März 2009 Komplexe Traumafolgestörungen Diagnostik und Grundstrategien der Behandlung PD Dr. med. Martin Sack (München) [email protected] Wie sind die Beschwerden traumatisierter Patienten einzuordnen? www.martinsack.de Spezifische mit dem Trauma assoziierte Symptome (z.B. PTBS, Dissoziative Störung) Sekundär in Folge der Traumatisierung entstandene Symptome (z.B. Angst vor Menschen, Beziehungsstörungen) Vorbestehende psychische Störungen (z.B. ängstliche Persönlichkeit) Entwicklungsdefizite bei frühen Traumatisierungen (z.B. Ichstrukturelle Störung) 1 März 2009 Notwendige Vielfalt der Behandlungstechniken ! Stabilisierende Behandlungstechniken (z.B. Imaginationsübungen, Kognitivbehaviorale Therapie, stabilisierende Gespräche) Spezielle Traumabearbeitungstechniken (z.B. Prolongierte Exposition, Bildschirmtechnik, EMDR) Psychodynamische Therapietechniken (z.B. Bearbeitung einer konflikthaften oder abgewehrten emotionalen Reaktion) Verhaltenstherapeutische Techniken (z.B. Kognitive Techniken, Psychoedukation, Symptomtagebücher, Übungen zum Symptommanagement, Training sozialer Fertigkeiten) Angstmodell der posttraumatischen Störungen Während des Traumas kommt es zu einer Überflutung mit aversiven Reizen, die zur Ausbildung einer traumaassoziierten Angststruktur führen kann Die Angststruktur wird durch Auslösereize (sog. Trigger) und durch intrusives Wiedererleben aktiviert Es resultiert Vermeidungsverhalten, was die weitere Verarbeitung der traumatischen Angst erschwert Die Angst generalisiert zunehmend (z.B. generelle Angst vor Menschen) www.martinsack.de 2 März 2009 Informationsverarbeitungmodell der posttraumatischen Störungen Traumatisierungen sind durch Angst und extreme Stressreaktionen gekennzeichnet Es kommt zu einer Überforderung der normalen Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung Dissoziative Schutzmechanismen führen zudem zu einem Kohärenzverlust sensorischer Informationen Die traumatische Erfahrung wird zumindest partiell in der Form fragmentierter impliziter Erinnerungen abgespeichert Die Fragmentierung der Erinnerung und das Fehlen funktionaler assoziativer Vernetzungen begünstigt die Triggerbarkeit traumatischer Erinnerungen durch Auslösereize Eine narrative Rekonstruktion des traumatischen Geschehens ist aufgrund der hohen subjektiven Belastung bei Aktivierung traumatischer Erinnerungsfragmente erschwert Zuviel oder Zuwenig: Polarität der posttraumatischen Symptomatik Intrusive Symptomatik www.martinsack.de Konstriktive Symptomatik Sich aufdrängende Erinnerungen, zwanghafte Gedanken an das Trauma Gedanken Erinnerungslücken, Konzentrationsstörungen Angst, fehlendes Sicherheitsgefühl, Ohnmacht, Hilflosigkeit Affekt Gefühllosigkeit, emotionale Vertaubung, Lustlosigkeit, fehlende Zukunftsperspektive Körper‐Flash‐backs, Körpererinnerungen, Schmerzsymptome Körpererleben Entfremdungserleben, Depersonalisation Unkontrollierbare Stressreaktionen, Abreaktionen Ausdrucksverhalten Stupor, Lähmung, Kraftlosigkeit, extreme Erschöpfung 3 März 2009 Traumafolgestörungen sind keine Neurosen! Schwere seelische Traumatisierung führen zu typischen neurobiologischen Folgeerscheinungen, die sich nicht (nur) psychodynamisch oder lerntheoretisch erklären lassen: - Hypervigilanz und Schreckhaftigkeit erhöhtes psychophysiologisches Erregungsniveau triggerbare Ängste und Erregung Schlafstörungen Schwierigkeiten traumabezogene Erinnerungen zu verbalisieren Häufige Symptome und zugeordnete klinische Diagnosen bei chronisch traumatisierten Patienten www.martinsack.de Symptomatik Klinische Diagnose Intrusionen, Vermeidungsverhalten Soziale