Diagnostik sexuell auffälliger Kinder und Jugendlicher 1. Einleitung

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LWL-Klinik Marl-Sinsen
- Haardklinik -
Kinder- und Jugendpsychiatrie  Psychotherapie  Psychosomatik
im LWL-PsychiatrieVerbund Westfalen
Diagnostik sexuell auffälliger Kinder und Jugendlicher
Von: Dr. Claus-Rüdiger Dr. Haas, Ärztlicher Direktor der LWL-Klinik Marl – Haardklinik -
1. Einleitung
Sexuell auffällige und übergriffige Kinder und Jugendliche sind Teil des klinischen,
diagnostischen und therapeutischen Alltags. Die Patienten kommen entweder freiwillig mit
eigenem Anliegen, gedrängt von Erziehungsberechtigten oder dem Hilfesystem oder
aufgrund einer potentiellen Fremdgefährdung unter den Bedingungen des Paragraphen
1631b des BGB. Ausdrücklich ausgeklammert werden die forensischen Patienten.
Die Patienten, die unter den Bedingungen der Krankenkassenfinanzierung stationär
aufgenommen werden, haben eine Symptomatik, die den stationären Aufenthalt notwendig macht. Die Diagnostik ist mit den Mitteln der ambulanten oder teilstationären
Behandlung nicht zu leisten.
Die Klinik ist sehr viel häufiger ein Ort der Opfer. Dies stellt eine besondere Herausforderung dar bei der Diagnostik und Behandlung von sexuell übergriffigen Kindern und
Jugendlichen. Zum einen müssen die Mitpatienten geschützt werden. Es ist notwendig,
dass die übergriffigen Kinder und Jugendlichen zu den jüngsten Patienten der Station
gehören. Außerdem bedarf es einer engen Kontrolle in vielen Fällen, der Anordnung von
Sichtkontakt oder 1:1-Betreuung zumindest zu Beginn der stationären Phase. In diesen
Rahmenbedingungen muss es aber möglich sein, zu den Patienten eine Beziehung
aufzubauen. Die Patienten müssen den Eindruck haben, dass ihnen positive Gefühle,
Empathie, entgegengebracht werden. Nur so besteht die Chance einer
unvoreingenommenen und in die Tiefe gehenden kinder- und jugendpsychiatrischen
Diagnostik.
Das Team, das die Diagnostik durchführt, braucht Erfahrung im Umgang mit diesen
Patienten, um den Spagat zu bewerkstelligen, Beziehung aufzubauen, unvoreingenommene Diagnostik durchzuführen, Professionalität durchzuhalten und Mitpatienten zu
schützen.
2. Psychopathologischer Befund
Der psychopathologische Befund bildet in all seinen Facetten das Zentrum der stationären
Diagnostik. Ein in die Tiefe gehender psychopathologischer Befund gelingt nur über den
suffizienten Beziehungsaufbau des Teams, insbesondere der Bezugspersonen aus dem
Pflege- und Erziehungsdienst und dem fallführenden Therapeuten.
LWL-PsychiatrieVerbund Westfalen
In mehr als 100 Krankenhäusern, Rehabilitationszentren, Wohn- und Pflegeheimen werden jährlich über 140.000 Menschen behandelt und betreut.
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2.1. Testpsychologie
Als Orientierung empfiehlt es sich, testpsychologische Manuale mit einzusetzen. Hier ist in
erster Linie an den CASCAP aus dem AMDP-System zu denken. Manuale aus dem
Bereich der Persönlichkeitsdiagnostik wie zum Beispiel das PSSI, das FPI oder der
Persönlichkeitspathologie, das SKID II können verwendet werden.
2.2. Beobachtungen
Die Beobachtung im stationären Ablauf stellt eine der Existenzberechtigungen der
stationären Diagnostik dar. Im multiprofessionellen kinder- und jugendpsychiatrischen
Team können vielfältige Erfahrungen zusammengetragen werden. Dies betrifft sowohl die
in der größeren Verantwortung stehenden fallführenden Therapeuten als auch
Bezugspersonen des Pflege- und Erziehungsdienstes aber auch die gesamte
Teamstruktur, mit den Fachtherapeuten, dem heterogenen Stationsteam, die Klinikschule
und natürlich die fachliche Leitung durch einen Oberarzt oder eine Oberärztin. Das Team
muss neben den üblichen Team- und Fallbesprechungen Teamfallsupervisionen nutzen,
um immer wieder den oben beschriebenen Spagat der Diagnostik zu bewerkstelligen.
