Verrückt vor Angst? Frühe Traumatisierungen bei Patienten mit schweren psychischen Störungen PD Dr. med. Ingo Schäfer, MPH Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Psychosomatik am Universitätsspital Basel, 18.10.2011 „Gewalt in der Kindheit hat denselben Stellenwert für die Psychiatrie, wie Zigarettenrauchen für die restliche Medizin.“ Steven Sharfstein APA-Präsident 2005-2006 Haben wir den Elephanten im Blick? Beispiel psychotische Erkrankungen • Überbewertung der „genetischen Disposition“ und anderer biologischer Aspekte Führen Traumatisierungen zu Psychosen? Falls ja, wie? • Oft eher Vermittlung biologischer Krankheitsmodelle („Diabetes-Analogie“) Anteil betroffener Patienten? Besondere Symptomatik? • Nicht selten lösen Berichte von traumatischen Erfahrungen Hilflosigkeit bei Helfenden aus „Komorbide“ Posttraumatische Störungen? Kontinuen? Therapeutische Konsequenzen? • Kaum traumaspezifische Angebote für Betroffene • Teilweise Retraumatisierungen in der Psychiatrie 1 Sexueller Missbrauch und psychische Störungen Warum wurden Psychosen oft nicht berücksichtigt? Zusammenhänge mit sexuellem Missbrauch (nach Kontrolle weiterer familiärer Faktoren) OR (95% CI) Depression 2.80 (1.69 - 4.64) Panikstörung 2.62 (1.08 - 6.34) GAD 2.62 (1.47 - 4.65) Bulimie 5.62 (2.02 - 15.68) Alkoholabhängigkeit 4.75 (2.34 - 9.62) Drogenabhängigkeit 5.86 (2.55 - 12.64) ≥ 2 Störungen 5.05 (2.92 - 8.71) Reliability and Comparability of Psychosis Patients‘ Retrospective Reports of Childhood Abuse H.L. Fisher et al. Biologisches Krankheitsmodell; Traumatisierungen allenfalls als „Auslöser“ von Psychosen Problematische Geschichte der Auseinandersetzung mit familiären Faktoren („schizophrenogene Mutter“) Schizophrenia Bulletin (2009) doi:10.1093/schbul/sbp103 Ersterkrankte Psychosepatienten (N=84 „AESOP-Study“) Sexueller Missbrauch und Misshandlung ≤16 Jahre (CECA.Q) • Konvergente Validität mit Aktenangaben akzeptabel (CSA: κ=0.526, p<.001; CPA: κ=0.394, p<.001) Bei Traumatisierungen in der Anamnese werden Symptome uminterpretiert und Diagnosen gewechselt Validität der Angaben wird pauschal in Frage gestellt • Berichte über 7 Jahre ausreichend stabil (CSA: κ=0.590, p<.01; CPA: κ=0.634, p<.001) • Kein Zusammenhang mit aktuellen psychotischen Symptomen 2 Epidemiologische Studien zu Zusammenhängen Autoren Stichprobe Ergebnisse Janssen et al. „NEMESIS“-Studie, N=4.045 Sex. Missbrauch assoziiert mit Auftreten von Positivsympt. (Adj. OR 7.3). „British Nat. Survey“ N=8.580 Sexuelle Viktimisierung assoziiert mit psychot. Störungen (Adj. OR 2.9) „ACE“-Studie N=17.337 Frühe belastende Erfahrungen assoziiert mit späteren Halluzinationen (>4: OR 4.7). „ESDP“-Studie N=2.524 Anzahl von Traumatisierungen assoziiert mit psychot. Störungen (Adj. OR 1.89) Acta Psychiat Scand (2004) Bebbington et al. British J Psychiatry (2004) Whitfield et al. Child Abuse Neglect (2005) Spauwen et al. Acta Psychiat Scand (2005) Shevlin et al. American J Psychiatry (2007) „NEMESIS“ - Studie „Nat. Comorb. Survey“ Kindliche phys. Misshandlung assoziiert mit psychot. Störungen (OR 2.68) N=5.788 Childhood Trauma and Psychosis: A Case-Control and Case-Sibling Comparison Across Different Levels of Genetic Liability, Psychopathology, and Type of Trauma M. Heins, ..., J. van