ⊂ [an cn , bn dn ]
1.10. REELLE ZAHLEN
23
und wieder gibt es für jedes n ein N , sodass für alle m ≥ N gilt: xm ∈ [an , bn ] , ym ∈ [cn , dn ]
und weil beide linken Intervallgrenzen positiv sind, folgt
xm ym ∈ [an cn , bn dn ]
für alle m ≥ N .
Satz 1.10.5 gilt auch für Produkte beliebiger (nicht notwendigerweise positiver) Zahlen,
es müssen nur die Vorzeichen angepasst werden. Sind z.B. beide Folgen ab einer Stelle
negativ, dann sind die linken Intervallgrenzen an und cn auch alle negativ, und aus an <
xn < 0 und bn < yn < 0 folgt −an bn < −xn yn < 0, daher sind −an bn die gesuchten linken
Intervallgrenzen für das Produkt.
Korollar 1.10.6. Summen von beliebigen und Produkte von positiven Cauchy-Folgen
sind wieder Cauchy-Folgen.
Definition 1.10.7. Für x, y ∈ R definieren wir
(1.10.7.1)
x + y := {(xn + yn )n∈N | (xn )n∈N ∈ x, (yn )n∈N ∈ y},
(1.10.7.2)
x · y := {(xn · yn )n∈N | (xn )n∈N ∈ x, (yn )n∈N ∈ y}.
Wenn x 6= 0, definieren wir
1
(1.10.7.3)
:= {(zn )n∈N | (zn xn )n∈N ∼ (1)n∈N für eine Folge (xn )n∈N ∈ x}.
x
Nach der Definition reeller Zahlen, ist die reelle Zahl 0 genau die Mengen aller rationalen Nullfolgen. In 1.10.7 bedeutet x 6= 0 also, dass die Äquivalenzklasse x nicht jene der
Nullfolgen ist.
Lemma 1.10.8. Die Verknüpfungen aus Definition 1.10.7 sind Abbildungen R × R → R.
Beweis. Nach Korollar 1.10.6 bestehen die Mengen in 1.10.7.1 und 1.10.7.2 aus CauchyFolgen, die zueinander äquivalent sind. Noch zu zeigen ist, dass diese Mengen tatsächlich alle
Folgen dieser Äquivalenzklassen enthalten. Wenn (zn ) aus dieser Äquivalenzklasse ist, wenn
also (zn ) ∼ (xn + yn ) mit (xn ) ∈ x und (yn ) ∈ y, dann ist (zn − yn ) ∼ (xn + yn − yn ) = (xn ).
Also ist
(zn )n∈N = (zn − yn )n∈N + (yn )n∈N
die Summe aus zwei Folgen, von denen die erste Element von x und die zweite Element von
y ist. Somit ist (zn )n∈N in x + y, was zu zeigen war. Der Beweis für 1.10.7.2 läuft analog. Definition 1.10.9. Für x, y ∈ R schreiben wir x ≤ y, wenn es eine Folge (xn ) in x und
eine Folge (yn ) in y gibt mit xn ≤ yn für alle n. Wir schreiben x < y, wenn x ≤ y und x 6= y.
Ist 0 < x, dann heißt x positiv, wenn x < 0 ist, dann heißt x negativ.
Lemma 1.10.10. Es ist (R, ≤) eine total geordnete Menge.
Beweis. Wenn (xn ) ∈ x, (yn ) ∈ y und x 6= y, dann sind zwei rationale Intervallschachtelungen, die diese Folgen enthalten, ab einer Stelle disjunkt. Daraus ergibt sich entweder
x < y oder y < x. Reflexivität, Antisymmerie und Transitivität übertragen sich von den
entsprechenden Eigenschaften der Ordnung von Q.
Reelle Zahlen können in eindeutiger Weise durch sogenannte Dezimalbrüche dargestellt werden. Das heißt, zu jeder reellen Zahl x ∈ [0, 1) gibt es eine Folge (an )n∈N in
{0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9}, sodass die Folge (sn )n∈N mit
1
1
1
1
sn = a1
+ a2 2 + a3 3 + . . . + an n
10
10
10
10
gegen x konvergiert. Wir können dann 0.a1 a2 a3 . . . statt x schreiben. Wenn wir den Fall,
dass (an ) ab einer Stelle nur aus Ziffern 9 besteht ausschließen, dann ist diese Dezimalbruchdarstellung eindeutig, was wir erkennen, wenn wir Intervallschachtelungen mit halboffenen
24
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Intervallen betrachten: Wir teilen [0, 1) in 10 gleich große Intervalle. Liegt x im ersten dieser
Intervalle, ist a1 = 0, liegt es im zweiten ist a2 = 1 und so fort. Nun teilen wir jenes Intervall,
in dem x liegt, wieder in zehn halboffene Intervalle und bestimmen so a2 . Auf diese Weise
bestimmen wir die Folge (an ). Sollte jedoch x einmal am linken Randpunkt eines der Intervalle liegen, brechen wir diesen Algorithmus ab und stellen x als endlichen Dezimalbruch
dar, also durch eine endlich Folge in {0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9}. Der Fall, dass ab einer Stelle
alle an = 9 sind, kann nicht eintreten, denn dann wäre x gleich dem rechten Randpunkt von
jenem halboffenen Intervall, ab dem alle an = 9 sind.
Definition 1.10.11. Mengen, die nicht abzählbar sind, nennen wir überabzählbar.
Satz 1.10.12. Die Menge der reellen Zahlen ist überabzählbar.
Beweis. Angenommen R hätte eine Abzählung, dann hätte auch [0, 1) eine Abzählung
y1 , y2 , y3 ,. . . mit
y1 = 0. x1,1 x1,2 x1,3 x1,4 . . .
y2 = 0. x2,1 x2,2 x2,3 x2,4 . . .
y3 = 0. x3,1 x3,2 x3,3 x3,4 . . .
y4 = 0. x4,1 x4,2 x4,3 x4,4 . . .
..
..
..
..
..
.
.
.
.
.
Wir wählen nun zn ∈ {0, 1} so, dass zn 6= xn,n ist. Dann ist z = 0.z1 z2 z3 . . . in (0, 1] und
unterscheidet sich von jedem der yn in mindestens einer Ziffer. Wegen der Eindeutigkeit
der Dezimalbruchentwicklung ist z verschieden von allen yn . Das ist ein Widerspruch dazu,
dass eine Abzählung alle Elemente der Menge enthält. Also ist [0, 1) und somit auch R
überabzählbar.
1.10.13 (Theoriefrage 17). Wie werden die reellen Zahlen mithilfe rationaler CauchyFolgen konstruiert?
1.10.14 (Theoriefrage 18). Zeigen Sie, dass die Summe zweier rationaler Cauchy-Folgen
wieder eine Cauchy-Folge ist.
1.10.15 (Theoriefrage 19). Zeigen Sie, dass die Menge der reellen Zahlen überabzählbar
ist.
1.11. Erweiterte reelle Zahlen
Definition 1.11.1. Wenn eine Folge ab einer Stelle größer (bzw. kleiner) als jede beliebig gewählte reelle Zahl ist, nennen wir sie bestimmt divergent gegen +∞ (sprich: “plus
Unendlich”), bzw. bestimmt divergent gegen −∞ (sprich: “minus Unendlich”).
Formal: Wenn (xn ) eine Folge ist und es für jedes x ∈ R ein N ∈ N gibt, sodass xn > x
bzw. xn < x ist für alle n > N , nennen wir (xn ) bestimmt divergent gegen +∞ bzw. bestimmt
divergent gegen −∞ und schreiben lim an = +∞ bzw. lim an = −∞.
Wenn lim xn = ∞ und lim yn ∈ R, dann ist
lim(xn + yn ) = lim(xn − yn ) = ∞.
Wenn y > 0, ist außerdem
lim(xn yn ) = lim(xn /yn ) = ∞.
Wenn auch lim yn = ∞ ist, dann gilt
lim(xn + yn ) = lim(xn yn ) = ∞.
Für das Konvergenzverhalten der Folgen (xn − yn )n∈N und (xn /yn )n∈N gibt es in diesem
Fall jedoch keine allgemeinen Regeln.
1.12. VOLLSTÄNDIGKEIT DER REELLEN ZAHLEN
25
Beispiel 1.11.2 (Übungsbeispiel 19). Finden Sie jeweils ein Beispiel für Folgen (xn )
und (yn ) mit lim(xn yn ) = 0 und
(1) lim xn = ∞ (2) lim xn ∈ R \ {0} (3) (xn ) divergent, aber nicht bestimmt diverent.
1.12. Vollständigkeit der reellen Zahlen
Wir erinnern uns daran, dass rationale Zahlen einerseits jene Zahlen sind, die in der
Konstruktion der reellen Zahlen verwendet werden, und dass andererseits eine rationale
Zahl q auch selbst als reelle Zahl aufgefasst werden kann, nämlich als jene Äquivalenzklasse
von rationalen Cauchy-Folgen, welche die konstante Folge (q)n∈N enthält, siehe dazu auch
Kapitel 1.4.
Definition 1.12.1. Wir nennen I = R \ Q die Menge der irrationalen Zahlen.
Lemma 1.12.2. Wenn x rational und y irrational ist, dann ist x + y irrational. Wenn
außerdem x 6= 0 ist, dann ist xy irrational.
Beweis. Wenn die Summe z = x + y (bzw. das Produkt z = xy) rational wäre, dann
wäre auch z − x (bzw. z/x) und somit y rational, also ist z = x + y (bzw. z = xy) irrational.
Satz 1.12.3. Zwischen allen Paaren verschiedener reeller Zahlen liegen unendlich viele
rationale und unendlich viele irrationale Zahlen.
In der Topologie sagen wir, dass sowohl Q als auch I in R dicht liegen.
Beweis von Satz 1.12.3. Von zwei gegebenen verschiedenen reellen Zahlen bezeichnen wir mit x die kleinere und mit y die größere. Es sei ([an , bn ])n∈N eine rationale Intervallschachtelung, in der eine Cauchy-Folge von x liegt, und ([cn , dn ])n∈N eine, in der eine Folge
von y liegt. Nach Lemma 1.10.4 gibt es ein N , sodass
x < bn < cn < y,
ist für alle n ≥ N . Zwischen den rationalen Zahlen bn und cn lassen sich nun leicht unendlich
viele rationale Zahlen konstruieren; diese liegen zwischen x und y.
Für p, q ∈ Q mit p < q ist
1
p < p + √ (q − p) < q
2
√
wegen 0 < 1/ 2 < 1. Dass der mittlere Term der Ungleichungskette irrational ist, folgt
aus Korollar 1.9.6 und Lemma 1.12.2. Also liegt zwischen je zwei verschiedenen rationalen
Zahlen eine irrationale Zahl. Da zwischen x und y unendlich viele verschiedene rationale
Zahlen liegen, müssen auch unendlich viele irrationale Zahlen zwischen x und y liegen. R
−
Mit R+ bezeichnen wir die Menge der positiven reellen Zahlen {x ∈ R | x > 0}, und mit
die Menge der negativen reellen Zahlen {x ∈ R | x < 0}.
Lemma 1.12.4 (Archimedische Eigenschaft der reelle Zahlen). Für alle ε ∈ R+ gibt es
ein n ∈ N mit n1 < ε. Für alle x, y ∈ R+ gibt es ein n ∈ N, sodass y < nx ist.
1
n
Beweis. Nach Satz 1.12.3 liegt eine rationale Zahl q = m/n zwischen 0 und ε. Also ist
< ε für n ∈ N. Auch für ε = xy gibt es ein n ∈ N mit n1 < xy und somit y < nx.
Bemerkung 1.12.5. Die reellen Zahlen bilden wie die rationalen Zahlen einen Körper,
siehe zum Beispiel [11, Kapitel 5.4]. Unsere bisherigen Argumente in den Sätzen über rationale Zahlen basieren meist nur auf den Axiomen eines Körpers, also auf den Rechenregeln
für die vier Grundrechnungsarten. Aus diesem Grund lassen sie sich unverändert auf die
reellen Zahlen übertragen. Insbesondere gelten daher folgende Definitionen und Aussagen
auch für reelle Zahlen: 1.7.2–1.7.9, 1.8.1–1.8.9 und 1.9.1–1.9.4.
26
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Eine Ausnahme bildet die Archimedische Eigenschaft der rationalen Zahlen (Lemma 1.7.1),
weil in ihrem Beweis verwendet wird, dass rationale Brüche einen ganzzahligen Nenner und
einen ganzzahligen Zähler haben, was auf reelle Zahlen im Allgemeinen nicht zutrifft. Daher haben wir für die Archimedische Eigenschaft der reellen Zahlen in Lemma 1.12.4 einen
eigenen Beweis angegeben.
Folgen reeller Zahlen nennen wir auch kurz reelle Folgen.
Satz 1.12.6. Die reellen Zahlen sind vollständig, das heißt, jede reelle Cauchy-Folge
konvergiert.
Beweis. Jede reelle Cauchy-Folge liegt nach Bemerkung 1.12.5 und Satz 1.9.3 in einer
Intervallschachtelung. Die Intervalle können so gewählt werden, dass die Endpunkte rational
sind, aber auch aus Satz 1.12.3 folgt, dass in jedem Intervall eine rationale Folge liegt. Diese
ist eine rationale Cauchy-Folge und die durch sie nach Definition 1.10.3 bestimmte reelle
Zahl ist Grenzwert der reellen Cauchy-Folge, von der wir ausgegangen sind.
Die Vollständigkeit ist die wesentlichste Eigenschaft, die die reellen von rationalen Zahlen
unterscheidet.
Wir erinnern uns daran, dass ein Supremum einer Menge eine kleinste obere Schranke
ist. Diese kann Element der Menge sein, dann ist sie ein Maximum, sie muss aber nicht
Element der Menge sein. Ein Infimum ist eine größte untere Schranke. In total geordneten
Mengen (d.h. alle Paare von Elementen sind vergleichbar) kann es nicht passieren, dass eine
Menge zwei Suprema oder zwei Infima hat. Für die im folgenden Satz verwendeten Begriffe
siehe bei Bedarf Definitionen 4.2.28, 4.2.32., 6.3.1 und 6.4.1 aber auch Proposition 6.4.2 in
[11].
Satz 1.12.7 (Supremums- und Infimumseigenschaft). Die reellen Zahlen sind ordnungsvollständig, das heißt, jede nicht leere nach oben beschränkte Menge hat ein eindeutiges
Supremum und jede nach unten beschränkte Menge hat ein eindeutiges Infimum.
Beweis. Eine nach oben beschränkte Menge A reeller Zahlen ist auch durch eine rationale Zahl b0 nach oben beschränkt. Es sei a0 eine rationale Zahl, die kleiner als irgendein
Element von A ist. Im Folgenden betrachten wir Intervalle reeller Zahlen mit rationalen
Endpunkten. Wir definieren I0 = [a0 , b0 ] und für n ≥ 1 sei
(
n−1
[an−1 , an−1 +bn−1 ], falls [ an−1 +b
, bn−1 ] ∩ A = ∅,
2
In = [an , bn ] = an−1 +bn−1 2
[
,
b
]
sonst.
n−1
2
Vollständige Induktion impliziert, dass bn für alle n eine obere Schranke von A ist und dass
[an , bn ] ein Element von A enthält. Da die Längen dieser Intervalle gegen Null gehen, ist
die rationale Folge (bn )n∈N eine Cauchy-Folge. Um zu sehen, dass die reelle Zahl x, die
diese Cauchy-Folge enthält, das gesuchte Supremum von A ist, müssen wir uns zwei Punkte
überlegen: Erstens, dass x eine obere Schranke von A ist. Dies folgt aus der Definition der
Zahlen bn die alle größer oder gleich jedem Element von A sind. Und zweitens, dass x die
kleinste obere Schranke von A ist: Wir nehmen an, es gibt eine kleinere obere Schranke y.
Die Längen der Intervalle der Intervallschachtelung sind ab einem Index N kleiner als x − y.
