Das Genom des Süßwasserpolypen

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Das Genom des Süßwasserpolypen
Das Genom des Süßwasserpolypen Hydra, eines Modellorganismus der Evo-Devo-Forschung,
ist unter wesentlicher Beteiligung der Forschergruppe von Prof. Thomas Holstein, Universität
Heidelberg, von einem internationalen Konsortium entschlüsselt worden. Die
Gensequenzierung wirft Licht auf die frühen Entwicklungslinien und die Entstehung der
Komplexität bei den vielzelligen Tieren.
Hydra mit knospendem Jungpolypen © biotechnologie.de
„In nur 20 Jahren ist die Menge der DNA-Sequenzen in unseren Datenbanken um das 40.000fache gewachsen. Würde man alle heute (2006) bekannten DNA-Texte in Bücher drucken und
diese übereinanderstapeln, wäre der Turm doppelt so hoch wie der 110-stöckige Sears Tower
in Chicago. Und die Bibliothek des Lebendigen wächst jedes Jahr um weitere 30 Stockwerke"
(cit. Sean B. Carroll: Die Darwin-DNA, S. Fischer 2008, p. 13).
Die technologischen Fortschritte der Molekularbiologie, vor allem die DNA-Sequenzierungen,
haben Informationen über das Evolutionsgeschehen zutage gefördert, von denen frühere
Forschergenerationen nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Unser Wissen über
Abstammung und Verwandtschaft der Organismen hat sich durch die in DNA aufgezeichneten
Spuren der Evolution radikal verändert, und dieses Wissen nimmt explosionsartig zu. Heute
sind es nicht mehr nur dem Menschen nahe stehende Tiere und Pflanzen einschließlich seiner
Lieblingsmodelle - von E. coli bis zur Maus - deren DNA sequenziert wird, sondern auch
Lebewesen, bei denen die treibenden Motivationen (zumindest anfänglich) Neugierde und
Wissensdrang sind.
Jetzt wurde die Genomsequenz des Süßwasserpolypen Hydra magnipapillata, eines der
Konsortium aus zwanzig Forschergruppen
Prof. Dr. Thomas W. Holstein, Direktor, Institut für Zoologie, Universität Heidelberg © Universität Heidelberg
einfachsten vielzelligen Tiere (Metazoa), publiziert. Trotz seiner vorgeblichen Primitivität besitzt
Hydra ein großes, komplexes Genom von 1,0 bis 1,5 Milliarden Basenpaaren und etwa 20.000
Protein kodierenden Genen. Das ist etwa die gleiche Zahl an Genen wie beim Wurm
Caenorhabditis elegans und wesentlich mehr als bei Drosophila, aber auch nicht viel weniger
als bei so hoch entwickelten Organismen wie Mensch, Maus, Kugelfisch (Tetraodon nigroviridis)
und Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana). Wie bei derartigen Projekten üblich, war die
Entschlüsselung des Hydra- Genoms das Gemeinschaftswerk eines großen internationalen
Konsortiums; die Originalpublikation nennt 74 Autoren in zwanzig Forscherteams aus USA,
Deutschland, Japan und Österreich. Die Finanzierung hatten die Deutsche
Forschungsgemeinschaft, die amerikanische National Science Foundation und das National
Human Genome Research Institute, das japanische National Institute of Genetics und der
österreichische Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung bestritten. Wesentliche
Teile der Arbeiten wurden durch die Arbeitsgruppe von Professor Dr. Thomas Holstein,
Abteilung für Molekulare Evolution und Genomik, Institut für Zoologie der Universität
Heidelberg, geleistet.
Hydra als Evo-Devo-Modell
Holstein hat sich seit langem mit Hydra als einem Schlüsselmodell der Erforschung der
Evolution von Entwicklungsprozessen der Organismen beschäftigt. Diese neue
Forschungsrichtung - meist kurz als „Evo-Devo" nach dem englischen „evolutionary
developmental biology" bezeichnet - hat uns fundamentale neue Erkenntnisse über die
Entstehung der komplexen biologischen Strukturen und Stoffwechselwege gebracht. Wer sich
für die Geschichte der Naturwissenschaften interessiert, für den ist die Wahl von Hydra als
Modellorganismus nicht ungewöhnlich. Seit Antoni van Leeuwenhoek das unscheinbare
Tierchen vor mehr als 300 Jahren erstmalig beschrieben hat, das im Wasser kaum zu erkennen
ist, wenn es an Pflanzen angeheftet mit seinen 6-8 Tentakeln Wasserflöhe und andere
Kleinorganismen fängt, verdankt die Biologie dem Süßwasserpolypen wichtige Entdeckungen.
