BICHAT-LEITLINIEN* FÜR DIE KLINISCHE BEHANDLUNG VON TURALÄMIE UND MIT BIOTERRORISMUS ZUSAMMENHÄNGENDER TULARÄMIE P. Bossi, A. Tegnell, A. Baka, F. Van Loock, J. Hendriks, A. Werner, H. Maidhof, G. Gouvras „Task Force on Biological and Chemical Agent Threats“, Direktion Öffentliche Gesundheit, Europäische Kommission, Luxemburg Korrespondenzautor: P. Bossi, Hôpital de la Pitié-Salpêtrière, Paris, Frankreich, E-Mail: [email protected] Francisella tularensis gehört zu den stärksten Infektionserregern, die wir kennen; die Inokulation oder Inhalation von nur zehn Organismen reicht aus, um einen Menschen zu infizieren. Durch Inhalation verursachte Turalämie nach absichtlicher Freisetzung eines virulenten Stammes von F. tularensis hätte schwerwiegende Auswirkungen und würde hohe Morbidität und Mortalität verursachen. Ein weiterer Infektionsweg bei absichtlicher Freisetzung könnte die Kontamination von Wasser sein. Je nach Infektionsweg (Haut, Schleimhäute, Gastrointestinaltrakt, Augen, Atemwege), Infektionsdosis und Virulenz des Organismus (Typ A oder B) werden sieben klinische Formen unterschieden. Sollte dieses Bakterium für bioterroristische Angriffe verwendet werden, wäre die pulmonale Form dieser Krankheit die wahrscheinlichste. Als Therapie der Wahl für Turalämie wird derzeit der Einsatz von Streptomycin und Gentamicin angesehen. Quinolon ist eine wirksame Alternative. Die Isolation von Pneumoniepatienten ist nicht erforderlich. Für die Prophylaxe nach einer Exposition werden Streptomycin, Gentamicin, Doxycyclin oder Ciprofloxacin empfohlen. Euro Surveill 2004; 9 (12) http://www.eurosurveillance.org/em/v09n12/0912-234.asp Einleitung Turalämie (Hasenpest) ist eine bakterielle Zoonose, die von einem kleinen, unbeweglichen, gramnegativen Stäbchen, Francisella tularensis, verursacht wird. Dieses Bakterium gehört zu den stärksten Infektionserregern überhaupt, und es genügt die Inokulation oder Inhalation von nur 10 Organismen, um einen Menschen zu infizieren [1,2]. Turalämie kommt weltweit vor, hauptsächlich aber in der nördlichen Hemisphäre, in Europa, Nordamerika, im Nahen Osten, in der früheren Sowjetunion, in China und Japan. Über Ausbrüche von Turalämie wird regelmäßig in einigen Gegenden Europas berichtet, beispielsweise in Schweden, Finnland, Spanien und im Kosovo [3-5]. Im Jahr 2000 wurden in Schweden 270 Fälle und im Kosovo 327 Fälle gemeldet [4,5]. Während des letzten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts wurden in den USA 1 368 Fälle gemeldet (<200/Jahr) [3]. In einigen endemischen Regionen kommt es häufig zu Ausbrüchen, während benachbarte Regionen des gleichen Landes von der Krankheit völlig unbetroffen sein können [4]. Normalerweise wird über Fälle im Sommer berichtet, von Juni bis September, wenn die Übertragung durch Gliederfüßer am häufigsten ist. F. tularensis kann in kontaminiertem Wasser oder Boden vorkommen, an infizierten Zecken oder Bremsen, Wildtieren (Hasen, Kaninchen, Eichhörnchen, Bisamratten, Biber, Rotwild) und gelegentlich an bestimmten Haustieren (Schafe, Katzen oder Hunde) [3,6,7]. Eine Vielzahl von Kleintieren bildet vermutlich das natürliche Infektionsreservoir. Sie werden infiziert durch Zecken-, Bremsen- und Mückenstiche oder durch Kontakt mit kontaminierter Umgebung. Die Infektion von Menschen erfolgt auf unterschiedliche Weise, etwa durch Bisse von Gliederfüßern (Zecken, Bremsen, Mücken), die einen besonders wichtigen Infektionsweg darstellen, durch Umgang mit