130 5 Therapeutische Ansätze 5.3 Aktuelle therapeutische Maßnahmen 5.3.1 Patientenführung und psychotherapeutische Begleitung Epidemiologischen Untersuchungen zufolge ist die Prävalenz der LKB hoch und betrifft in repräsentativen Bevölkerungsstichproben in Abhängigkeit vom Lebensalter zwischen 20 bis über 30 % der älteren Bevölkerung (vgl. Kap. 1.2). Nicht jeder ältere Mensch, der in epidemiologischen Untersuchungen die diagnostischen Kriterien für die LKB erfüllt, verspürt einen subjektiv relevanten Leidensdruck. Von denjenigen Personen mit subjektiv relevantem Leidensdruck wiederum stellt sich nur ein Teil aufgrund der erlebten Beeinträchtigungen in der haus- oder fachärztlichen Sprechstunde vor. Systematische Untersuchungen über das Verhältnis des Gesamtanteils der Betroffenen zu denjenigen, die diagnostische Hilfe in Anspruch nehmen, liegen bisher nicht vor. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es sich bei denjenigen Personen, die sich aufgrund einer LKB in der ärztlichen Sprechstunde vorstellen, um eine selektierte Gruppe handelt, die durch einen vergleichsweise hohen Leidensdruck bzw. eine relativ ausgeprägte Selbstwahrnehmung der kognitiven Defizite charakterisiert ist. Diejenigen älteren Menschen, die ihre kognitiven Defizite entweder verleugnen oder aber gar nicht als problematisch empfinden, finden deutlich seltener ihren Weg in die Diagnostik (z. B. eine Gedächtnisambulanz), als diejenigen, die sich häufig schon seit Monaten, manchmal Jahren sorgenvoll mit ihrem Gedächtnisstörungen und deren möglichen Konsequenzen befassen. Gleichzeitig handelt es sich um eine Gruppe von Patienten, bei denen das Reflexionsvermögen bzw. die Introspektionsfähigkeit noch kaum beeinträchtigt sind und die häufig auch einen offenen und transparenten Umgang mit den Ergebnissen der Diagnostik und deren möglichen Konsequenzen wünschen. Diesem Bedürfnis muss auf ärztlicher bzw. therapeutischer Seite ein entsprechendes Angebot gegenüberstehen. ! Unter gar keinen Umständen sollte der Patient nach Abschluss der Diagnostik und Mitteilung der entsprechenden Ergebnisse sich selbst überlassen werden. Eine wertende Einschätzung des (individuellen) Risikos nach Abschluss der Diagnostik und das Angebot regelmäßiger Kontrolluntersuchung (im Abstand von ca. sechs Monaten) ist das Mindeste, was dem Patienten angeboten werden sollte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die bloße Mitteilung diagnostischer Ergebnisse, die möglicherweise noch die Einschätzung eines erhöhten Demenzrisikos beinhaltet, ungünstige Verläufe bis hin zu depressiven Reaktionsbildungen nach sich ziehen kann. Gerade in denjenigen Fällen, in denen die Diagnostik eine beginnende (präklinische) Demenzerkrankung nicht ausschließen kann bzw. diese sogar bestätigt, wird dem Patienten sein initialer Leidensdruck ja nicht genommen. Denn dieser Leidensdruck kann im Einzelnen durch die folgenden Aspekte bedingt sein: 5.3 Aktuelle therapeutische Maßnahmen ●● ●● ●● ●● Antizipation des Fortschreitens der kognitiven Defizite mit der damit einhergehenden Bedrohung für das Selbst Scham und Angst vor Stigmatisierung durch die weiterhin drohende Demenzdiagnose Ungewissheit der Prognose („Damoklesschwert“) Bei der LKB vorhandene, zum Teil bereits alltagsrelevante funktionelle Beeinträchtigungen Die ausführliche Diagnostik impliziert somit eine Sorgfaltspflicht des Arztes, die neben einer möglichst sachlichen Aufklärung über die Relevanz der Befunde und die anstehenden präventiven und therapeutischen Maßnahmen auch (möglichst empathisch) die dargestellte Innenperspektive der Betroffenen adressieren sollte. Bei der Aufklärung über die Ergebnisse der Diagnostik ist neben dem Recht der Betroffenen auf Wissen auch zu berücksichtigen, dass allein das bessere Verständnis der erlebten Symptome bzw. Defizite erste Möglichkeiten der frühen