2.3. Intrapsychisches Erleben
Wie schon Jaspers in seiner allgemeinen Psychopathologie Anfang des 20. Jahrhunderts
beschrieben hat ist es wichtig, sich mit dem inneren Erleben des Patienten
auseinanderzusetzen (Jaspers). Die halbstrukturierten Interviews, Selbstbefragungsbögen
oder Beobachtungen reichen nicht aus. Das psychische Erleben des Patienten erschließt
sich nur über eine suffiziente Beziehung, ein offenes und ernst gemeintes
Beziehungsangebot und einer Empathie des Therapeuten. Hierzu setzt er notwendige
Mittel ein, die zum Teil auch über das dialogische Gespräch hinausgehen, wie zum
Beispiel bei Kindern die Spieltherapie oder aktionsgebundene gemeinsame Aktivitäten. Da
es sich nicht um eine forensische und gerichtsrelevante Begutachtung handelt, muss das
Mittel der Suggestivfrage dosiert, aber unzweifelhaft eingesetzt werden. Nur so ist es
möglich, die Beweggründe des Handelns zu erkennen. Ängste können eruiert werden,
Scham, die häufig als Schwelle identifiziert wird, muss angesprochen werden,
besprechbar gemacht werden und letztendlich überwunden werden. Sexuelle Phantasien
und Wünsche werden erkennbar und offen gemacht.
3. Entwicklung
3.1. Körperliche Entwicklung
Für die Diagnostik ist eine genaue körperliche Untersuchung notwendig. Neben der
üblichen pädiatrischen und neuropädiatrischen bzw. neurologischen Untersuchung bedarf
es einer Inspektion der äußeren Geschlechtsorgane. Hodenatrophien, Hypospadien oder
Epispadien müssen erkannt werden ebenso wie ausgeprägte Phimosen. Bei der
Untersuchung ist es wichtig, die Reaktion des Patienten mit zu beobachten und zu
beschreiben. Liegt eine besondere Scham vor? Wie ist die Zufriedenheit mit der
Entwicklung der Geschlechtsorgane? Die Stadien der Pubertätsentwicklung müssen
ausdrücklich vermerkt werden.
3.2. Sexualität
Anamnestisch muss die Sexualentwicklung ausführlich erhoben werden. Hierbei ist es
wichtig, die primären Bezugspersonen mit einzubeziehen. Zum einen geht es um die
Sexualentwicklung des Patienten selber. Zum anderen muss die Familie dazu genutzt
werden, Informationen zu erhalten über das Verständnis und Umgang der Sexualität in der
Familie. Gab es definierte Grenzen und wie wurden sie eingehalten bzw. reglementiert.
Bei den fremdanamnestischen Angaben ist besonders darauf zu achten, ob es in der
frühen Kindheit bereits selbstmanipulative Handlungen gegeben hat. Bei einigen Kindern
im Säuglingsalter, aber insbesondere im Kindergartenalter kommt es zu exzessivem
Masturbieren, nachdem ausdrücklich gefragt werden muss. Ebenso direktiv muss erfragt
werden, ob es bereits vorschulisch zu sexuellen Spielen, zum Ausprobieren von Sexualität
gekommen ist und welcher Umfang dabei vorgelegen hat.
