Soziale Phobie. Eine Literaturanalyse zur Kognitiven

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Geisteswissenschaft
Janine Jänisch
Soziale Phobie. Eine Literaturanalyse zur
Kognitiven Therapie
Diplomarbeit
Hochschule Magdeburg – Stendal (FH) / Standort Stendal
University of Applied Sciences
Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften
Studiengang Rehabilitationspsychologie
Osterburger Straße 25
39576 Stendal
Diplomarbeit
Zur Erlangung des akademischen Grades
Diplom-Rehabilitationspsychologin (FH)
Soziale Phobie
- Eine Literaturanalyse zur Kognitiven Therapie -
vorgelegt von:
Janine Jänisch
August 2008
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
0
Einleitung ................................................................................................... 1
1
Das Krankheitsbild der Sozialen Phobie .................................. 6
1.1
Historische Entwicklung................................................................................ 6
1.2
Klinisches Erscheinungsbild ........................................................................ 8
1.3
1.3.1
1.3.2
1.3.3
Klassifikation................................................................................................. 10
DSM-IV-TR ................................................................................................... 10
ICD-10 ........................................................................................................... 12
Vergleich der Kriterien der Klassifikationssysteme ................................ 13
1.4
1.4.1
1.4.2
Diagnostik ..................................................................................................... 15
Abgrenzung der Sozialen Phobie von anderen Störungen .................. 15
Erfassung der individuellen Symptomatik................................................ 16
1.5
1.5.1
1.5.2
1.5.3
1.5.4
Subtypen der Sozialen Phobie .................................................................. 18
Generalisierter vs. Nicht-generalisierter Subtyp ..................................... 18
Leistungssituation vs. Interaktionssituation ............................................. 20
Soziale Kompetenz vs. Soziale Kompetenzdefizite ............................... 21
Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung ...................................... 21
1.6
1.6.1
1.6.2
1.6.3
1.6.4
1.6.5
Epidemiologie, Verlauf und Prognose ...................................................... 22
Lebenszeitprävalenz ................................................................................... 22
Störungsbeginn, Verlauf und Prognose ................................................... 24
Komorbidität ................................................................................................. 25
Kulturunterschiede....................................................................................... 27
Soziodemographische Merkmale.............................................................. 28
2
Die Kognitiv-behavioralen Erklärungsmodelle ................... 30
2.1
2.1.1
2.1.1.1
2.1.1.2
2.1.1.3
2.1.2
2.1.3
Bedingungen zur Entstehung der Sozialen Phobie ............................... 30
Begünstigende (prädisponierende) Bedingungen .................................. 31
Genetische Faktoren................................................................................... 31
Neurobiologische Faktoren ........................................................................ 31
Psychologische Faktoren ........................................................................... 32
Auslösende Bedingungen .......................................................................... 34
Aufrechterhaltende Bedingungen ............................................................. 35
I
Inhaltsverzeichnis
2.2
Das Modell der kognitiven Vulnerabilität von Beck, Emery und
Greenberg (1985) ........................................................................................ 37
2.3
2.3.1
2.3.2
Das Kognitive Modell von Clark und Wells (1995) ................................. 40
Erster Teil: Angst während der gefürchteten Situation .......................... 41
Zweiter Teil: Angst vor und nach der gefürchteten Situation................ 44
3
Die Kognitive Therapie zur Sozialen Phobie .................. 47
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
3.8
3.9
Grundlagen der Kognitiven Therapie ....................................................... 47
Ablauf der Behandlungssitzungen ............................................................ 49
Die therapeutische Beziehung .................................................................. 50
