Psychotherapie – Was sie leisten kann und was nicht? Timo Harfst Bundespsychotherapeutenkammer Fachtagung „Psychische Belastungen und Gesundheit im Beruf“ Bad Münstereifel, 23. – 24. Mai 2013 Übersicht Prävalenz und Krankheitslast psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt Überblick (psychotherapeutische) Behandlungsmethoden bei psychischen Erkrankungen Ambulantes und stationäres Versorgungssystem Evidenzbasierte Leitlinien im Bereich psychischer Erkrankungen Grenzen und Barrieren der Behandlung 1 Psychische Erkrankungen – Herausforderungen für eine leitliniengerechte Versorgung Psychische Erkrankungen – eine Volkskrankheit: Mehr als jeder vierte Erwachsene leidet pro Jahr an einer psychischen Erkrankung (DEGS 2012: Bevölkerungsprävalenz von 26,9% ) Versorgungsprävalenz: 31% der GKV-Versicherten erhielten 2009 eine ambulante Diagnose "Psychische oder Verhaltensstörung" (BARMER GEK Arztreport 2011) AU-Zeiten: 12% aller AU-Tage wegen psychischer Erkrankungen Krankengeld: 2 Milliarden € pro Jahr wegen psychischer Erkrankungen (Anteil von 25%) EU-Berentungen: 41 % der Neuberentungen wegen psychischer Erkrankungen jährliche Kosten von 4 Milliarden € 3 Neuberentungen wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit nach Krankheitsgruppen von 1993 bis 2011 90.000 Psychische Störungen 80.000 Muskeloskelettal e Erkrankungen 70.000 Herz‐Kreislauf‐ Erkrankungen 60.000 Neubildungen 50.000 sonstige Erkrankungen 40.000 30.000 20.000 10.000 0 1993199419951996199719981999200020012002200320042005200620072008200920102011 4 Quelle: DRV, 2012 2 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen in Deutschland (im Alter von 18-79 Jahren) – Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1 MH, 2009-2011) Gesamtprävalenz 26,9 Angststörungen 15,3 Unipolare Depression 7,9 Alkoholstörungen 4,3 Zwangsstörungen 3,6 Somatoforme Störungen 3,5 Mögl. Psychotische Störung 2,6 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 2,3 Medikamentenmißbrauch/abh. 1,8 Bipolare Störungen 1,5 Körperlich bed. psychische Störung 1,2 Essstörungen 0,9 0 5 10 15 20 25 30 12‐Monats‐Prävalenz (%) 5 Quelle: Jacobi et al. (in press) Geschlechtsunterschiede: Frauen haben eine deutlich höhere Prävalenz als Männer Ausnahmen: Alkohol, Zwang und bipolare Störungen 1,1 Anorexia Nervosa 0,3 Frauen: 32,4% (95% KI: 30,3-34,6) Männer: 21,4% (95% KI: 19,5-23,4) 1,2 1,2 Körperlich bed. PS 2 1,7 Medikamentenst. 3,6 PTBS 0,9 3 Psychot. Störungen 2,1 Bipolare Störungen 1,8 1,3 Somatoforme St. 1,7 5,2 4 3,3 Zwangsstörungen 10,9 Unipolare Depression 4,9 1,7 Alkoholstörungen 6,9 21,3 Angststörungen 9,3 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 6 Quelle: Jacobi et al. (in press) 3 Altersunterschiede: Psychische Störungen sind am häufigsten bei Jungen (1834) und weniger häufig bei Älteren 12-MonatsPrävalenz (%) 7 Quelle: Jacobi et al. (in press) Welche Behandlungsmethoden existieren bei psychischen Erkrankungen? Psychotherapie Pharmakotherapie - Antidepressiva - Antipsychotika - Phasenprophylaktika - Sedativa, Anxiolytika, Hypnotika - Psychostimulanzien - Anti-Craving-Substanzen Nicht-medikamentöse somatische Behandlungsmethoden - Elektrokonvulsive Therapie - Wachtherapie (Schlafentzugstherapie) - Lichttherapie - Körperliches Training Sonstige nicht-medikamentöse Behandlungsmethoden - Soziotherapie - Ergotherapie 4 Wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren und -methoden Wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren Psychodynamische Psychotherapie - tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie - analytische