Da x in [aN , bN ] ist, kann y nicht in [aN , bN ] liegen, wegen y < x ist y < aN . Nun ist aber y
kleiner als ein Punkt in A, was der Annahme widerspricht, dass y eine obere Schranke von
A ist.
Beispiel 1.12.8 (Übungsbeispiel 20). Haben folgende Mengen ein Supremum bzw. ein
Infimum in Q und/oder in R? Wenn ja, welches?
\ 1 (2) {q ∈ Q | q 2 < 2}
(1)
− , 1 ∪ {k ∈ N | k ≥ n}
n
n∈N
1.13. HÄUFUNGSWERTE UND HÄUFUNGSPUNKTE
27
Beispiel 1.12.9 (Übungsbeispiel 21). Es sei A ⊂ R nicht leer, nach unten beschränkt
und −A = {−x | x ∈ A}. Zeigen Sie:
inf A = − sup(−A).
1.12.10 (Theoriefrage 20). Zeigen Sie, dass zwischen je zwei verschiedenen reellen Zahlen
unendlich viele rationale und unendlich viele irrationale Zahlen liegen.
1.12.11 (Theoriefrage 21). Zeigen Sie, dass Q nicht vollständig und dass R vollständig
ist. Gehen Sie von der Konstruktion der reellen Zahlen über Cauchy-Folgen aus.
1.12.12 (Theoriefrage 22). Zeigen Sie, dass R ordnungsvollständig ist.
1.13. Häufungswerte und Häufungspunkte
Definition 1.13.1. Ein Punkt heißt Häufungswert einer Folge, wenn jede seiner Umgebungen unendlich viele Glieder der Folge enthält.
Expliziter und formaler: Ein Punkt x ist Häufungswert der Folge (xn )n∈N , wenn es für
jede Umgebung U von x eine unendliche Menge I ⊂ N gibt, sodass {xi | i ∈ I} ⊂ U ist.
Beispiel 1.13.2. Die Folge ((−1)n )n∈N hat zwei Häufungswerte, nämlich −1 und 1. Die
Folge (1/n + (−1)n )n∈N hat ebenfalls die Häufungswerte -1 und 1.
Definition 1.13.3. Eine Teilfolge einer Folge (xn )n∈N ist eine Folge (xnk )k∈N , wobei
(nk )k∈N eine streng monoton steigende Folge natürlicher Zahlen ist.
Ein Teilfolge entsteht also durch das Weglassen von Gliedern der Folge. Zum Beispiel
ist 2, 4, 6,. . . eine Teilfolge von 1, 2, 3, 4,. . .
Lemma 1.13.4. Ein Punkt ist genau dann Häufungswert einer Folge, wenn er Grenzwert
einer Teilfolge ist.
Beweis. Dass ein Grenzwert einer Teilfolge ein Häufungswert ist, folgt aus der Definition der Konvergenz (Definition 1.7.6). Umgekehrt, wenn x ein Häufungswert ist, wählen wir
für jede Umgebung (x − 1/k, x + 1/k), k ∈ N, ein nk ∈ N mit xnk ∈ (x − 1/k, x + 1/k) und
nk > nk−1 . Dies ist möglich, da in (x−1/k, x+1/k) unendlich viele Folgenglieder liegen. Satz 1.13.5 (Satz von Bolzano-Weierstraß). Jede beschränkte reelle Folge hat einen
Häufungswert.
Beweis. Es sei (xn )n∈N durch a0 nach unten und durch b0 nach oben beschränkt. Wir
definieren rekursiv
am + bm
[am+1 , bm+1 ] := am ,
,
2
m
falls unendlich viele xn in [am , am +b
] liegen und anderenfalls
2
am + bm
[am+1 , bm+1 ] :=
, bm .
2
Induktiv wird eine Teilfolge von (xn )n∈N definiert, die in ([am , bm ])m∈N liegt:
Wir setzen xn0 = x0 und wählen ein weiters Glied der Folge aus [a1 , b1 ], das wir mit
xn1 bezeichnen. Von den unendlich vielen Gliedern der Folge (xn )n∈N , die in [am , bm ] liegen, wählen wir eines, das verschieden von den Folgengliedern xn0 , xn1 ,. . . xnm−1 ist und
bezeichnen es mit xnm und so fort. Die so definierte Folge (xnm )m∈N ist eine Cauchy-Folge
und liegt in der Intervallschachtelung ([am , bm ])m∈N . Die dadurch definierte reelle Zahl ist
Grenzwert von (xnm )m∈N und somit Häufungswert von (xn )n∈N .
Lemma 1.13.6. Eine beschränkte reelle Folge, die genau einen Häufungswert hat, ist
konvergent.
28
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Beweis. Wenn x der einzige Häufungswert einer beschränkten Folge ist, muss jede
Umgebung von x fast alle Glieder der Folge enthalten, denn sonst würden die Folgenglieder
außerhalb der Umgebung eine beschränkte Folge bilden, die nach dem Satz von BolzanoWeierstraß einen Häufungswert hat und dieser wäre dann von x verschieden.
Beispiel 1.13.7. Lemma 1.13.6 gilt nur für beschränkte Folgen, denn die unbeschränkte
Folge (n + (−1)n n)n∈N hat zwar genau einen Häufungswert, ist aber trotzdem nicht konvergent.
Satz 1.13.8. Jede beschränkte monotone reelle Folge ist konvergent.
Beweis. Nach dem Satz Bolzano-Weierstraß hat eine solche Folge zumindest einen
Häufungswert. Wir nehmen indirekt an, es gäbe zwei Häufungswerte. Zwei disjunkte Umgebungen dieser Punkte enthalten jeweils unendlich viele Glieder der Folge, was jedoch nur
möglich ist, wenn die Folge unendlich oft zwischen den Umgebungen hin und her wechselt.
Das wiederum widerspricht ihrer Monotonie. Also hat die Folge genau einen Häufungswert
und ist nach Lemma 1.13.6 konvergent.
Es spricht nichts gegen verbal geführte Beweise wie jenen von Satz 1.13.8. Wichtig ist,
dass man bei Bedarf in der Lage ist, eine Argumentation beliebig detailliert und explizit
auszuführen. Wenn die zwei Häufungswerte im letzten Beweis zum Beispiel mit x und y
bezeichnet werden, können die disjunkten Umgebungen als
y−x
y−x
y−x
y−x
,x +
,y +
und
y−
oder als
x−
2
2
2
2
y−x
y−x
y−x
y−x
,x +
und
y−
,y +
x−
3
3
3
3
angegeben werden. Außerdem könnten die Indices der Folgenglieder, die in der einen und
der anderen Umgebung liegen bezeichnet werden. Wie genau und explizit Beweise geführt
werden, ist bis zu einem gewissen Grad eine Frage des Geschmacks.
Definition 1.13.9. Ein Punkt x heißt Häufungspunkt einer Menge M , wenn für jede
Umgebung U von x die Menge U \ {x} unendliche viele Elemente von M enthält.
Lemma 1.13.10. Jeder Häufungspunkt der Menge {xn | n ∈ N} ist Häufungswert der
Folge (xn )n∈N .
Beweis. Die folgende Konstruktion ist jener im Beweis des Satzes von Bolzano-Weierstraß (Satz 1.13.5) ähnlich. Wir setzen xn0 = x0 . Für m ≥ 1 wählen wir von den unendlich
vielen Gliedern der Folge, die in (x − 1/m, x + 1/m) liegen, eines aus, das verschieden von
den Folgengliedern xn0 , xn1 ,. . . ,xnm−1 ist und bezeichnen es mit xnm . Die so definierte
Folge (xnm )m∈N konvergiert gegen x. Also ist der Häufungspunkt x auch Häufungswert der
Folge.
Beispiel 1.13.11. Die Umkehrung der Aussage von Lemma 1.13.10 gilt im Allgemeinen
nicht, denn c ist zwar Häufungswert der konstanten Folge (c)n∈N , aber kein Häufungspunkt
der Menge {c}.
Definition 1.13.12. Mit lim sup xn bzw. lim inf xn bezeichnen wir das Supremum bzw.
das Infimum der Häufungswerte einer Folge (xn )n∈N .
Das folgende Lemma besagt, dass das Supremum und das Infimum aus Definition 1.13.12
in Wahrheit ein Maximum und ein Minimum sind.
Lemma 1.13.13. Existiert der Limes superior (bzw. der Limes inferior) einer reellen
Folge, dann hat sie eine Teilfolge, die gegen ihn konvergiert.
1.14. WURZELN
29
Beweis. Es sei z = lim sup xn . Für jedes k ∈ N muss es einen Häufungswert zk der Folge
in [z − 1/k, z] geben, da z ja die kleinste obere Schranke der Häufungswerte ist. Eines der
Folgenglieder in [zk − 1/k, zk + 1/k] bezeichnen wir mit xnk . Also ist xnk ∈ (z − 2/k, z + 1/k)
und daher
lim xnk = z
k→∞
und z ein Häufungswert von (xn )n∈N .
Beispiel 1.13.14 (Übungsbeispiel 22). Bestimmen Sie die Menge der Häufungswerte
der Folge
1
1
1
1
1
1
x1 = 1, x2 = , x3 = 1, x4 = , x5 = , x6 = 1, x7 = , x8 = , x9 = , x10 = 1, . . .
2
2
3
2
3
4
Finden Sie eine Teilfolge, die gegen den Limes superior konvergiert und eine, die gegen den
Limes inferior konvergiert.
1.13.15 (Theoriefrage 23). Definieren Sie Teilfolgen und Häufungswerte einer Folge.
Zeigen Sie, dass jeder Häufungswert Grenzwert einer Teilfolge ist.
1.13.16 (Theoriefrage 24). Formulieren und beweisen Sie den Satz von Bolzano-Weierstraß.
1.13.17 (Theoriefrage 25). Zeigen Sie mithilfe des Satzes von Bolzano-Weierstraß, dass
eine beschränkte Folge mit genau einem Häufungswert konvergent ist. Ist die Voraussetzung
der Beschränktheit hier notwendig? Leiten Sie daraus ab, dass jede beschränkte monotone
reelle Folge konvergent ist.
1.13.18 (Theoriefrage 26). Definieren Sie Häufungspunkte einer Menge und Häufungswerte einer Folge. Ist jeder Häufungswert einer Folge (xn )n∈N auch Häufungspunkt von
{xn | n ∈ N}? Gilt die Umkehrung der letzten Aussage?
1.13.19 (Theoriefrage 27). Wie sind Limes superior und Limes inferior einer Folge definiert? Zeigen Sie, dass Limes superior und Limes inferior einer Folge Häufungswerte der
Folge sind.
1.14. Wurzeln
k
Definition 1.14.1. √Wenn x = c für k ∈ N, dann nennen wir x eine k-te Wurzel von c
und bezeichnen sie mit k c oder c1/k .
Um zu zeigen, dass es in R im Gegensatz zu Q (siehe Korollar 1.9.6) möglich ist, Wurzeln
zu ziehen, verwenden wir das Verfahren der Intervallhalbierung, das wir schon aus 1.9.7,
1.12.7 und 1.13.5 kennen.
Lemma 1.14.2. Für jedes k ∈ N haben alle positiven reellen Zahlen eine eindeutig
bestimmte k-te Wurzel in R+ .
Beweis. Wegen der Supremumseigenschaft (Satz 1.12.7) hat für jedes c ∈ R+ die Menge
{a ∈ R | ak ≤ c} ein eindeutiges Supremum x. Für alle n ∈ N ist (x − 1/n)k ≤ c, denn wenn
(x − 1/n)k > c wäre, dann wäre x − 1/n eine kleinere Schranke der Menge als x und somit x
nicht das Supremum. Außerdem ist (x + 1/n)k > c, denn falls (x + 1/n)k ≤ c, wäre x keine
obere Schranke der Menge. Also ist (x − 1/n)k ≤ c < (x + 1/n)k und daher
k
k
1
1
lim x −
≤ c < lim x +
.
n
n
Wegen dem Grenzwertsatz für Produkte (1.8.5.2) ist das gleichbedeutend mit
k
k
1
1
lim x −
≤ c < lim x +
n
n
und somit
xk ≤ c ≤ xk beziehungsweise xk = c.
30
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Also ist x die k-te Wurzel von c in R+ .
Für m, n ∈ N und x ∈ R+ ist (xm )n = (xn )m = xmn . Aus
√
√
xm = (( n x)n )m = (( n x)m )n
folgt
√
n
√
xm = ( n x)m ,
was folgende Definition gerechtfertigt:
m
Definition 1.14.3. Für m, n ∈ N und x ∈ R+ ist x n :=
√
n
√
xm = ( n x)m .
Lemma 1.14.4. Wenn x ∈ R und p, q ∈ Q, dann ist
xp < xq ⇐⇒ p < q,
p
q
x > x ⇐⇒ p < q,
falls x > 1,
falls 0 < x < 1.
Beweis. Wir schreiben p = mp√
/n und q = mq /n
√ als ganzzahlige√Brüche mit gemeinsamem Nenner. Wenn x > 1 folgt n x > 1, denn n x ≤ 1 würde ( n x)n = x ≤ 1n = 1
implizieren. Somit ist mp < mq äquivalent zu
√
√
xp = ( n x)mp < ( n x)mq = xq .
√
Wenn 0 < x < 1 ist n x < 1 und mp < mq ist äquivalent zu
√
√
xp = ( n x)mp > ( n x)mq = xq .
Beispiel 1.14.5. Es ist lim
√
n
n = 1.
√
Beweis. Wir definieren xn = n n−1. Diese xn sind alle positiv. Nach dem Binomischen
Lehrsatz ist
n X
n k
n(n − 1) 2
xn = 1 + nxn +
n = (1 + xn )n =
xn + . . .
k
2
k=0
Daraus folgen
n>
n(n − 1) 2
xn
2
und
r
2
> xn .
n−1
Also bilden die xn eine Nullfolge.
√
√
Beispiel 1.14.6 (Übungsbeispiel 23). Konvergiert die Folge (n( n + 1 − n))n∈N ?
Wenn ja, wohin? Hinweis: Erweitern Sie in geeigneter Weise zu einem Bruch.
Beispiel 1.14.7 (Übungsbeispiel 24). Zu einer beliebigen positiven reellen Zahl c sei die
Folge (xn )n∈N rekursiv definiert, indem für x0 ein beliebiger positiver Wert gewählt wird,
dessen Quadrat größer als c ist und für n ≥ 1 ist
c
1
xn−1 +
.
xn :=
2
xn−1
Zeigen Sie, dass diese Folge in R gegen eine Zahl konvergiert, deren Quadrat c ist.
Hinweis: Zeigen Sie, dass alle xn positiv sind, dass x2n > c ist und danach, dass die Folge
monoton fällt. Da die Folge dann konvergiert, können Sie Grenzwertsätze anwenden.
Beispiel 1.14.8 (Übungsbeispiel 25). Fortsetzung zu den Fionacci-Zahlen: Es sei xn
der Quotient der Fibonacci-Zahlen Fn+1 /Fn . Zeigen Sie, dass die Folge (xn ) konvergiert
und bestimmen Sie den Grenzwert. Welche Sätze aus der Vorlesung verwenden Sie dabei?
1.15. KOMPLEXE ZAHLEN
31
1.14.9 (Theoriefrage 28). Zeigen Sie, dass jede natürliche Zahl für jedes natürliche k
eine k-te Wurzel in R+ hat.
√
√
1.14.10 (Theoriefrage 29). Warum ist n xm = ( n x)m für alle m, n ∈ N und x ∈ R+ ?
Zeigen Sie für p, q ∈ Q:
xp < xq ⇐⇒ p < q, falls x > 1,
p
x > xq ⇐⇒ p < q, falls 0 < x < 1.
√
1.14.11 (Theoriefrage 30). Zeigen Sie, dass lim n n = 1 ist.
1.15. Komplexe Zahlen
Definition 1.15.1. Die komplexen Zahlen C sind definiert als die Menge aller Paare
reeller Zahlen zusammen mit den Verknüpfungen
(a, b) + (c, d) = (a + c, b + d),
(a, b) · (c, d) = (ac − bd, ad + bc).