Bei der Exploration des Patienten selber darf vom Therapeuten aus möglichst wenig
eigene Scham entstehen. Die Fragen werden in einem Klima der Offenheit und geringen
Scheu gestellt. Ausdrücklich müssen erfragt werden die ersten sexuellen Kontakte, erstes
Küssen, erstes Petting, erster Geschlechtsverkehr, Masturbationsbeginn, -frequenz im
Verlauf der letzten Jahre und die dabei phantasierten Wünsche und Bilder. Ebenso ist
zwingender Bestandteil die Befragung von pornographischen Kenntnissen,
pornographischen Medien und Zugang zu diesen, einschließlich des unüberschaubaren
Internet-Angebotes. Handyrechnungen sollten bei Patienten, aber auch bei
Bezugspersonen erfragt werden, ob es Ausreißer gegeben hat, die unter Umständen mit
dem Zugriff auf diese Angebote verbunden sind. Möglich ist auch in Absprache mit dem
Patienten die Untersuchung eines vorhandenen Computers und der Verlauf des InternetZugangs.
3.3. Intellekt
Wie bei jeder stationären Diagnostik wird eine Intelligenzdiagnostik durchgeführt. Zentral
ist die Aussage des Begabungsprofils, die valide erfolgt. Der Zustand des Patienten und
seine Mitarbeit müssen klar dokumentiert sein. Hier bilden die Matrizentests oder der
kulturfreie Test CFT die Basis. Gerade im Bereich der Lernbehinderung oder
Intelligenzminderung bieten diese Tests bei guter Mitarbeit valide Aussagen. Bei gut
begabten Jugendlichen kann es notwendig sein, in Intelligenzprofilen besondere
Begabungen oder Defizite zu erkennen, die Aufschluss geben können über innere
Kohärenz und damit verbundene Selbsteinschätzung, Selbstvertrauen oder
Selbstbewusstsein.
3.4. Emotionalität
Es muss Stellung bezogen werden zu der Frage, inwieweit Alter, Intellekt und Körper
miteinander im Einklang sind. Hält die persönliche emotionale Entwicklung stand mit der
körperlichen und dem Alter? Liegen Diskrepanzen vor? Sind Entwicklungsstufen
erkennbar noch nicht durchlaufen und werden regressiv durchlebt? Ist der Patient in der
Lage, mit seiner körperlichen, zum Teil fortgeschrittenen Entwicklung standzuhalten oder
ist er damit überfordert?
3.5. Soziale Kompetenz
Eng mit der emotionalen Entwicklung ist das Ausmaß der sozialen Kompetenz verbunden.
Stehen Alter, körperliche Entwicklung im Einklang mit den sozialen Kompetenzen. Hierzu
können hervorragend auf der Station die Gruppenprozesse genutzt werden, wie sehen die
Coping-Strategien aus bei Konflikten, bei Beziehungswünschen. Wie sind die
Mechanismen zur Kontaktaufnahme, wie reif ist der Patient?
3.6. Persönlichkeit
Gerade bei Jugendlichen ab dem Alter von 14 Jahren bedarf es einer genauen Diagnostik
der
Persönlichkeitsanteile.
Hier
sollen
die
schon
oben
angesprochenen
Persönlichkeitstests ihren Einsatz finden. Gerade aus dem Cluster B nach DSM-IV findet
sich eine Reihe von Persönlichkeitsstörungen, die mit Impulsivität und geringer
Empathiefähigkeit verbunden sind. Obwohl in diesem Alter die Diagnose einer
Persönlichkeitsstörung kontrovers diskutiert wird, müssen die Merkmale der verschienen
Persönlichkeitsstörungen abgefragt und gegebenenfalls identifiziert werden. Ab einem
Alter von 16 Jahren ist auf jeden Fall auch die Stellung einer Diagnose in Erwägung zu
ziehen.
Dies
betrifft
insbesondere
die
Diagnose
einer
narzisstischen
Persönlichkeitsstörung.