Erstgespräch und Eingangsdiagnostik..................................................... 52
Phase 1: Ableitung eines individuellen Störungsmodells ...................... 57
Phase 2: Vorbereitung auf Verhaltensexperimente ............................... 62
Phase 3: In-vivo-Verhaltensexperimente................................................. 69
Phase 4: Kognitive Umstrukturierung....................................................... 75
Phase 5: Therapieabschluss und Rückfallprophylaxe ........................... 86
4
Effektivität der Kognitiven Therapie ................................ 89
4.1
4.2
4.3
4.4
Kognitive Therapie vs. Expositionstherapie ............................................ 89
Einzeltherapie vs. Gruppentherapie ......................................................... 94
Kognitive Therapie vs. Pharmakotherapie ............................................101
Ambulante vs. Stationäre Behandlung ...................................................105
5
Zusammenfassung und Ausblick .................................. 108
6
Literaturverzeichnis ......................................................... 112
7
Anhang............................................................................... 120
II
Einleitung
0
Einleitung
„Was denken die anderen von mir?“
„Kann ich diese Erwartungen erfüllen?“
„Hoffentlich blamiere ich mich nicht!“
„Ich muss mich immer so verhalten, dass mich alle mögen!“
„In dieser feinen Gesellschaft werde ich bestimmt auffallen,
falsch gekleidet sein, mich danebenbenehmen…!“
„Lieber sage ich nichts, bevor ich etwas Falsches sage!“
„Wenn ich jetzt diesen Raum betrete, werden mich gleich alle
anstarren, und ich werde in den Boden versinken!“
„Ich muss immer das tun, was von mir er wartet wird,
damit andere nicht schlecht über mich reden!“ und so weiter…
(Görlitz, 1998, S. 355)
Wer kennt sie nicht, die Stimmen im Hinterkopf? Diese oder ähnlich klingende
Sätze sind jedem Menschen vertraut und sie können dazu führen, dass Ängste,
sich vor peinlich anderen zu verhalten, entwickelt werden. Die Ängste können
sich so steigern, dass die betroffene Person an einer psychischen Störung
erkrankt. In der klinischen Psychologie wird bei dieser Form der Erkrankung von
einer Angststörung gesprochen, die mit einer Lebenszeitprävalenz von 14-16%
zu der häufigsten psychischen Störung zählt (Hand, 2005; Volz, 2006). Hierbei
unterteilt sich die Störung in verschiedene Erscheinungsformen, wie z.B.
Panikstörung, Generalisierte Angststörung oder Spezifische Phobie.
Dem ungeachtet, was bedeutet eigentlich Angst? Der Begriff Angst stammt
ursprünglich vom lateinischen Wort „angustia“ ab und heißt übersetzt „enge in
der Brust“. Der Zustand, dass sich buchstäblich die Kehle zusammenzieht, die
Brust beklemmend wirkt und die Atemluft ausbleibt, gehört normalerwei se zu
unseren Grundemotionen, wie Zorn, Wut, Freude oder Trauer (Zaudig &
Trautmann, 2006). Die
„normale“ Angst ist für den Menschen eine
selbstverständliche und natürliche Reaktion des Organismus, um auf ein
bedrohliches Erlebnis schnell und adäquat zu reagieren. Hierbei wird ein
schnelles Handeln des Körpers durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit und
körperliche Aktivität ermöglicht, wie z.B. eine erhöhte Herztätigkeit und Atmung.
Ebenfalls steigt die intellektuelle und motorische Leistungsbereitschaft. Dies
führt dazu, dass beispielsweise beim Überqueren des Fußgängerüberweges
1
Einleitung
ermöglicht wird, vor einem nicht bremsenden Auto auszuweichen (Vriends &
Margraf, 2005a; Bassler, 2006). Führt die Angst allerdings
zu einer
Beeinträchtigung des Denkens, des Verhaltens und der Konzentration im
sozialen und beruflichen Leben, wird von einer „pathologischen“ Angst
gesprochen, die behandlungsbedürftig ist (Zaudig & Trautmann, 2006).
Welche Erscheinungsform der Angststörung trifft nun auf die oben aufgeführten
Sätze zu? Hierbei handelt es sich um die Soziale Phobie, die erst vor etwa 30
Jahren einen regelrechten Anstieg des Forschungsinteresses hinsichtlich der
Ätiologie und der Behandlung erlebte. Meines Erachtens tritt die Soziale Phobie
vermehrt in der Praxis in Erscheinung, was durch die gesellschaftlichen
Lebensbedingungen zu erklären ist. Die Tatsache, dass heute vermehrt
Menschen einen „minderwertigen“ Beruf annehmen, in dem sie ihr Potential
nicht genügend ausschöpfen können, führt dazu, dass sie unsicher im Umgang
mit anderen Menschen werden und sind - besonders, wenn diese im
beruflichen Bereich erfolgreicher sind. Hierbei gehen Angenendt, Berger und
Frommberger (2004) davon aus, dass die Sozialen Phobie „zu den in der
Primärversorgung am häufigsten ‚übersehenen‘ psychischen Beschwerden“ (S.