Zwischen 1740 und 1745 beschrieb der Schweizer Naturforscher Abraham Trembley an ihm
erstmals asexuelle Fortpflanzung bei Tieren durch Knospung, zeigte in systematischen,
bewundernswerten Experimenten die Regeneration eines Tieres aus einzelnen Gewebeteilen,
beobachtete die Phototaxis bei einem augenlosen Organismus und führte die erste
erfolgreiche Gewebetransplantation zwischen Tieren durch. Heute ist Hydra ein wichtiges
Modell für Stammzellbiologie und Regeneration, Embryonalentwicklung (eine „Art
permanenter Embryo" nach Meinung des amerikanischen Alternsforscher R.J. Davenport) und
die Differenzierung der Körperachsen.
Abraham Trembley, Naturforscher, Philosoph, Diplomat, geb. 1710 in Genf und dort 1784 gestorben © Russische
Akademie der Wissenschaften
Zur Evolution der Gewebetiere
Hydra gehört mit 2.700-3.000 anderen, hauptsächlich marinen Arten zur Klasse der Hydrozoa
im Stamm Cnidaria oder Nesseltiere, zu dem als weitere Klassen die Scyphozoa (die meisten
Quallen) und die Anthozoa oder Blumentiere (Seeanemonen und die meisten Korallen)
gehören. Die Cnidaria sind radialsymmetrisch aufgebaut; man betrachtet sie (evtl. zusammen
mit dem Stamm der Ctenophora oder Rippenquallen) als phylogenetische Schwestergruppe
der bilateralsymmetrisch (spiegelbildlich) aufgebauten Bilateria, zu denen alle anderen echten
vielzelligen Tiere, einschließlich von uns selbst, gehören. Der gemeinsame Vorfahre, von dem
sich Cnidaria und Bilateria aufspalteten, lebte nach den DNA-Analysen vor vielleicht 700
Millionen Jahren. Aber das sind grobe Schätzungen; Fossilien geben darüber keine Auskunft.
Die ältesten Funde, die man (nicht unumstritten) als Cnidaria identifiziert, stammen aus der
Ediacara-Fauna des obersten Präkambriums (vor etwa 600-545 Millionen Jahren).
Vermutlich waren die ersten Tiere mit echten Geweben (sogenannte Eumetazoa) den heute
lebenden Nesseltieren wie zum Beispiel Hydra in ihrem Bauplan recht ähnlich. Die Vielzelligkeit
der Tiere ist wahrscheinlich durch den Verlust von starren Zellwänden, wie sie bei Pflanzen und
Pilzen vorkommen, ermöglicht worden. Dadurch konnten Zellkontakte geknüpft werden,
Zelladhäsion und Kommunikation zwischen den Zellen wurde möglich. Aus losen Zellschichten
entstanden feste strukturierte Epithelien. Die frühen Eumetazoa waren vermutlich wie die
heutigen Cnidaria diploblastisch, das heißt aus nur zwei Epithelschichten aufgebaut: einer
äußeren und einer inneren, die den blind endenden Darm umkleidet. Die beiden Epithelien
grenzen einen Zwischenraum ab, in den extrazelluläre Stützsubstanzen abgesondert werden.
In diese gallertartige Matrix, die bei vielen Cnidaria, vor allem den Quallen, sehr umfangreich
ist, können auch Zellen einwandern, die aber keine Gewebe bilden. Bei den triploblastischen
Bilateria hingegen spaltete sich zwischen diesen Epithelien eine weitere epitheliale Zellschicht
ab, aus der sich später die meisten inneren Organe differenzierten.