Mit diesen Verknüpfungen ist C ein Körper mit Nullelement (0, 0) und Einselement
(1, 0).
Definition 1.15.2. Der Realteil einer komplexen Zahl z = (a, b) ist Re(z) = a, der
Imaginärteil Im(z) = b und die Konjugierte z̄ = (a, −b). Die Imaginäre Einheit ist i = (0, 1).
Die reellen Zahlen werden als Teilmenge von C aufgefasst, wobei eine relle Zahl x der
komplexen Zahl (x, 0) entspricht. Den Umgang mit den vier Grundrechnungsarten in C setzen wir als bekannt voraus. Man
√ beachte dass (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) ist. Anders geschrieben,
heißt das i2 = −1 bzw. i = −1. Die Wurzel aus −1 ist also kein Mysterium, über das es
sich zu philosophieren lohnt, sondern ein Element eines Zahlenbereichs, den wir auf einfache
Weise aus den reellen Zahlen erhalten.
Die komplexen Zahlen können als Ebene interpretiert werden. Der Betrag√
einer komplexen Zahl ist definiert wie die Länge des entsprechenden Vektors als |(a, b)| = a2 + b2 . Das
ergibt den Abstand zweier komplexer Zahlen als
p
|(a, b) − (c, d)| = (a − c)2 + (b − d)2 .
Konvergenz komplexer Folgen wird ähnlich behandelt wie für reelle Folgen, wobei statt
reeller Intervalle Kreisscheiben betrachtet werden, die über diesen Abstandsbegriff definiert
sind.
Definition 1.15.3. Ein komplexe Folge (zn )n∈N heißt Cauchy-Folge, wenn es für alle
reellen ε > 0 ein N gibt, sodass |zm − zn | < ε für alle m, n ≥ N . Eine Menge U heißt
Umgebung von z, wenn es ε > 0 gibt, sodass
{y ∈ C : |z − y| < ε} ⊂ U
ist. Die Folge konvergiert gegen z ∈ C, wenn sie in jeder Umgebung von z ab einer Stelle
enthalten ist. Äquivalent: Wenn es für jedes ε > 0 ein N gibt sodass |z − zn | < ε für alle
n ≥ N.
Lemma 1.15.4. Es seien zn = (an , bn ) und z = (a, b) komplexe Zahlen, dann gilt:
lim zn = z
⇐⇒
lim an = a und lim bn = b.
Beweis. Es ist
lim zn = z
⇐⇒
lim |zn − z| = 0
⇐⇒
lim(an − a)2 = 0 und lim(bn − b)2 = 0
lim
p
(an − a)2 + (bn − b)2 = 0 ⇐⇒
⇐⇒
lim an = a und lim bn = b.
Satz 1.15.5. Die komplexen Zahlen sind vollständig.
32
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Beweis. Es sei (zn ) mit zn = (an , bn ) eine komplexe Cauchy-Folge. Das heißt, für alle
ε > 0 gibt es ein N , sodass |zm − zn | < ε für alle m, n ≥ N . Dann ist
|zm − zn |2 = (am − an )2 + (bm − bn )2 < ε2
und folglich |am − an | < ε und |bm − bn | < ε. Das heißt, (an ) und (bn ) sind reelle CauchyFolgen, die wegen der Vollständigkeit von R (siehe Satz 1.12.6) konvergieren. Nach Lemma 1.15.4 konvergiert auch (zn ), was bedeutet, dass C vollständig ist.
Aus der Konstruktion der Zahlenbereiche N, Z, Q, R und C sehen wir, dass die mit Abstand aufwändigste Konstruktion jene der reellen Zahlen ist. Die wichtigsten algebraischen
Eigenschaften, die diese Zahlenbereiche voneinander unterscheiden sind folgende:
N: In N kann addiert und multipliziert werden werden.
Z: In Z gibt es im Gegensatz zu N eine Umkehrung der Addition.
Q: In Q gibt es im Gegensatz zu Z eine Umkehrung der Multiplikation.
R: In R ist im Gegensatz zu Q jede Cauchy-Folge konvergent.
C: In C hat im Gegensatz zu R jedes Polynom eine Nullstelle.
Diese Eigenschaft von C nennt man algebraische Abgeschlossenheit. Was die rellen Zahlen
gegenüber C auszeichnet, ist, dass sie einen geordneten Körper bilden.
Die Erweiterungen der Zahlenbereiche ergeben sich auf natürliche Weise durch die algebraischen Eigenschaften, die im jeweiligen mathematischen Arbeitsbereich benötigt werden.
Zum Beispiel für einfache Schluss- oder Prozentrechnungen im Alltag benötigen wir weder
Limiten noch stetige Funktionen, hier reichen rationale Zahlen vollkommen aus.
Beispiel 1.15.6 (Übungsbeispiel 26). Sind die Folgen (xn )n∈N konvergent? Bestimmen
Sie die Menge der Häufungswerte.
n
n
2 2i
n
3 3i
+
(2) xn =
+
(3) xn =
(1 + in )
(1) xn =
4
4
3
3
2n + 1
Hinweis: Beispiel 1.7.10.3 gilt nicht nur für rationale und reelle Folgen, sondern auch für
komplexe Folgen. Warum ist das so? Verwenden Sie auch Lemma 1.15.4.
1.15.7 (Theoriefrage 31). Wie ist die Menge der komplexen Zahlen definiert? Leiten Sie
aus der Vollständigkeit von R ab, dass C vollständig ist.
1.16. Konvergenzkriterien für Reihen
P∞
Definition 1.16.1.PEine Reihe
k=0 ak ist definiert als Folge der Partialsummen
n
(sn )n∈N0 , wobei sn =
a
und
a
k ∈ R. Die Zahlen ak nennen wir Summanden der
k=0 k
Reihe.
P
P∞ P∞ P∞
Wir schreiben
statt k=0 , n=0 , i=0 usw., wenn klar ist, was der Summationsindex ist und der Index von 0 weg läuft.
Beispiel 1.16.2. Für alle q 6= 1 lässt sich mit Induktion zeigen, dass
1 + q + q2 + . . . + qn =
1 − q n+1
1−q
q k ist nach Definition 1.16.1 die Folge
1 − q n+1
=
.
1−q
n∈N0
k=0
n∈N0
P
P
Wenn die Reihe
ak konvergiert, bezeichnen wir mit
aP
k auch gleichzeitig ihren
Grenzwert, sofern das nicht
zu
Missverständnissen
führt.
Wenn
ak bestimmt gegen ∞
P
divergiert, schreiben wir
ak = ∞.
Nach Beispiel 1.7.10.3 konvergiert die Folge (q n+1 ) genau dann, wenn |q| < 1 ist. Also
1
konvergiert die geometrische Reihe auch genau dann, wenn |q| < 1 ist, und zwar gegen 1−q
.
ist. Die sogenannte geometrische Reihe
!
n
X
k
q
P
1.16. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN
Satz 1.16.3 (Cauchy-Kriterium für Reihen). Eine komplexe Reihe
genau dann, wenn es für alle ε > 0 ein N ∈ N gibt, sodass
n
X ak < ε
33
P
ak konvergiert
k=m
für alle m, n ≥ N .
Beweis. Wegen der Vollständigkeit der reellen Zahlen (Satz 1.12.6) konvergiert die
Folge der Partialsummen genau dann, wenn sie eine Cauchy-Folge ist, also wenn es für alle
ε > 0 ein N gibt, sodass für alle m − 1, n ≥ N
n
X
|sn − sm−1 | = ak < ε
k=m
ist, wobei wir n ≥ m annehmen.
Korollar 1.16.4. Wenn
eine Nullfolge.
P∞
k=0
ak konvergiert, ist die Folge ihrer Summanden (ak )k∈N0
Pm
Beweis. Satz 1.16.3 gilt insbesondere für m = n. Für jedes ε > 0 ist daher | k=m ak | =
|am | ≤ ε ab einer Stelle.
Lemma 1.16.5. Eine Reihe mit positiven Summanden ist genau dann konvergent, wenn
sie beschränkt ist.
Beweis. Wenn die Summanden positiv sind, bilden die Partialsummen eine streng steigende Folge. Wenn diese beschränkt ist, ist sie nach Satz 1.13.8 konvergent.
P
Satz 1.16.6 (Minoranten- und Majorantenkriterium). Es sei
bk eine reelle Reihe.
P
P∞
(1) Für eine komplexe Reihe
ak gilt: Wenn
P∞ ab einer Stelle |ak | ≤ bk ist und k=0 bk
konvergiert,
P dann konvergiert auch k=0 ak .
P∞
(2) Wenn
ak eine reelle Reihe ist,
ab einer Stelle 0 ≤ bk ≤ ak ist und
k=0 bk
P∞
divergiert, dann divergiert auch k=0 ak .
Beweis. Ob die Abschätzungen in (1) und (2) für fast alle oder für alle Summanden der
Reihe erfüllt sind, macht für ihr Konvergenzverhalten keinen Unterschied. Daher nehmen
wir der Einfachheit halber an, dassP
sie für alle Summanden erfüllt sind.
n
In (1) sind die Partialsummen k=0 |ak | wegen
0≤
n
X
|ak | ≤
k=0
∞
X
bk
k=0
P∞
beschränkt. Daher konvergiert k=0
P|ank | nach Lemma 1.16.5.
P∞
In (2) sind die Partialsummen k=0 ak nicht beschränkt und k=0 ak ist daher nach
Lemma 1.16.5 divergent.
P∞
Definition 1.16.7. Die Reihe k=0 bkP
aus Satz 1.16.6 heißt in (1) konvergente Majo∞
rante und in (2) divergente Minorante von k=0 ak .
Beispiel 1.16.8. Die Reihe
∞
X
1
ns
n=1
divergiert für s ≤ 1 und konvergiert für 1 < s.
34
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Beweis. Für s = 1 ist
2k
X
1 1 1 1
1
1
1
1 1
1
+
+... +
=1+ +
+
+ + +
+ ... + k
n
2
3 4
5 6 7 8
2k−1 + 1
2
n=1
|
| {z } |
{z
}
{z
}
> 12
> 21
> 12
1
≥1+k .
2
Letzterer Term divergiert gegen ∞, wenn k gegen ∞ geht. Also divergieren
P∞ auch die Partialsummen gegen ∞. Für s < 1 ist 1/ns > 1/n nach Lemma 1.14.4, und n=0 1/ns divergiert
nach Satz 1.16.6.2. Für s > 1, ist
2k+1
X−1 1
1
1
1
1
1
1
=1+
+ s +
+ ... + s +... +
+ . . . + k+1
ns
2s
3
4s
7
2ks
(2
− 1)s
n=1
|
{z
} |
{z
}
|
{z
}
≤2 21s
≤1+
1
≤22 22s
1
2s−1
+
1
2
2s−1
≤2k
+ ... +
1
2s−1
k
=
1
2ks
1
1 − ( 2s−1
)k+1
1
<
1
1 ,
1 − 2s−1
1 − 2s−1
somit beschränkt und die Reihe nach Lemma 1.16.5 konvergent, wobei wir hier die Summenformel für die geometrische Reihe verwendet haben, siehe Beispiel 1.16.2.
P∞
Die Reihe n=1 1/n wird harmonische Reihe genannt.
P∞
P∞
Definition 1.16.9. Eine Reihe k=0 ak heißt absolut konvergent, wenn k=0 |ak | konvergiert.
Lemma 1.16.10. Absolut konvergente Reihen konvergieren.
P∞
Beweis. Nach Satz 1.16.3 bedeutet absolute Konvergenz
Pn von k=0 ak , dass es für alle
ε > 0 ein N gibt, sodass für alle
n ≥ N der Betrag | k=m |ak || < ε ist. Daraus folgt
Pm,
n
durch die Dreiecksungleichung | k=m ak | < ε, womit die Reihe konvergiert.
Satz 1.16.11 (Leibnitz-Kriterium). Wenn (ak )k∈N0 monoton fallend gegen 0 konvergiert, dann konvergiert
X
(−1)k ak = a0 − a1 + a2 − a3 + . . .
k∈N
gegen eine Zahl s und |s − sn | ≤ an+1 , genauer:
s2n − s ≤ a2n+1
und
s − s2n+1 ≤ a2n+2 ,
wobei sn die n-te Partialsumme der Reihe bezeichnet.
Pn
Beweis. Für die n-ten Partialsummen sn = k=0 (−1)k ak gilt
s0 ≥ s2 ≥ s4 ≥ . . .
und s1 ≤ s3 ≤ s5 ≤ . . .
weil s2n+2 − s2n = a2n+2 − a2n+1 ≤ 0 und s2n+3 − s2n+1 = −a2n+3 + a2n+2 ≥ 0. Außerdem
ist
s2n ≥ s2n+1 und lim(s2n − s2n+1 ) = lim −a2n+1 = 0 bzw.
s2n+2 ≥ s2n+1
und
lim(s2n+2 − s2n+1 ) = lim a2n+2 = 0.
Also ist
[s1 , s0 ] ⊃ [s1 , s2 ] ⊃ [s3 , s2 ] ⊃ [s3 , s4 ] ⊃ . . .
eine Intervallschachtelung, in der (sn )n∈N liegt. Die Reihe konvergiert daher gegen eine Zahl
s und es ist |s − sn | ≤ |sn+1 − sn | = an+1 .
Anschaulich gesagt, springen die Partialsummen links-rechts-links usw. um den Grenzwert s und nähern sich diesem dabei.
1.16. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN
35
P
Beispiel 1.16.12. Die Reihe (−1)n n1 konvergiert nach dem dem Leibnitz-Kiriterium
(Satz 1.16.11). Sie ist jedoch nicht absolut konvergent, weil die harmonische Reihe divergiert.
p
Satz 1.16.13 (Wurzel-Kriterium). Ist n |an | ≤p
c für ein festes positives c < 1 ab einem
P
n
|an | ≥ 1 für unendlich viele n, dann
Index, dann
ist
a
absolut
konvergent.
Wenn
n
P
divergiert
an .
P n
Beweis.
Wenn ab einer Stelle |an | ≤ cn ist, dann ist
c eine konvergente Majorante
P
P
von
|an |. Wenn |an | ≥ 1 für unendlich viele n, dann ist (an )n∈N keine Nullfolge und
an
divergiert.
Satz 1.16.14 (Quotienten-Kriterium).
Ist |an+1 /an | ≤ c für ein festes c < 1 ab einem
P
Index n, dann
ist
a
absolut
konvergent.
Wenn |an+1 /an | ≥ 1 ab einer Stelle, dann
n
P
divergiert
an .
Beweis. Wenn |an+1 /an | ≤ c ab einem Index N , dann ist |aN +1 | ≤ c|aN | und |aN +2
P| ≤
c|aN +1 | ≤ c2 |aN |. Mittels Induktion folgt |aN +k | ≤ ck |aN | für alle k ∈ N. Also ist |aN | cn
eine konvergente Majorante.
Wenn |an+1 /an | ≥ 1 ab einer Stelle, dann ist die Folge der Beträge |an | steigend und
daher keine Nullfolge.
Definition 1.16.15. Wenn k 7→ nk eine Bijektion N0 → N0 ist, nennen wir
∞
X
ank
k=0
eine Umordnung der Reihe
P∞
k=0
ak bzw.
P∞
n=0
an .
P
Beispiel 1.16.16. Die alternierende harmonische Reihe (−1)n+1 /n konvergiert nach
dem Leibnitz-Kriterium (Satz 1.16.11). Es ist
1 1
1 1
1 1
5
1 1
+ − +
+··· < 1 − + = .
1− + + − +
2 3
4 5
6 7
2 3
6
|
{z
} |
{z
}
<0
<0
Für die folgende Umordnung ist
1 1
1 1 1
1
1
1
1 1
5
1+ − +
+ −
+
+
−
+ ··· > 1 − + = ,
3 2
5 7 4
9 11 6
2 3
6
weil für alle k
1
1
1
+
−
>0
4k − 3 4k − 1 2k
ist. Das heißt, der Grenzwert einer Reihe kann sich durch Umordnung ändern.