Intervention und Sekundärprävention eröffnet. Der Betroffene kann sich frühzeitig und bewusst mit den möglichen Ursachen seiner Beeinträchtigung auseinandersetzen. Dies ist nicht zuletzt auch im Hinblick darauf von Bedeutung, für den Fall einer tatsächlich eintretenden Demenzerkrankung rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen (einschließlich testamentarischer oder sonstiger Vorverfügungen). Die Psychotherapie- und Rehabilitationsforschung hat sich in den vergangenen Jahren vermehrt den genannten Aspekten der subjektiven Krankheitsverarbeitung und ihren psychosozialen Auswirkungen in der Frühphase der Demenz zugewendet. Wie bereits erwähnt, lässt die in der Regel noch gut erhaltene Introspektionsfähigkeit in dieser Phase der Erkrankung eine bewusste und therapeutisch geführte Auseinandersetzung mit den möglichen Krankheitsfolgen zu und kann hier ggf. zur Prävention depressiver Entwicklungen bei dem Betroffenen (aber auch den Angehörigen) sowie zur Erschließung und Optimierung noch vorhandener Ressourcen verhelfen. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang das Projekt Subjektive Krankheitsverarbeitung und Bewältigung der Demenz im Frühstadium (SUWADEM) (Stechel et al. 2006) genannt. Andere Autoren wiederum wandten sich dem „sozialen Frühstadium der Alzheimer-Krankheit“ und Aspekten der Krankheitsbewältigung im Familiensystem der Betroffenen zu (Langehennig u. Obermann 2006). Während die genannten Projekte sich insbesondere mit den psychosozialen Folgen der frühen, gleichwohl klinisch bereits manifesten Demenzerkrankung befassen, wurden die psychologische Innenperspektive von Patienten mit LKB nach Abschluss der Diagnostik und die sich hieraus ergebenden Komplikationen für eine psychotherapeutische Begleitung nicht systematisch untersucht. Da für die LKB – im Gegensatz zur bereits manifesten Demenz – bisher jedoch noch keine evidenzbasierten medikamentösen Interventionsmöglichkeiten existieren, gewinnen gerade hier psychosoziale Interventionen in der Rehabilitation und therapeutischen Begleitung eine besondere Bedeutung. 131 132 5 Therapeutische Ansätze Da das Nachlassen von kognitiven Funktionen auch häufig mit Gefühlen wie Scham oder Ärger verbunden ist und dies möglicherweise zu einem sozialen Rückzug führt oder für die betroffenen Personen einen Stressor darstellt, kann es notwendig und hilfreich sein, diese Gefühle und die dazugehörigen dysfunktionalen Gedanken in Gruppen oder im Einzelsetting zu bearbeiten und funktionalere Kognitionen zu entwickeln. Es wird angenommen, dass hierdurch auch die sehr häufig bereits im Stadium der LKB vorhandenen depressiven Symptome vermindert bzw. der Ausbildung depressiver Syndrome vorgebeugt werden kann. Depressive Symptome können nicht nur per se die bestehenden kognitiven Defizite verstärken, sie können auch zu einem sozialen Rückzug führen bzw. diesen fördern. Dies wiederum kann einen funktionalen Umgang mit bemerkten Gedächtniseinbußen erschweren. In Abbildung 5.1 ist der oben beschriebene Zusammenhang anhand des psychologischen Defizitmodells der frühen Demenz (Pantel 2009) grafisch dargestellt. ! Der psychotherapeutische Umgang mit dem Patienten sollte weniger die häufig ohnehin als schamhaft erlebten Defizite in den Mittelpunkt rücken, sondern möglichst ressourcenorientiert sein. Bereits vorhandene bzw. bewährte Copingstrategien sollten aufgegriffen und ggf. verstärkt und darüber hinaus – im optimalen Fall – neue Copingstrategien erarbeitet und erprobt werden. neuronale Degeneration kognitive Störung Funktionsverlust Entzug kognitiver Stimulation Verstärkerverlust „Verlernen“ aus der Übung kommen sozialer Rückzug Erleben eigener Defizite „Frustration“ Scham Verlust an Selbstvertrauen Verlust an Selbstwert ggf. depressive Reaktion Abb. 5.1 Das psychologische Defizitmodell der frühen Demenz (mod. nach Pantel 2009).