Die Seeanemone Nematostella vectensis © Nature 2005
Das Genom von Hydra ist auch deswegen besonders interessant, weil es Informationen über
das genetische Repertoire liefert, das zur Grundausstattung aller höheren Tiere gehört. Ein
Glücksfall ist es, dass zum Vergleich bereits Sequenzen für einen anderen Vertreter der
Cnidaria, die Seeanemone Nematostella vectensis, vorliegen. An ihr hatten Holstein und
Mitarbeiter bereits 2005 gezeigt, dass die Wnt-Genfamilie (die sekretorische Signalproteine
kodiert, welche die Zelldifferenzierung und Embryogenese kontrollieren und auch bei der
Bildung von Tumoren eine Rolle spielen) in der gleichen Komplexität vorliegt wie bei
Wirbeltieren, einschließlich des Menschen. Diese Befunde waren völlig überraschend, da so gut
untersuchte Tiere wie Drosophila und Caenorhabditis ein viel einfacheres Wnt-Muster
aufweisen und man selbstverständlich angenommen hatte, dass die vermeintlich so viel
primitiveren Cnidaria auch auf dieser genetischen Ebene einfacher konstruiert sein müssten.
Plädoyer gegen Primitivität
Daraus sollte man nicht folgern, dass uns Hydra und Verwandte in der Evolution näher stehen
als Fliege und Wurm. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Nesseltieren und Menschen ist
ebenso der letzte gemeinsame Vorfahre aller Bilateria, jedoch ist in der zu den Protostomia (zu
denen Drosophila und C. elegans gehören) führenden Abstammungslinie die Komplexität des
Wnt-Genmusters reduziert worden. Die Cnidaria haben für ihre Evolution ebenso lange Zeit
gehabt wie wir, und sie sind nicht nur primitiv. Sie haben zwar den einfachen Bauplan der
frühen Metazoen aus dem Präkambrium konserviert, aber sich auf anderen Gebieten
hochgradig differenziert. Mit ihren harpunenartigen Nesselkapseln (Cnidae), die dem Stamm
den Namen verliehen haben, besitzen die Cnidaria, und nur sie, den wahrscheinlich
kompliziertesten intrazellulären biomechanischen Apparat in der ganzen Welt der Organismen.
Einige Arten wie die tropischen Würfelquallen oder die Sherlock-Holmes-Liebhabern bekannte
Cynea capillata produzieren das wirksamste und gefährlichste im Tierreich bekannte Gift.
Unsere Modelltiere Hydra und Nematostella sind für uns glücklicherweise harmlos. Nach
Ansicht des großen Biologen Edward O. Wilson haben einige Cnidaria (die Siphonophoren)
neben den sozialen Insekten und dem Menschen die am höchsten differenzierte arbeitsteilige
„Staatsform“ entwickelt, während die so einfach gebauten Korallenpolypen mit dem Aufbau
ihrer Riffe die Landkarte der Erde wohl stärker verändert haben als jeder andere Organismus.
Die Analyse des Hydra-Genoms zeigt, dass auf der Ebene dieser einfachen Mehrzeller viele
molekulare Schalter ausgebildet sind, die zur Differenzierung höherer Organismen nötig sind.
Der Vergleich mit den Genomen anderer Tiere wirft ein Licht auf die Evolution von Epithelien,
Nerven- und kontraktilen Geweben, die Entstehung der neuromuskulären Zell-Zell-Verbindung
(„junction“), der Zellkommunikation mit Rezeptoren und Signalproteinen sowie den
Transkriptionsfaktoren, welche die Embryonal- und Individualentwicklung steuern.
Fachbeitrag
05.05.2010
EJ - 27.04.2010
BioRN
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Publikationen: Chapman JA, Kirkness EF, Simakov O et al.: The dynamic genome of Hydra. Nature 464: 592596 (2010).Kusserow A, Pang K, Sturm C, Hrouda M, Lentfer J, Schmidt HA, Technau U, von Haeseler A,
Hobmayer B, Martindale MQ, Holstein TW: Complexity of the Wnt gene family in a sea anemone. Nature 433:
156-160 (2005)
zum Artikel:
Dr. Ernst-Dieter JaraschBioRegion Rhein-Neckar-Dreieck e.V.E-Mail: jarasch(at)bioregion-rnd.de
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Modellorganismen
Evolutionsforschung - Von der klassischen Biologie zur molekularen Phylogenie
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