Psychotherapie Verhaltenstherapie Gesprächspsychotherapie Systemische Therapie Indikationsspezifisch anerkannte Psychotherapiemethoden Neuropsychologische Therapie (Organisch bedingte psychische Störungen (F0)) Interpersonelle Psychotherapie EMDR (Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)) Hypnotherapie (Affektive Störungen, Essstörungen) (Raucherentwöhnung, F54) Welche Psychotherapieverfahren werden von den Krankenkassen bezahlt? Psychotherapieverfahren der Psychotherapie-Richtlinie: Psychoanalytisch begründete Verfahren - tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie - analytische Psychotherapie Verhaltenstherapie Richtlinie Methoden der vertragsärztlichen Versorgung: Neuropsychologische Therapie (indikationsbezogen) Abgelehnt: Gesprächspsychotherapie („Nutzen nur belegt für unipolare Depression) Aktuell im Bewertungsverfahren: EMDR bei Erwachsenen Systemische Therapie bei Erwachsenen 5 Behandlung psychischer Erkrankungen Welche Patientengruppen werden von wem behandelt? - im ambulanten Sektor? - im stationären Sektor? Ambulante Versorgung auf das Bundesgebiet bezogen werden in einem Quartal circa 1 Million Patienten in der GKV psychotherapeutisch (nach Psychotherapie-Richtlinie) behandelt. Niedergelassene Psychologische Psychotherapeuten behandeln ca. 2,5 Mio. Quartalsfälle pro Jahr Niedergelassene Psychiater behandeln circa 2,6 Mio. Quartalsfälle pro Jahr Fachärzte für Psychosomatische Medizin behandeln circa 406.000 Quartalsfälle und sonstige ärztliche Psychotherapeuten circa 360.000 Quartalsfälle pro Jahr zusätzlich psychosomatische Grundversorgung vor allem über Hausärzte 6 Diagnosespektrum der Behandlergruppen in der ambulanten fachärztlichen/psychotherapeutischen Versorgung 13 Aktuelle Behandlungsrate bei den jeweiligen 12-Monats-Diagnosen einer psychischen Störung Bulimie 12 mögl. psychotische Störung 41 Panikstörung 42 Generalisierte Angststörung 43 Soziale Phobie 48 Bipolare Störung 37 Dysthymie 43 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 31 Medikamentenmißbrauch/abh. 34 Depression 35 Somatoforme Störungen 27 Alkoholabhängigkeit 10 0 Quelle: Wittchen (2013). Vortrag auf dem 22. Deutschen Psychotherapeutentag am 20. April 2013 10 20 30 40 50 60 Behandelte (in %) 14 7 Stationäre Versorgung Fallzahlen in der stationären Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen Krankenhaus Psychiatrie: 746.260 Behandlungsepisoden Psychosomatik: 48.050 Behandlungsepisoden Kinder-Jugend-Psych: 39.042 Behandlungsepisoden Andere Abteilungen: 294.619 Behandlungsepisoden Rehabilitation Psychiatrie inkl. Suchtreha: Psychosomatik: 88.660 Behandlungsepisoden 104.750 Behandlungsepisoden Quelle: Statistisches Bundesamt, 2009 Differenzielles Diagnosespektrum stationäre Versorgung 100% 90% 5% 5% 0% 1% 4% 4% 80% 2% 7% 7% 8% 11% andere 3% 1% 6% Persönlichkeitsstörungen Essstörungen 70% 21% 12% 14% 7% Somatoforme Störungen 60% 50% 6% Anpassungsstörungen 18% 30% 40% Unipolare Depressionen 10% 49% 30% Angststörungen einschl. F43.0 und F43.1 1% Schizophrene Erkrankungen 10% 20% 25% andere substanzbezogene Störungen 10% 19% 1% 3% 3% 0% Psychiatrie (KH) Psychosomatik (KH) Alkoholstörungen Dementielle Erkrankungen Rehabilitation Psychiatrie: 412 Abteilungen / Krankhäuser; 53061 Betten; 746.000 Behandlungsepisoden Psychosomatik: 158 Abteilungen; 6228 Betten; 48.050 Behandlungsepisoden Rehabilitation: auf der Basis der Daten des DRV Bund 16 Quelle: Statistisches Bundesamt 2008 8 Wer wird wo weshalb stationär behandelt? Das Diagnosespektrum der verschiedenen Sektoren/Einrichtungstypen überlappt sich stark