Trauma und Dissoziation bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen PD Dr. med. Ingo Schäfer, MPH Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf DGTD-Tagung, Bielefeld 05.10.-06.10.2012 „Gewalt in der Kindheit hat denselben Stellenwert für die Psychiatrie, wie Zigarettenrauchen für die restliche Medizin.“ Steven Sharfstein APA-Präsident 2005-2006 Haben wir den Elefanten im Blick? • Überbewertung der „genetischen Disposition“ und anderer biologischer Aspekte • Häufig Vermittlung biologischer Krankheitsmodelle („Diabetes-Analogie“) • Therapeuten/innen oft unsicher im Umgang mit Berichten von traumatischen Erfahrungen • Kaum traumaspezifische Angebote für Betroffene • Retraumatisierungen in der Psychiatrie Übersicht Traumatisierungen als Risikofaktor Bedeutung für die Klinik Implikationen für die Therapie N=9282 12 Formen früher Belastungen 20 psych. Erkrankungen (DSM-IV) Childhood Adversities Increase the Risk of Psychosis: A Meta-analysis of Patient-Control, Prospective- and Cross-sectional Cohort Studies F. Varese, ... , J. van Os & R. Bentall Schizophr Bull (2012) Mar 29 [Epub ahead of print] Erklärungsmodelle bei Psychosen • Negative kognitive Schemata und negativer Affekt assoziiert mit der Entwicklung von Positivsymptomen (z.B. Birchwood et al. 2004, Fowler et al. 2006) • Bei traumatisierten Menschen erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber (vermeintlich) bedrohlichen Situationen (z.B. Frith et al. 1992, Pollak et al. 2005) • Bedeutung von “intrusiven Gedanken” für Symptomatik (z.B. Morrison et al. 2001, 2004) Einflüsse auf die neuronale Entwicklung Neuronale Transmission Hypothalamus CRH Amygdala Hippocampus Hypophyse ACTH Cortisol Nebennierenrinde „Experience Sampling Methode“ • N=50 Patienten mit psychot. Strgn. • Erhebung von Traumatisierungen (CTQ)Alltagsstress (Ereignisse u. Aktivitäten), sowie emotionalen und psychotischen Reaktionen darauf. Signifikante Interaktionen zwischen Trauma, Stress, und neg. Emotionen (events p< 0.04; activity p< 0.001) bzw. psychotischen Symptomen (events p< 0.001; activity p< 0.001). Lardinois et al. (2011) Acta Scand Psych, 123: 28-35 „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ Stressoren/Risikofaktoren • Frühe Traumatisierungen • Andere. Entwicklungsrisiken • Life Events Vulnerabilität • Genetik • „Temperamentsfaktoren“ • Prä- u. Perinatale Risiken • Frühe Gewalt • Vernachlässigung • ... Psychose Übersicht Traumatisierungen als Risikofaktor Bedeutung für die Klinik Implikationen für die Therapie Sexueller Missbrauch: Frauen 42% Männer 28% Körperliche Misshandlung: Frauen 35% Männer 38% Frühe Gewalt bei Psychosepatienten Pat. mit F2-Störungen Frauen (N=46) Allgemeinbevölkerung* 46% Sex. Körperkontakt: 29% Schwere Formen: 9% Misshandlung: 31% Männer (N=94) 28% Sex. Körperkontakt: 12% Schwere Formen: 6% Misshandlung: 23% 8.6% 4.0% 11.0% 2.8% 0.9% 11.0% * (Wetzels 1997/2007) Unterschiede in Bezug auf die Symptomatik • Halluzinationen mit direktem Bezug zum Trauma (z.B. Heins et al. 1990, Read & Argyle 1999) • Subtilere Zusammenhänge mit der Symptomatik (z.B. mehr bedrohliche und feindselige Stimmen) (z.B. Offen et al. 2003, Hardy et al. 2005) • Mehr „Positivsymptome“, weniger „Negativsymptome“ (z.B. Muenzenmaier et al. 1993, Ross et al. 1994, Read et al. 2002) Kasuistik Frau A. Frau A., 35 Jahre, ist seit ihrem 23. Lebensjahr an einer Psychose aus dem „schizophrenen Formenkreis“ erkrankt. Bei einer erneuten stationären Aufnahme fällt es aufgrund erheblicher formaler Denkstörungen zunächst schwer, die Probleme, die sie am Stärksten belasten, zu verstehen. Schließlich wird deutlich, dass sie jeden Tag beim Zubettgehen unter Vergewaltigungsgefühlen leidet, die von der Stimme des Täters begleitet werden. Sie ist der festen Überzeugung, dass ihr Vater in der Wohnung über ihr wohnt und abends kommt um sie zu missbrauchen. Verlauf und zusätzliche Probleme • Jüngeres Erkrankungsalter • Mehr Angst, Depression, Substanzmissbrauch • Häufiger Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten • Mehr Probleme in nahen Beziehungen • Längere Aufenthalte, mehr „chronische“ Verläufe (z.B. Goodman & Fallot 1998, Scheller-Gilkey et al. 2002, Lysaker et al. 2005, Roy 2005) • N=40 (23% sex. Missbrauch) • M=20.1±5.4 KVT-Sitzungen Signifikant schlechtere Einschätzung der therap. Allianz durch Pat. mit sex. Missbrauch PTBS bei Patienten mit psychotischen Störungen Studie Stichprobe Instrument Aktuelle PTBS Neria et al. (2002) N=426 Schizophrenie-Spektrum SCID 14% J Consult Clin Psychol /affektive Psychosen Fan et al. (2008) N=87, Schizophrenie-Spektrum HTQ 17% Psychiatry Res 25% weiblich Lommen & Restifo (2009) N=33, Schizophrenie-Spektrum PSS-SR 18% Community Ment Health J 39% weiblich Goldberg & Garno (2005) N=100, Bipolare Störung SCID 24% J Psychiat Res 34% weiblich Assion et al. (2009) N=74, Bipolare Störung PDS, 20% Soc Psychiat Epidemiol 60% weiblich CAPS In der Akte dokumentiert: 0-3% (Mueser et al. 1998, Brady et al. 2003, Lommen et al. 2009) Komorbide Posttraumatische Belastungsstörung PTBS Intrusionen Vermeidung Hyperarousal Psychose + Reviktimisierung + Substanzmissbrauch • Rückfälle • Höhere Inanspruchnahme Therapeutische Allianz • Schlechtere Prognose (Mueser et al. 2002) Dissoziation und Psychose - Zusammenhänge “Ersttrang-“ Symptome bei Dissoziativen Störungen “Komorbidität“ von Dissoziativen Störungen und Psychosen (z.B. Dorahy et al. 2009, Tschoeke & Steinert 2010) (z.B. Giese et al. 1997, Alao et al. 20o0) Dissoziativer Subtyp von Psychosen (z.B. Ross 2004, Sar et al. 2010) Dissoziative Symptome bei Psychosen (z.B. Goff et al. 1991, Schäfer et al. 2006) Befunde bei Patienten mit Psychosen • Dissoziation assoziiert mit größerer Symptomschwere (z.B. Vogel et al. 2006, 2009) • Dissoziative Symptome korrelieren mit Positivsymptomen, v.a. Wahn und Halluzinationen (z.B. Ross & Keyes 2004, Lysaker et al. 2008) • Signifikante Zusammenhänge mit sexueller und/oder körperlicher Misshandlung in der Kindheit (z.B. Goff et al. 1991, Bob et al. 2006, Schäfer et al. 2006, 2012) Frühe Traumatisierung und Dissoziation Zusammenhänge zwischen frühem Trauma u. Dissoziation bei... • ... Affektiven Störungen • ... Zwangsstörungen • ... BPD • ... Somatisierungsstörung • ... Suchterkrankungen • ... Sar & Ross (2006) Psychiatr Clin N Am Übersicht Traumatisierungen als Risikofaktor Bedeutung für die Klinik Implikationen für die Therapie „Traumasensible“ Behandlung • Setting vermittelt „Gefühl der Sicherheit“ • Systematische Diagnostik • Psychoedukation und basale Interventionen (Stabilisierungstechniken) • Vernetzung mit niedergelassenen TherapeutInnen und spezialisierten Kliniken „Trigger“ in der Psychiatrie • Geschlossene Räume • Beobachtet oder überwacht werden • Androhung oder Ausübung körperlicher Gewalt • Miterleben von Gewalt oder Selbstverletzung • Isolation • Fehlende Privatsphäre • Autoritäre Personen/Männer • Dunkelheit • Laute Geräusche • Ablegen der Kleidung •... „Learning how to ask“ Schulungen... ... zur Bedeutung von Traumatisierungen ... zu Diagnostik und Beratung (konkrete Fragetechniken, Umgang mit Berichten,...) „Sicherheit finden“ (Najavits 2002) • Integration von Trauma- und Suchtperspektive • Stabilisierung und Aufbau sicherer Copingstrategien • In unterschiedlichen Settings einsetzbar • Studien zur Wirksamkeit (www.seekingsafety.org) “Sicherheit finden” in Bethel Fortlaufende Gruppe für weibliche Patienten mit Suchtproblemen und Traumatisierungen „Sicherheit finden“ bzw. „STAR“ Angebot kann zusätzlich zu anderen Therapien genutzt werden Unverbindliche Vorgespräche/Diagnostik Kontakt: Dr. Michael Huppertz, Tel. 0521 / 772 78758 Michael Leggemann, Tel. 0521 / 772 78469 • N=103 amb Pat. mit polyvalenter Abhängigkeit, 62% weiblich • Exposition (Median=5 Sitzungen) vs. „treatment as usual“ • CAPS-Score nach 9 Mon. 52.9 vs. 67.2 (p=.02 ) • Keine Adverse Events (Suizidversuche, SVV, stat. Aufn.) Treating Trauma in Psychosis with EMDR: A pilot study D. Van den Berg, M. van der Gaag J Behav Ther & Exp J Anxiety Psychiat Dis (2012) (2009) 43: 23: 664–671 665–675 N=27 (Schizophrenia Spectrum und PTBS) Max. 6 Sitzungen EMDR •81% Completer (N=22) •77% davon (N=17) erfüllten PTBS-Diagnose nicht mehr •Signifikante Reduktion von Akust. Halluzinationen, Wahn •Keine Adverse Events (Suizidversuche, SVV, stat. Aufn.) Arbeit mit Stimmenphänomenen (M. Romme, S. Escher, Psychiatrie Verlag, 2008) Grundannahme: Stimmenphänomene haben eine psychologische Bedeutung und Funktion (dissoziierte Anteile) Ziel ist Integration dissoziierter Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen Geeignet für Patienten, bei denen ein „therapeutischer Dialog“ mit den Stimmen aufgenommen werden kann Im Verlauf erläutert Stimme häufig seine/ihre Funktion, Patienten treten selbst vermehrt in (heilsame) Dialoge Schlussfolgerungen • Kausale Bedeutung früher Traumatisierungen auch bei Psychosen und anderen „schweren psychischen Erkrankungen“ • Hohe Prävalenz früher Traumatisierungen und posttraumatischer Störungen, Auswirkungen auf Therapie und Verlauf • Notwendigkeit „traumasensibler“ Settings • Gesamte Bandbreite traumaspezifischer Angebote auch für Personen mit „schweren psychischen Erkrankungen“ Vielen Dank für die Aufmerksamkeit ! www.trauma-und-sucht.de