4. Empathie
4.1. Stufen
Menschen, die Grenzen anderer verletzen, haben sehr häufig sehr große Schwierigkeiten
im eigenen Empathieerleben. Ihnen fällt es schwer, nachzuvollziehen, was sie mit ihrem
eigenen Verhalten bei dem Gegenüber auslösen. Sie sind sehr stark mit sich, dem
eigenen Erleben, den eigenen Impulsen und Wünschen beschäftigt. Es ist somit
notwendig, die Stufen der Empathieentwicklung genauestens abzufragen. Hierzu gehört
basal die Fähigkeit der Emotionserkennung bei sich, darüber hinaus die Fähigkeit der
Emotionserkennung beim anderen. Ist dies beides möglich, muss eruiert werden, ob das
Eindenken in ein Gegenüber möglich ist. Diese kognitive Empathie wird gerade von
dissozialen Jugendlichen aber genutzt, um eigene Wünsche durchzusetzen. Die kognitive
Empathie schützt nicht davor, übergriffig zu werden. Die letzte und höchste Stufe der
Empathie, die affektive Empathie, bietet dem Patienten erst die Möglichkeit, sich zu
regulieren, sich zurückzunehmen und eigene Impulse hintenan zu stellen. Diese Fähigkeit
muss erarbeitet werden und über die Diagnostik hinaus im therapeutischen Prozess
entwickelt werden.
4.2. Syntonie
Eine ähnliche Bedeutung wie die affektive Empathie hat die Ich-Syntonie bezogen auf die
Übergriffe. Werden die Übergriffe vom Patienten ich-synton erlebt? Nur dann ist ein
stabiles Unrechtsbewusstsein vorhanden, woraus sich eine Veränderungsmotivation
entwickeln könnte. Ist der Patient ich-dyston bezogen zu seinen Grenzverletzungen, erlebt
er seine Handlung als von sich abgespalten, ist die Prognose sehr viel ungünstiger und
der Zugang zum Patienten erschwert.
5. Dissozialität
Grenzüberschreitungen, sexuelle Handlungen an Dritten gegen ihren Willen sind Teil von
Dissozialität. Somit nimmt die Frage der dissozialen Entwicklung einen ebenfalls zentralen
Anteil der Diagnostik ein.
5.1. Taten
Gibt es bereits Anzeigen wegen anderer Delikte? Gab es vor der Strafmündigkeit bereits
Handlungen, die nicht zur Anzeige gekommen sind? Hierbei geht es um alle Varianten der
Ungesetzlichkeit. Alle Teile des Hilfssystems, der Familie, müssen hierzu ausdrücklich
befragt werden.
5.2. Sucht
Suchtverhalten kann ebenfalls Teil von Dissozialität sein. Sucht ist die fehlende Fähigkeit,
sich zurückzunehmen, sich zu strukturieren. Sucht heißt schädigendes Verhalten trotz
Einsicht. Somit ist die Suchtanamnese kleinschrittig und in jedem Falle vollständig zu
erheben.
5.3. Impulsivität
Impulsivität ist nicht nur Teil von Suchtverhalten, sondern spielt im Alltag eine durchgehend große Rolle. Im Rahmen der stationären Diagnostik ist das Impulsverhalten
genauestens zu beobachten. Können Regeln eingehalten werden, gibt es eine ausreichend Frustrationstoleranz, wie ist der Umgang mit Wunschversagen. Dies ergänzt die
erhobenen anamnestischen Daten des Patienten sowie des Hilfesystems und bilden eine
weitere wichtige Grundlage der stationären beobachtenden Diagnostik.
5.4. Tierquälerei
Die Tierquälerei ist ein besonderer Aspekt der Dissozialität. Bei diesen Kindern und
Jugendlichen ist die Fähigkeit zur affektiven Empathie nur gering ausgeprägt. Wie
Sevecke feststellte, ist der Anteil von Tierquälerei in der Vorgeschichte bei jugendlichen
Straftätern besonders hoch (Sevecke et al). In der Anamneseerhebung sollte somit auf
diesen Aspekt der Dissozialität besonders geachtet und unbedingt direkt erfragt werden.
6. Paraphilie
Die Ursache für Paraphilien bleibt unklar. Beier orientiert sich am ehesten an der
Phänomenologie und sieht eine Überschneidungsgruppe zwischen Menschen mit
Paraphilie und sexuellen Übergriffen (Beier1). Die Gruppe der Menschen mit Paraphilie
beinhaltet aber auch eine gefährdete Gruppe potentieller Täter (Beier). Ausgelebte
paraphile Neigungen gegen den Willen eines anderen werden als Dissexualität
bezeichnet. Eine Festlegung der Paraphilie findet meistens schon im Jugendalter statt.
Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, die Kinder und Jugendlichen mit sexuellen
Übergriffen dahingehend zu untersuchen, ob paraphile Neigungen bestehen (Beier2).
Auch hier ist der psychopathologische Befund, das Berichten über das innere Erleben, die
Leitschnur der Diagnostik.
Die Pädophilie spielt eine große Rolle, ist aber in dem Alter schwer zu diagnostizieren, da
sich die Patienten ebenfalls im Kinder- oder Jugendalter befinden. Die Gruppe der Opfer
findet sich also im Gleichaltrigenspektrum. Besonderes Augenmerk muss gerichtet werden
auf die Jugendlichen, die sich besonders für vorpubertäre Kinder interessieren.
Im Stationsalltag können Verhaltensweisen, die auf voyeuristische, exhibitionistische oder
frotteuristische Neigungen hinweisen, beobachtet werden. Das Kind oder der Jugendliche
kann dann gezielt mit diesen Situationen konfrontiert werden.
7. Familie und Systeme
Die Familie, die primären Bezugspersonen sind ein unverzichtbarer Bestandteil von
Diagnostik und gegebenenfalls folgender Therapie. Gleiches gilt für Systeme der
Jugendhilfe, aus denen die Kinder und Jugendlichen häufig in die Klinik kommen. In der
Familie muss neben der oben beschriebenen Anamnese bezogen auf Sexualität und
körperliche Entwicklung Wert gelegt werden, dass auch alle Familienbesonderheiten
benannt werden. Der schon erwähnte familiäre Umgang mit Grenzen und Sexualität spielt
eine wichtige Rolle. Darüber hinaus muss aktiv exploriert werden, ob es innerfamiliäre
Geheimnisse gibt oder sogenannte Gespenster wie sie Fraiberg benannt hat (Fraiberg).
Häufig ist den Kindern und Jugendlichen nicht klar, ob es in der Familie ebenfalls Opfer
gegeben hat, ob sexuelle Übergriffe tradiert werden. Die familiären Geheimnisse müssen
benannt werden, angesprochen werden und bearbeitbar gemacht werden. Hierzu ist es
notwendig, in Absprache mit den Jugendlichen auch Einzelgespräche mit der
Erziehungsberechtigten zu führen.
Die professionellen Systeme der Jugendhilfe haben eine andere, aber ebenso hohe
Bedeutung. Sie müssen wertgeschätzt aktiv in die Diagnostik einbezogen werden,
Berichte aus den Wohngruppen erhoben werden und deren Sorgen und Ängste ernst
genommen. Gerade für eine mögliche Rückkehr in diese Systeme braucht man die enge
Kooperation.
8. Diagnosen und Differentialdiagnosen
Kinder- und jugendpsychiatrisch sind wir verpflichtet, Diagnosen oder zumindest
Verdachtsdiagnosen zu stellen und vermutete Diagnosen auszuschließen. Bei der Frage
der möglichen sexuellen Übergriffe ist es zwingend erforderlich, die folgenden Diagnosen
zu untersuchen.
8.1. Psychosen
Aktiv muss erfragt werden, ob halluzinatives Erleben vorhanden ist. Dies gilt insbesondere
für imperatives Stimmenhören, von außen gelenkt werden. Die Frage der paranoiden
Psychose ist die Stellungnahme der Ich-Syntonie nun in einem anderen Kontext zu
bewerten. Hier würde die Ich-Syntonie der Wahnphänomene die Diagnose der Psychose
bestätigen. Ebenso von Bedeutung ist die Diagnostik der formalen Denkstörung, die in den
Gesprächen und im Rahmen des psychopathologischen Befunds erhoben wird.
8.2. Bipolare Störung
Die bipolare Störung mit manischen Anteilen wird im Jugendalter selten gestellt. Trotzdem
ist gerade aufgrund des Symptoms der Hypersexualität an diese Diagnose aktiv zu
denken. Insbesondere bei depressiven Patienten muss die Lenkung zum manischen Pol
anamnestisch aktiv und zum Teil auch suggestiv erfragt werden. Gleiches gilt für eine
eventuell positive Familienanamnese für bipolare Erkrankungen.