Klare Zuständigkeiten für die stationäre Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen bestehen vor allem in den Bereichen Demenz, Schizophrenie und bipolare Störungen (ganz überwiegend in der Psychiatrie) und in der Suchtbehandlung (Entzug: psychiatrische Krankenhausbehandlung; Entwöhnung in der Rehabilitation) Wesentliche Indikation in allen Bereichen ist die unipolare Depression, wobei differenzielle Indikationskriterien weitgehend fehlen Behandlung psychischer Erkrankungen – State of the art Was empfehlen die evidenzbasierten Leitlinien für die Behandlung psychischer Störungen? 9 Evidenzbasierte Leitlinien S3/NVL Unipolare Depression Behandlungsempfehlungen sind orientiert an Schweregrad, Verlauf und Komorbiditäten 19 Evidenzbasierte Leitlinien S3/NVL Unipolare Depression Zentrale Behandlungsempfehlungen Leicht: beobachtendes Abwarten (Kann-Empfehlung), alleinige Psychotherapie (A) Mittelgradig: Psychotherapie oder Pharmakotherapie (jeweils Monotherapie) als gleichwertige Alternativen (A) Schwer: Kombinationsbehandlung aus Psychotherapie und Pharmakotherapie (A) Dysthymie, Double Depression, chronische depressive Störung: Kombinationsbehandlung (A) Psychotherapie als Erhaltungstherapie und zur Rückfallprophylaxe (A) 10 Therapeutische Leistungen bei depressiven Störungen nach Schweregrad und Chronizität 40% keine Behandlung 35% vorrangig Pharmakotherapie 30% niederschwellige Leistungen 25% Psychotherapie 20% Psychotherapie und Pharmakotherapie 15% 10% 5% 0% depressive Störung, depressive Störung, depressive Störung, schwer (F32.2, leicht (F32.0, F33.0; mittelgradig (F32.1, F33.1; N=84.346) F32.3, F33.2, F33.3; N=28.977) N=71.405) Dysthymie (F34.1; N=25.055) Double Depression (Dysthymie + depr. Episode; N=25.918) Quelle: KVB, 2007 21 Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung der unipolare Depression Wirkungen einer evidenzbasierten Behandlung Symptomreduktion bzw. Remission, Verringerung der Funktionsbeeinträchtigungen Rückgewinnung der Leistungsfähigkeit Verkürzung der Episodendauer Senkung des Rückfall- bzw. Rezidivrisikos Grenzen 15-20% der depressiven Erkrankungen verlaufen chronisch (mind. 2 J.) Rezidivrisiko für die ersten zwei Jahre liegt bei 40-50% Rezidivrisiko steigt mit der Episodenhäufigkeiten und –dauer (70% nach zwei Episoden, 90% nach drei Episoden) 11 Angststörungen – Diagnostische Kriterien GAS bzw. PS Generalisierte Angststörungen (F41.1) Übermäßige und unkontrollierbare Angst und Sorge bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätigkeiten Mindestdauer sechs Monate Mind. 3 von 6 weiteren Symptomen: Ruhelosigkeit, leichte Ermüdbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit, Muskelspannung, Schlafstörung Panikstörung (F41.0) Wiederkehrende unerwartete schwere Panikanfälle Nicht auf spezifische Situationen beschränkt Erwartungsangst, Sorgen über die Bedeutung der Anfälle oder ihre Konsequenzen Evidenzbasierte Leitlinien NICE-Guideline Angststörungen (Generalisierte Angststörung) “For people with GAD and marked functional impairment, or those whose symptoms have not responded adequately to step 2 interventions offer either an individual high-intensity psychological intervention (CBT) or drug treatment (SSRI). “Base the choice of treatment on the person’s preference as there is no evidence that either mode of treatment (individual high-intensity psychological intervention or drug treatment) is better.” 