Prämorbide Persönlichkeit Florence Hagenmuller 21.12.2004 Gliederung Persönlichkeit - Persönlichkeit und Depression - Prämorbide Persönlichkeit Typus Melancholicus *Psychoanalytisches Ätiologiemodell* Empirische Untersuchung Persönlichkeitsstörung Prämorbide Persönlichkeit oder Persönlichkeitsstörung? Persönlichkeit Persönlichkeit Ausdruck der für einen Menschen charakteristischen Veraltensweisen und Interaktionsmuster, mit denen er gesellschaftlich-kulturellen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Suche nach einer persönlichen Identität mit Sinn zu füllen versucht. (Fiedler, 1995) Persönlichkeit und Depression 1. 2. 3. 4. 5. 6. Mögliche Beziehungen: Unabhängigkeit Komorbidität Prädispositions- / Vulnerabilitätsmodell: prämorbide Persönlichkeitszüge Komplikationsmodell: postmorbide Persönlichkeitszüge Normale depressive Züge Andere Modelle… => Unterschiedliche Zeitperspektiven Prämorbide Persönlichkeit Normale oder abnorme Beschaffenheit der Persönlichkeit vor dem Auftreten erster Anzeichen einer aktuellen psychiatrischen Störung Zusammenfassung der Risikomerkmale einer Person, die die mögliche Entwicklung einer Störung beinhalten Prämorbide Persönlichkeit « Die Patienten können während der melancholie selten angaben machen (…) die für ihre Wesensart aufschlussgebend sind » (Tellenbach, 1983) => Untersuchung vor Ersterkrankung Prämorbide Persönlichkeit Von Bedeutung: - für den Verlauf - für die Planung therapeutischer Intervention Typus Melancholicus als bedeutendster Prädiktor im Langzeitverlauf der Depression (Mundt, Kronmuller, Backenstrass & Fiedler) Typus Melancholicus Typus Melancholicus Bestimmtes Muster von Persönlichkeitszügen, innerhalb des nichtpathologischen Rahmens Prädisponierender Faktor für das Entstehen einer endogenen Depression (Tellenbach) („endogen“: im DSM-III durch „Melancholie“ ersetzt) Typus Melancholicus: Überblick Stark ausgeprägtes Festgelegtsein auf Ordnung und Ordentlichkeit Sowohl im Arbeitsleben als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen Hoher Anspruch an die eigene Leistung Zwanghafte Züge, jedoch keine zwanghafte Persönlichkeitsstörung Streitigkeit und Schuld möglichst vermieden Typus Melancholicus von Tellenbach Die Ordentlichkeit im Arbeitsleben Die Ordentlichkeit in mitmenschlichen Bezügen Die Gewissenhaftigkeit Die Ordentlichkeit im Arbeitsleben Pflichtbewusstsein, Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Solidarität Der Melancholiker will viel leisten – und das Viele regelmäßig. Oft schon in der Schule Festgelegtsein-in und Festgehaltenwerdenvon einer Ordnung: Nicht-abschalten-können Trotzdem: Wertlosigkeitsgefühl Die Ordentlichkeit in mitmenschlichen Bezügen Freigehalten von Konflikten, insbesondere von Schuldhaftem Loyalität, Treue, Hilfsbereitschaft, Dienstwilligkeit Sein-für-andere, Leisten-für-andere Angst vor dem Alleinsein – Weg zur Depression. Die Gewissenhaftigkeit des melancholischen Typus Überdurchschnittliche Empfindlichkeit des Gewissens Weniger Selbstgerechtigkeit als viel mehr Angst, in Schuld zu geraten Gelingt es nicht, kann eine Depression ausgelöst werden Typus Melancholicus von Tellenbach Ö Ö Ö Eine äußere Struktur aufrechthalten, die Sicherheit verspricht. Ordnung gefährdet ↔ Bedrohung des ganzen Daseins. Inkludenz und Remanenz von