infektiösen Tiergeweben oder -flüssigkeiten, durch direkten Kontakt mit oder Aufnahme von kontaminiertem Wasser, kontaminierten Nahrungsmitteln oder kontaminiertem Boden und durch die Inhalation infektiöser Aerosole (z. B. Aerosolisierung bei Verwendung von Rasenmäher oder Gestrüppschneider) [1,8,9]. Tularämie und Bioterrorismus Durch Inhalation verursachte Turalämie infolge absichtlicher Freisetzung eines virulenten Stammes von F. tularensis würde wegen der hohen Infektiosität nach der Aerosolisierung schwerwiegendste Auswirkungen für Menschen haben. Ausbrüche pulmonaler Tularämie, besonders in Gegenden mit geringer Inzidenz, sollten Anlass sein, Bioterrorismus in Betracht zu ziehen [1]. Laut Schätzungen würde die Dispersion von 50 kg virulenter F. tularensis über einer Großstadt mit 5 Millionen Einwohnern zu rund 230 000 handlungsunfähigen Opfern und rund 19 000 Toten führen [10]. Ein Ausbruch unter sowjetischen und deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg könnte das Ergebnis einer bewussten Freisetzung gewesen sein [1]. F. tularensis wurde von mehreren Staaten, einschließlich Japans und der USA, erforscht, waffenfähig gemacht und eingelagert [1]. Ein weiterer Infektionsweg bei absichtlicher Freisetzung könnte die Kontaminierung von Wasser sein [1]. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist nicht bekannt. Mikrobiologische Eigenschaften F. tularensis ist ein unbewegliches, strikt aerobes, fakultativ intrazelluläres gramnegatives Stäbchen. Bekannt sind drei Subspecies: F. tularensis biovar tularensis (Typ A), F. tularensis biovar holarctica (Typ B) und F. tularensis biovar mediasiatica [11]. Diese Subspecies lassen sich serologisch nicht unterscheiden. Die subkutane Injektion von 10 bis 1 Million Organismen des Typs A ist normalerweise für Kaninchen tödlich, während die Inokulation mit 1 Million Organismen des Typs B bei diesen Tieren nicht zum Tod führt. Eine Infektion mit 50 Organismen des Typs A, sei es auf subkutanem Weg oder über ein Aerosol, ruft bei Menschen eine mittelschwere Erkrankung hervor, während die Inokulation mit 12 000 Organismen des Typs B eine leichte, selbst begrenzende Infektion verursacht [12]. Der Typ A ist der häufigste Eurosurveillance – 2004 Vol 9 Issue 12 – http://www.eurosurveillance.org 1 in Nordamerika, während der Typ B in Eurasien häufiger auftritt [13]. Francisellen erzeugen keine Toxine. F. tularensis hat eine dünne, Lipopolysaccharide enthaltende Hülle. Es handelt sich zudem um einen kälteresistenten, sporenlosen Organismus, der wochenlang bei niedrigen Temperaturen in Wasser, im Boden oder in verfaulenden Tierkadavern und jahrelang in gefrorenem Kaninchenfleisch überleben kann [9]. Klinische Symptome Nach einer Inkubationszeit von 3 bis 5 Tagen (Spannbreite 125 Tage) lassen sich, je nach Inokulationsweg (Haut, Schleimhäute, Gastrointestinaltrakt, Augen, Atemwege), Infektionsdosis und Virulenz des Organismus (Typ A oder B) sieben klinische Formen unterscheiden [1,2] (TABELLE I). Unter anderem können folgende Formen auftreten: pulmonal, ulzeroglandulär, typhoidal, glandulär, oculoglandulär, oropharyngeal und septikämisch. Nach der Inokulation wird F. tularensis von Makrophagen aufgenommen und wächst in ihnen. Unabhängig von der klinischen Form setzt Tularämie üblicherweise plötzlich ein mit Fieber, Frösteln, Muskel-, Gelenk-, Kopfschmerzen, Schnupfen, Halsschmerzen zuweilen auch Puls-Temperatur-Diskrepanz, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Pulmonale