12 Evidenzbasierte Leitlinien NICE-Guideline Angststörungen (Panikstörung) „In the care of individuals with panic disorder, any of the following types of intervention should be offered and the preference of the person should be taken into account. The interventions that have evidence for the longest duration of effect, in descending order, are: • psychological therapy • pharmacological therapy (antidepressant medication) • self-help.“ Evidenzbasierte Leitlinien S3-Leitlinie Essstörungen Anorexia nervosa Bulimia nervosa Binge Eating Störung 13 Evidenzbasierte Leitlinien S3-Leitlinie Essstörungen Diagnostische Kriterien Anorexia nervosa (F50.0) Gewichtsverlust oder fehlende Gewichtszunahme. BMI von 17,5 kg/m2 oder weniger. 10. BMI Altersperzentile (DGKJP). Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt und aufrechterhalten (durch Vermeidung hochkalorischer Speisen, selbst induziertes Erbrechen, Abführen, übertriebene körperliche Aktivität, Appetitzügler) Selbstwahrnehmung als “zu fett” verbunden mit einer sich aufdrängenden Furcht, zu dick zu werden. Die Betroffenen legen für sich selbst eine sehr niedrige Gewichtsschwelle fest. Amenorrhoe bei Frauen, Interesseverlust an Sexualität und Potenzverlust bei Männern. Wachstumshemmung bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät. Evidenzbasierte Leitlinien S3-Leitlinie Essstörungen Behandlungsempfehlungen zu Anorexia nervosa (Auszug) Das ambulante Verfahren sollte eine evidenzbasierte Psychotherapie sein (B). Psychopharmakologische Behandlung oder Ernährungsberatung sollten nicht als alleinige Behandlung angeboten werden; Bislang konnte für kein Psychopharmakon eine eindeutige Wirkung für die Behandlung der AN sicher nachgewiesen werden. 14 Evidenzbasierte Leitlinien S3-Leitlinie Essstörungen Diagnostische Kriterien Bulimia nervosa (F50.2) Andauernde Beschäftigung mit Essen und Heißhungerattacken, bei denen große Mengen Nahrung in kurzer Zeit konsumiert werden. Versuche, dem dick machenden Effekt des Essens durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern, z.B. selbstinduziertes Erbrechen, Laxanzienabusus, restriktive Diät etc. Krankhafte Furcht, zu dick zu werden Häufig Anorexia nervosa in der Vorgeschichte Evidenzbasierte Leitlinien S3-Leitlinie Essstörungen Behandlungsempfehlungen zu Bulimia nervosa (Auszug) Erwachsene und Jugendliche mit BN soll als Behandlungsverfahren der ersten Wahl eine Psychotherapie angeboten werden (A) KVT stellt das meist beforschte Psychotherapieverfahren mit der höchsten Evidenz dar, daher sollte die KVT Patientinnen mit BN als Methode der Wahl angeboten werden (B). Andere Psychotherapieverfahren sind verfügbar und kommen beispielsweise in Frage, wenn KVT nicht zur Verfügung steht, sich im Einzelfall als nicht wirksam erweist oder nicht gewollt wird. Als Alternative zu KVT können psychodynamische Therapie und Methoden der Interpersonellen Therapie (IPT), modifiziert für BN, empfohlen werden (B). Psychotherapeutische Behandlungen sind wirksamer als alleinige Pharmakotherapie (A). Nur Fluoxetin ist in Deutschland in Kombination mit Psychotherapie für die Indikation der BN zugelassen. SSRIs stellen bezogen auf Symptomreduktion, Nebenwirkungsprofil und Akzeptanz die medikamentöse Therapie der ersten Wahl in der Behandlung der BN dar (B). 