30 Der Formenkreis der Borderline

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30 Der Formenkreis der Borderline-Störungen –
Versuch einer deskriptiven Systematik
auf psychoanalytischer Grundlage
Birger Dulz1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Symptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Borderline-Störungen versus
andere Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
Die Borderline-Störungen als Organisationsniveau . . . 336
Einleitung1
Dieses Kapitel mag manchem, gerade jüngerem Leser wie
ein Anachronismus erscheinen, ein Rückfall in frühwissenschaftliche Zeiten mit ihren Syndromen, Klassifikationen und Einteilungen auf der Basis klinischer Erfahrung.
Gerade um diese Wissenschaftsphase zu überwinden, gilt
aktuell ein möglichst anti-ätiologisches Krankeitsverständnis ohne jede Theorie von Zusammenhängen als besonders
wissenschaftlich: Stichwort Komorbidität. Nur die Phänomene werden aufgelistet – und in wissenschaftlichen Untersuchungen haben Menschen mit schweren Störungen dann
acht Achse-I-Störungen und fünf Achse-II-Störungen nach
DSM. Spätestens wenn wir solche Menschen behandeln,
greifen wir jedoch alle implizit auf Konzepte von Zusammenhängen, Dynamiken, Hierarchisierungen und Synopsis
zurück – zumindest um einschätzen zu können, ob eine
neue Symptombildung nun ein therapeutischer Fortschritt
oder ein Rückschritt ist. Wenn eine Patientin, die sich bisher oft verletzt hat, dies in den letzten Wochen weniger tut,
dafür aber deutlich depressiver wird, dann werden dies
wohl alle erfahrenen Therapeuten jeder Therapierichtung
als Therapiefortschritt werten; aber auf der Basis welcher
1
Angela Schneider (1951–1994) hat dieses Modell des Formenkreises
der Borderline-Störungen mit erarbeitet. Sie konnte es schließlich
aufgrund einer schweren Erkrankung nicht mehr mit ausformulieren. Angela Schneider ist dieser Beitrag gewidmet.
Versuch einer Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Der Formenkreis der Borderline-Störungen . . . . . . . . . 337
Differenzierung nach Ausrichtung der Aggression . . . 341
Synthese aus Formenkreis und
Aggressionsausrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Kasuistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
impliziten Theorie eigentlich? Noch längst nicht alle diese
Zusammenhänge sind empirisch geklärt.
Um die Therapie von Borderline-Patienten zu verbessern, mache ich meine impliziten Theorien hier explizit
und stelle ein systematisiertes Konstrukt vor, das auf der
psychoanalytischen Theorie und auf Jahrzehnten klinischer
Erfahrung fußt. Es hat sich zum Verständnis bewährt und
erleichtert die Therapieplanung sowie die Einschätzung
von Therapie-Fortschritten und -Rückschritten. Gleichzeitig ist es engagiert formuliert, weil es ein Plädoyer ist:
Ich plädiere hier gegen eine Selbstreduktion im Denken,
gegen eine Abwertung von Theoriebildungen und Klinik,
die zumindest in der Therapie ein weit größerer Verlust
ist als der oft propagierte Gewinn an wissenschaftlicher
Klarheit und Präzision, den die rein phänomenologische
Perspektive angeblich bringt. Mir ist klar: Hier kann man
auch entgegengesetzter Meinung sein. Gut so.