Tularämie geht normalerweise auf direkte Inhalation kontaminierter Aerosole zurück (primäre Tularämie oder Inhalationstularämie) oder folgt auf sekundäre hämatogene Ausbreitung von einem distalen Eintrittsort (sekundäre Pneumonie) [6,14]. In den USA erkranken rund 10 bis 20 % der Tularämiepatienten an einer Pneumonie [8,12,14]. Für Schweden wird berichtet, dass während des Tularämieausbruchs im Jahr 2000 mehr als 5 % der Patienten eine Pneumonie hatten [4]. Inhalationstularämie ist üblicher in endemischen Gebieten als in einem neuen Krankheitsgebiet [4]. Tularämie durch Inhalation manifestiert sich im Allgemeinen als akute erkältungsähnliche Krankheit ohne dominierende Anzeichen einer Atemwegserkrankung. Zu den Symptomen gehören Fieber, Frösteln, Kopf-, Muskel-, Gelenkschmerzen, unproduktiver Husten, Pharyngitis und pleuritische Schmerzen. Die Atemwegsymptome können dagegen minimal sein oder ganz fehlen. Der Thoraxröntgenbefund zeigt häufig peribronchiale Infiltrate, die typischerweise zur Bronchopneumonie progredieren, Pleuraergüsse und erweiterte Hiluslymphknoten. Für einige Patienten wurde über interstitielle Pneumonie, kavernenartige Läsionen, bronchopleurale Fisteln und Kalzifizierungen berichtet. Das komplette Blutbild zeigt sich oft normal. Ein Fortschreiten zu schwerer Pneumonie mit Atembeschwerden, blutigem Auswurf, Atemnot, systemischen Formen und Tod ist möglich, wenn keine angemessene Behandlung erfolgt. Differentialdiagnostisch von Bedeutung sind ähnliche durch bioterroristisch einsetzbare Stoffe verursachte Krankheiten wie Pest, Lungenmilzbrand (auch wenn die Progression bei Tularämie langsamer ist als bei Pest oder Lungenmilzbrand) oder Q-Fieber. An eine Tularämiediagnose durch absichtliche Freisetzung wäre bei einer großen Zahl von Patienten mit atypischer Pneumonie zu denken. Ulzeroglanduläre Tularämie (75-85 %) ist die bei Tularämiepatienten am häufigsten auftretende Form [4,5]. Ursache ist der Umgang mit kontaminierten Tierkadavern oder der Stich eines Gliederfüßers. Typischerweise bildet sich am Eintrittsort ein lokales Knötchen, dazu kommen Symptome wie Fieber und Schmerzen. Die Hautläsion kann jucken und sich zur Pustel vergrößern, die zu einem unter Umständen schorfbedeckten schmerzhaften und langsam voranschreitenden 2 Hautgeschwür zerfällt. Bei den Hautgeschwüren handelt es sich im Allgemeinen um einzelne Läsionen mit einem Durchmesser von 0,4 bis 3,0 cm. Es kann auch zu einer lokalisierten vesikulopapulären Eruption kommen. Im Falle eines Säugetiers als Bakterienüberträger sind die Läsionen normalerweise an den oberen Extremitäten lokalisiert, im Falle eines Gliederfüßers als Bakterienüberträger üblicherweise an den unteren Extremitäten. Die Läsion geht einher mit einer leichten Erweiterung eines oder mehrerer regionaler Lymphknoten, die fluktuierend werden und aufbrechen und dabei verkäste Substanz freisetzen können. Lokal kann die Krankheit trotz geeigneter Antibiotikatherapie persistieren. Bei dieser Form der Tularämie werden weder sehr schwere Fälle noch Komplikationen beobachtet. Eine Lymphknotenvergrößerung kann bis zu 3 Jahre persistieren. Glanduläre Tularämie (5-10 %): Lymphknotenvergrößerung mit Fieber, aber ohne Geschwür. Oculoglanduläre Tularämie (1-2 %) tritt auf nach aerogener Infektion, durch Autoinokulation oder nach dem Umgang mit infizierten Tierkadavern. Geschwürbildung an der Hornhaut verursacht eitrige Konjunktivitis, Chemosis, periorbitales