Tellenbach Inkludenz Sich-Einordnen, Sich-Einschliessen in Grenzen sozialer Ordnungsvorgaben Rigide Festhalten an dieser Ordungsstuktur => Ändern einer Situation unmöglich Starre Konstellation Beisp.: Umzugsdepression Remanenz Gehemmtsein: Zurückbleiben hinter den eigenen Selbstansprüchen und Pflichten Rigides Verhaftetsein Aspekte des Alltäglichen Leben; dem Depressiven werden sie jedoch zu einer andauernden Belastung. Inkludenz geht immer auch mit Remanenz einher Psychoanalytisches Ätiologiemodell * Wiederholung* *Psychoanalytisches Ätiologiemodell* Freud: Zuwendung der Mutter - beim Übermaß → Verweigerung der psychischen Entwicklung (Wunsch nach Wiederherstellung) - bei Reduktion → reduziertes Selbstwertgefühl Beide Haltungen → (Umwelt) → Depression *Psychoanalytisches Ätiologiemodell* Typus Melancholicus als Abwehrstruktur (v.Zerssen) 1. 2. 3. Tendenz zur Entmutigung (von der Kindheit an) Selbstwertgefühl durch Leistung oder geordnetes Aufgehen stabilisieren → ausgeglichene Gemütsverfassung „Subjektives Scheitern der Selbstverwirklichung“ →Zusammenbruch → depressive Episode Empirische Untersuchungen Empirische Untersuchung Unklarheit, inwieweit Merkmale den Verlauf der Depression vorhersagen können: - Neurotizismus und Rigidität als Vulnerabilitätsfaktor und Prädiktor bestätigt Aber: - Verlaufsprädiktive Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmale uneinheitlich - Insbesondere, wie diese mit anderen zusammenwirken Empirische Untersuchung Typus Melancholicus: Hypothese von einer störungstypischen (nicht störungsspezifischen) Persönlichkeitsstruktur i. S. des TM bei Patienten mit MD gestützt 2 retrospektiven Studien: TM: Prädiktor für einen ungünstigen Depressionsverlauf (Nakanishi et al, 1993) Dagegen: TM für eine günstigeren Langzeitprognose, als protektiver Faktor (Marneros et al, 1991) Empirische Untersuchungen Mundt, Kronmüller, Backenstrass & Fiedler, 1996 Ziel: die Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen für den 2-JahresVerlauf der MD im Rahmens eines prospektives Studiendesigns zu überprüfen Mit klassischen Verlaufsprädiktoren vergleichen N= 50, Zeitraum von 2 Jahren nach stationärer psychiatrischer Behandlung Messinstrumente Depressivität Fremdrating: Hamilton-Depressions-skala (HAM-D) Selbstbeurteilung: Beck-Depressionsinventar (BDI) Persönlichkeitsmerkmale Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) Maudsley Personality Inventory (MPI) Verlaufsklassifikation Patienten als „Rückfall-Patienten“ bezeichnet, wenn: Stationäre Wiederaufnahme bei depressiver Hauptsymptomatik Suizidversuch oder „ausgeprägter Symptomatik“ (d. h. BDI oder HAM-D Wert > 20 oder Erfüllen der Diagnose für MD nach DSM-III-R) Ergebnisse 1. Katamnesejahr: 49,9% hatten einen Rückfall 2-Jahres-Katamnese: 53,8% (Kriterium: ob Patienten im 1. oder in beiden Jahren einen Rückfall erlitten haben oder nicht) Einzelne soziodemographische und psychopathologische Merkmale sowohl für 1als auch 2-Jahres-Verlauf prognostisch bedeutsam Persönlichkeitsmerkmale als Rückfallprädiktoren 1-Jahres-Verlauf: Unterschiede zwischen den Verlaufsgruppen in den Merkmalen Psychopathie, Psychasthenie, Hypomanie, Depression, Hysterie, Paranoia (MMPI) + höher Neurotizismuswert für die Rückfallgruppe im MPI 2-Jahres-Verlauf: signifikanter Unterschied in keiner dieser Dimension. Persönlichkeitsmerkmale als Rückfallprädiktoren Aber: umgekehrter Zusammenhang für die Typus Melancholicus Persönlichkeitsstruktur Rückfall im 1-J-V (n=41) Typus Melancholicus Non- Typus Melancholicus Rückfall im 2-J-V.