Os, I. Myin-Germeys Schwere der Traumaexposition in den drei Gruppen Am J Psych (doi: 10.1176/appi.ajp.2011.10101531) Kontrolle familiärer Faktoren, Hinweis auf Validität falls Trauma bei Patienten > Geschwister > Kontrollen Zusammenhänge bei allen Gruppen sprechen gegen genet. Einflüsse, reportingbias und umgekehrte Kausalität (Patienten N=272; Geschwister N=258; Kontrollen N=227) Childhood Trauma and Children‘s Emerging Psychotic Symptoms: A Genetically Sensitive Longitudinal Cohort Study L. Arsenault, M. Cannon, H.L. Fisher et al. Am J Psychiatry (2011), 168, 65–72 „Environmental Risk Longitudinal Twin Study“ 2232 Zwillinge, Erhebungen mit 5, 7, 10, 12 Jahren Kontrolle von: • Geschlecht • Soz. Status • Int./Ext. Sympt. • Genet. Risiko 3 Cannabis use and psychosis: re-visiting the role of childhood trauma J.E. Houston, et al. Psychol Med (2011), 41, 2339–2348 • N=211 Jungendliche (12-15 J.) • Erhebung von Positivsymptomen (Wahn und Halluzinationen) Cannabis use and psychosis: re-visiting the role of childhood trauma J.E. Houston, et al. Psychol Med (2011), 41, 2339–2348 Frühes Trauma und spätere Stressverarbeitung Anhaltend erhöhte Stress-Sensitivität nach frühen Traumatisierungen (z.B. Heim et al. 2000, 2008) Enge Interaktionen zwischen Stress-Achse und Dopamin-System (Übersicht: Van Winkel et al. 2008) „Experience Sampling Methode“ • N=50 Patienten mit psychot. Strgn. • Erhebung von Traumatisierungen (CTQ) Alltagsstress (Ereignisse u. Aktivitäten), sowie emotionalen und psychotischen Reaktionen darauf. Signifikante Interaktionen zwischen Trauma, Stress, und neg. Emotionen (events p< 0.04; activity p< 0.001) bzw. psychotischen Symptomen (events p< 0.001; activity p< 0.001). Lardinois et al. (2011) Acta Scand Psych, 123: 28-35 4 „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ Bedeutung von Kognitionen und Affekten Stressoren/Risikofaktoren Negative kognitive Schemata und negativer Affekt assoziiert mit der Entwicklung von Positivsymptomen • Traumatisierungen • Andere. Entwicklungsrisiken (z.B. Birchwood et al. 2004, Fowler et al. 2006) Bei traumatisierten Menschen erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber (vermeintlich) bedrohlichen Situationen (z.B. Frith et al. 1992, Pollak et al. 2005) • Life Events Vulnerabilität • Genetik Psychose • „Temperamentsfaktoren“ • Prä- u. Perinatale Risiken Bedeutung von “intrusiven Gedanken” für Symptomatik (z.B. Morrison et al. 2001, 2004) Beispiel psychotische Erkrankungen • Unsichere Bindung • Geringe Fähigkeit zur Selbstregulation Sexueller Missbrauch in der Allgemeinbevölkerung (N=3.241; <16 Jahre) Führen Traumatisierungen zu Psychosen? Falls ja, wie? Anteil betroffener Patienten? Besondere Symptomatik? 13,8 % „Komorbide“ Posttraumatische Störungen? Therapeutische Konsequenzen? 4,3 % 2,8 % 8,6 % (Wetzels et al. 1997/2007) Sexueller Missbrauch: Frauen 42% Männer 28% Körperliche Misshandlung: Frauen 35% Männer 38% 5 Frühe Gewalt bei Psychosepatienten Allgemeinbevölkerung* Pat. mit F2-Störungen Frauen (N=46) Frau A., 35 Jahre, ist seit ihrem 23. Lebensjahr an einer Psychose aus dem „schizophrenen Formenkreis“ erkrankt. 