Satz 1.16.17 (Umordnungssatz). Wenn eine Reihe absolut konvergiert, dann konvergiert
auch jede ihrer Umordnungen und zwar gegen denselben Grenzwert.
P∞
P
Beweis. Es sei k=0 ank eine Umordnung von
an . Für jedes N gibt es ein k, sodass {n0 , n1 , n2 , . . . , nk } die Zahlen
0,
1,
2,
.
.
.
,
N
enthält.
Pm Wenn m > k, dann treten die
Pm
Summanden a0 , . . . , aN sowohl in n=0 an als auch in i=0 ani auf. Also ist
m
nm
m
N
X
X
X
X
an −
ani ≤
|an | −
|an |.
n=0
n=0
n=0
i=0
P
Da
an absolut konvergiert, ist die rechte Seite der letzteren Ungleichung ab einem hinreichend großen N (und dementsprechend gewählten k und m) kleiner als jedes positive ε.
Somit wird auch die linke Seite kleiner als jedes ε. Das bedeutet, dass auch die umgeordnete
Reihe konvergiert, und zwar gegen den Grenzwert der ursprünglichen Reihe.
36
1. ZAHLEN UND FOLGEN
Beispiel 1.16.18 (Übungsbeispiel 27). Sind folgende Reihen konvergent, sind sie absolut
konvergent?
(1)
X (−1)n
√
n
n
(2)
∞
X
(n!)2
(2n)!
n=0
Beispiel 1.16.19 (Übungsbeispiel 28). Sind folgende Reihen konvergent, sind sie absolut
konvergent?
X (−1)n n − 7
X 1
(2)
(1)
2n + 1
2n2 − 1
Beispiel 1.16.20 (Übungsbeispiel 29). Berechne
∞
X
n=1
n2
2
.
+ 3n
Hinweis: Partialbruchzerlegung.
Beispiel 1.16.21 (Übungsbeispiel 30). Drücken Sie den Wert der Reihe
∞
X
1
(2n
−
1)2
n=1
durch
∞
X
1
2
n
n=1
aus.
Beispiel 1.16.22 (Übungsbeispiel 31). Finden Sie eine Umordnung der Reihe
∞
X
(−1)n+1
,
n
n=3
deren Partialsummen alle negativ sind.
1.16.23 (Theoriefrage 32). Formulieren und beweisen Sie das Cauchy-Kriterium für reelle Reihen und leiten Sie daraus ab, dass die Summanden einer konvergenten Reihe eine
Nullfolge bilden.
1.16.24 (Theoriefrage 33). Warum sind beschränkte reelle Reihen mit positiven Summanden konvergent? Formulieren und beweisen Sie das Majoranten- und das Minorantenkriterium für Reihen.
P 1
1.16.25 (Theoriefrage 34). Zeigen Sie, für welche positiven s die Reihe
ns konvergent
bzw. divergent ist.
1.16.26 (Theoriefrage 35). Formulieren und beweisen Sie das Leibnitz-Kriterium für
Reihen. Geben Sie (ohne weiteren Beweis) ein Beispiel einer Reihe an, die nach dem LeibnitzKriterum konvergent ist, die aber nicht absolut konvergiert.
1.16.27 (Theoriefrage 36). Formulieren und beweisen Sie das Wurzel-Kriterium für Reihen. Geben Sie (ohne weiteren Beweis) ein Beispiel einer Reihe an, die nach dem WurzelKriterum konvergiert.
1.16.28 (Theoriefrage 37). Formulieren und beweisen Sie das Quotienten-Kriterium
für Reihen. Geben Sie (ohne weiteren Beweis) ein Beispiel einer Reihe an, die nach dem
Quotienten-Kriterum konvergiert.
1.16.29 (Theoriefrage 38). Formulieren und beweisen Sie den Umordnungssatz für absolut konvergente Reihen. Zeigen Sie durch ein Gegenbeispiel, dass dieser Satz im Allgemeinen
nicht für alle konvergenten Reihen gilt.
1.17. DAS CAUCHY-PRODUKT VON REIHEN
37
1.17. Das Cauchy-Produkt von Reihen
P
P
Definition 1.17.1. Das Produkt (oder Cauchy-Produkt) der Reihen
an und
bn ist
definiert als
∞ X
n
X X
X
an
bn =
ak bn−k = (a0 b0 ) + (a0 b1 + a1 b0 ) + (a0 b2 + a1 b1 + a2 b0 ) + . . .
n=0 k=0
P
Eine Potenzreihe ist eine Reihe der Form
an z n . Die Zahlen an sind ihre Koeffizienten.
P P
Die Notation
an bn hat zwei Bedeutungen, denn abgesehen vom Cauchy-Produkt
kann damit auch der Zahlenwert des Produktes der Limiten gemeint sein, sofern diese existieren. Es sollte daher stets aus dem Zusammenhang klar sein, was mit dieser Schreibweise
gemeint ist.
Pn
Für Potenzreihen sind die Koeffizienten k=0 ak bn−k des Cauchy-Produkts gerade die
Koeffizienten der Potenz z n :
X
an z n
X
bn z n =
∞ X
n
X
ak z k bn−k z n−k =
n=0 k=0
∞
n
X
X
n=0
!
zn.
ak bn−k
k=0
Das folgende Beispiel zeigt, dass das Produkt konvergenter Reihen nicht immer konvergent ist.
Beispiel 1.17.2. Die Reihe
∞
X
1
1
1
(−1)n
√
= −1 + √ − √ + √ · · ·
n
2
3
4
n=1
konvergiert nach Satz 1.16.11. Das Produkt der Reihe mit sich selbst ist jedoch divergent:
∞
∞
X
(−1)n X (−1)n
√
√
=
n n=1
n
n=1
=√
1
−
1·1
∞
X
n=2
√
n−1
X
k=1
1
1
+√
1·2
2·1
(−1)k (−1)n−k
√
√
n−k
k
√
+
!
=
1
1
1
+√
+√
1·3
2·2
3·1
∞
X
(−1)n
n=2
n−1
X
1
p
k=1
k(n − k)
− ···
=
Wir ergänzen k(n − k) = nk − k 2 zu einem Quadrat
n2
n
− nk + k 2 = ( − k)2 ≥ 0
4
2
und erhalten
k(n − k) ≤
n2
4
1
4
≥ 2
k(n − k)
n
bzw.
und
1
p
k(n − k)
≥
2
.
n
Also ist
n−1
X
1
p
k=1
k(n − k)
≥
n−1
X
k=1
2
2(n − 1)
=
.
n
n
Letzterer Ausdruck konvergiert gegen 2, daher bilden die Summanden (−1)n
Pn−1
k=1
√
1
k(n−k)
der Produktreihe keine Nullfolge. Folglich divergiert die Produktreihe.
Lemma 1.17.3. Das Produkt einer absolut konvergenten Reihe mit einer Reihe, die
gegen 0 konvergiert, konvergiert absolut gegen 0.
38
1. ZAHLEN UND FOLGEN
P
P
Beweis.
Es sei P
an absolut konvergent und
bn konvergent gegen 0. Wir setzen
P
n
α=
|an | und βn = k=0 bk . Die n-te Partialsumme des Produkts ist die Summe aller
Paare ak bl mit k + l ≤ n, also
n X
k
X
ai bk−i = a0 (b0 + . . . + bn ) + a1 (b0 + . . . + bn−1 ) + . . . + an (b0 ) =
k=0 i=0
n
X
ai βn−i .
i=0
Wegen lim βn = 0 gibt es für jedes ε > 0 ein N , sodass |βn | < ε für alle n > N . Es ist
n
X
ai βn−i = |a0 βn + a1 βn−1 + . . . + an β0 | ≤
i=0
|a0 |ε + |a1 |ε + . . . + |an−(N +1) |ε + |an−N βN + . . . + an β0 | ≤ αε + |an−N βN + . . . + an β0 | .
Bei fest gewähltem ε und davon abhängigem festen N ist
lim |an−N βN + . . . + an β0 | = 0
n→∞
und daher
n
X
lim sup ai βn−i ≤ αε
n→∞ i=0
für
dieserPLimes superior ein Limes und gleich Null. Das heißt,
P jedes
P ε > 0. Also ist P
| an bn | = 0 und somit
an bn = 0.
Satz 1.17.4. Das Produkt einer absolut konvergenten Reihe mit einer konvergenten Reihe ist absolut konvergent und der Grenzwert des Produkts ist das Produkt der Grenzwerte.
P
P
Beweis.PEs sei
an absolut konvergent gegen α und
bn konvergent gegen β. Dann
konvergiert
bn − β gegen 0. Nach Lemma 1.17.3 ist
X X X
X X
an β = αβ.
an
bn − β = 0 und daher
an
bn =
Beispiel 1.17.5 (Übungsbeispiel 32). Zeigen Sie mithilfe von Satz 1.17.4, dass die Reihe
∞
X
(−1)n
n=1
n−1
X
k=1
1
− k)
k 2 (n
konvergent ist.
Beispiel 1.17.6 (Übungsbeispiel 33). Bestimmen Sie (1) (an ) und (2) (bn ) so, dass
∞
X
1
=
an z n
(1 − z)2
n=0
und
∞
X
1
=
bn z n
(1 − z)3
n=0
ist, wobei z ∈ C mit |z| < 1.
1.17.7 (Theoriefrage
Definieren
P39).
√ Sie das Cauchy-Produkt von Reihen. Nach welchem
∞
Kriterium konvergiert n=1 (−1)n / n?
P∞
√
1.17.8 (Theoriefrage 40*). Zeigen Sie, dass das Cauchy-Produkt von n=1 (−1)n / n
mit sich selbst divergiert.
1.17.9 (Theoriefrage 41*). Zeigen Sie, dass das Produkt einer absolut konvergenten
Reihe mit einer Reihe, die gegen 0 konvergiert, absolut gegen 0 konvergiert. Zeigen Sie, dass
dies auch gilt, wenn die zweite Reihe gegen eine andere Zahl als 0 konvergiert.
1.18. DIE EXPONENTIALREIHE
39
1.18. Die Exponentialreihe
Als Konvention definieren wir 00 = 1 und 0! = 1.
Definition 1.18.1. Die Exponentialfunktion ist definiert für alle z ∈ C als
exp(z) =
∞
X
zn
n!
n=0
Satz 1.18.2. Es konvergiert exp(z) für alle komplexen z, es ist
(1) exp(0) = 1
und für alle z, w ∈ C gilt
(2) exp(z + w) = exp(z) exp(w),
(3) exp(z) 6= 0.
Für alle x, y ∈ R ist
(4) exp(x) > 0,
(5) x < y ⇐⇒ exp(x) < exp(y).
Außerdem ist
(6) lim exp(n) = ∞ und lim exp(−n) = 0.
n→∞
n→∞
Beweis. Aus der Definition von exp(z) folgt unmittelbar exp(0) = 1. Nach dem Quotientenkriterium ist exp(z) für alle komplexen z absolut konvergent, denn
lim sup
n→∞
z
z n+1 n!
= lim sup
= 0.
(n + 1)!z n
(n
+
1)
n→∞
Nach Satz 1.17.4 konvergiert daher das Produkt exp(z) exp(w) dieser Reihen und es ist
n
∞ X
∞
∞
X
X
z k wn−k
z n X wn
=
n! n=0 n!
k!(n − k)!
n=0 k=0
n=0
∞
n
∞
X 1 X n
X
(z + w)n
=
z k wn−k =
= exp(z + w).
n!
k
n!
n=0
n=0
exp(z) exp(w) =
k=0
Aus exp(z) exp(−z) = exp(z − z) = exp(0) = 1 folgt
exp(−z) =
1
exp(z)
und exp(z) 6= 0 für alle komplexen z. Für alle reelle Zahlen x folgt exp(x) > 0.
Wenn x > 0, folgt aus Definition 1.18.1, dass exp(x) > 1 ist. Wenn x, y ∈ R und x < y,
dann ist y = x + h und exp(y) = exp(x + h) = exp(x) exp(h), wobei exp(h) > 1 wegen h > 0.
Also ist exp(y) > exp(x).
Für n ∈ N ist nach Definition 1.18.1 exp(n) > 1 + n und somit limn→∞ exp(n) = ∞.
Wegen exp(−n) exp(n) = 1 folgt limn→∞ exp(−n) = 0.
Definition 1.18.3. Die Eulersche Zahl ist definiert als e = exp(1).
Satz 1.18.4.
1
lim 1 +
n
n
= e.
Beweis. Nach dem Binomialsatz ist
n X
n n
n
X
X
1
n
1
nn−1
n − (k − 1) 1
1
1+
=
=
.
.
.
≤
= e.
n−k
n
k n
n n
n
k!
k!
k=0
k=0
k=0
40
1. ZAHLEN UND FOLGEN
n
Daraus folgt lim sup 1 + n1 ≤ e. Andererseits ist für m ≤ n
n X
m m
X
n 1
nn−1
n − (k − 1) 1
1
≥
=
...
.
1+
n
k nk
n n
n
k!
k=0
k=0
Wenn wir in der letzten Summe m konstant und n gegen ∞ gehen lassen, strebt diese Summe
gegen
m
X
1
.
k!
k=0
Also ist
n X
∞
1
1
lim inf 1 +
≥
= e.
n→∞
n
k!
k=0
Das heißt
lim inf 1 +
1
n
n
n
1
≥ e ≥ lim sup 1 +
,
n
woraus die Aussage folgt.
Beispiel 1.18.5 (Übungsbeispiel 34). Sind folgende Reihen konvergent?
!n
∞
∞
X
X
X n 2n
(−1)k
(1)
(2)
k!
n+1
n=0
k=0
1.18.6 (Theoriefrage 42). Wie ist die Exponentialreihe exp(z) definiert? Zeigen Sie
exp(z) exp(w) = exp(z + w) für alle z, w ∈ C und exp(x) > 0 für alle x ∈ R.
n P∞ 1
1.18.7 (Theoriefrage 43). Zeigen Sie lim 1 + n1 = n=0 n!
.
KAPITEL 2
Stetigkeit
2.1. Metrische Räume
Definition 2.1.1. Wenn X eine Menge und d eine Abbildung X × X → R ist, dann
heißt das Paar (X, d) metrischer Raum, wenn für alle x, y und z gilt:
(1) d(x, y) > 0 wenn x 6= y und d(x, x) = 0 (Definitheit),
(2) d(x, y) = d(y, x) (Symmetrie),
(3) d(x, y) + d(y, z) ≥ d(x, z) (Dreiecksungleichung).
Die Abbildung d heißt Metrik.
Beispiel 2.1.2. Alle bisher kennengelernten Zahlenbereiche N, Z, Q, R, C sowie alle
Teilmengen davon sind metrische Räume. Auch R2 = R × R ist ein metrischer Raum, z.B.
mit
p
d1 ((x1 , y1 ), (x2 , y2 )) = (x2 − x1 )2 + (y2 − y1 )2 ,
d2 ((x1 , y1 ), (x2 , y2 )) = |x2 − x1 | + |y2 − y1 | oder
d3 ((x1 , y1 ), (x2 , y2 )) = max{|x2 − x1 |, |y2 − y1 |}.
In der Ebene ist d1 der direkte euklidische Abstand und d2 ist die Länge eines kürzesten
Weges, der sich in waagrechte und senkrechte Teilabschnitte zerlegen lässt.
Definition 2.1.3. Wenn x ∈ X und ε > 0, dann heißt
Uε (x) = {y ∈ X | d(x, y) < ε}
offene ε-Umgebung von x im metrischen Raum (X, d). Ein Punkt x heißt innerer Punkt
einer Menge M ⊂ X und M heißt Umgebung von x, wenn M eine offene ε-Umgebung von x
enthält. Die Menge M heißt offen, wenn sie nur aus inneren Punkten besteht, und sie heißt
abgeschlossen, wenn ihr Komplement X \ M offen ist.