Ödem, Bindehautknötchen, Schmerzen und leichte Schwellung der präaurikulären oder zervikalen Lymphknoten [1,15]. Oropharyngeale Tularämie (25 %) zieht man sich zu durch Trinken kontaminierten Wassers oder durch Essen kontaminierter Nahrung, durch direkte Inokulation von den Händen zum Mund und gelegentlich durch Inhalation kontaminierter Tröpfchen oder Aerosole. Die Betroffenen können eine Stomatitis entwickeln, häufiger jedoch eine exsudative Pharyngitis oder Tonsillitis mit oder ohne schmerzhafte Geschwürbildung in den Schleimhäuten. Möglich ist auch ein Retropharyngealabszess oder die Vereiterung regionaler Lymphknoten. Typhoidale Tularämie bezeichnet eine unspezifische akute erkältungsähnliche Erkrankung, oft in Verbindung mit Durchfall und Erbrechen, Kopfschmerzen, Frösteln, Schüttelfrost, Muskelund Gelenkschmerzen, Erschöpfung und Gewichtsverlust. Es gibt keine klinischen Anzeichen für den Eintrittsort oder die anatomische Lokalisierung der Infektion. Typhoidale Tularämie kann auf Verzehr oder Inhalation von F. tularensis zurückgehen. Pneumonie, Haut- und Schleimhautläsionen sowie regionale Lymphknotenvergrößerung treten normalerweise nicht auf. Septikämische Tularämie kann schwer und auch tödlich verlaufen. Bei jeder Form von Tularämie können Komplikationen durch Sepsis auftreten. Unspezifische Symptome wie Fieber, Bauchschmerzen, Durchfall und Erbrechen können im frühen Verlauf der Krankheit dominieren. Puls-Temperatur-Diskrepanz tritt in weniger als 50 % der Fälle auf. Dann erscheinen die Patienten normalerweise toxisch und es kann im weiteren Verlauf zu septischem Schock, verbreiteter intravaskulärer Koagulation, Hämorrhagie, akutem respiratorischem Distresssyndrom, Verwirrung, Organversagen und Koma kommen. Komplikationen durch Perikarditis können bei beiden Syndromen auftreten (2). Häufig ist eine milde Hepatitis. Vereinzelt wurde über Erythema nodosum, Enteritis, Appendizitis, Peritonitis und Meningitis berichtet [2,16-18]. Ohne Antibiotika beträgt die Mortalität 8 % (Spannbreite 5-15 %) bei Tularämie des Typs A; 4 % beim ulzeroglandulären und 3050 % beim typhoidalen, septikämischen und pulmonalen Typ. Eine entsprechende Behandlung reduziert die Mortalität auf 1 %. Infektionen des Typ B verlaufen selten tödlich [1,2]. Diagnose Eurosurveillance – 2004 Vol 9 Issue 12 – http://www.eurosurveillance.org Der klinische Diagnoseverdacht ist nach wie vor entscheidend. Dennoch wird im Rahmen eines Ausbruchs der erste Tularämiefall nicht immer sofort diagnostiziert. Falldefinitionen vermuteter oder bestätigter Fälle und Fälle aufgrund absichtlicher Freisetzung sind den Tabellen 2 und 3 zu entnehmen. F. tularensis kann durch direkte Untersuchung von Sekreten, Exsudaten oder Biopsien mittels direkter ImmunfluoreszenzFärbung von Antikörpern oder immunhistochemischer Färbung identifiziert werden. Proben von Sputum, Rachenspülung, Nüchtern-Magenaspirat, Pleuraflüssigkeit, Exsudate von Hautläsionen, Biopsien von Lymphknoten und Blut können kulturpositiv für F. tularensis sein. Das Bakterium zu züchten ist schwierig und beim Umgang mit ihm besteht für das Laborpersonal erhebliche Infektionsgefahr. Dennoch sollte in einem im Umgang mit F. tularensis erfahrenen Labor die Antibiotikasensitivität untersucht werden. Antigennachweis, PCR, ELISA (Enzyme Linked Immunosorbent Assay) stehen für den Nachweis von F. tularensis zur Verfügung. Die beiden letztgenannten Methoden wurden nicht ausreichend im Hinblick auf die