Hinsichtlich der Borderline-Störungen existiert einerseits
ein deskriptives (d. h. psychiatrisches) Bild, das die gesamte Psychopathologie umfasst (s. Kap. 4). Vielfach wird aus
der Symptomfülle und den typischen Symptomwechseln
geschlossen, dass eine Komorbidität vorliege. Für manche
geht das Konzept von Komorbidität so weit, dass sie annehmen, hier bestünden mehrere Krankheiten summarisch unverbunden nebeneinander. Symptome hält Kernberg (1975,
1990, S. 25) allerdings für nicht mehr als Verdachtsmomente: Sie könnten »als Hinweise auf eine zugrunde liegende
Borderline-Persönlichkeitsstruktur dienen«. Hier muss auf
den Unterschied zwischen Borderline-Persönlichkeitsstö-
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Der Formenkreis der Borderline-Störungen – Versuch einer deskriptiven Systematik auf psychoanalytischer Grundlage
rung (nach DSM bzw. ICD) und dem psychodynamischen
Konzept der Borderline-Persönlichkeitsorganisation hingewiesen werden (s. hierzu Kap. 28). Aus Symptomen allein
auf eine Komorbidität zu schließen, ignoriert denn auch
fundamentale, vor allem psychoanalytische Erkenntnisse
zu Borderline-Störungen: Ein phänomenologisches Konzept ignoriert nicht, sondern konzeptualisiert einfach anders. So wird die Homogenität der strukturellen Aspekte
bei einer rein additiv-phänomenologischen Sichtweise nicht
zur Kenntnis genommen. Die DSM-Sichtweise hält die psychoanalytische schlicht für eine entbehrliche Überinterpretation: Die Diagnose einer Borderline-Störung kann nach
psychoanalytischer Auffassung nur aufgrund der strukturellen Analyse gestellt werden – von der intrapsychischen
Struktur und nicht der ohnehin sehr wechselhaften Symptomatik hängt schließlich die interpersonelle Situation,
also die Beziehungsgestaltung ab, welche von kaum einer
anderen psychiatrischen Störung so affiziert wird wie von
der Borderline-Störung.
Wir (auf den Borderline-Stationen der Asklepios Klinik
Nord in Hamburg) setzen – was auch als Integration psychiatrischen und psychoanalytischen Wissens verstanden
werden kann – bei der Diagnostik drei »Komponenten« ein,
die alle erfüllt sein müssen, wenn wir von einer BorderlineStörung sprechen:
•• eine positive strukturelle Analyse (d. h. der Nachweis der
typischen Abwehrmechanismen; s. Kap. 2.14 Lohmer)
•• das Diagnostische Interview für das Borderline-Syndrom (DIB-R; Gunderson 1985; s. Kap. 29)
•• das DSM (s. Kap. 4 und Anhang)
Somit legen wir mit voller Berücksichtigung sowohl deskriptiver als auch struktureller Aspekte strenge Kriterien an.
Bestandsaufnahme
Symptome
Im Rahmen einer 180 Borderline-Patienten umfassenden
Studie diagnostizierten Fyer, Frances et al. (1988) bei 91 %
zusätzliche Diagnosen im Sinne einer Komorbidität – die
Autoren schließen daraus, dass die Gruppe der BorderlinePatienten sehr heterogen sei (s. Kap. 13). Auch Fiedler (1994,
1995) betont die Komorbidität von spezifischen psychischen
Störungen bzw. Syndromen – erwähnt werden unter anderem Affektive Störungen, somatoforme Störungen und
Essstörungen sowie Persönlichkeitsstörungen.
Gunderson und Kolb hatten schon 1978 die Vielfalt
der Symptome zum Anlass genommen, eine Entwicklung
geeigneter diagnostischer Kriterien zur Abgrenzung der
Borderline-Störung gegen andere Krankheitsbilder vor-
zunehmen. Als Ergebnis ihrer Überlegungen entstand das
»Diagnostische Interview für das Borderlinesyndrom« (DIB
bzw. DIB-R; Gunderson 1985; s. auch Kap. 29). Das DIB ist
eine der Möglichkeiten, eine Homogenität der BorderlinePatienten nachzuweisen. Allerdings liegt die Homogenität weniger im deskriptiven und somit »oberflächlichen«
Bereich, sondern letztlich in der intrapsychischen Struktur, der Borderline-Persönlichkeitsorganisation im Sinne
Kernbergs (s. Kap. 28). Eine Homogenität der BorderlineStörungen ist also nicht auf dem rein symptombezogenen
psychiatrischen Weg, sondern nur unter Anwendung psychoanalytischer Verständniskonzepte zu erkennen.
Mittels des DIB untersuchten Swartz, Blazer et al. (1990)
eine große Population (die Stichprobe wurde aus der Bevölkerung zufällig ausgewählt) und stellten bei den als Borderline-Patienten identifizierten Personen fest, dass bei 48,4 %
vier und mehr verschiedene Diagnosen gestellt worden seien, während dieses in der Gesamtpopulation nur bei 2,7 %
der Untersuchten vorgekommen wäre. Zu den genannten
Diagnosen zählen bei
•• 56,4 % eine allgemeine Angsterkrankung (Gesamtpopulation 4,7 %),
•• 41,1 % eine einfache Phobie (8,6 %),
•• 40,7 % eine Major Depression (2,4 %),
•• 34,6 % eine Soziophobie (2,1 %),
•• 34,4 % eine posttraumatische Stresserkrankung
(7,2 %),
•• 12,9 % eine Schizophrenie bzw. schizophreniforme Symptome (0,5 %),
•• 9,6 % eine Manie (0,4 %) und bei
•• 8,3 % eine Somatisierungsstörung (0,2 %).