Beispiel 2.1.4. Offene Intervalle in Q bzw. in R sind offene Mengen, abgeschlossene
Intervalle sind abgeschlossene Mengen in Q bzw. in R. Die offene Kreisscheibe
{(x, y) ∈ R2 | (x − a)2 + (y − b)2 < r2 }
mit Mittelpunkt (a, b) und Radius r ist eine offene Teilmenge von (R2 , d1 ) mit d1 aus Beispiel 2.1.2, aber auch bezüglich der anderen Abstandsfunktionen d2 oder d3 .
Beispiel 2.1.5 (Übungsbeispiel 35). Ist (R2 , d) ein metrischer Raum für
d((x1 , y1 ), (x2 , y2 )) = (x2 − x1 )2 + (y2 − y1 )2 ?
2.2. Stetigkeit in metrischen Räumen
Definition 2.2.1. Wenn f eine Funktion X → Y ist, bezeichnet
f −1 (A) = {x ∈ X | f (x) ∈ A}
das Urbild oder das f -Urbild der Menge A.
Es seien (X1 , d1 ) und (X2 , d2 ) metrische Räume und x0 ∈ X1 . Eine Funktion X1 → X2
heißt stetig in x0 , wenn das Urbild jeder Umgebung von f (x0 ) eine Umgebung von x0 ist.
41
42
2. STETIGKEIT
Die Funktion heißt stetig auf einer Menge, wenn sie in jedem Punkt der Menge stetig ist,
und sie heißt stetig, wenn sie auf dem ganzen Definitionsbereich stetig ist.
Eine Funktion ist unstetig an einer Stelle, wenn sie an dieser Stelle definiert, aber nicht
stetig ist. Eine solche Stelle heißt Unstetigkeitsstelle.
Beispiel 2.2.2. Es seien f1 , f2 , f3 , f4 : R → R Funktionen mit f1 (x) = x, f2 (x) = 1
f3 (x) = |x| und f4 (x) = sign(x). Die Funktionen f1 , f2 , f3 sind auf ganz R stetig, f4 ist auf
R \ {0} stetig, jedoch unstetig in 0.
Für x ∈ R und ein beliebiges ε > 0 betrachten wir die Urbilder der Umgebungen
(fi (x) − ε, fi (x) + ε).
Für i = 1 ist das Urbild von (f1 (x) − ε, f1 (x) + ε) = (x − ε, x + ε) gleich
f1−1 ((x − ε, x + ε)) = (x − ε, x + ε)
und daher eine Umgebung von x. Also ist f1 stetig in jeder Stelle x.
Für i = 2 ist das Urbild von (f2 (x) − ε, f2 (x) + ε) = (1 − ε, 1 + ε) gleich R und somit
eine Umgebung von jedem Punkt x. Also ist f2 stetig auf R.
Das f3 -Urbild von (f3 (x) − ε, f3 (x) + ε) für x 6= 0 ist (−x − ε, −x + ε) ∪ (x − ε, x + ε) für
ε < |x|. Für x = 0 ist f3 (0) = 0 und das f3 -Urbild von (−ε, ε) ist wieder (−ε, ε) und somit
eine Umgebung von 0.
Die Funktion f4 ist auf R+ und auf R− stetig, weil sie dort konstant ist. Für x < 0
ist das Urbild jeder Umgebung von f4 (x) = −1 gleich R− und wenn x > 0 ist das Urbild
jeder Umgebung von f4 (x) = 1 gleich R+ . Es ist (−1/2, 1/2) eine Umgebung von f4 (0) = 0,
jedoch ist das Urbild dieser Umgebung {0} und somit keine Umgebung von 0. Daher ist 0
eine Unstetigkeitsstelle von f4 .
Die Funktion f : R \ {0} → R mit f (x) = 1/x ist auf ihrem ganzen Definitionsbereich
stetig. Es wäre falsch zu sagen, dass die Funktion in 0 unstetig ist, weil sie dort nicht definiert
ist.
f1 (x)
f1 (x) = x
f2 (x)
f2 (x) = c
x
f3 (x)
x
f4 (x)
f3 (x) = |x|
f4 (x) = sign(x)
x
Abbildung 1. Stetige und unstetige Funktionen
x
2.2. STETIGKEIT IN METRISCHEN RÄUMEN
43
Definition 2.2.3. Ein Punkt x ∈ X in einem metrischen Raum (X, dX ) heißt isoliert,
wenn er kein Häufungspunkt von X ist. In so einem Fall gibt es eine Umgebung von x, die nur
endlich viele Elemente hat. Wenn dies der Fall ist, dann gibt es ε > 0, sodass Uε (x) = {x}
ist. Anders formuliert: Der Punkt x ist genau dann isoliert, wenn {x} eine Umgebung von
x ist.
In einem isolierten Punkt p ist jede Funktion stetig, denn das Urbild jeder Umgebung
von f (p) enthält p und ist daher eine Umgebung von p. Im Folgenden setzen wir für alle
metrischen Räume voraus, dass sie keine isolierten Punkte haben. Solche metrischen Räume
werden auch perfekt genannt.
Definition 2.2.4. Es seien (X, dX ) und (Y, dY ) metrische Räume, D ⊂ X, f : D → Y
eine Abbildung, p ein Häufungspunkt von D und q ∈ Y . Wir schreiben
lim f (x) = q
x→p
oder f (x) → q für x → p, falls es für alle ε > 0 ein δ > 0 gibt, sodass für alle x ∈ D mit
0 < dX (x, p) < δ die Ungleichung dY (f (x), q) < ε erfüllt ist.
Anders formuliert: Wir schreiben limx→p f (x) = q, wenn es für jede Umgebung V in Y
von q eine Umgebung U von p in X gibt, sodass f ((U ∩ D) \ {p}) ⊂ V ist.
Anschaulich formuliert ist der Limes einer Funktion an einer Stelle der Wert, gegen den
sich die Funktion annähert, wobei die Stelle p selbst außer Acht gelassen wird. Es kann p
sogar außerhalb des Definitionsbereichs D liegen.
Beispiel 2.2.5. Es sei f : R → R gegeben durch
(
1 wenn x = 0,
f (x) =
0 wenn x 6= 0.
Dann existiert limx→0 f (x) und ist gleich 0 und somit ungleich dem Funktionswert f (0) = 1.
f (x)
x
Abbildung 2. Funktion mit limx→0 f (x) 6= f (0)
Die reelle Vorzeichenfunktion f mit f (x) = sign(x) aus Beispiel 2.2.2 hat in 0 jedoch
keinen Limes.
Gelegentlich wird der Funktionenlimes auch anders definiert und die Stelle selbst berücksichtigt. In so einem Fall wird also verlangt, dass der Limes mit dem Funktionswert an der
betreffenden Stelle übereinstimmt.
Satz 2.2.6. Es seien (X, dX ) und (Y, dY ) metrische Räume ohne isolierte Punkte, f
eine Abbildung X → Y . Dann sind folgende Aussagen äquivalent:
(1) Die Funktion f ist stetig in p. Das heißt, für jede Umgebung U von f (p) ist f −1 (U )
eine Umgebung von p.
(2) Für alle ε > 0 gibt es ein δ > 0, sodass dY (f (x), f (p)) < ε ist für alle x mit
dX (x, p) < δ (“ε-δ-Definition” der Stetigkeit).
(3) Es ist limx→p f (x) = f (p).
44
2. STETIGKEIT
(4) Für jede Folge (xn ) in X mit lim xn = p und xn 6= p ist lim f (xn ) = f (p). (Folgenkriterium)
Beweis. Wenn (1) erfüllt ist, dann ist für jedes ε > 0 das Urbild f −1 (Uε (f (p)) eine Umgebung von p. Folglich gibt es ein δ > 0 mit Uδ (p) ⊂ f −1 (Uε (f (p)). Daraus folgt
f (Uδ (p)) ⊂ Uε (f (p)) und es ist dY (f (x), f (p)) < ε für alle x mit dX (x, p) < δ. Also gilt
(1) ⇒ (2).
Wenn (2) erfüllt ist, gibt es für alle ε > 0 ein δ > 0 mit f (Uδ (p)) ⊂ Uε (f (p)). Das
bedeutet nach Definition 2.2.4, dass limx→p f (x) = f (p) ist, also folgt Bedingung (3).
Angenommen es gilt (3) und lim xn = p. Dann sei Uε (f (p)) eine beliebig kleine Umgebung von f (p). Nach Definition 2.2.4 gibt es δ > 0, sodass
f (Uδ (p)) ⊂ Uε (f (p)).
Wegen lim xn = p liegt die Folge (xn ) ab einer Stelle in Uδ (p) und daher die Folge (f (xn )) ab
einer Stelle in f (Uδ (p)) und somit in Uε (f (p)). Das bedeutet, dass (f (xn )) in jeder beliebig
kleinen Umgebung von f (p) ab einer Stelle liegt und gegen f (p) konvergiert, womit (3)⇒
(4) gezeigt ist.
Um die Implikation (4) ⇒ (1) zu zeigen, nehmen wir indirekt an, dass (4) erfüllt und
(1) nicht erfüllt ist. Dann gibt es eine Umgebung Uε (f (p)) von f (p), deren Urbild keine
Umgebung von p ist. Das heißt, es liegen Punkte x beliebig nahe bei p mit x ∈
/ f −1 (Uε (f (p)))
bzw. f (x) ∈
/ Uε (f (p)). Daher existieren xn mit |xn − p| < 1/n und f (xn ) ∈
/ Uε (f (p)). Somit
ist lim xn = p, aber (f (xn )) konvergiert nicht gegen f (p). Das ist ein Widerspruch, folglich
muss (1) doch gelten.
Damit haben wir die Implikationskette (1) ⇒ (2) ⇒ (3) ⇒ (4) ⇒ (1) bewiesen. Das
bedeutet, die vier Aussagen sind äquivalent.
Korollar 2.2.7. Es seien f und g komplexwertige Abbildungen auf einem metrischen
Raum, die stetig an einer Stelle p sind. Dann sind auch die Funktionen f + g und f · g stetig
in p und es ist limx→p (f (x)+g(x)) = limx→p (f +g)(x) bzw. limx→p (f (x)·g(x)) = limx→p (f ·
g)(x). Wenn g(x) 6= 0 für alle x, dann ist auch f /g stetig in p und limx→p (f (x)/g(x)) =
limx→p (f /g)(x).
Beweis. Es sei f stetig in p und (xn ) eine beliebige Folge mit lim xn = p. Dann ist
nach Satz 2.2.6.4 lim f (xn ) = f (p) und lim g(xn ) = g(p). Mit Satz 1.8.5 folgt
lim(f + g)(xn ) = lim(f (xn ) + g(xn )) = lim f (xn ) + lim g(xn ) = f (p) + g(p) = (f + g)(p).
Daher ist f +g nach Satz 2.2.6 stetig in p. Dass f ·g und f /g stetig in p sind, folgt analog. Lemma 2.2.8. Für alle N ∈ N und z ∈ C mit |z| ≤
ez =
N
X
zn
+ RN +1 (z)
n!
n=0
Beweis.
RN +1 (z) =
mit
N +2
2
ist
|RN +1 | ≤ 2
|z|N +1
.
(N + 1)!
N
∞
∞
X
X
zn X zn
zn
−
=
,
n! n=0 n!
n!
n=0
n=N +1
|RN +1 (z)| ≤
∞
X
|z|n
|z|N +1 |z|
|z|2
=
1+
+
+...
n!
(N + 1)!
N + 2 (N + 2)(N + 3)
n=N +1
|
{z
}
|z|2
≤ (N +2)2
k
∞ |z|N +1 X
|z|
≤
(N + 1)!
N +2
k=0
≤
|z|≤ N2+2
∞ k
|z|N +1 X 1
|z|N +1
=2·
.
(N + 1)!
2
(N + 1)!
k=0
2.2. STETIGKEIT IN METRISCHEN RÄUMEN
45
Lemma 2.2.9. Die Exponentialfunktion ist stetig auf ganz C.
Beweis. Es sei p ∈ C und ε > 0. Dann ist
|ez − ep | = |ep ez−p − ep | = |ep | · |ez−p − 1|.
Nach Lemma 2.2.8 ist für N = 0
|ez−p | ≤ 1 + 2|z − p| und |ep−z | ≤ 1 + 2|z − p| woraus
|e|z−p| | ≤ 1 + 2|z − p|
folgt. Wegen e|z−p| ≥ 1 ist
|e|z−p| | − 1 = |e|z−p| − 1| ≤ 2|z − p|.
Insgesamt erhalten wir
|ez − ep | = |ep | · |ez−p − 1| ≤ |ep | · 2|z − p|.
Daher ist für alle z mit |z − p| < ε/(2|ep |) =: δ der Betrag |ez − ep | < ε. Also ist die
Exponentialfunktion nach Satz 2.2.6.2 stetig.
Satz 2.2.10. Es seien (X, dX ) und (Y, dY ) metrische Räume und f : X → Y , dann ist
f genau dann stetig, wenn das Urbild jeder offenen Menge offen ist.
Beweis. Wenn das Urbild jeder offenen Menge offen ist, ist das Urbild einer offenen
Umgebung von f (p) offen und somit eine Umgebung von p. Also ist f stetig in p.
Es sei f stetig und O eine offene Menge in Y . Für jedes p ∈ X mit f (p) ∈ O gibt es eine
offene Umgebung U (p) mit f (U (p)) ⊂ O. Das Urbild f −1 (O) ist die Vereinigung all dieser
offenen Umgebungen und somit offen.
Satz 2.2.11. Es seien (X, dX ), (Y, dY ) und (Z, dZ ) metrische Räume, g : X → Y und
f : g(X) → Z. Wenn g stetig in p und f stetig in g(p) ist, dann ist auch f ◦ g stetig in p.
Beweis. Es sei p ∈ X und ε > 0 beliebig. Weil f stetig an der Stelle g(p) ist, gibt es
ein δ > 0, sodass
f (Uδ (g(p))) ⊂ Uε (f (g(p))) = Uε (f ◦ g(p)) .
Weil g stetig in p ist, gibt es ein η > 0, sodass
g (Uη (p)) ⊂ Uδ (g(p)) .
Daraus folgt
f ◦ g (Uη (p)) ⊂ Uε (f ◦ g(p)) .
Das bedeutet, dass f ◦ g stetig in p ist.
Beispiel 2.2.12 (Übungsbeispiel 36). Es seien f, f1 , f2 , f3 : R → R reelle Funktionen
mit f1 (x) = f (−x), f2 (x) = f (2x) und f3 (x) = (x + 2). Wie sehen die Graphen von f1 , f2
und f3 im Vergleich zu jenem von f aus? Veranschaulichen Sie durch Skizzen.
Beispiel 2.2.13 (Übungsbeispiel 37). Auf welcher Menge ist die Funktion f : R → R


1, falls x < 0,
f (x) = x, falls 0 ≤ x ≤ 1,

 x
e , falls x > 1,
stetig? Begründen Sie, an welchen Stellen die Funktion nicht stetig ist, indem Sie von einer
Umgebung des Bildpunktes zeigen, dass sie die Definition der Stetigkeit nicht erfüllt.
mit
Beispiel 2.2.14 (Übungsbeispiel 38). Es sei f : R → R mit
(
0, wenn x < 0,
f (x) =
.
1, für x ≥ 0.
(1) Finden Sie eine Umgebung von 1, deren f -Urbild keine um Umgebung von 0 ist.
46
2. STETIGKEIT
(2) Finden Sie ein ε > 0, für das es kein δ > 0 mit
|x − 0| < δ =⇒ |f (x) − f (0)| < ε
gibt.
(3) Finden Sie ein Folge (xn )n∈N in R \ {0} mit limn→∞ xn = 0, für die (f (xn )) nicht
gegen f (0) konvergiert.
Beispiel 2.2.15 (Übungsbeispiel 39). Zeigen Sie, dass e zwischen 2 und 3 liegt. Sie
können dafür die Restgliedabschätzung der Exponentialreihe verwenden.
2.2.16 (Theoriefrage 44). Was ist ein metrischer Raum? Wie ist Stetigkeit einer Funktion
zwischen metrischen Räumen an einer Stelle definiert? Zeigen Sie von einfachen gegebenen
Funktionen (ähnlich wie in Beispiel 2.2.2), dass sie unstetig bzw. stetig an einer Stelle sind.