647) gehört. Der Grund liegt meiner Meinung nach darin, dass der Großteil der
Erkrankten erst einen Spezialisten aufsucht, wenn die Probleme überhand
nehmen und zu starken Beeinträchtigungen im alltäglichen Leben führen. Die
Diagnose wird dann häufig erst gestellt, wenn sich der Erkrankte wegen einer
anderen psychischen Störung in Behandlung begibt (Angenendt et al., 2004).
Das umfassendste Werk in der Fachliteratur ist meines Erachtens bis heute die
„Soziale Phobie und Soziale Angststörung“ von Stangier und Fydrich (2002a).
Das Buch fasst den aktuellsten Wissenstand über die Erforschung der Sozialen
Phobie bis zum Jahr 2002 zusammen. Zum heutigen Zeitpunkt zeigt dieses
Werk meines Erachtens jedoch eine erhebliche Lücke, besonders bezieht sich
dies auf die Kognitive Therapie von Stangier, Heidenreich und Peitz, die
erstmals im Jahr 2003 als Therapieverfahren zur Behandlung der Soziale
Phobie veröffentlicht wurde.
2
Einleitung
In der vorliegenden Diplomarbeit soll aus diesem Grund auf die Kognitive
Therapie
der
Sozialen
Phobie
von
Stangier,
Heidenreich
und
Peitz
eingegangen werden. Das Hauptziel liegt darin, einen umfassenden Überblick
über die Kognitive Therapie aufzuzeigen und dadurch festzustellen, ob die
Therapie effektiv zur Behandlung der Sozialen Phobie eingesetzt werden kann,
um die vermutlich in der Gesellschaft verursachten Probleme zu vermindern
oder die Erkrankung sogar zu löschen.
Hierzu soll in dieser Arbeit durch eine ausführliche Literaturrecherche die
folgende Frage beantwortet werden: Was wird unter der Kognitiven Therapie
von Stangier, Heidenreich und Peitz verstanden und können Studien ihre
Effektivität bestätigen?
Die Diplomarbeit gliedert sich in vier Kapitel:
Das erste Kapitel ergründet das Krankheitsbild der Sozialen Phobie und hat
zum Ziel, eine Einführung in den Hauptteil kognitive Ätiologiemodelle und
Therapie zu geben. Zunächst soll auf den historischen Ursprung der Sozialen
Phobie eingegangen werden. Wann fand der Begriff zum ersten Mal
Anwendung und wie wird dieser gegenwärtig verwendet? Der Grund liegt darin,
dass heute nicht nur von der Sozialen Phobie gesprochen wird, sondern
ebenso von der Sozialen Angststörung. Anschließend soll mit Hilfe eines
Fallbeispiels das klinische Erscheinungsbild der Sozialen Phobie erarbeitet und
dargestellt werden. Darauffolgend werden die diagnostischen Kriterien aus den
beiden Klassifikationssystemen DSM-IV-TR und
ICD-10 betrachtet und
verglichen. Als nächstes erfolgt die Darstellung der Diagnostik, in dem die
Symptomatik der Sozialen Phobie, aus dem klinischen Erscheinungsbild und
der Klassifikation, durch Verfahren erfasst werden können. Anschließend sollen
die verschiedenen Erscheinungsformen der Sozialen Phobie erörtert werden,
um aufzuzeigen, dass sich die Störung in ihrer Ausprägung und ihrem
Schweregrad
unterscheidet.
Zum
Abschluss
des
Kapitels
wird
auf
Epidemiologie, Verlauf und Prognose eingegangen, in dem erneut auf die
Subtypen Bezug genommen wird.
3
Einleitung
Das zweite Kapitel setzt sich aus der Darstellung der kognitiv-behavioralen
Erklärungsmodelle
Entstehung
zusammen.
der Sozialen
Zunächst
Phobie.
erfolgt
Hierbei
die
Beschreibung
sollen die
zur
begünstigenden,
auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen vorgestellt werden, die als
Grundlage
für die
Bildung
der
Erklärungsmodelle
betrachtet
werden.