Marziali, Munroe-Blum und Links (1994) fanden, dass
39 % der Borderline-Patienten auch Zeichen einer Major
Depression, 19 % eine Alkohol- und 15 % eine Drogenabhängigkeit aufweisen. Auf eine Assoziation Affektiver
Störungen mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung weisen auch Maier, Lichtermann et al. (1992) hin (s. Kap. 32).
Garyfallos, Adamopoulou et al. (1994) belegten, dass bei
gemeinsamem Vorkommen von Angst und Depression in
der Mehrzahl der Fälle (84 %) eine Persönlichkeitsstörung
vorliegt, zumeist eine Borderline-Störung (37 %).
Wir gehen davon aus, dass Angst das Zentralsymptom der Borderline-Störungen darstellt – als letzte Stufe
der Angstentwicklung, die mit der Vernichtungsangst des
Säuglings im Sinne Winnicotts beginnt und ihre Wiederbelebung durch die Realtraumatisierung erfährt (Dulz
1999). Diese archaische und traumatische sogenannte frei
flottierende Angst – sie entspricht aufgrund ihrer frühkindlichen Wurzeln mehr einer Grund- denn einer konkreten
Erwartungsangst – wird automatisch als eine innerseelische
Abwehr gegen unbewusst erwartete Bedrohungen (im Rahmen von Beziehungen) aufgebaut. Sie äußert sich oft getarnt
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III
Klassifikation und Diagnostik
sowohl auf der deskriptiven wie der strukturellen Ebene
(Dulz u. Schneider 1995, 1996; s. Kap. 34; Kap. 54).
Säuglingsangst: Winnicott (1953, 1984, S. 60 f.) postulierte
eine mit Angst zusammenhängende Vernichtungsdrohung:
»Sein und Vernichtung sind die beiden Alternativen.« Im
Tierreich wird das ganz deutlich: Angst vor Vernichtung
steuert das Verhalten selbst primitiver Lebewesen. An anderer Stelle ergänzt Winnicott (1978, 1992, S. 32): »Falsches
Halten ruft im Kind extremes Unbehagen hervor; es ist die
Grundlage für: … das Gefühl, die äußere Realität sei zur
Beruhigung nicht zu gebrauchen, und andere Ängste, die
gewöhnlich als ›psychotisch‹ bezeichnet werden.« Er führt
weiter aus (1953, 1984, S. 74), dass das Baby ein unreifes
Wesen sei, das ständig am Rande unvorstellbarer Angst
stehe, die nur wenige Varianten habe, »von denen jede der
Schlüssel zu einem Aspekt der normalen Entwicklung ist:
1. Zusammenbrechen,
2. unaufhörliches Fallen,
3. keine Beziehung zum Körper haben,
4. keine Orientierung haben.«
Dieses sind Beschreibungen unspezifischer, diffuser, frei
flottierender Ängste eines Säuglings, der zwar eine konkrete Gefahr nicht erkennen, sie auch nicht phantasieren
kann, aber dennoch Angst vor dem innerseelischen »GAU«
haben kann – ohne eine Idee, wie dieser »größte anzunehmende Unfall« aussehen könnte. Der einzige Schutz dagegen ist – Winnicott folgend – die »haltende Funktion«. So
wie der Säugling, der wie alle Primaten ein »Tragling« ist
und das Gehaltenwerden braucht, die haltende Funktion
wahrnimmt, nimmt er deren Fehlen wahr (Bürgin u. Meng
2000; s. Kap. 17). Auch Dornes (1997) geht davon aus, dass
Furcht ab einem Lebensalter von sechs bis sieben Monaten
empfunden werden kann, einige Komponenten eines Ausdrucks von Angst auch schon früher. Er betont, dass Säuglinge nicht phantasieren könnten. In aktueller Sichtweise
können sie noch nicht mentalisieren (s. Kap. 52). Deshalb
hätten sie in erster Linie realistische Ängste, die zeitlich
begrenzt seien, sofern sich die Angst auslösende Situation
verändere. Ich meine also, dass der Säugling durchaus eine
Vernichtungsangst erlebt, denn er kann nicht ahnen, dass
das Essen schon naht, wenn der Hunger bereits vorhanden ist, oder dass die Decke schon bereit liegt, wenn er zu
frieren beginnt. In einer Psychotherapiegruppe habe ich
Winnicotts Beschreibung der Vernichtungsangst von Säuglingen wiedergegeben, ohne jedoch zu sagen, worauf sich
diese Definition bezieht; in seltener Einhelligkeit meinten
die Patienten, dass man ihre Angst ganz genau so beschreiben könne.