2.2.17 (Theoriefrage 45). Es sei f eine Funktion zwischen metrischen Räumen. Wie
lautet die sogenannte ε-δ-Definition der Stetigkeit an einer Stelle? Definieren Sie den Limes
einer Funktion. Zeigen Sie, dass limx→p f (x) = f (p) ist, wenn f in p die ε-δ-Definition der
Stetigkeit erfüllt.
2.2.18 (Theoriefrage 46). Wie lautet das Folgenkriterium für die Stetigkeit von Funktionen zwischen metrischen Räumen? Zeigen Sie, dass eine Funktion stetig ist, wenn sie das
Folgenkriterium erfüllt.
2.2.19 (Theoriefrage 47*). Zeigen Sie eine Restgliedabschätzung für die Exponentialreihe
und leiten Sie daraus ab, dass die komplexe Exponentialfunktion stetig ist.
2.2.20 (Theoriefrage 48). Zeigen sie, dass eine Funktion zwischen metrischen Räumen
genau dann stetig ist, wenn das Urbild jeder offenen Menge offen ist.
2.2.21 (Theoriefrage 49). Welche Resultate können verwendet werden um zu zeigen,
dass die Summe zweier stetiger Funktionen stetig ist? Zeigen sie, dass die Zusammensetzung
stetiger Funktionen stetig ist.
2.3. Stetigkeit reeller Funktionen
Zwei Eigenschaften zeichnen die reellen Zahlen gegenüber allgemeinen metrischen Räumen aus: Vollständigkeit und lineare Ordnung. In diesem Kapitel behandeln wir Aussagen über
reelle Funktionen, bei denen diese beiden Eigenschaften eine zentrale Rolle spielen.
Definition 2.3.1. Es sei D ⊂ R, p ein Häufungspunkt von D ∩ (p, ∞) und f : D → R.
Dann schreiben wir
lim f (x) = q
x→p+
wenn für jede Folge (xn ) in D ∩ (p, ∞) die Folge (f (xn )) gegen q konvergiert und wir
nennen q den rechtsseitigen Grenzwert von f in p. Den linksseitigen Grenzwert von f in p
limx→p− f (x) = q definieren wir analog für Folgen in D ∩ (−∞, p).
Wenn D unbeschränkt nach oben ist, ist der Grenzwert von f in Unendlich
lim f (x) = q,
x→∞
wenn für jede Folge in D, die bestimmt gegen ∞ divergiert, die Folge f (xn ) gegen q konvergiert. Analog definieren wir
lim f (x) = q,
x→−∞
über Folgen, die bestimmt gegen −∞ divergieren.
Wenn die Folgen f (xn ) bestimmt divergieren, bezeichnen wir die entsprechenden uneigentlichen Limiten mit
lim ±∞ und
lim ±∞.
x→p
x→±∞
2.3. STETIGKEIT REELLER FUNKTIONEN
47
Für eine reelle Funktion existiert limx→p f (x) genau dann, wenn limx→p+ f (x) und
limx→p− f (x) existieren und limx→p+ f (x) = limx→p− f (x) ist. Die Funktion f ist genau
dann stetig in p, wenn limx→0+ f (x) = limx→0− f (x) = f (p) ist.
Beispiel 2.3.2.
(1) Es ist limx→0+ sign(x) = 1 und limx→0− sign(x) = −1.
(2) Die Abbildung x 7→ 1/x ist auf R \ {0} definiert und es ist
1
= ∞,
x→0+ x
lim
1
= −∞ und
x→0− x
lim
1
1
= lim
= 0.
x→∞ x
x→−∞ x
lim
(3) Analog zu Beispiel 1.8.11 seien a0 , a1 , . . . , ak , b0 , b1 , . . . , bl Zahlen mit ak 6= 0, bl 6=
0, und f : D → R eine Funktion mit
f (x) =
a0 + a1 x + a2 x2 + . . . + ak xk
,
b0 + b1 x + b2 x2 + . . . bl xl
wobei D die Menge der reellen Zahlen ist, für die obiger Nenner nicht Null ist.
Solche Funktionen werden auch rationale Funktionen genannt. Dann ist
 ak
falls k = l,

bl ,


0,
falls k < l,
lim f (x) =
x→∞

∞,
falls
l < k und abkl > 0,



−∞, falls l < k und abkl < 0.
Die Fälle k = l und k < l folgen aus Beispiel 1.8.11. Wenn l < k, erhalten wir
f (x) = xk−l
a0 x−k + a1 x1−k + a2 x2−k + . . . + ak
.
b0 x−l + b1 x1−l + b2 x2−l + . . . bl
Der Grenzwertsatz 1.8.5 für Folgen impliziert, dass der letztere Bruch gegen ak /bl
strebt. Angenommen, es ist ak /bl > 0, dann gibt es ein x0 , sodass f (x) für x > x0
in der Umgebung (ak /(2bl ), ∞) von ak /bl liegt, wobei c = ak /(2bl ) > 0 ist. Also ist
f (x) > cxk−l ≥ cx für x ≥ x0 . Für x → ∞ strebt cx → ∞ und somit f (x) → ∞.
Der Fall ak /bl wird analog gezeigt.
Satz 2.3.3 (Zwischenwertsatz). Es sei f : [a, b] → R eine stetige Abbildung.
Wenn f (a) ≤ f (b), dann gibt es für alle q ∈ [f (a), f (b)] ein p ∈ [a, b] mit f (p) = q.
Falls f (b) ≤ f (a), dann gibt es für alle q ∈ [f (b), f (a)] ein p ∈ [a, b] mit f (p) = q.
Beweis. Wir definieren eine Intervallschachtelung rekursiv durch I0 = [a, b] und wenn
In = [an , bn ], dann setzen wir
(
n
n
], wenn f bn +a
≥ q und
[an , bn +a
2
2
In+1 = [an+1 , bn+1 ] = bn +an
bn +an
[ 2 , bn ], wenn f
< q.
2
Für alle n ∈ N ist somit f (an ) ≤ q ≤ f (bn ). Es sei p die reelle Zahl, die durch die Intervallschachtelung definiert ist. Dann ist
lim(an ) = lim(bn ) = p.
Weil f stetig ist, gilt
lim(f (an )) = lim(f (bn )) = f (p).
Nach dem Sandwich Theorem 1.8.7 folgt aus f (an ) ≤ q ≤ f (bn ), dass f (p) = q ist und somit
die erste Aussage des Satzes.
Wenn f (b) ≤ f (a), ist −f (a) ≤ −f (b) und die bereits bewiesene Aussage angewendet
auf −f liefert zu jedem −q ∈ [−f (a), −f (b)] ein p ∈ [a, b] mit −f (p) = −q und somit
f (p) = q.
48
2. STETIGKEIT
Beispiel 2.3.4. Jede reelle Polynomfunktion mit ungeradem Grad hat eine Nullstelle.
Formal: Es sei f : R → R eine Polynomfunktion ungeraden Grades, also
f (x) = c2n+1 x2n+1 + . . . + c0
mit c2n+1 6= 0 und n ≥ 0. Nach Beispiel 2.3.2.3 ist limn→∞ f (x) = ∞ und limn→−∞ f (x) =
−∞, wenn c2n+1 > 0 bzw. limn→∞ f (x) = −∞ und limn→−∞ f (x) = ∞, wenn c2n+1 < 0.
Also gibt es ein Intervall [a, b] mit f (a) ≤ 0 ≤ f (b) oder ein Intervall [a, b] mit f (b) ≤ 0 ≤
f (a). Nach dem Zwischenwertsatz existiert ein p mit f (p) = 0.
Definition 2.3.5. Eine reelle Funktion f : D → R heißt beschränkt, wenn die Bildmenge
f (D) beschränkt ist.
Satz 2.3.6. Eine stetige Funktion auf einem abgeschlossenen Intervall ist beschränkt
und nimmt Supremum und Infimum ihres Wertebereichs an (und besitzt daher Minimum und
Maximum). Anders ausgedrückt: Wenn f : [a, b] → R stetig ist, dann gibt es p1 , p2 ∈ [a, b],
sodass f (p1 ) ≤ f (x) ≤ f (p2 ) für alle x ∈ [a, b].
Beweis. Wir definieren q2 = sup f ([a, b]), wobei q2 ∈ R∪{∞}. Es sei (xn ) eine beliebige
(nicht notwendigerweise konvergente) Folge in [a, b] mit lim f (xn ) = q2 . Nach dem Satz
von Bolzano-Weierstraß 1.13.5 gibt es eine konvergente Teilfolge (xnk ) und es sei p2 =
limk→∞ xnk . Weil f stetig ist, ist limk→∞ f (xnk ) = f (p2 ) = q2 , also ist q2 ein reelle Zahl
und f (x) ≤ f (p2 ) für alle x ∈ [a, b].
Beispiel 2.3.7. Die folgenden Beispiele zeigen, dass Satz 2.3.6 im Allgemeinen nicht
gilt, wenn eine der Voraussetzungen verletzt ist.
(1) Auf dem halboffenen Intervall (0, 1] ist f1 mit f1 (x) = x zwar beschränkt, es hat
aber die Bildmenge f1 ((0, 1]) kein Minimum. Die Funktion f2 : x 7→ 1/x ist auf
diesem Intervall stetig, aber trotzdem unbeschränkt.
(2) Die Funktion f3 : [0, 1] → R mit f3 (x) = sign(x) − x ist zwar auf einem abgeschlossenen Intervall definiert und beschränkt, es ist sup f3 ([0, 1]) = 1, aber es gibt kein
p ∈ [0, 1] mit f (p) = 1. Die Funktion f3 ist nicht stetig in 0.
Korollar 2.3.8. Das stetige Bild eines Intervalls ist ein Intervall. Das stetige Bild eines
abgeschlossenen Intervalls ist ein abgeschlossenes Intervall.
Anders formuliert: Wenn I ein Intervall ist und f : I → R stetig ist, dann ist f (I) ein
Intervall. Ist I abgeschlossen, dann ist auch f (I) abgeschlossen.
Beweis. Dass das Bild f (I) einer stetigen Funktion f eines Intervalls I ein Intervall
ist, folgt aus dem Zwischenwertsatz 2.3.3: Angenommen f (I) wäre kein Intervall, dann gäbe
es y1 < q < y2 mit y1 , y2 ∈ f (I) und q 6∈ f (I). Nach dem Zwischenwertsatz muss es aber ein
p ∈ I geben mit f (p) = q. Man beachte, dass Intervalle auch einelementig oder unbeschränkt
sein können.
Wenn I abgeschlossen und f stetig ist, dann ist nach Satz 2.3.6 f (I) = [f (p1 ), f (p2 )]
mit f (p1 ) ≤ f (x) ≤ f (p2 ) für alle x ∈ I.
Beispiel 2.3.9. Der zweite Teil von Korollar 2.3.8 gilt nur für abgeschlossene Intervalle.
Das stetige Bild eines offenen Intervalls kann offen oder abgeschlossen sein. Für f1 mit
f1 (x) = x ist jedes Bild eines offenen Intervalls offen.
Wenn f2 (x) = c ist das Bild jedes Intervalls {c} = [c, c] und somit ein abgeschlossenes
Intervall.
Es sei der Graph f3 : (−2, 2) → R stückweise linear zwischen den Punkten mit den
Koordinaten (−2, 0), (−1, 1), (1, −1), (2, 0), also


für − 2 < x ≤ −1,
x + 2
f3 (x) = −x
für − 1 < x ≤ 1,


x−2
für 1 < x < 2.
2.4. STETIGE UMKEHRABBILDUNGEN
49
Dann ist f3 stetig und f3 ((−2, 2)) = [−1, 1].
Beispiel 2.3.10 (Übungsbeispiel 40). Es sei f : R \ {3} → R mit
2x − 1
f (x) =
.
3−x
Bestimmen Sie
lim f (x),
x→3+
lim f (x),
x→3−
lim f (x)
x→∞
und
lim f (x).
x→−∞
2.3.11 (Theoriefrage 50). Geben Sie ein allgemeines Kriterium, um limx→∞ f (x) für
rationale reelle Funktion zu bestimmen, und wenden Sie dieses für konkrete Beispiele an.
2.3.12 (Theoriefrage 51). Formulieren und beweisen Sie den Zwischenwertsatz.
2.3.13 (Theoriefrage 52). Zeigen Sie, dass eine stetige reelle Funktion auf einem abgeschlossenen Intervall Maximum und Minimum annimmt. Leiten Sie daraus mithilfe des
Zwischenwertsatzes ab, dass das stetige Bild eines abgeschlossenen Intervalls wieder ein abgeschlossenes Intervall ist.
2.4. Stetige Umkehrabbildungen
Definition 2.4.1. Für eine Menge A bezeichnen wir mit idA die Identität A → A mit
x 7→ x. Wenn f : A → B, g : f (A) → A und g ◦f = idA , dann nennen wir g Umkehrabbildung
von f und schreiben f −1 statt g.
Eine Abbildung f hat genau dann eine Umkehrabbildung, wenn sie injektiv ist. Wenn
f : A → B injektiv ist, dann ist f : A → f (A) bijektiv. Die Umkehrabbildung f −1 ist
ebenfalls bijektiv. Die Abbildung f ist auch die Umkehrabbildung von f −1 . Es ist f −1 ◦ f =
idA und f ◦ f −1 = idf (A) .
Satz 2.4.2. Eine stetige Abbildung auf einem Intervall ist genau dann injektiv, wenn
sie streng monoton ist.
Beweis. Jede Funktion f : [a, b] → R, die streng monoton ist, ist injektiv. Angenommen
f ist injektiv und stetig. Wir nehmen indirekt an, f sei nicht streng monoton. Dann gibt
es x1 , x2 , x3 ∈ [a, b], x1 < x2 < x3 mit f (x1 ) ≤ f (x2 ) und f (x2 ) ≥ f (x3 ) oder mit f (x1 ) ≥
f (x2 ) und f (x2 ) ≤ f (x3 ). Im ersteren Fall gibt es für jedes q ∈ [f (x1 ), f (x2 )] ∩ [f (x3 ), f (x2 )]
Punkte p1 , p2 mit x1 < p1 < x2 < p2 < x3 und f (p1 ) = f (p2 ) = q, im Widerspruch zur
Injektivität von f . Im zweiten Fall folgt Gleiches für q ∈ [f (x2 ), f (x1 )] ∩ [f (x2 ), f (x3 )]. Lemma 2.4.3. Die Umkehrfunktion einer streng monoton steigenden (bzw. fallenden)
reellen Funktion ist streng monoton steigend (bzw. fallend).
Beweis. Es sei f : D → R injektiv. Streng steigend zu sein, bedeutet für f
x1 < x2 ⇐⇒ f (x1 ) < f (x2 ).
Für f −1 und y1 , y2 ∈ f (D) mit y1 = f (x1 ) und y2 = f (x2 ) folgt
f −1 (y1 ) < f −1 (y2 ) ⇐⇒ y1 < y2 .
Also ist auf f −1 streng monoton steigend. Streng fallend zu sein, bedeutet für f
x1 < x2 ⇐⇒ f (x1 ) > f (x2 ),
beziehungsweise
f −1 (y1 ) < f −1 (y2 ) ⇐⇒ y1 > y2 .
Satz 2.4.4. Existiert die Umkehrabbildung einer stetigen Funktion auf einem Intervall,
dann ist sie stetig.
50
2. STETIGKEIT
Beweis. Nach Satz 2.4.2 sind f und f −1 streng monoton. Wir nehmen an, f ist steigend
auf dem Intervall I, dies gilt nach Lemma 2.4.3 auch für f −1 auf f (I). Es sei q = f (p) ein
innerer Punkt von f (I) und ε > 0 beliebig mit (p − ε, p + ε) ⊂ I. Wegen der Monotonie ist
f (p − ε) < f (p) = q < f (p + ε).
Es gibt ein δ > 0 mit
f (p − ε) < q − δ < q + δ < f (p + ε)
Uδ (q) ⊂ f (Uε (p)) und f
−1
bzw.