Anschließend wird das Modell der kognitiven Vulnerabilität von Beck, Emery
und Greenberg, die im Jahr 1985 veröffentlicht wurde, erörtert. Dieses Modell
wurde neben der Sozialen Phobie, ebenso zur Erklärung von anderen
psychischen Störungen entwickelt und eingesetzt. Aus diesem Grund erfolgten
unterschiedliche Weiterentwicklungen, um ausschließlich die Entstehung der
Soziale Phobie zu erklären. Daher wird anschließend das Kognitive Modell von
Clark und Wells vorgestellt, welches zugleich als Grundlage für die Kognitive
Therapie diente.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Kognitiven Therapie selbst. Das
Verfahren
wird
auch
als
kognitiv-behaviorale
oder
kognitiv-verhaltens-
therapeutische Therapie bezeichnet. Zu Beginn erfolgt die Darstellung der
allgemeinen Grundlagen der Therapie. Welche Ziele sollen mit welchen Mitteln
erreicht werden? Anschließend wird auf den Ablauf der Therapie eingegangen.
Als nächstes erfolgt die Darstellung der therapeutischen Beziehung. Welche
Probleme können in der Behandlung auftreten und wie können diese vom
Therapeuten vermieden werden? Darauffolgend soll die erste Sitzung
beschrieben werden, in dem das Erstgespräch und die Eingangsdiagnostik
erfolgen. Anschließend wird auf die 5 Behandlungsphasen der Kognitiven
Therapie eingegangen: (1) Ableitung eines individuellen Erklärungsmodells, (2)
Vorbereitung auf Verhaltensexperimente, (3) In-vivo-Verhaltensexperimente, (4)
Kognitive
Umstrukturierung
sowie
(5) Therapieabschluss
und
Rückfall-
prophylaxe.
Das vierte Kapitel befasst sich mit der Effektivität der Kognitiven Therapie. Am
Anfang wird kurz auf die Effektivität der kognitiv-behavioralen Behandlung
durch die Expositionstherapie eingegangen, um anschließend einen Vergleich
mit der Kognitiven Therapie zu ermöglichen. Dann werden die beiden
Therapiesettings, Einzel und Gruppe, hinsichtlich der Wirksamkeit verglichen.
4
Einleitung
Dies erfolgt anschließend ebenso für den Vergleich der Kognitiven Therapie mit
der Pharmakotherapie sowie für den Vergleich der ambulanten mit der
stationären Therapie. Aus Gründen der präzisen Darstellung der verwendeten
Studien, wird in diesem Kapitel nicht allein vom Begriff der Kognitiven Therapie
ausgegangen, sondern von der in der Studie verwendeten Bezeichnung.
An dieser Stelle möchte ich mich bei einer Reihe von Menschen bedanken, die
mich bei der Verwirklichung dieser Diplomarbeit unterstützt haben. An erster
Stelle bedanke ich mich recht herzlich bei meiner Erstbetreuerin Frau Prof. Dr.
Nicola Wolf-Kühn für ihre Unterstützung. Als nächstes bedanke ich mich bei
Herrn Prof. Dr. Michael Kraus für die Übernahme und die Durchführung der
zweiten Begutachtung.
Einen weiteren Dank an all die Menschen, die mich während meines Studiums
moralisch unterstützt und begleitet haben. Dies betrifft vor allem meine Eltern
Erika und Hans-Joachim Jänisch, ohne Eure aufbauende und finanzielle Hilfe
hätte ich dieses Studium nicht beginnen und beenden können. Vielen lieben
Dank für Eure Geborgenheit und Unerschütterlichkeit.
Zum Schluss bedanke ich mich recht herzlich bei Frau Ramona Kamlah und
Frau Melanie Jagla für die Unterstützung bei der formalen Bearbeitung.