8.3. Zwang
Das Erkennen einer Zwangserkrankung oder deren Ausschluss gehört der kinder- und
jugendpsychiatrischen Basisqualifikation. Zwänge führen zu einem inneren Drang,
Handlungen ausführen zu müssen. Im älteren Kind- und frühen Jugendbereich kann
dieser innere Drang noch nicht ich-syntron erlebt werden und ist aus diesem Grund
manchmal schwierig von einer frühen Psychose abzugrenzen. Diese Zwangsgedanken in
Verbindung
mit
Zwangshandlungen
haben
häufig
Beziehungscharakter.
Grenzverletzungen, fehlende Wahrung der Grenzen anderer, Bestimmung über andere
Personen sind dabei eingeschlossen. In seltenen Fällen kann es bei diesen
Grenzverletzungen auch zu sexuellen Handlungen
Zwangserkrankung Teil der diagnostischen Palette ist.
kommen,
weswegen
die
8.4. Sucht
Wie bereits unter Punkt 5. erwähnt spielt die Sucht im Rahmen der Impulskontrolle eine
hervorstechende Rolle. Gleiches gilt für den erhöhten Geldbedarf bei illegalen Drogen und
der Kontakt zur Beschaffungskriminalität. In jedem Fall werden Grenzen außer Kraft
gesetzt, so dass eine Vulnerabilität besteht, Grenzen auch darüber hinaus nicht zu
wahren.
8.5. ADHS
Das ADHS spielt bei der Diagnostik insoweit eine Rolle, da die Impulsivität und die damit
verbundene Störung der Impulskontrolle Teil des diagnostischen Vorgehens ist. Es muss
somit auch diese Diagnose diskutiert werden und in die Überlegung der Ätiologie
einbezogen sein.
8.6. PTBS
Viele Menschen, die Grenzen verletzen, haben Erfahrungen gemacht, dass ihre Grenzen
nicht gewahrt wurden. Es gibt somit eine Korrelation zwischen dem Erleben als Opfer und
des Handelns als Täter. Das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung
beinhaltet eine Traumatisierung. Die Patienten haben Ohnmacht und Kontrollverlust
erleben müssen. In vielen Fällen ist es zu der Gefühlsverwirrung gekommen, gleichzeitig
diese Grenzverletzung als Zuwendung verstanden zu haben. Ein inneres Muster hat sich
etabliert und wird nun in der Rolle des Grenzverletzers ausgelebt. Diese Patienten müssen
diagnostiziert und identifiziert werden.
Ebenso ist es möglich, dass dissoziative Zustände auftreten, in denen die Patienten in
ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt sind, sie ohne klares Bewusstsein handeln und
somit im Nachhinein davon auch nicht mehr berichten können.
8.7. Störung des Sozialverhaltens
Die Störung des Sozialverhaltens mit oder ohne emotionale Störung ist in vielen Fällen die
Vorläuferdiagnose für eine sich später entwickelnde dissoziale Persönlichkeitsstörung.
Wie unter Punkt 5. bereits ausführlich beschrieben sind die dissozialen Symptome
differenziert und ausführlich zu erheben. Somit muss bei positivem Befund die Störung
des Sozialverhaltens vergeben werden.
8.8. Persönlichkeitsstörung
Bereits unter Abschnitt 3. wurde ausführlich die Frage der Persönlichkeitsstörung
diskutiert. Insbesondere die nur im DSM-IV ausdrücklich benannte narzisstische
Persönlichkeitsstörung ist von großer Bedeutung. Sie ist in dem Entwicklungsabschnitt der
Adoleszenz schwer von den in dieser Zeit typischen Verhaltensweisen abzugrenzen.
Trotzdem spielen ausgeprägte narzisstische Persönlichkeitszüge in Verbindung mit einer
sehr leichten Kränkbarkeit eine wichtige Rolle bei der Diagnostik sexueller Übergriffe.
Sollten die Kriterien erfüllt sein und das Ausmaß die bei Norm befindliche adoleszentäre
Ausprägung der narzisstischen Störung und Persönlichkeitsstruktur übersteigen, muss
auch diese Diagnose zumindest ab dem Alter von 16 Jahren gestellt werden.