(n=38) JA NEIN JA NEIN 8 14 8 13 10 9 13 4 Kein Signifikanter Unterschied Signifikanter Unterschied Persönlichkeitsmerkmale als Rückfallprädiktoren Ö TM Patienten im 1. Jahr: ähnlich hohes Rückfallrisiko, wie Patienten mit einer anderen Persönlichkeitsstruktur Ö TM Patienten im 2. Jahr: deutlich geringeres Rückfallrisiko, während Patienten ohne TM Persönlichkeit keine Reduktion zeigten… Diskussion Obwohl TM als Risikopersönlichkeit angesehen wird, zeigten diese Patienten einen besseren Störungsverlauf Vermutet wird: - Bessere Copingmechanismen - Seltener Persönlichkeitsstörung Frage: Beziehung zwischen TM Persönlichkeitsstruktur und klassischen Persönlichkeitstraits ? Es kann vermutet werden… Dass diese Patienten durch ein Muster der Krankheitsbewältigung (Orientierung an hohen externalen und internalen Standards) in der nachstationären Zeit besonders vulnerabel sind. Diese Art der Krankheitsbewältigung könnte sich dann als protektiver Faktor entwickeln Compliance? … Es ist bislang zu wenig geklärt, wie diese einzelnen Risiko- und protektiven Faktoren zusammenwirken Insgesamt bedeutsam… Persönlichkeitsmerkmale in Rückfallprophylaxe und psychotherapeutischen Behandlung stärker zu berücksichtigen Differenzielle psychotherapeutische Strategien zur Behandlung von Patienten mit Typus und nonTypus Melancholicus Persönlichkeitsstruktur lassen sich ableiten Persönlichkeitsstörung Persönlichkeitsstörung (Fiedler) Im allgemein als verschieden von psychischen Störungen angesehen Bedeutet ein Muster von Persönlichkeitseigenschaften, die von einer gedachten Norm abweichen Diagnose erst, wenn Ausprägung in Richtung eines Leidens des Betroffenen oder der sozialen Devianz Die depressive Persönlichkeitsstörung (DSM-IV) „neue“ Störungsgruppe, im DSM-IV-Anhang, der weiteren Forschung als Grundlage Kriterienfestlegung: Konzepte und Forschungsergebnisse unterschiedlicher Autoren und Forschergruppen: K. Schneider (1950); Tellenbach (1961); v. Zerssen (1991); Kernberg (1984); Akiskal und Akiskal (1992) Depressive Persönlichkeit: DSM-IV A: ein tiefgreifendes Muster depressiver Kognitionen und Verhaltensweisen, das im frühen Erwachsenalter beginnt und in einer Vielzahl von Zusammenhängen zu Tage tritt, angezeigt durch mindestens 5 der folgenden Kriterien: Depressive Persönlichkeit nach DSM-IV 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Die übliche Stimmung ist durch Niedergeschlagenheit, Trübsinnigkeit, Unbehaglichkeit, Freudlosigkeit und Unglücklichsein gekennzeichnet Das Selbstkonzept zentriert sich um Überzeugung der Unzugänglichkeit, Wertlosigkeit und niedriger Selbstachtung Ist kritisch, anklagend und herabsetzend gegen sich selbst Grübelt und sorgt sich Ist negativistisch, kritisch und verurteilend gegen andere Ist pessimistisch Neigt zu Schuldgefühlen und Gewissensbissen Depressive Persönlichkeit nach DSM-IV B: Tritt nicht ausschließlich während Episoden einer Major Depression auf und kann nicht besser durch eine Dysthyme Störung erklärt werden Neben den genannten 7 Kriterien befinden sich noch folgende 