Ängste, Phobien Suizidalität, Hoffnungslosigkeit Erschöpfung, Schmerzsyndrome, erhöhtes vegetatives Erregungsniveau Amnesien, Depersonalisation und Derealisation Beziehungsstörungen, Misstrauen, Impulsivität, Selbstverletzen, Scham und Schuldgefühle Alkohol- und Medikamentenmissbrauch Wasch- und Reinigungszwänge Posttraumatische Belastungsstörung Angststörungen Depressive Störungen Somatoforme Störungen Dissoziative Störungen Persönlichkeitsstörungen Suchterkrankungen Zwangsstörungen 4 März 2009 Suche nach einer diagnostischen Klassifikation für die Folgen besonders schwerer psychischer Traumatisierung Vorschlag von Lenore Terr (1991): • • Einzeltraumatisierung (Typ I-Trauma) Multiple Traumatisierung (Typ II-Trauma) Terr, L.C.: Childhood traumas: An outline and overwiew. American Journal of Psychiatry 148 (1991) 10-29 • Definitorisches Problem: Was genau ist ein multiples Trauma? - Wie oft? - Wie lange? - Nur Kindheitstraumatisierungen? Komplexe Traumatisierung (Typ II Trauma) www.martinsack.de Es handelt sich immer um Traumatisierungen durch Menschen Es handelt sich um wiederholte (mehr als 1 x) oder besonders langdauernde (mehr als 24h) Traumatisierungen Hilfe oder Unterstützung nach dem Trauma fehlt Das Opfer gerät in einen Zustand von prolongierter Hilflosigkeit und Entsetzen (mehrere Tage in Folge) 5 März 2009 Komplexe PTBS: Judith Herman 1992 Komplexe PTBS Konzept Befunde Therapie Ausblick Komplexe PTBS: Symptombereiche Störungen in der Regulation von Affekten und Impulsen Störungen der Wahrnehmung oder des Bewußtseins Störungen der Selbstwahrnehmung (Verzerrte Wahrnehmung des Täters) Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen Somatisierung Veränderung von Lebenseinstellungen www.martinsack.de 6 März 2009 I. Störung der Regulation von Affekten und Impulsen a) b) c) d) e) f) Affektregulation (2 von 3 Items) Schwierigkeiten im Umgang mit Ärger (2 von 4 Items) Autodestruktives Handeln Suizidalität Störung der Sexualität Risikoverhalten Mindestens a) und mindestens ein Kriterium von b) bis f) müssen erfüllt sein II. Störungen der Wahrnehmung oder des Bewußtseins a) Amnesien b) Dissoziative Episoden und Depersonalisation Mindestens ein Kriterium muss erfüllt sein www.martinsack.de 7 März 2009 III. Störungen der Selbstwahrnehmung a) b) c) d) e) f) Wirkungslosigkeit Stigmatisierung Schuldgefühle Scham Isolation Bagatellisieren Mindestens 2 Kriterien von a) bis f) müssen erfüllt sein IV. Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen a) Unfähigkeit zu vertrauen b) Reviktimisierung c) Viktimisierung anderen Menschen Mindestens ein Kriterium muss erfüllt sein www.martinsack.de 8 März 2009 V. Somatisierung a) Somatoforme Symptome b) Hypochondrische Ängste Mindestens ein Kriterium muss erfüllt sein VI. Veränderungen von Lebenseinstellungen a) Fehlende Zukunftsperspektive b) Verlust von persönlichen Grundüberzeugungen Mindestens ein Kriterium muss erfüllt sein www.martinsack.de 9 März 2009 Borderline Persönlichkeitsstörung Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung Impulsivität in mindestens 2 potentiell Störung der Affektregulation mit impulsiven und selbstschädigenden Bereichen risikoreichen Verhaltensweisen Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstverletzendes und suizidales Verhalten Suiziddrohungen Affektive Instabilität und Störung der Affektregulation, Impulsivität und Stimmungsschwankungen autodestruktives oder risikoreiches Verhalten Chronisches Gefühl von Leere - Unangemessene heftige Wut Schwierigkeiten, Ärger zu modulieren Ausgeprägte Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstvorwürfe, Schuldgefühle, Scham, Selbstwahrnehmung