Die Diagnose einer emotionalen instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus
oder vom impulsiven Typus hat ebenfalls eine Bedeutung. Diesen Patienten fällt es
ausgesprochen schwer, eigene Emotionszustände selbstwirksam zu regulieren. Sie sind
häufig extremen Stimmungsschwankungen ausgesetzt und können eigene Impulse kaum
regulieren. Häufig lassen sich in der Anamnese Hinweise auf Traumatisierungen eruieren.
Im klinischen Alltag ist diese Patientengruppe jedoch häufiger auf der Seite des Opfers.
Dies darf aber nicht dazu führen, diese Diagnose und die damit verbundene
Symptomatologie außer Acht zu lassen.
9. Patientenkategorien
Eine Tätertypologisierung wird immer wieder versucht (Beier1). Das führt zu der Illusion,
dass Patienten sich klar gruppieren lassen. Der klinische Alltag zeigt, dass dies höchstens
ansatzweise gelingt. Jeder Patient, der sexuell übergriffig wurde, hat eine sehr individuelle
Geschichte. Das im Nachhinein sich entwickelnde Erklärungskonzept muss individuell
bleiben. Trotzdem braucht man Standards und Kategorien, an denen man sich orientieren
kann. Es muss aber klar sein, dass es sich hierbei nur um eine Hilfestellung und nicht um
festgeschriebene Diagnosekategorien handelt.
9.1. Dissoziale Patienten
Diese Patienten entsprechen am ehesten einer diagnostischen Kategorie. Sie sind in
vielen Lebensbereichen grenzverletzend, haben kaum affektiv empathisches Erleben und
stufen ihre eigenen Handlungen ich-dyston ein. Es lässt sich eine weitere Anzahl von
dissozialen Taten erkennen. Die Übergriffe auf andere Personen sind in der Regel wahllos
und das Alter des Opfers ist willkürlich gewählt. Häufig liegt eine ausgeprägte
Impulskontrollstörung vor und die Taten sind gelegenheitsabhängig.
9.2. Bedürftige Patienten
Eine Reihe von Patienten haben wenig Zuwendung erlebt. Sie suchen Nähe, Kontakt,
Aufmerksamkeit und eben diese nicht genossene Zuwendung. Sie erleben im Rahmen
von sexueller, pubertärer Entwicklung, dass der Körper, angenehme Körpergefühle diesen
Bereich ersetzen können. Selbstbefriedigung, Orgasmen ersetzen eine emotionale Lücke.
Zum Teil haben diese Patienten sehr früh Erfahrungen mit Selbstbefriedigung gemacht
und nutzen sexuelle Erfahrungen, sexuelles Ausprobieren dazu, sich die Wärme und Nähe
zu holen. Dabei hat das Alter des Opfers nur eine untergeordnete Bedeutung. Jüngere,
schwächere Kinder lassen sich natürlich leichter manipulieren und sind somit eher
verfügbar.
9.3. Emotional entwicklungsverzögerte Patienten
Ähnlich der genannten Gruppe gibt es Jugendliche, die die kindlichen Entwicklungsphasen
nur sehr unbefriedigend durchlaufen haben und sich in die eigene Kindheit zurück
wünschen. Sie haben einen hohen Regressionswunsch und verbinden das Wiedererleben
von Kindheit mit Sexualität. In dieser Gruppe befinden sich Patienten mit pädophiler
Nebenströmung. Diese Patienten sind aber durchaus in der Lage, Beziehungen zu
Gleichaltrigen zu knüpfen, mit diesen erfüllende Beziehungen und Sexualität zu erleben.
9.4. Sozial inkompetente Patienten
Diese Patienten haben viele Erfahrungen gemacht von Ausgrenzung und Ablehnung. Sie
können sich nicht in eine Gruppe integrieren, haben kaum soziale Kompetenz. Sie wirken
skuril und sind isoliert. Auf der Station fallen sie auf durch ihre geringe soziale Kompetenz,
aber auch ihre verzweifelten Bemühungen um Integration. Diese Patienten verbinden den
Wunsch nach Integration, nach Nähe, nach Wärme mit Sexualität. Sie sind anfällig dafür,
den Beziehungsaufbau hierarchisch zu strukturieren, in die Position des Stärkeren und
Älteren zu gehen. Somit sind die Opfer jünger und in ihrer Entwicklung zurück. Somit
produzieren sie Abhängigkeiten und erlangen Kontrolle.