15 Evidenzbasierte Leitlinien S3-Leitlinie Essstörungen Diagnostische Kriterien Binge Eating Störung (DSM IV) Wiederkehrende Episoden von Essanfällen. Eine Episode von Essanfällen ist durch beide folgenden Merkmale charakterisiert: Es wird in einer umschriebenen Zeitspanne (z.B. innerhalb von 2 Stunden) eine Nahrungsmenge aufgenommen, die wesentlich größer ist, als die meisten Leute innerhalb einer vergleichbaren Zeitspanne und unter ähnlichen Umständen essen würden; Kontrollverlust über das Essverhalten (z.B. das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder nicht kontrollieren zu können, was oder wie viel gegessen wird). Evidenzbasierte Leitlinien S3-Leitlinie Essstörungen Behandlungsempfehlungen zu Binge Eating Störung (Auszug) • Als Therapie der ersten Wahl zur Behandlung der Essstörung soll Patientinnen mit BES eine Psychotherapie angeboten werden (A). • Die KVT verfügt über die sichersten Wirksamkeitsbelege bei erwachsenen Patientinnen mit BES, daher sollte sie diesen Patientinnen als Therapie angeboten werden (A). • Auch besteht Evidenz, dass die IPT ebenfalls wirksam ist (B). • Es besteht auch begrenzte Evidenz, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ebenfalls wirksam ist, daher kann sie Patientinnen mit BES ebenfalls empfohlen werden (O). • SSRI und SSNI sind bei BES wirksam; allerdings ist derzeit kein Medikament zur Behandlung der BES zugelassen. Sie können jedoch im Rahmen eines Therapieversuchs eingesetzt werden, wenn eine Psychotherapie nicht möglich ist (B). Dabei muss der Patient über den Umstand des Off-Label-Uses aufgeklärt werden. 16 Möglichkeiten und Grenzen der psychotherapeutischen Behandlung von Essstörungen Bulimie - Behandlungsergebnisse: Ungefähr die Hälfte der Patienten ist zwei bis zehn Jahre nach einer Psychotherapie symptomfrei, wobei sich die Studienlage in erster Linie auf die kognitive Verhaltenstherapie bezieht. Etwa 20% aller Patienten erfüllten weiterhin die Kriterien der BN. Der Krankheitsverlauf von ungefähr 30% zeichnet sich entweder durch Episoden von Rückfällen und Remissionen aus oder durch eine atypische BN Anorexie – langfristige Ergebnisse: (Übersicht Steinhausen, 2002, mit 119 Studien mit insgesamt 5590 Patientinnen) Heilungsraten von knapp 50 %. 30 % der Patientinnen besserten sich bzw. mit Restsymptomatik 20 % Patientinnen mit chronischem Verlauf. 60 % erreichten langfristig ein angemessenes Gewicht. Je länger die Katamnesezeiträume waren, desto mehr remittierte Patientinnen (nach mehr als zehn Jahren 73 %), aber auch höhere Sterberate NICE-Guideline Schizophrenie Behandlungsempfehlungen im Bereich Psychotherapie: • „Offer cognitive behavioural therapy (CBT) to all people with schizophrenia. This can be started either during the acute phase or later, including in inpatient settings.“ • „Offer CBT to assist in promoting recovery in people with persisting positive and negative symptoms and for people in remission. Deliver CBT as described in recommendation.“ • „CBT should be delivered on a one-to-one basis over at least 16 planned sessions“ 34 17 Schizophrenie – Grenzen der Behandlung Pharmakotherapie: Zwischen 30 – 60 Prozent der Patienten zeigen eine ausreichende Response auf eine antipsychotische Medikation Relapse-Raten nach Entlassung aus dem Krankenhaus (Klingberg, 2009): Circa 30 Prozent innerhalb von 6 Monaten bei TAU vs. circa 15 Prozent bei CBT 35 Borderline-Persönlichkeitsstörung – NICE-Guideline Empfehlungen: • Patienten Zugang zur Versorgung verschaffen! • Keine kurzen psychotherapeutischen Behandlungen • Strukturierter spezifischer Therapieansatz • Vom Behandlungsteam und den Psychotherapeuten gemeinsam getragen und mit dem Patienten geteilt. • Supervision der Psychotherapeuten • Pharmakotherapie nicht zur Behandlung der borderlinespezifischen Symptomatik 36 18 Empfehlungen aus nationalen und internationalen S3Leitlinien (NICE) zur Therapie psychischer Erkrankungen Generalisierte Angsterkrankung Panikstörung/Agoraphobie Zwangsstörungen Posttraumatische Belastungsstörung unipolare