Gefühl, isoliert von anderen Menschen zu sein Vorübergehende paranoide oder dissoziative Dissoziative Symptomatik Symptome Muster instabiler aber intensiver Extremes Misstrauen, Tendenz erneut zum zwischenmenschlicher Beziehungen Opfer zu werden (Idealisierung und Entwertung) Somatoforme Köperbeschwerden Verzweifeltes Bemühen, Verlassenwerden zu - vermeiden - Fehlende Zukunftsperspektive, Verlust von persönlichen Grundüberzeugungen Grundlegende Therapiestrategien in der Behandlung von Patienten mit komplexer PTBS Verbesserung der Alltagsfunktionalität Spezifische Stabilisierung traumabezogener Ich-Zustände Traumabearbeitung Arbeit an den Themen: Soziale Ängste, Beziehungsfähigkeit, Nähe/Distanz, Schuld- und Schamgefühlen Entwicklung einer neuen Lebensperspektive (Überwinden der Opferrolle) www.martinsack.de 10 März 2009 Behandlung der komplexen PTBS kleine Schritte klare Ziele Haltgebendes und verbindliches Setting Ressourcenorientierung Aktive Mitarbeit und Eigenverantwortung der Patienten fördern Traumaexposition nach guter Vorbereitung und nur wenn eindeutiger Nutzen absehbar ist Traumabearbeitung bei Patienten mit komplexer PTBS Umgekehrte Reihenfolge: zunächst Alltagsbelastungen und Auslöser dann erst Traumatisierungen in der Vergangenheit bearbeiten Anpassen der Traumabearbeitung www.martinsack.de Bei Zielauswahl Affekttoleranz berücksichtigen mit kleineren Traumatisierungen beginnen Ressourcenaktivierung während der Traumabearbeitung Traumabearbeitung in Etappen einteilen Genug Zeit einplanen, auch für Gespräche Stabilisierung ist im Verlauf immer wieder notwendig 11 März 2009 Hierarchie der Therapieziele Suizidalität Selbstschädigende Handlungen und SVV aktuelle Krisen Alltagsbewältigung Stabilisierung Arbeit an Erinnerungsauslösern Arbeit an belastenden Erinnerungen Dissoziation ist der Schlüssel zum Verständnis der posttraumatischen Störungen www.martinsack.de 12 März 2009 Dissoziation und Gedächtnis Dissoziierte Erfahrungen sind im Gedächtnis gespeichert, also im Prinzip wieder abrufbar Reize die während Traumatisierungen gar nicht wahrgenommen werden (z.B. wegen Bewußtlosigkeit) sind hingegen nicht erinnerbar Negative dissoziative Symptome Verluste von Gedächtnisinhalten Verlust der motorischen Kontrolle Verlust sensorischer Funktionen Es handelt sich um 'verloren gegangene' Inhalte oder Fähigkeiten, die jedoch von einem anderen Teil der Persönlichkeit 'gewusst' oder 'gekonnt' werden (Michaela Huber) www.martinsack.de 13 März 2009 Positive dissoziative Symptome Positive dissoziative Symptome sind: Intrusionen und Flashbacks Körpersymptome die intrusiven Erinnerungen entsprechen (sog. somatoforme Dissoziation nach Nijenhuis 2004) sog. pseudopsychotische Symptome z.B. Stimmenhören im Kopf, Gefühl der Besessenheit etc. Dissoziation und Aktionssysteme Dissoziative Persönlichkeitsanteile werden von modularen Aktionssystemen gesteuert, die bestimmte sinnvolle Funktionen im Sinne des Überlebens des Organismus erfüllen Beispiel: www.martinsack.de Aufmerksamkeits und Angstsystem Fluchtsystem Angriff und Verteidigungssystem Schreckstarre (Freezing) Unterwerfung 14 März 2009 Differentialdiagnose Psychotische Störungen Cave: bei PatientInnen mit Dissoziativen Störungen finden sich nicht selten pseudopsychotische Symptome • Stimmenhören (z.B. kommentierende Stimmen) • Wahrnehmungsverzerrungen ('Pseudoalluzinationen') • Beeinflussungserleben (Gefühl 'fremdgesteuert zu sein') • Stuporöse Zustände (z.B. 