3 weitere Kriterien: a) Die Betroffenen zeigen sich überwiegend ruhig, introvertiert, passiv und wenig selbstsicher b) Sie sind gewissenhaft, normorientiert und selbstdiszipliniert c) Sie können ihre negativistischen Einstellungen schwer ausdrücken und behalten sie vielfach für sich selbst Rechtfertigung Nicht nur wegen der langen Tradition Aber auch mit der Unklarheit im Bereich der Übergänge zu den klinisch bedeutsamen affektiven Störungen und Mit der Frage, ob bestimmten Persönlichkeits- oder Temperamentseigenarten eine prämorbide Risikowirkung zugeschrieben werden kann Möglicherweise kann ihre Erforschung zur differentiellen Indikation therapeutischer Maßnahmen beitragen helfen Prämorbide Persönlichkeit oder Persönlichkeitsstörung? Prämorbide Persönlichkeit oder Persönlichkeitsstörung ? TM zeichnet sich außerhalb der depressiven Episode gerade nicht durch depressiven Symptome aus, sondern durch Eigenschaften, die unter den zusätzlichen Kriterien Subsumiert sind: - ruhig, introvertiert, passiv und wenig durchsetzungsfähig - gewissenhaft, pflichtbewusst, selbstdizipliniert Prämorbide Persönlichkeit oder Persönlichkeitsstörung ? In den Ausarbeitungen zur TM Konzeption: von den Autoren bestritten, dass es sich bei den Persönlichkeitsvarianten um Persönlichkeitsstörungen handelt: → Typus als Vereinseitigung der Persönlichkeitsentwicklung im Normalbereich → Aber… Sichtweise P. Fiedlers: Persönlichkeitsstörung „… und impliziert, dass es sich bei den (noch) nicht normalabweichenden Interaktionsmustern persönlichkeitsgestörter Menschen im Kern um Persönliche Kompetenzen handelt, die nur im Kontext bestimmter zwischenmenschlicher und sozialer Erschwernisse, in denen sie als Kompetenzen versagen oder nicht mehr hinreichen, als „Sicherheitsoperationen“, „Selbstschutztendenzen“, „Abwehrstrategien“ usw. extremisieren. Insofern kann durchaus die Hypothese vertreten und untersucht werden, ob es sich bei der Depression nicht sehr wohl um das Ergebnis einer dekompensierten Persönlichkeitsvariante oder Persönlichkeitsstörung handelt.“ Stellenwert der Primärpersönlichkeit Persönlichkeitsstuktur des Patienten beeinflusst den Verlauf einer Depressiven Erkrankung Theoretisch ist eine Prädisposition bzw. Vulnerabilität möglich Tellenbachs TM : zumindest im deutschen Sprachraum das bekannteste Modell einer Persönlichkeitsstruktur, welches zu einer endogenen Depression disponieren soll Stellenwert der Primärpersönlichkeit Persönlichkeitsmodell empirisch bestätigt: v.Zerssen (1980) Lediglich in Bezug auf die zwanghafte Anteile anerkannt: Akiskal (1993) Nicht bestätigt: z. B. Tölle (1987) In neueren Untersuchungen: rigide Persönlichkeitsanteile als Dispositionsfaktoren bestätigt ÖAls gesichert: die von Tellenbach beschriebene Persönlichkeitszüge disponieren nicht generell zu depressiven Erkrankung… Stellenwert der Primärpersönlichkeit Im DSM-IV: Frage des kausalen Zusammenhanges zwischen Persönlichkeitsstörung und affektiven Erkrankung offen gelassen Merkmale einer Persönlichkeitsstörung als mögliche Prädispositionsfaktoren angesehen Es ist jedoch davon auszugehen, dass die prämorbide Persönlichkeitsstruktur die depressive Erkrankung beeinflusst. Ob dies im Sinne einer kausalen Komponente geschieht, ist derzeit nicht zu entscheiden… Merci et bonnes fêtes…