Depression, mittelgradig Psychotherapie Pharmakotherapie ++ ++ ++ + ++ ++ ++ x ++ ++ (Erwachsene) unipolare Depression, schwer ++: Kombination Psycho-/Pharmakotherapie (Erwachsene) unipolare Depression ++ Empfehlung erster Wahl ++ - (Kinder und Jugendliche) Bipolare Störungen (Erwachsene) + (ergänzend/bei Ablehnung von Pharmakotherapie) ++ Bipolare Störungen ++: Kombination Psycho-/Pharmakotherapie (Kinder und Jugendliche) Schizophrenie Anorexie Bulimie ++ + Empfehlung x Option, wenn explizit gewünscht 0 kann erwogen werden; nicht als alleinige Therapie - keine Empfehlung ++ ++ 0 ++ + - Borderline-Persönlichkeitsstörung Alkohol: schädlicher Gebrauch, leichte Abhängigkeitsformen Alkohol: schwere Abhängigkeitsformen ++ ++ (nur zur Behandlung komorbider Störungen) x ++: Kombination Psycho-/Pharmakotherapie 37 Behandlung psychischer Erkrankungen - Zwischenfazit • Die Wirksamkeit der Psychotherapie ist bei einem breiten Spektrum psychischer Erkrankungen gut belegt • Psychotherapie wird bei fast allen psychischen Erkrankungen als Behandlungsmethode der Wahl empfohlen (als gleichwertige oder überlegene Alternative zur Pharmakotherapie bzw. als Teil der Kombinationsbehandlung) • Die Empfehlung einer psychotherapeutischen Behandlung gilt auch für psychische Erkrankungen, die häufig mit schweren Beeinträchtigungen einhergehen (u.a. Schizophrenie, BorderlinePersönlichkeitsstörung, Anorexie) • Trotz wirksamer psychotherapeutischer und pharmakologischen Behandlungsoptionen profitiert ein Teil der Patienten nicht bzw. nicht ausreichend chronische oder rezidivierende Verläufe 38 19 Barrieren einer leitliniengerechten Versorgung 39 Strukturelle Barrieren bei der leitliniengerechten Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen Quelle: BPtK, 2010 „Geplante“ Versorgungsdichte variiert zwischen Kernstädten und ländlichen Regionen um den Faktor neun Real variiert die Versorgungsdichte zwischen 3 PT/ 100.000 Einwohner in Anhalt-Zerbst und 131 PT / 100.000 Einwohner in Heidelberg Besonders schlecht versorgte Regionen zeichnen sich zusätzlich durch geringe Versorgungsdichte in der Arztgruppe der Nervenärzte aus Auch keine Kompensation der Versorgungsdefizite über Angebote von PIA 40 20 12-Monatsprävalenz psychischer Störungen und Verhältniszahlen nach Planungskategorie der Bedarfsplanungsrichtlinie 45 40 35 Psychotherapeuten pro 100.000 Einwohner 38,8 35,7 32,9 33,3 31,5 31,2 28,3 30 32,1 12 Monatsprävalenz psychischer Störungen 30,9 28,1 25,9 25 22,5 20 15 12,3 11,9 9,9 10 6,4 5 11,4 9,7 6 4,3 0 41 (Wittchen und Jacobi, 2001, eigene Analysen, Bundesgesundheitssurvey 1998) Barrieren bei der Implementierung von Leitlinien für die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen Strukturelle Barrieren aufgrund regionaler Diskrepanzen hinsichtlich der vorhandenen Ressourcen Zugang für bestimmte Patientengruppen erschwert Menschen im höheren Lebensalter Menschen mit spezialisiertem oder komplexen Versorgungsbedarf Kein „feedback on performance“ des Versorgungssystems bei zum Teil fehlendem Konsens über geeignete Indikatoren Geringer Differenzierungsgrad oder zu geringe Detailtiefe der Leitlinienempfehlungen (z.B. im Sinne von Modellen gestufter Versorgung) auch bedingt durch mangelnde Anknüpfungspunkte im Versorgungssystem (niederschwellige Angebote, Gruppenpsychotherapie) und bedingt durch fehlenden Konsens über geeignete Versorgungsstrukturen und Versorgungspfade 42 21 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Timo Harfst Bundespsychotherapeutenkammer Klosterstraße 64 10179 Berlin Email: [email protected] Homepage: www.bptk.de 43 22