(Uδ (q)) ⊂ Uε (p). Wenn f fallend ist, läuft der Beweis analog. Beispiel 2.4.5. Die reelle Exponentialfunktion ist nach Lemma 2.2.9 stetig und nach
Satz 1.18.2.5 streng monoton. Ihre Umkehrfunktion bezeichnen wir mit log und nennen sie
(natürlichen) Logarithmus. Der Logarithmus ist nach den Sätzen 1.18.2.6 und 2.4.4 definiert
und stetig auf exp(R) = R+ . Aus Satz 1.18.2.2 folgt für x, y ∈ R
exp(log(x) + log(y)) = exp(log(x)) exp(log(y)) = xy
und folglich
log(x) + log(y) = log(xy).
n
Außerdem ist log(x ) = n log(x).
Definition 2.4.6. Für a ∈ R+ und x ∈ R definieren wir ax = ex log(a) .
Dach dieser Definition folgt unmittelbar log(ax ) = x log(a). Es ist ax eine Verallgemeinerung ganzzahliger Potenzen, denn für n ∈ N ist
n
an = elog(a
)
= en log(a) = elog(a)+···+log(a) = elog(a) · · · elog(a) = a · · · a.
2.4.7 (Theoriefrage 53). Zeigen Sie, dass eine stetige Abbildung auf einem Intervall
genau dann injektiv ist, wenn sie streng monoton ist.
2.4.8 (Theoriefrage 54). Zeigen Sie, dass eine Umkehrabbildung einer stetigen reellen
Funktion stetig ist.
2.4.9 (Theoriefrage 55). Wie ist der reelle Logarithmus definiert? Aus welchen Sätzen
können Sie ableiten, dass er stetig ist?
2.5. Limiten zu Exponentialfunktion und Logarithmus
Lemma 2.5.1.
(1) Für alle k ∈ N ist
ex
= ∞,
x→∞ xk
denn für x > 0 ist
∞
X
xn
xk+1
ex =
>
n!
(k + 1)!
n=0
xk
=0
x→∞ ex
lim
lim
und daher
Daraus folgt unmittelbar limx→∞
xk
ex
und
lim xk e1/x = ∞,
x→0+
ex
x
→∞
>
xk
(k + 1)!
für
x → ∞.
= 0. Für y = 1/x ist
ey
= ∞.
y→∞ y k
lim xk e1/x = lim
x→0+
(2) Es folgen
lim ex = ∞
x→∞
und
lim ex = 0,
x→−∞
aus dem entsprechenden Limes für ganzzahlige n statt reeller x, siehe Satz 1.18.2.6,
sowie aus der Monotonie und der Stetigkeit der Exponentionalfunktion (Satz 1.18.2.5,
Lemma 2.2.9). Für den Logarithmus (Beispiel 2.4.5) gilt daher
lim log(x) = ∞
x→∞
und
lim log(x) = −∞.
x→0+
2.6. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN
51
(3) Für alle α ∈ R+ ist
lim xα = 0
lim x−α = ∞.
und
x→0+
x→0+
Die erste Aussage folgt aus xα = eα log(x) und (2). Die zweite Aussage folgt aus der
ersten.
(4) Für alle α ∈ R+ ist
lim
x→∞
log(x)
=0
xα
lim xα log(x) = 0,
und
x→0+
denn
log(x)
1
log(x)
y/α
y
= lim α log(x) = lim y =
lim y = 0,
α
x→∞ e
x→∞ x
y→∞ e
α y→∞ e
wobei y = α log(x). Daraus folgt außerdem
lim
lim xα log(x) = lim
y→∞
x→0+
log(1/y)
log(y)
= lim − α = 0
α
y→∞
y
y
mit y = 1/x.
(5) Für alle x ∈ R ist
eh − 1
ex+h − ex
= 1 und lim
= ex .
h→0
h→0
h
h
Die Restgliedabschätzung 2.2.8 von eh für N = 1 mit |h| ≤ (N + 2)/2 = 3/2
bedeutet
|h|2
|eh − h − 1| ≤ 2
= h2
2!
und somit
h
h
e − 1
e − h − 1
=
≤ |h|,
−
1
h
h
woraus die erste Aussage folgt. Schließlich ist
lim
ex+h − ex
eh − 1
= ex lim
= ex .
h→0
h→0
h
h
lim
2.5.2 (Theoriefrage 56). Zeigen Sie limx→∞
0 für alle α ∈ R+ .
ex
xk
2.5.3 (Theoriefrage 57). Zeigen Sie limh→0
dabschätzung der Exponentialfunktion.
= ∞ für alle k ∈ N sowie limx→∞
eh −1
h
log(x)
xα
= 1 unter Verwendung der Restglie-
2.6. Trigonometrische Funktionen
Es ist
eix =
∞ n n
X
x2
x3
x4
x5
x6
x7
x8
x9
i x
= 1 + ix −
−i +
+i −
−i +
+ i − ···
n!
2
3!
4!
5!
6!
7!
8!
9!
n=0
Definition 2.6.1. Wir definieren Cosinus und Sinus als
∞
X
x2n
x2
x4
x6
x8
cos(x) = Re(eix ) =
(−1)n
=1−
+
−
+
− ···
(2n)!
2
4!
6!
8!
n=0
sin(x) = Im(eix ) =
∞
X
n=0
(−1)n
=
x3
x5
x7
x9
x2n+1
=x−
+
−
+
− ···
(2n + 1)!
3!
5!
7!
9!
Satz 2.6.2. Für alle x ∈ R gilt:
(1) Die Reihen cos(x) und sin(x) sind absolut konvergent,
(2)
|eix | = cos2 (x) + sin2 (x) = 1,
52
2. STETIGKEIT
(3)
cos(x) =
eix + e−ix
eix − e−ix
, sin(x) =
,
2
2i
(4)
cos(x) = cos(−x) und sin(x) = − sin(−x),
(5) die Summenformeln lauten
sin(x ± y) = sin(x) cos(y) ± cos(x) sin(y),
cos(x ± y) = cos(x) cos(y) ∓ sin(x) sin(y),
(6)
x+y
x−y
sin
2
2
x−y
x+y
sin
.
2 cos
2
2
cos(x) − cos(y) = −2 sin
sin(x) − sin(y) =
(7) Sinus und Cosinus sind stetig.
Beweis. Die absolute Konvergenz folgt zum Beispiel aus dem Quotientenkriterium wie
für die Exponentialfunktion. Es ist
cos2 (x) + sin2 (x) = (Re(eix ))2 + (Im(eix ))2 = |eix |2 = eix eix =
∞
X
x3
x4
(−i)n xn
x2
+i +
− · · · = eix
= eix e−ix = e0 = 1.
eix 1 − ix −
2
3!
4!
n!
n=0
Ebenfalls direkt aus der Reihendarstellung folgen (3) und (4). Es ist
cos(x + y) + i sin(x + y) = ei(x+y) = eix eiy = (cos(x) + i sin(x))(cos(y) + i sin(y)) =
(cos(x) cos(y) − sin(x) sin(y)) + i(sin(x) cos(y) + cos(x) sin(y)).
Durch den Vergleich von Real- und Imaginärteil dieser Gleichung ergibt sich (5). Die Aussage
für x − y statt x + y folgt aus (4). Für
u=
x+y
2
und v =
x−y
2
bzw.
x=u+v
und y = u − v
ist
cos(x) − cos(y) = cos(u + v) − cos(u − v) =
cos(u) cos(v) − sin(u) sin(v) − cos(u) cos(v) + sin(u) sin(v) =
−2 sin(u) sin(v) = −2 sin
x+y
x−y
sin
.
2
2
Die Aussage für sin(x) − sin(y) folgt analog.
Nach Korollar 2.2.7 sind Sinus und Cosinus stetig, weil sie sich als Summe bzw. Differenz
der stetigen Exopnentialfunktionen darstellen lassen.
In der komplexen Zahlenebene liegen die Punkte (cos(x), sin(x)) wegen Satz 2.6.2.2
auf dem Einheitskreis. Daraus gibt sich das gewohnte Bild rechtwinkeligen Dreiecks mit
Hypthenusenlänge 1.
Lemma 2.6.3.
(1) Es ist cos(0) = 1 und cos(2) ≤ −1/3.
(2) Für 0 < x ≤ 2 ist sin(x) > 0.
(3) Der Cosinus ist streng fallend auf [0, 2].
2.6. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN
53
Beweis. Zunächst ist klar, dass cos(0) = Re(ei0 ) = 1 ist. Die Reihe
∞
X
22k
cos(2) =
(−1)k
(2k)!
k=0
erfüllt das Leibnitz-Kriterium 1.16.11, in dessen Notation ist s ≤ a0 − a1 + a2 . Für cos(2)
bedeutet das
22
24
2
1
+
=1−2+ =− .
cos(2) ≤ 1 −
2!
4!
3
3
Für 0 < x ≤ 2 gilt für die Reihe des Sinus s ≥ a0 − a1 , also
x3
x2
4
x
= x(1 − ) ≥ x(1 − ) = > 0,
6
6
6
3
womit (2) gezeigt ist. Es sei 0 ≤ x1 < x2 ≤ 2, dann ist
x2 − x1
x1 + x2
≤ 2 und 0 <
≤ 2.
0<
2
2
Nach Satz 2.6.2.7 ist
x1 + x2
x2 − x1
cos(x2 ) − cos(x1 ) = −2 sin
· sin
<0
2
|
{z
} |
{z2 }
sin(x) ≥ x −
>0
>0
und der Cosinus daher fallend.
Satz 2.6.4. Es gibt genau ein x0 ∈ [0, 2] mit cos(x0 ) = 0
Beweis. Wegen cos(0) > 0 und cos(2) < 0 und weil cos stetig ist, gibt es nach dem
Zwischenwertsatz 2.3.3 ein x0 mit cos(x0 ) = 0. Dass der Cosinus auf [0, 2] keine weitere
Nullstelle hat, folgt aus seiner strengen Monotonie.
Definition 2.6.5. Wir definieren die Zahl Pi als π = 2x0 , wobei x0 die Nullstelle des
Cosinus aus Satz 2.6.4 ist.
Nach dieser Definition und nach Lemma 2.6.3 ist
π
π
π
cos(x) > 0 für 0 ≤ x < , cos
< x ≤ 2.
= 0, cos(x) < 0 für
2
2
2
Nach Satz 2.6.2.2 ist cos2 (x) + sin2 (x) = 1 und daher sin π2 = 1. Daher ist
π
π
π
π k
π
π
= ik .
cos k
+ i sin k
= eik 2 = (ei 2 )k = cos
+ i sin
2
2
2
2
Für k = 0, 1, 2, 3, 4 erhalten wir die folgende Tabelle
0
π
2
π
3π
2
2π
sin(x) 0
cos(x) 1
1
0
0
−1
−1
0
0
1
x
Lemma 2.6.6. Für alle x ∈ R gilt Folgendes:
(1) Cosinus und Sinus sind periodisch mit Periode 2π. Das heißt, es ist
cos(x + 2π) = cos(x)
und
sin(x + 2π) = sin(x).
cos(x + π) = − cos(x)
und
sin(x + π) = − sin(x),
und
sin
(2) Es ist
(3)
cos
π
2
− x = sin(x)
π
(4)
cos(x) = 0
⇐⇒
wenn x =
sin(x) = 0
⇐⇒
x = kπ,
2
− x = cos(x),
π
+ kπ und
2
wobei k ∈ Z.
54
2. STETIGKEIT
(5)
cos(x) − 1
=0
x→0
x
lim
und
sin(x)
= 1.
x→0
x
lim
Beweis. Wegen ei2π = i4 = 1 ist
cos(x + 2π) = Re(ei(x+2π) ) = Re(eix ei2π ) = Re(eix ) = cos(x),
sin(x + 2π) = Im(ei(x+2π) ) = Im(eix ei2π ) = Im(eix ) = sin(x),
somit ist (1) gezeigt. Wegen eiπ = i2 = −1 folgt (2) auf gleiche Weise. Aussage (3) folgt aus
π
ei 2 = i, denn
π
π
π
cos
− x = Re(ei( 2 −x) ) = Re(ei 2 e−ix ) = Re(i(cos(−x) + i sin(−x))) =
2
sin
π
2
Re(i cos(−x) − sin(−x)) = − sin(−x) = sin(x), bzw.
π
π
− x = Im(ei( 2 −x) ) = Im(ei 2 e−ix ) = Im((cos(−x) + i sin(−x))i) =
Im(i cos(x) − sin(−x)) = cos(x).
Wir wissen, dass der Cosinus auf [0, π2 ) größer als 0 ist. Wegen cos(x) = cos(−x) gilt dies
auch für (− π2 , π2 ). Aus cos(x + π) = − cos(x) folgt, dass der Cosinus auf ( π2 , 3π
2 ) kleiner als 0
π π
π
]
genau
die
Nullstellen
−
,
und
3
.
Wegen
der
Periodizität
ist. Folglich hat er auf [− π2 , 3π
2
2 2
2
folgt die Aussage (4) für den Cosinus. Die Beziehung (3) impliziert nun (4) für den Sinus.
Aus i = − 1i und den Definitionen von Cosinus folgt
cos(x) − 1
i(cos(x) − 1)
cos(x) − 1
= Im
= − Im
=
x
x
ix
ix
e −1
cos(x) + i sin(x) − 1
= − Im
.
− Im
ix
ix
Wenn h gegen 0 strebt, geht letzterer Ausdruck wegen Lemma 2.5.1.5 gegen − Im(1) = 0.
Ebenfalls nach Lemma 2.5.1.5 strebt
ix
sin(x)
cos(x) + i sin(x) − 1
e −1
= Re
= Re
x
ix
ix
gegen Re(1) = 1.
Definition 2.6.7. Der Tangens ist die Funktion tan : R \ { π2 + kπ | k ∈ Z} → R mit
tan(x) =
sin(x)
.
cos(x)
Der Cotangens ist cot : R \ {kπ | k ∈ Z} → R mit
cot(x) =
cos(x)
.
sin(x)
Tangens und Kotangens sind ungerade Funktionen, das heißt tan(x) = − tan(−x) und
cot(x) = − cot(−x), was daraus folgt, dass der Sinus ungerade und der Cosinus gerade
ist. Auch die Periodizität überträgt sich von Sinus und Cosinus. Dass cos(x) auf [0, π2 ]
streng fallend ist folgt aus Lemma 2.6.3.3, der Sinus ist auf [0, π2 ] streng steigend. Also
ist der Tangens auf [0, π2 ) streng steigend, und weil er ungerade ist, auch auf (− π2 , π2 ) streng
steigend. Somit ist der Tangens steigend auf den Intervallen (− π2 + kπ, π2 + kπ) für k ∈ Z.
Der Cotangens ist fallend auf den Intervallen (kπ, (k + 1)π).
Außerdem ist tan((− π2 , π2 )) = R und cot((0, π)) = R wegen des Zwischenwertsatzes 2.3.3
und weil der Nenner an den Randpunkten der Intervalle gegen Null strebt, während die
Zähler gegen -1 bzw. 1 streben.
Aus dem zuvor Gezeigten ergibt sich der folgende Satz.
2.6. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN
55
Satz 2.6.8.
(1) Der Cosinus ist streng fallend auf [0, π], cos([0, π]) = [−1, 1], und
er besitzt eine streng abnehmende Umkehrfunktion, genannt Arcuscosiuns,
arccos : [−1, 1] → [0, π].
(2) Der Sinus ist streng steigend auf [− π2 , π2 ], sin([− π2 , π2 ]) = [−1, 1], und er besitzt
eine streng steigende Umkehrfunktion, genannt Arcussiuns,
h π πi
arcsin : [−1, 1] → − ,
.
2 2
(3) Der Tangens ist streng steigend auf (− π2 , π2 ), tan((− π2 , π2 )) = R, und er besitzt eine
streng steigende Umkehrfunktion, genannt Arcustangens,
π π
.
arctan : R → − ,
2 2
2.6.9 (Theoriefrage 58). Wie sind Sinus und Cosinus definiert? Warum ist Cosinus eine
gerade und Sinus eine ungerade Funktion? Warum ist
cos2 (x) + sin2 (x) = 1
für alle x ∈ R?