5
Das Krankheitsbild der Sozialen Phobie
1
Das Krankheitsbild der Sozialen Phobie
»Dem Menschen wurden zwei Augen gegeben,
damit er mit einem Auge die guten Eigenschaften seines Nächsten
und mit dem anderen seine eigenen Fehler sehe.«
Rabbi Meir1
1.1
Historische Entwicklung
Bereits 400 vor Christus schilderte der griechische Arzt und Philosoph
Hippokrates (460 bis ca. 370 v. Chr.) einen seiner Patienten mit Merkmalen
einer Sozialen Phobie: „Er mied jeden Kontakt aus Angst, schlecht behandelt zu
werden, sich zu blamieren oder mit seinen Gebärden oder durch sein Reden
aus dem Rahmen zu fallen, oder sich übergeben zu müssen“ (Vriends &
Margraf, 2005a, S. 4). Eine weitere Beschreibung erfolgte im Buch „Die
Anatomie des Schwermut“ aus dem Jahre 1621 in dem der englische geistliche
Robert Burton Menschen mit sozialen Ängsten wie folgt beschrieb: „Viele
beklagenswerte Auswirkungen hat diese Furcht bei Menschen, wie Erröten,
Blässe, Zittern und Schwitzen, plötzliche Kälteschauer und Hitzewallungen am
ganzen Körper, Herzklopfen, Ohnmachtsgefühle usw.“ (Bandelow, 2004, S.
81f.). Trotz dieser beiden Ausführungen wurde der Begriff Soziale Phobie
(„phobie des situations sociales") zum ersten Mal im Jahre 1903 vom
französischen Psychiater Pierre Janet verwendet. Dessen ungeachtet fand die
Störung zu diesem Zeitpunkt in der Forschung keine Beachtung und wurde aus
diesem Grund mit der Agoraphobie und der Einfachen Phobie unter dem Begriff
„phobische Neurosen“ zusammengefasst (Vriends & Margraf, 2005a; Stangier,
Clark & Ehlers, 2006).
Beinahe 60 Jahre nach der Begriffsbestimmung durch Janet erfolgte 1966
erstmals eine umfangreiche Definition durch die beiden englischen Psychiater
und Verhaltenstherapeuten Marks und Gelder. Sie beschrieben die Störung als
1
Anthea (2004). Die weisse Magie der Hexen - Uraltes Wissen von Heilung und Weisheit - Kalender 2004. Rastatt:
Pabel- Moew ig Verlag. 6. Juli.
6
Das Krankheitsbild der Sozialen Phobie
eine „phobias of social situations, expressed variably as shyness, fears of
blushing in public, of eating meals in restaurants, of meeting men or women, of
going to dances or parties, or of shaking when in the center of attention” (Marks
& Gelder, 1966, S. 228). Nach Zaudig und Trautmann (2006) handelt es sich
bei dieser Beschreibung um den spezifischen Subtyp, der sich ausschließlich
auf Leistungssituationen bezieht, vgl. Abschnitt 1.5.1.
Ungeachtet der frühen Begriffsbestimmung und Definition wurde die Soziale
Phobie erst 1980 in das DSM-III-Klassifikationssystem und 1990 in das ICD-10Klassifikationssystem als ein eigenständiges Störungsbild aufgenommen
(Vriends & Margraf, 2005a), vgl. Abschnitt 1.3.
Gegenwärtig benutzen viele Autoren nicht mehr den ursprünglichen Begriff von
Janet, sondern gehen viel mehr von der „Sozialen Angststörung“ (SAS; engl.
social anxiety disorder, SAD) aus. Der Grund liegt nach Stangier (2005) daran,
dass der neue Begriff eher den tatsächlichen Kern der Störung beschreibt.
In Stangier und Fydrich (2002c) wird aufgeführt, dass die Phobie einen
niedrigeren Schweregrad aufweist sowie einen geringeren Behandlungsbedarf
benötigt als die Soziale Phobie. Ebenso sind bei dieser Form nur geringe
Beeinträchtigungen der Aktivitäten und der Beziehungen der erkrankten Person
vorhanden (Comer, 2001), wohingegen die Soziale Phobie bzw. Soziale
Angststörung als „eine andauernde und beeinträchtigende Übersteigerung
normaler und biologisch festgelegter Angst“ (Fehm & Wittchen, 2004, S. 28)
verstanden wird.