'Plötzliche Lähmung') • Weglaufen (Fugue) • Desorientierheit (z.B. bei Identitätswechsel zu kindlichem Zustand) • Plötzliche agressive oder autoagressive Tendenzen Für die Einleitung geeigneter therapeutischer Massnahmen ist es außerordentlich wichtig, dissoziative Symptome zu kennen und zu erkennen! Grundlegende Therapiestrategien in der Behandlung von Patienten mit dissoziativen Störungen Verbesserung der Alltagsfunktionalität Förderung von interner Kommunikation und Co-Bewußtsein Traumabearbeitung Arbeit an den Themen: Soziale Ängste, Beziehungsfähigkeit, Nähe/Distanz, Schuld- und Schamgefühlen Entwicklung einer neuen Lebesperspektive (Überwinden der Opferrolle) www.martinsack.de 15 März 2009 Typische Muster von Übertragung /Gegenübertragung bei Patienten mit dissoziativer Störung Hilflosigkeit und Ohnmacht Pat. löst Gefühle von Fürsorge aus (Vorsicht: Helfersyndrom) Stark wechselnde oder widersprüchliche Reaktionen Fehlendes Gefühl für die emotionale Situation der Patientin (abgespaltene Emotionalität) Konsequenz: die Gegenübertragung ist keine verläßliche Basis für die Steuerung der Therapie Aktive Steuerung aufgrund der Erfahrung des Therapeuten ist sehr wichtig um Überforderungssituationen zu vermeiden Spezifische therapeutische Interventionen bei komplexer Dissoziation Arbeit mit inneren Anteilen, inneren Kindern ('Ego-States') Ansprechen von innerem Beobachter, innerer Weisheit, inneren hilfreichen Bezugspersonen „Stillhalteabkommen“ mit täteridentifizierten Anteilen „Talking through“ (Putnam, 1989) Innere Konferenz Sicherere Orte angepasst an die Bedürfnisse innerer Anteile Innere Landkarte www.martinsack.de 16 März 2009 Voraussetzungen für die Arbeit mit dem „Inneren Kind“ Pat. dafür gewinnen; vorhandene Sichtweisen nutzen Das Erwachsene Ich muss ausreichend stabil sein (Alltagsbewältigung verbessern stärkt Erwachsenen-Ich) Fähigkeit Erwachsenen-Ich und Kind-Ich zutrennen Hilfreiche Erwachsenen-Ich States erkunden/aufbauen Szene imaginativ aufbauen Und noch mal: Voraussetzung für die Arbeit mit dem „Inneren Kind“ ist ein stabiles „Erwachsenen Ich“ Schonende Traumatherapie Bearbeitung impliziter traumatischer Erinnerungen, ohne das Stressregulationssystem zu überfordern Prinzip des 'window of tolerance': Balance zwischen Aktualisierung traumatischen Materials und der Aktivierung von Bewältigungsressourcen Traumatherapie setzt in der Gegenwart an www.martinsack.de 17 März 2009 Grundstrategien der schonenden Traumabearbeitung Dosieren der Belastung Aktivierung von Ressourcen während der Traumabearbeitung Veränderung des Narrativs über das Trauma 1. Dosieren der Belastung Ziel: Arbeit im Toleranzfenster Rahmenbedingungen • • • Sicherheit Therapeutische Beziehung Patient als aktiver Partner Distanzierungstechniken • • • Kurzfassungen und Überschriften Arbeit am Bildschirm Aktives Ausblenden (Dissoziieren) von Details Pendeln zwischen Beobachten und Identifizieren • www.martinsack.de Beobachtertechnik 18 März 2009 2. Aktivieren von Ressourcen Ziel: Förderung von Bewältigungsmöglichkeiten So konkret wie möglich! Gute Beziehungserfahrungen nutzen • • • Menschen Tiere Vorbilder, Innere Helden Körperressourcen nutzen Ressourcenaktivierung allgemein • Stärkung des 'Erwachsenen-Ich' Ressourcenaktivierung traumaspezifisch • • Problem- / Trauma orientiert Stärkung des 'Jüngeren-Ich' 3. Veränderung des Narrativs über das Trauma Ziel: Ermöglichen von Bewältigungserfahrungen Das ist wirklich erlaubt! Wirksamkeit empirisch nachgewiesen (z.B. Krakow et al. 2000) Anregungen geben: Vollenden von Handlungsimpulsen Hilfe und Schutz für den traumatisierten Selbstanteil Trost und Zuwendung zur traumatisierten jüngeren Ich www.martinsack.de 19