Diagnose der pulmonalen Tularämie bewertet. Dennoch gelten eine vierfache Titerveränderung zwischen akuten und konvaleszenten Serumproben, ein einmaliger Agglutinationstiter von mindestens 1/160 oder ein Mikroagglutinationstiter von 1/128 als Diagnose für F. tularensis [1,19-21]. Serumantikörpertiter erreichen Diagnoseniveau erst 10-14 Tage nach Ausbruch der Krankheit. Serologische Tests sind nur retrospektiv von Nutzen, bestätigen aber die Diagnose. Für eine endgültige Laborbestätigung sind Kulturen und ein Anstieg spezifischer Antikörper in gepaarten Serumproben notwendig. Der Titeranstieg zeigt sich normalerweise 10-14 Tage nach Ausbruch der Krankheit. Therapie Für Behandlung und Prophylaxe der Tularämie wurden zahlreiche Anleitungen veröffentlicht [1,19-27] (TABELLE 4). Streptomycin und Gentamicin gelten derzeit für Tularämie als Therapie der Wahl [24-26]. Die Behandlung mit Aminoglykosiden sollte 10 Tage lang fortgesetzt werden [1,1923]. Quinolon kann eine wirksame Alternative darstellen [24]. Trotz fehlenden umfangreichen Datenmaterials über Tularämiepatienten sollte hauptsächlich Ciprofloxacin oder Ofloxacin für 10 bis 14 Tage verschrieben werden [1,23]. Kurzfristige Gabe von Tetracyclinen und Chloramphenicol wird mit Rezidiven in Verbindung gebracht; sie sollten also mindestens 14 bis 21 Tage verabreicht werden [1,23]. In schweren Fällen sollte die Kombination von zwei Antibiotika, etwa von Aminoglykosiden und Fluoroquinolonen, in Betracht gezogen werden. Makrolid-Antibiotika werden für die Therapie der Tularämie nicht empfohlen [1]. Im Allgemeinen werden Beta-Laktame als wirkungslos angesehen. Isolation für Pneumoniepatienten ist nicht erforderlich. Streptomycin, Gentamicin, Doxycyclin oder Ciprofloxacin werden für die Prophylaxe nach einer Exposition empfohlen; sie müssen mindestens 14 Tage lang genommen werden. Es existiert ein nicht zugelassener attenuierter Lebendimpfstoff, der Schutz vor ulzeroglandulärer und pulmonaler Tularämie zu bieten scheint. Mangels umfangreicheren Datenmaterials wird Impfung als prophylaktische Maßnahme nach einer Exposition nicht empfohlen [1,27]. Als Fazit sei festgehalten, dass F. tularensis zu den stärksten Infektionserregern gehört, die wir kennen. Eine biologische Attacke mit einem virulenten Stamm aerosolisierter F. tularensis vom Typ A hätte schwerwiegende Auswirkungen für Menschen. Die ulzeroglanduläre Tularämie kommt beim Menschen am häufigsten vor und ist zumeist Folge des Bisses eines Gliederfüßers, der sich zuvor an einem infizierten Tier ernährt hat. Die pulmonale Form der Krankheit kommt selten vor, ist aber am wahrscheinlichsten, sollte das Bakterium bioterroristisch eingesetzt werden. Der Diagnoseverdacht auf Tularämie durch absichtliche Freisetzung sollte sich bei Patienten mit atypischer Pneumonie einstellen. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. Dennis DT, Inglesby TV, Henderson DA et al. Tularemia as a Biological Weapon. Medical and Public Health Management. JAMA 2001; 285:2763-73 Evans M, Gregory D, Schaffner W, McGee Z. Tularemia: a 30year experience with 88 cases. Medicine 1985; 64: 251-69 Tularemia-United States, 1990-2000. MMWR 2002; 51: 9 Eliasson H, Lindbäck J, Nuorti J, Arneborn M, Giesecke J, Tegnell A. 