Traumafolge Angst: Die erste und unmittelbare Reaktion
auf das Trauma ist Angst um sich selbst, da das Trauma
als vitale Bedrohung erlebt wird – auch aufgrund der im
Unbewussten gespeicherten Erinnerungen an die Vernichtungsangst des Säuglings. Frühkindliche prätraumatische Erfahrungen und wohl auch pränatale Erfahrungen
(Piontelli 1996) können also prädisponierend sein, zumal
das Realtrauma innerhalb einer meist lange vorher bestehenden Familienatmosphäre entsteht (natürlich kann Todesangst in einer traumatisierenden Situation auch ohne
Prädisposition entstehen). Erst später, manchmal erst lange
Zeit nach dem Trauma, erfolgt eine beziehungsbezogene
Reaktion, also Wut bzw. Hass; Wut als objektbezogenes
Gefühl halte ich also erst für die zweite affektive Reaktion
auf Traumata. Dies betrifft Hass bzw. Wut auf den Täter
wie auch – insbesondere nach Inzesterlebnissen – Hass und
Wut auf sich selbst. Auch Scham – stets nur in Verbindung
mit Objekten auftretend – stellt keine direkte erste Reaktion
während eines Inzest oder einer Vergewaltigung, geschweige denn einer Misshandlung dar. Stets und zunächst wird
aber während der Traumatisierung Angst um sich selbst
erlebt, mit der Folge z. B. von Dissoziationen als Angstentlastung – als gelte die Bedrohung dann nur dem Körper wie
einer leeren Hülle, aber nicht dem Selbst. Die vitale Bedrohung per se ist wichtiger und wird eher wahrgenommen als
die Personifizierung des Täters bzw. die Entwicklung von
Affekten ihm oder Dritten gegenüber. Aus diesem Grund
können – so unsere klinische Erfahrung – Vergewaltigungsopfer zwar meistens das Trauma genau erinnern, seltener
aber den fremden Täter beschreiben. Deneke (1999, S. 101)
führt bezüglich der Erinnerung von Traumatisierungen
an einen weiteren Aspekt heran: Traumatisierungserinnerungen würden im deklarativ-expliziten Gedächtnis gespeichert werden, wobei die hierfür notwendige Hippocampusformation in den ersten Lebensjahren noch zu unreif
sei, um explizite Gedächtnisinhalte speichern zu können;
das emotionale Gedächtnis hingegen sei in dieser frühen
Lebensphase voll funktionsfähig: »Auf diese Weise würde
zwanglos erklärbar, daß lebensgeschichtlich frühe intensive
Gefühlserfahrungen [Anm. d. Autors: dies betrifft auch die
oben erwähnte Vernichtungsangst von Säuglingen] unter
Bedingungen, die den Früherfahrungen zumindest partiell
ähneln, reaktiviert werden können – ohne dass eine Chance
besteht, den zugehörigen Kontext, die seinerzeit erlebte Gesamtsituation, mnestisch zugänglich zu machen.«
Frei flottierende, diffuse (Borderline-)Angst: Um diese un-
erklärliche, den Patienten permanent bedrohende Angst
zu reduzieren, erfolgt die Ausbildung vielfältiger Abwehrmechanismen und Symptome (Abb. 30-1). Zu ihnen gehört
auch Aggression, die im Sinne einer Externalisierung der
eigenen Entängstigung und Entlastung dient – z. B. bei
Skins Aggressionen gegen vermeintlich bedrohliche Personen wie Ausländer. Angst ist also die Basis von Wut/
Hass/Aggression (s. auch Kernberg 1997a; 1997c). Diese
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Der Formenkreis der Borderline-Störungen – Versuch einer deskriptiven Systematik auf psychoanalytischer Grundlage
antisoziales Verhalten
Fremdaggressivität
Autoaggressivität (»Schnippeln«)
dissoziative Symptome
einschließlich sog.