2.6.10 (Theoriefrage 59). Formulieren und beweisen Sie die Summenformeln für
sin(x + y)
und
cos(x + y).
2.6.11 (Theoriefrage 60). Zeigen Sie, dass der Cosinus auf [0, 2] nicht mehr als eine
Nullstelle hat.
2.6.12 (Theoriefrage 61). Geben Sie eine kurze Begründung für
π
π
cos k
+ i sin k
= ik ,
2
2
mit k ∈ Z. Leiten Sie daraus die Werte des Sinus und Cosinus an den Stellen 0,
Zeigen Sie, dass Sinus und Cosinus die Periode 2π haben.
π
2,
π,
3π
2
ab.
KAPITEL 3
Differentiation
3.1. Differenzierbarkeit
Definition 3.1.1. Es sei D ⊂ R eine Menge ohne isolierter Punkte und f eine Funktion
D → R. Für ξ 6= x heißt
f (ξ) − f (x)
ξ−x
Differenzialquotient. Die Funktion f ist differenzierbar in x, wenn der Grenzwert
f 0 (x) = lim
ξ→x
f (ξ) − f (x)
ξ−x
existiert. Der Wert f 0 (x) heißt Differenzialquotient oder Ableitung von f an der Stelle x.
Die Funktion heißt differenzierbar, wenn sie in allen Punkten von D differenzierbar ist. Die
Funktion f 0 : D → R heißt Ableitung von f .
Die Sekante über dem Intervall [ξ, x] (bzw. [x, ξ]) ist die Gerade durch die Punkte
(ξ, f (ξ)) und (x, f (x)). Die Tangente an der Stelle x ist die Gerade im R2 , die durch den
Punkt (x, f (x)) geht und die Steigung f 0 (x) hat.
Der Differenzenquotient gibt die Steigung der Sekante über dem Intervall [ξ, x] (bzw.
[x, ξ]) an.
Ableitung von Funktionen, die einen metrischen Raum auf C oder R abbilden, werden
auf dieselbe Weise definiert. Wir beschränken uns jedoch hier auf reelle Funktionen.
Anders angeschrieben, ist
f (x + h) − f (x)
.
h
Wenn eine Funktion f nur durch den Term ihrer Zuordnungsvorschrift gegeben ist, also
zum Beispiel y 2 z, und nicht klar ist, welcher Buchstabe die Variable ist, oder f auf Rn mit
mehreren Variablen definiert ist, dann macht es Sinn, die Variable in der Ableitung f 0 zu
spezifizieren. Man schreibt dann
df
df
bzw.
.
dy
dz
Diese Notation ist in der Physik gängig, wo mit den Symbolen dy und dz oft gerechnet wird,
als wären es reelle Zahlen, auch wenn dies nicht der Fall ist.
f 0 (x) = lim
h→0
(1) Für die konstante Funktion f : R → R, f (x) = c ist
Beispiel 3.1.2.
f (x + h) − f (x)
c−c
= lim
= 0.
h→0 h
h
(2) Wenn f (x) = cxn mit n ∈ N, dann ist
!
n n
n
X
c(x
+
h)
−
cx
1
n
f 0 (x) = lim
= c lim
hk xn−k − xn =
h→ 0
h→ 0 h
h
k
f 0 (x) = lim
h→0
k=0
1
0 h
c lim
h→
n X
k=1
n X
n k n−k
n k−1 n−k
h x
= c lim
h
x
=
h→ 0
k
k
k=1
57
58
3. DIFFERENTIATION
c lim
h→ 0
!
n n n−1 X n k−1 n−k
n n−1
x
+
h
x
=c
x
= cnxn−1 .
1
k
1
k=2
(3) Für f : R \ {0} → R mit f (x) = 1/x ist
f 0 (x) = lim
1
x+h
h→0
−
h
1
x
x − (h + x)
−1
1
= lim
= − 2.
h→0 hx(h + x)
h→0 x(h + x)
x
= lim
(4) Aus der Additionseigenschaft der Exponentialfunktion 1.18.2.2 und dem Grenzwert
2.5.1.5 folgt
ex+h − ex
eh − 1
= ex lim
= ex · 1 = ex .
h→0
h→0
h
h
(ex )0 = lim
(5) Es ist
sin(x + h) − sin(x)
h
nach Satz 2.6.2.6 und Lemma 2.6.6.5 gleich
2 cos x + h2 sin h2
sin h2
h
= cos(x),
lim
= lim cos x +
lim
h
h→0
h→0
h
2 h→0
2
sin0 (x) = lim
h→0
wobei wir bei der Bildung der Limiten Lemma 2.6.6.5 verwendet haben. Für den
Cosinus gilt
−2 sin(x + h2 ) cos( h2 )
cos(x + h) − cos(x)
= lim
=
h→0
h→0
h
h
sin h2
h
− lim sin x +
= − sin(x).
lim
h
h→0
2 h→0
2
cos0 (x) = lim
Satz 3.1.3. Ist eine reelle Funktion differenzierbar an einer Stelle, dann ist sie dort
auch stetig.
Proof. Wenn f differenzierbar in x ist, gilt
f (ξ) − f (x)
lim (f (ξ) − f (x)) = lim
· (ξ − x) =
ξ→x
ξ→x
ξ−x
f (ξ) − f (x)
lim
lim (ξ − x) = f 0 (x) · 0 = 0
ξ→x
ξ→x
ξ−x
und somit limξ→x f (ξ) = limξ→x f (x) bzw. limξ→x f (ξ) = f (x). Daher ist f stetig in x. 3.1.4 (Theoriefrage 62). Wie ist die Differenzierbarkeit einer Funktion an einer Stelle
definiert. Bestimmen Sie die Ableitung der Exponentialfunktion und die Ableitung von f
mit f (x) = xn , wobei n eine beliebige natürliche Zahl ist.
3.1.5 (Theoriefrage 63). Zeigen Sie, dass eine Funktion, die an einer Stelle differenzierbar
ist, dort auch stetig ist.
3.2. Erste Ableitungsregeln
Satz 3.2.1. Es seien f und g differenzierbare Funktion D → R, D ∈ R.
(1) Für alle c, d ∈ R ist cf + dg differenzierbar und (cf + dg)0 (x) = cf 0 (x) + dg 0 (x).
(2) Produktregel: Es ist f · g differenzierbar und
(f · g)0 (x) = f 0 (x)g(x) + f (x)g 0 (x)
für alle x ∈ D.
(3) Quotientenregel: Es sei g(x) 6= 0 für alle x ∈ D, dann ist f /g differenzerbar und
0
f
f 0 (x)g(x) − f (x)g 0 (x)
(x) =
.
g
g 2 (x)
3.2. ERSTE ABLEITUNGSREGELN
Beweis.
59
(1)
cf (x + h) + dg(x + h) − (cf (x) + dg(x))
=
h
cf (x + h) − cf (x)
dg(x + h) − dg(x)
lim
+ lim
= cf 0 (x) + dg 0 (x)
h→0
h→0
h
h
(cf + dg)0 (x) = lim
h→0
(2)
(f · g)0 (x) = lim
h→0
1
(f (x + h)g(x + h) − f (x)g(x)) =
h
1
(f (x + h)(g(x + h) − g(x)) + (f (x + h) − f (x))g(x)) = f (x)g 0 (x) + f 0 (x)g(x),
h
wobei wir im letzten Schritt limh→0 f (x + h) = f (x) verwenden, was gilt, da f in
x stetig ist und die Stetigkeit aus der Differenzierbarkeit folgt, siehe Satz 3.1.3.
(3) Es ist
0
1
1
1
g(x) − g(x + h)
g(x+h) + g(x)
= lim
= lim
=
h→0
h→0 hg(x)g(x + h)
g(x)
h
lim
h→0
1
g(x + h) − g(x)
g 0 (x)
lim
=−
.
h→0 g(x)g(x + h)
h→0
h
g(x)2
Mit der Produktregel folgt
0
1
g 0 (x)
f 0 (x)g(x) − f (x)g 0 (x)
1
= f 0 (x)
− f (x)
=
.
f·
g
g(x)
g(x)2
g(x)2
− lim
Beispiel 3.2.2.
(1) Wenn f : R → R mit f (x) = a0 + a1 x + a2 x2 + . . . + an xn
mit beliebigen ai ∈ R, ist f 0 (x) = a1 + 2a2 x + . . . + nan xn−1 . Das folgt aus
Beispiel 3.1.2.2 und Satz 3.2.1.1.
(2) Für f : R \ {0} → R mit f (x) = 1/xn und n ∈ N ist nach der Quotientenregel
Satz 3.2.1.2
1
0 − nxn−1
0
f (x) =
= −nx−n−1 .
=
xn
x2n
(3) Für den Tangens tan : R \ ( π2 + πZ) → R gilt
0
sin(x)
cos(x) cos(x) − sin(x)(− sin(x))
cos2 (x) + sin2 (x)
1
0
(tan x) =
=
=
=
,
cos(x)
cos2 (x)
cos2 (x)
cos2 (x)
wobei wir die Ableitungen von Cosinus und Sinus (siehe Beispiel 3.1.2.5) und die
Quotientenregel verwenden.
Satz 3.2.3 (Kettenregel). Es sei D ⊂ R, f : D → R und g : f (D) → R. Wenn f in x
und g in f (x) differenzierbar ist, dann ist die Zusammensetzung g ◦ f differenzierbar in x
und
(g ◦ f )0 (x) = g 0 (f (x)) · f 0 (x).
Wir hätten gerne einen einfachen Beweis der Form
g(f (ξ)) − g(f (x)) f (ξ) − f (x)
g(f (ξ)) − g(f (x))
= lim
=
(g ◦ f )0 (x) = lim
ξ→x
ξ→x
ξ−x
f (ξ) − f (x)
ξ−x
g(f (ξ)) − g(f (x))
f (ξ) − f (x)
lim
= g 0 (f (x))f 0 (x).
ξ→x
ξ→x
f (ξ) − f (x)
ξ−x
Leider ist dieser “Beweis” falsch, denn f (ξ)−f (x) könnte gleich 0 sein, zum Beispiel f könnte
eine konstante Funktion sein und wir wollen, dass unsere Kettenregel auch für stückweise
konstante Funktionen gilt. Für einen korrekten Beweis der Kettenregel benötigen wir ein
Hilfsmittel:
lim
60
3. DIFFERENTIATION
Definition 3.2.4. Die Sekantensteigungsfunktion gx∗ einer in x differenzierbaren reellen
Funktion g definieren wir durch
(
g(ξ)−g(x)
wenn ξ 6= x
∗
ξ−x
gx (ξ) =
g 0 (x)
wenn ξ = x.
Beweis von Satz 3.2.3. Wegen g(ξ) − g(x) = gx∗ (ξ)(ξ − x) und limξ→x gx∗ (ξ) = g 0 (x)
ist
g(f (ξ)) − g(f (x))
g ∗ (f (ξ))(f (ξ) − f (x))
= lim x
=
ξ→x
ξ→x
ξ−x
ξ−x
f (ξ) − f (x)
lim gx∗ (f (ξ)) lim
= g 0 (f (x))f 0 (x).
ξ→x
ξ→x
ξ−x
(g ◦ f )0 (x) = lim
R
Das Symbol dx, dem wir bei der Integralrechnung in der Form f (x)dx noch begegnen
werden, steht für Differenzen, die gegen 0 streben. Diese Notation bezieht sich zuächst nicht
auf eine Funktion, sondern auf einen Term, in dem x vorkommt. Dieser Term wird dann
in unserem Sinn als Funktion in x aufgefasst. In der Physik wird mit diesen Symbolen
oft gerechnet wie mit reellen Zahlen. Für den “Beweis” der Kettenregel würden Physiker
zunächst statt der Funktionsbezeichnungen f, g Termbezeichnungen wählen, zum Beispiel
z(y(x)), wobei z als Term (Funktion) in y und y als Term (Funktion) in x gesehen wird.
Das dx-Rechenkalkül ergibt dann
dz
dz dy
=
= z 0 (x),
dx
dy dx
wobei das Symbol dy so weggekürzt wird, als wäre es eine feste reelle Zahl ungleich Null.
z 0 (y)y 0 (x) =
Definition 3.2.5. Ein Funktion heißt stetig differenzierbar, wenn sie differenzierbar
und ihre Ableitung stetig ist.
Beispiel 3.2.6. Es sei fn : N → N mit
(
xn sin x1 , wenn x 6= 0
fn (x) =
0, wenn x = 0.
Für welche n ∈ N ist fn stetig, differenzierbar oder stetig differenzierbar?
(1) Für n = 0 ist f0 (x) = sin(1/x) und f0 ist nicht stetig in 0, denn für
1
xk =
ist lim xk = 0,
k→∞
2πk + π2
jedoch fk (xk ) = 1
und daher
lim f (xk ) = 1 6= 0 = f (0).
k→∞
Interessant an diesem Beispiel ist, das der Funktionsgraph bzw. die Funktion
(d.h. die Menge aller Punkte (x, f0 (x)) als Teilmenge des R2 topologisch zusammenhängend ist. Das heißt, er lässt sich nicht als Vereinigung zweier offener Mengen
darstellen.
(2) Für n ≥ 1 ist f1 (x) = xn sin(1/x) und limx→0 fn (x) = 0. Also ist fn in 0 stetig.
(3) Der Limes
1
f1 (h) − f1 (0)
1
1
= lim h sin
= lim sin
lim
h→0
h→0 h
h→0
h
h
h
existiert nicht, daher ist f1 nicht in 0 nicht differenzierbar.
(4) Für n ≥ 2 ist
f1 (h) − f1 (0)
1
0
n−1
fn (0) = lim
= lim h
sin
=0
h→0
h→0
h
h
und somit fn differenzierbar in 0.
3.2. ERSTE ABLEITUNGSREGELN
61
(5) Für n ≥ 2 und x 6= 0 ist
1
1
n−2
= nx
sin
−x
cos
.
x
x
Also ist f2 zwar überall differenzierbar aber nicht stetig diffenrenzierbar in 0. Für
n ≥ 3 hingegen ist fn auch stetig differenzierbar.
fn0 (x)
n−1
3.2.7 (Theoriefrage 64). Formulieren und beweisen Sie die Produkt- und die Quotientenregel.
Literaturverzeichnis
[1] H. Amann, J. Escher, Analysis I. Birkhäuser, 3. Aufl. 2006.
[2] H. Heuser, Lehrbuch der Analysis. Teil 1. Vieweg+Teubner, 17. Aufl. 2009.
[3] G. Hörmann, D. Langer, Vorlesungsskriptum zur Einf. in die Analysis, Fak. f. Math., Univ. Wien,
2008, neue Fassung Juli 2010. Verfügbar unter
www.mat.univie.ac.at/ gue/lehre/08einan/einfanalysis.pdf (2.4.2013)
[4] K. Endl, W. Luh, Analysis, Bd. 1, Aula, 9. Aufl. 2008.
[5] K. Königsberger, Analysis 1, 6. Aufl. Springer 2004.
[6] E. Landau, Grundlagen der Analysis, Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 1930. Verfügbar unter
http://www.cs.ru.nl/ freek/aut/grundlagen-1.0.tar.gz (9.4.2013)
[7] C.C. Pugh, Real Mathematical Analysis, Springer 2002.
[8] W. Rudin, Analysis, Oldenbourg, 4. Aufl. 2009.
[9] W. Rudin, Pinciples of modern Analysis, McGraw-Hill, 1953.
[10] W. Rudin, Pinciples of modern Analysis, McGraw-Hill, 3. Aufl. 1976.
[11] H. Schichl, R. Steinbauer, Einführung in das mathematische Arbeiten, 2. Auflage, Springer 2012.
[12] H. Rinder, Analysis, Skriptum zur Einf. in die Analysis und zu Analysis 1 (teilw.), Fak. f. Math., Univ.
Wien, 2012.
63
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