Aufgrund dieser Problematik erfolgt in Stangier und Fydrich (2002c) eine
hypothetische Einteilung in zwei Störungsformen. Zum einen in die „Soziale
Phobie“, in der ausschließlich Leistungssituationen betroffen sind und fast keine
dysfunktionalen Grundüberzeugungen vorliegen. Das dazu führt, dass ein
geringer Schweregrad vorliegt der dementsprechend kaum Behandlungsbedarf
benötigt. Zum anderen in die „Soziale Angststörung“, in der Leistungssituationen
und
Interaktionssituationen
betroffen
sowie
ausgeprägte
dysfunktionale Überzeugungen vorzufinden sind . Die Annahmen beziehen sich
vor allem auf die Wahrnehmung und Interpretation von sozialen Situationen.
7
Das Krankheitsbild der Sozialen Phobie
Es wurde in diesem Abschnitt sehr deutlich, dass die Soziale Phobie eine lange
Entstehungsgeschichte hat, dessen ungeachtet aber erst vor kurzer Zeit als
eigenständige Störung in die Klassifikationssysteme aufgenommen wurde.
Wieso fand die Soziale Phobie erst jetzt Beachtung und nicht schon früher - als
Janet den Begriff entwickelte? Die Beantwortung der Frage erfolgt am Ende des
Kapitels, da nachfolgend weitere Sachverhalte erörtert werden, um eine
ausführliche Antwort zu ermöglichen. Im nächsten Abschnitt soll zunächst auf
das Klinische Erscheinungsbild eingegangen werden.
1.2
Klinisches Erscheinungsbild
Das folgende Beispiel aus Wolf (2006) ermöglicht einen ersten Einblick in die
Symptomatik einer 35jährigen Sozialphobikerin:
So weit ich mich zurückerinnern kann, war ich immer ein eher unsicheres Mädchen.
Schon als Kind war es mir ein Gräuel, im Mittelpunkt zu stehen. Eine der
schlimmsten Situationen, an die ich mich erinnern kann, war, als ich beim 60.
Geburtstag meines Großvaters - ich war damals 9 Jahre alt - ein Gedicht vor der
versammelten Verwandtschaft aufsagen sollte. Ich bekam einfach keinen Ton
heraus und außerdem fiel mir der Anfang des Gedichts überhaupt nicht mehr ein.
Zu allem Überfluss fing ich dann auch noch an zu weinen. Alle lachten mich aus.
Meine Mutter wollte mich trösten und nahm mich in den Arm, was ich dann noch
furchtbarer fand. Seit diesem Tag werde ich vor Geburtstagen, und wenn es um
Reden-Halten geht, tatsächlich immer krank. Schon bei dem Gedanken an eine
Feierlichkeit komme ich kaum noch vom Klo runter. Ich leide dann unter Schlafstörungen und kann mich nicht mehr konzentrieren. In meinem Beruf als
Versicherungskauffrau hat mir meine Angst auch ziemliche Nachteile gebracht. In
der Teambesprechung bin ich still, unfähig über schwierige Fälle zu sprechen,
geschweige denn auch mal was Positives von meiner Arbeit zu erzählen. Bei
Beförderungen bin ich deshalb immer leer ausgegangen. Ich bin froh, wenn man
mich in Ruhe lässt, aber ein wenig mehr Geld auf meinem Konto würde mir als
Single auch gut tun. Die Angst ist auch schuld, dass ich alleine lebe. Den Tanzkurs
habe ich natürlich auch nicht mitgemacht, als meine Mitschülerinnen dort waren.
Und wenn mir mal jemand von meinen Kollegen ein Kompliment macht, werde ich
rot, und dann ist bereits alles gelaufen. So eine Peinlichkeit, - ich versuche den
Kontakt mit ihm dann in Zukunft, so gut es geht, zu vermeiden. Was soll der nur von
mir denken. Ich habe mich schon damit abgefunden, eben als alte Jungfer zu
sterben. (S. 168)
Das Erlebnis, dass die Patienten kein Ton herausgebracht hatte als sie im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, führte dazu, dass andere Menschen ihr
Versagen, durch Lachen, negativ bewertet haben. Das Resultat dieses
8
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