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L 184, 23.7.2003;35-9 * BICHAT, die Taskforce der Europäischen Kommission zur Bedrohung durch biologische und chemische Stoffe, hat diese Leitlinien erstellt, die den nationalen Behörden als Grundlage für die Ausarbeitung eigener Anleitungen dienen, aber auch von Klinikern, Allgemeinmedizinern und Fachärzten direkt genutzt werden können, wenn sie mit Infektionen durch Erreger konfrontiert sind, die aus der absichtlichen Freisetzung biologischer Stoffe stammen könnten. Siehe hierzu Bossi P., Van Loock F., Tegnell A., Gouvras G. Bichat clinical guidelines for bioterrorist agents. Euro Surveill. 2004; 9(12) http://www.eurosurveillance.org/em/v09n12/0912-230.asp Anmerkung der Redaktion: Diese klinischen Leitlinien wurden von der Taskforce und je zwei von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ernannten Experten überprüft. Diese Überprüfung wurde Ende Februar 2003 abgeschlossen. Die überprüften Leitlinien wurden dem Ausschuss für Gesundheitssicherheit vorgelegt, der sie im April 2003 annahm und ihrer Veröffentlichung in einer Zeitschrift mit hoher Auflage zustimmte, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Bei der redaktionellen Bearbeitung durch Eurosurveillance wurde der Inhalt dieser Leitlinien weiter verbessert. Eurosurveillance – 2004 Vol 9 Issue 12 – http://www.eurosurveillance.org TABELLE 1 Zusammenfassung der klinischen und biologischen Beschreibung der Tularämie Klinische Symptome • Inkubationszeit: 3 bis 5 Tage Pulmonale Tularämie (primäre und sekundäre Pneumonie) • nach Exposition durch Inhalation erkältungsähnliche Erkrankung • Progression zu schwerer Pneumonie mit blutigem Auswurf, Atemnot und Tod, wenn keine geeignete Therapie eingeleitet wird • Thoraxröntgenbefund: peribronchiale Infiltrate, Bronchopneumonie, Pleuraergüsse und erweiterte Hiluslymphknoten Ulzeroglanduläre Tularämie, häufigste Form (75-85 %) • lokales Knötchen am Eintrittsort, verbunden mit Fieber und Schmerzen • Knötchen juckt→ vergrößert sich zur Pustel → zerfällt zu einem unter Umständen schorfbedeckten schmerzhaften Hautgeschwür • leichte Vergrößerung von > 1 regionalen Lymphknoten, der fluktuierend werden und aufbrechen und dabei verkäste Substanz freisetzen kann Glanduläre Tularämie • Lymphknotenvergrößerung • Kein Geschwür Oculoglanduläre Tularämie • eitrige Konjunktivitis, Chemosis, Knötchen oder Geschwürbildung in der Bindehaut, periorbitales Ödem • leichte Schwellung der präaurikulären oder zervikalen Lymphknoten Oropharyngeale Tularämie • Stomatitis, exsudative Pharyngitis oder Tonsillitis + schmerzhafte Geschwürbildung der Schleimhäute • Retropharyngealabszess oder Vereiterung regionaler Lymphknoten Typhoidale Tularämie • akute erkältungsähnliche Krankheit • Durchfall, Erbrechen, Kopfschmerzen, Frösteln, Schüttelfrost, Muskel- und Gelenkschmerzen, Gewichtsverlust, Erschöpfung • kein erkennbarer Eintrittsort • keine anatomische Lokalisierung der Infektion Sepsis durch Tularämie • Unspezifische Symptome, Verwirrung • septischer Schock, intravaskuläre Koagulation, Hämorrhagie, akutes respiratorisches Distresssyndrom, Organversagen und Koma Diagnose Bestätigungstests zur Identifizierung von F. tularensis [28,29] • Isolierung von F. tularensis aus klinischer Probe • Nachweis einer spezifischen Antikörperreaktion in seriell abgenommenen Seren Für vermuteten Fall • einmaliger hoher Titer • Nachweis von F. tularensis in klinischer Probe durch Fluoreszenztest Behandlung • Isolierung von Pneumoniepatienten ist NICHT erforderlich • Therapie der Wahl: Streptomycin und Gentamicin (10 Tage) • Quinolon als wirksame Alternative (10 bis 14 Tage) • Tetracycline und Chloramphenicol werden