multiple Persönlichkeit
Konversionssymptome
Suizidalität/Suizid
Drogenabusus/Spielen
multivariante
Sexualität
Depressivität/
innere Leere
Essstörungen
frei
flottierende
Angst
Zwänge
psychosenahe
Symptome
(Pseudohalluzinationen, Paranoia)
Phobien
deskriptive Ebene
Ich-Schwäche
strukturelle Ebene
Spaltung
+
Abb. 30-1 Mechanismus zur
Reduktion der frei flottierenden,
diffusen Angst bei BorderlinePatienten.
+
+
+
projektive Identifizierung + primitive Idealisierung
+ Verleugnung + Omnipotenz/Entwertung
Angst ist später fast permanent vorhanden, manchmal
abgewehrt und nicht spürbar, aber in engen Beziehungen
stets verstärkt – also auch in der Therapie. Zwei interessante
neue Aspekte zum Thema konnte Dörner (1998) empirisch
belegen. Angst gehöre neben Depression zu den häufigsten Affekten von Borderline-Patienten – so jedenfalls die
Selbsteinschätzung; die Patienten wurden allerdings (im
Rahmen des DIB; s. Kap. 29) von den Interviewern relativ
selten als ängstlich bzw. furchtsam eingeschätzt: »Es besteht
hier also eine Divergenz zwischen dem, was die Patienten
von sich berichten und dem, was von den Interviewern bei
ihnen wahrgenommen wird« (a. a. O., S. 75). Dies kann als
Hinweis auf die Verleugnung von Angst gesehen werden.
Eine Clusteranalyse von Dörner erbrachte ferner, dass es
bei den Borderline-Patienten zwei Untergruppen (mit laut
DIB-Gesamtscore vergleichbarer Schwere der Störung)
gebe: Die eine Gruppe mit hohen Werten im Bereich Wut
habe niedrige Werte im Bereich Angst vorgewiesen und
die andere Gruppe mit hohen Werten im Bereich Angst
niedrige Werte im Bereich Wut: »Dies läßt den Schluß zu,
daß Wut und Angst nicht in gleichem Maße zusammen
auftreten und sich die Patienten dieser Stichprobe in den
Gruppen anhand dieser Emotionen unterscheiden lassen«
(a. a. O., S. 107 f.). Ich vermute auf der Basis unserer klinischen Erfahrung und unserer empirischen Daten, dass die
Hilfsmechanismen der Spaltung
Gruppe, welche vor allem Angst verspürt, primär sexuell
missbraucht und jene mit Wut primär körperlich misshandelt wurde (s. Kap. 21).
Bei der in Abbildung 30-1 skizzierten Bedeutung der
Angst liegt es nahe, dass Mut einen entscheidenden Faktor für einen Therapieerfolg darstellt: Mut, es anders zu
machen. Letztlich kennt jeder diesen Mut, etwa bezüglich
von Verhaltensmustern bei Konflikten in Liebesbeziehungen. Borderline-Patienten benötigen sehr viel mehr Mut,
Neues in Beziehungen zu probieren. Gerade das wäre aber
nötig, um die Verankerung alter Beziehungserfahrungen
in den neuronalen Netzwerken zu »entschärfen«. Zanarini
(s. Kap. 5) geht von Symptomen aus, die in Beziehung
zum Temperament stünden, hier könnte der Unterschied
zwischen remittierten und nicht remittierten BorderlinePatienten liegen. Aus meiner Sicht stützt das meine obige
Hypothese: Mut hat sicher eine enge Beziehung zu dem, was
von Zanarini dem Temperament zugerechnet wird.
Die Vielfalt der Symptomatik der Borderline-Störungen
– meines Erachtens als Versuch der Entängstigung zu verstehen – wird auch in zahlreichen anderen Publikationen
beschrieben. So erkannten Nace, Saxon und Shore (1983)
12,8 % von Alkoholkranken als Borderline-Patienten;
McGlashan (1987) stellte bei 65 % der Borderline-Patienten einen Drogenabusus fest (s. Kap. 43). Nowack (1992)
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