46% Sex. Körperkontakt: 29% 9% Schwere Formen: Misshandlung: 31% Männer (N=94) Kasuistik Frau A. 8.6% 4.0% 11.0% 28% 2.8% 0.9% 11.0% Sex. Körperkontakt: 12% Schwere Formen: 6% Misshandlung: 23% Bei einer erneuten stationären Aufnahme fällt es aufgrund erheblicher Denkstörungen zunächst schwer, die Probleme, die sie am Stärksten belasten, zu verstehen. Schließlich wird deutlich, dass sie jeden Tag beim Zubettgehen unter Vergewaltigungsgefühlen leidet, die von der Stimme des Täters begleitet werden. Sie ist der festen Überzeugung, dass ihr Vater in der Wohnung über ihr wohnt und abends kommt um sie zu missbrauchen. * (Wetzels 1997/2007) Unterschiede in Bezug auf die Symptomatik Halluzinationen mit direktem Bezug zum Trauma Verlauf und zusätzliche Probleme Jüngeres Erkrankungsalter (z.B. Heins et al. 1990, Read & Argyle 1999) Mehr Angst, Depression, Substanzmissbrauch Subtilere Zusammenhänge mit der Symptomatik (z.B. mehr bedrohliche und feindselige Stimmen) Häufiger Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten (z.B. Offen et al. 2003, Hardy et al. 2005) Mehr Probleme in nahen Beziehungen Mehr „Positivsymptome“, weniger „Negativsymptome“ (z.B. Muenzenmaier et al. 1993, Ross et al. 1994, Read et al. 2002) Längere Aufenthalte, mehr „chronische“ Verläufe (z.B. Goodman & Fallot 1998, Scheller-Gilkey et al. 2002, Lysaker et al. 2005, Roy 2005) Childhood Maltreatment Predicts Unfavorable Course of Illness and Treatment Outcome in Depression: A Meta-Analysis V. Nanni, R Uher, A. Danese Frühe Misshandlung und Therapieerfolg bei depressiven Störungen N=10 Studien (3.098 Personen) Am J Psych (doi: 10.1176/appi.ajp.2011.11020335) • N=40 (23% sex. Missbrauch) • M=20.1±5.4 KVT-Sitzungen Pat. mit sex. Missbrauch schätzen therap. Allianz im WAI signifikant schlechter ein 6 PTBS bei Patienten mit psychotischen Störungen Studie Neria et al. (2002) J Consult Clin Psychol Stichprobe Instrument Aktuelle PTBS N=426 Schizophrenie-Spektrum SCID 14% HTQ 17% PSS-SR 18% SCID 24% Komorbide Posttraumatische Belastungsstörung PTBS Intrusionen Vermeidung Hyperarousal /affektive Psychosen Fan et al. (2008) N=87, Schizophrenie-Spektrum Psychiatry Res 25% weiblich Lommen & Restifo (2009) N=33, Schizophrenie-Spektrum Community Ment Health J 39% weiblich Goldberg & Garno (2005) N=100, Bipolare Störung J Psychiat Res 34% weiblich Assion et al. (2009) N=74, Bipolare Störung PDS, Soc Psychiat Epidemiol 60% weiblich CAPS Psychose + Reviktimisierung + Substanzmissbrauch 20% In der Akte dokumentiert: 0-3% (Mueser et al. 1998, Brady et al. 2003, Lommen et al. 2009) • Rückfälle • Höhere Inanspruchnahme Therapeutische Allianz • Schlechtere Prognose (Mueser et al. 2002) Beispiel psychotische Erkrankungen Führen Traumatisierungen zu Psychosen? Falls ja, wie? Anteil betroffener Patienten? Besondere Symptomatik? „Komorbide“ Posttraumatische Störungen? Therapeutische Konsequenzen? Was kennzeichnet „traumatische Erfahrungen“ ? „Extremer Stress“ „Todesangst“ Gefühl der Sicherheit „Unberechenbarkeit“ „Sich völlig hilflos fühlen“ „Keine Kontrolle haben“ „Ausgeliefert sein“ Autonomie, Kontrolle „Ich wusste nie wann es passiert“ Vorhersehbarkeit, Transparenz Mögliche „Trigger“ für traumatisierte Menschen • Geschlossene Räumen oder Orte • Beobachtet oder überwacht werden • Androhung oder Ausübung körperlicher Gewalt • Miterleben von Gewalt oder Selbstverletzung • Isolation • Fehlende Privatsphäre • Autoritäre Personen/Männer • Dunkelheit • Laute Geräusche • Ablegen der Kleidung • . . . 