mit hoher Rezidivrate in Verbindung gebracht, Therapie mindestens 14 bis 21 Tage • Kombination von zwei Antibiotika (Aminoglykoside und Fluoroquinolone) in schweren Fällen Prophylaxe nach Exposition • Streptomycin, Gentamicin, Doxycyclin oder Ciprofloxacin (14 Tage) • Impfung wird als prophylaktische Maßnahme nach einer Exposition NICHT empfohlen Eurosurveillance – 2004 Vol 9 Issue 12 – http://www.eurosurveillance.org 5 TABELLE 2 Falldefinitionen für Tularämie Möglicher Fall • entfällt Vermuteter Fall • schwere ungeklärte fiebrige Erkrankung, Tod nach fiebriger Erkrankung bei einer zuvor gesunden Person • schwere ungeklärte respiratorische Erkrankung bei ansonsten gesunden Personen • schwere ungeklärte Sepsis oder Atmungsinsuffizienz, die nicht auf eine prädisponierende Krankheit zurückgeht • schwere Sepsis durch ein gramnegatives Stäbchens unbekannter Species, das auf Standard-Blutagar nicht wächst, nachgewiesen im Blut oder Zerebrospinalflüssigkeit • klinisch kompatibler Fall, der die Laborkriterien für einen vermuteten Fall erfüllt oder eine epidemiologische Verbindung aufweist Bestätigter Fall • klinisch kompatibler Fall mit positivem Labor-Bestätigungstest Quelle: [28,29] TABELLE 3 Definition einer absichtlichen Freisetzung von F. tularensis Verdacht auf absichtliche Freisetzung • Zwei oder mehr Verdachtsfälle von Tularämie, die zeitliche und räumliche Verbindungen aufweisen, insbesondere geographisch nahe Gruppen von Krankheitsfällen unter Berücksichtigung der Windrichtung Absichtliche Freisetzung • Einzelner bestätigter Fall indigen erworbener Tularämie, die NICHT durch berufsbedingte Exposition erklärt werden kann 6 Eurosurveillance – 2004 Vol 9 Issue 12 – http://www.eurosurveillance.org TABELLE 4 Empfehlungen für die Behandlung der Tularämie und die Prophylaxe nach einer Exposition Erwachsene Schwangere Behandlung, erste Linie (10 Tage) Es wird empfohlen, das Stillen möglichst einzustellen Behandlung, zweite Linie; Prophylaxe, erste Linie (14 Tage) Kinder Behandlung, dritte Linie; Prophylaxe, zweite Linie (21 Tage) Behandlung, erste Linie (10 Tage) Behandlung, zweite Linie; Prophylaxe, erste Linie (14 Tage) Behandlung, dritte Linie; Prophylaxe, zweite Linie (21 Tage) Behandlung klinischer Verdachtsfälle oder vermuteter Fälle (10-21 Tage) - Gentamicin: 5 mg/kg i.v. in 1 oder 2 Tagesdosen oder - Streptomycin: 1 g i.m. 2x tägl. - Ciprofloxacin: 400 mg i.v. 2x tägl. gefolgt von 500 mg per os 2x tägl. oder - Ofloxacin: 400 mg i.v. 2x tägl. gefolgt von 400 mg per os 2x tägl. oder - Levofloxacin: 500 mg i.v. 1x tägl. gefolgt von 500 mg per os 1x tägl. - Doxycyclin: 100 mg i.v. 2x tägl. gefolgt von 100 mg 2x tägl. per os - Gentamicin: 2,5 mg/kg i.v. 3x tägl. oder - Streptomycin: 15 mg/kg i.m. 2x tägl. (max. 2 g) Ciprofloxacin: 1015 mg/kg i.v. 2x tägl. gefolgt von 10-15 mg/kg per os 2x tägl. - Doxycyclin: >8 Jahre und > 45 kg: Erwachsenendosis >8 Jahre und < 45 kg oder < 8 Jahre: 2,2 mg/kg i.v. 2x tägl. gefolgt von 2,2 mg/kg per os 2x tägl. (max. 200 mg/d) Prophylaxe nach Exposition (14 Tage) - Ciprofloxacin: 500 mg per os 2x tägl. oder - Ofloxacin: 400 mg per os 2x tägl. oder - Levofloxacin: 500 mg per os 1x tägl. - Doxycyclin: 100 mg 2x tägl. per os Ciprofloxacin: 1015 mg/kg per os 2x tägl. - Doxycyclin: >8 Jahre und > 45 kg: Erwachsenendosis >8 Jahre und < 45 kg oder < 8 Jahre: 2,2 mg/kg per os 2x tägl. (max. 200 mg/d) Quelle: [23] Eurosurveillance – 2004 Vol 9 Issue 12 – http://www.eurosurveillance.org 7