7 „Traumasensible“ Behandlung Setting vermittelt „Gefühl der Sicherheit“ Systematische Diagnostik Psychoedukation und basale Interventionen (Stabilisierungstechniken) Vernetzung mit niedergelassenen TherapeutInnen und spezialisierten Kliniken Traumatisierungen zum Thema machen A Randomized Controlled Trial of Cognitive-Behavioral Treatment for Posttraumatic Stress Disorder in Severe Mental Illness K.T. Mueser et al. Systematisch (!) behutsame Gesprächsangebote zu traumatischen Erfahrungen N=108; Affektive Störungen (85%) bzw. Schizophrenie oder Schizoaffektive Störung (15%), 25% komorbide BPD Validierung der Wahrnehmung Betroffener, Korrektur verzerrter Annahmen von Verantwortlichkeit Psychoedukation zu den Folgen, Bedeutung für die Biographie und die Erkrankung A Randomized Controlled Trial of Cognitive-Behavioral Treatment for Posttraumatic Stress Disorder in Severe Mental Illness K.T. Mueser et al. J Consult Clin Psychol (2008) 76:259–271 J Consult Clin Psychol (2008) 76:259–271 Kogn. VT vs. TAU 2 3-6 8-10 2 Sitzungen Einführung/Krisenplan Sitzungen Psychoedukation, Atemtraining Sitzungen kognitive Umstrukturierung Sitzungen Abschluss Exposure-based cognitive-behavioral treatment of PTSD in adults with schizophrenia or schizoaffective disorder: A pilot study C. Frueh et al. J Anxiety Dis (2009) 23: 665–675 3-Monats-follow-up (N=65) und 6-Monats-follow-up (N=53) N=20, Sitzungen 2x/Woche über 11 Wochen: • Signifikant stärkere Verbesserungen von PTBS, subjektiver Gesundheit, negativen Kognitionen und therapeutischer Allianz • „Klienten mit schweren psychischen Erkrankungen können trotz schwerer Symptomatik, Suizidgedanken ... von VT-interventionen profitieren“ 1 Sitzung Psychoedukation, 2 Sitzungen Angstbewältigung 7 Sitzungen Soziale Kompetenz, Wutkontrolle 4 Sitzungen Bewältigung PTBS-Symptome Gruppe 8 Expositionssitzungen 8 Exposure-based cognitive-behavioral treatment of PTSD in adults with schizophrenia or schizoaffective disorder: A pilot study Treating Trauma in Psychosis with EMDR: A pilot study C. Frueh et al. D. Von den Berg, M. van der Gaag J Anxiety Dis (2009) 23: 665–675 • Bei Completern (n=13) signifikante Verbesserung der PTBS, stabil bei 3-Monats-follow-up (Kriterien bei 12 von 13 nicht mehr erfüllt) • Verbesserung weiterer Zielkriterien (Wut, globale Symptomatik, etc.) J Behav Ther & Exp J Anxiety Psychiat Dis (2012) (2009) 43: 23: 664–671 665–675 N=27 (Schizophrenia Spectrum und PTBS) Max. 6 Sitzungen EMDR • • • • 81% Completer (N=22) 77% davon (N=17) erfüllten PTBS-Diagnose nicht mehr Signifikante Reduktion von Akust. Halluzinationen, Wahn Keine Adverse Events (Suizidversuche, SVV, stat. Aufn.) Schlussfolgerungen Kausale Bedeutung früher Traumatisierungen auch bei Psychosen und anderen „schweren psychischen Erkrankungen“ Hohe Prävalenz früher Traumatisierungen und posttraumatischer Störungen bei Patienten, Auswirkungen auf Therapie und Verlauf Notwendigkeit „traumasensibler“ Settings Gesamte Bandbreite traumaspezifischer Angebote auch für Personen mit „schweren psychischen Erkrankungen“ www.trauma2012.de Vielen Dank für die Aufmerksamkeit ! www.trauma2012.de www.trauma-und-sucht.de 9