9.5. Intelligenzgeminderte Patienten
Diese Gruppe, die das gemeinsame Merkmal der Intelligenzminderung oder der starken
Lernbehinderung hat, ist in sich sehr heterogen. Grundsätzlich sind sie in ihrer Fähigkeit
zum sozialen Miteinander, der Problemlösestrategien, eingeschränkt. Besondere
Probleme treten dann auf, wenn die in sie gesetzten Erwartungen oder die eigenen
Erwartungen zu hoch und unerfüllbar sind. Somit entstehen Frustrationen und
Kompensationsstrategien. Diese können in insuffizientem Beziehungsaufbau enden und
wie oben beschrieben auch in paraphilen und dissexuellen Handlungen. Im klinischen
Alltag fallen sie am ehesten durch frotteuristisches oder auch exhibitionistisches Verhalten
auf.
9.6. Narzisstische Persönlichkeitsstruktur
Gerade die Adoleszenz ist das Zeitalter der Selbstüberschätzung, der Inkongruenz
zwischen Selbsterwartung und erlebter Kompetenz. Kränkungen sind leicht möglich und
führen zu depressiven oder eben aggressiven Reaktionen. Die aggressiven
Reaktionsweisen in Verbindung mit Rachegelüsten führen zu Grenzverletzungen in
Verbindung mit sexuellen Übergriffen.
9.7. Pädophilie
Wie beschrieben gibt es zum einen eine pädophile Nebenströmung als auch eine
pädophile Hauptströmung. Als pädophile Nebenströmung kann sie Teil der oben
beschriebenen Kategorien sein. Es handelt sich hierbei meist um die Verbindung von
Bedürftigkeit und Regression mit Sexualität. Da die Pädophilie bereits in der Pubertät
beginnt, sich zumindest ausprägt, ist darauf zu achten, ob es im Jugendalter bereits
Patienten gibt, die die Motivation ihres Handelns aus der besonderen sexuellen Neigung
holen. Gerade bei diesen Patienten bedarf es eines sehr sensiblen Vorgehens, um die Tür
der Therapie zu öffnen. Diese Patienten haben große Angst vor Missverstandenwerden,
Stigmatisierung und juristischen Folgen.
9.8. Opfer
Diese Kategorie ähnelt der diagnostischen Kategorie der posttraumatischen
Belastungsstörung. Die Patienten bilden die Gruppe derer, die eigene, hoch emotional
erlebte Muster verinnerlichen, tradieren und wiederholen. Häufig haben sie Anteile aus
den Kategorien der vernachlässigten, nach Zuwendung suchenden und sozial wenig
kompetenten Patienten.
10. Zusammenfassung
Der Artikel soll der Versuch sein, den klinischen Alltag mit einer schwierigen
Patientengruppe zu beleuchten. Obwohl die Gruppe der Patienten ausgesprochen
heterogen ist und keine gemeinsame Diagnose vorliegt, brauchen wir Kliniker einen
Leitfaden, entlang dem wir die Diagnostik durchführen können. Es geht in diesem Artikel
nicht um die Bewertung der Schuld oder gar die rechtliche Einschätzung der
Schuldfähigkeit. Es soll lediglich ein Hilfsmittel in der Diagnostik darstellen und der
Einstieg in die meist dringend notwendige und dann sehr differenzierte und individuell
ausgerichtete Therapie.
Literatur
Jaspers, K.
Allgemeine Psychopathologie, Springer-Verlag,
9. unveränderte Auflage, 1973
Sevecke, K., Lehmkuhl, G. &
Krischer, M.K.
Epidemiologische Daten zu Persönlichkeitsdimensionen der Psychopathy bei Jungen und
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9-21
Beier, K.M.1, Bosinski, H. &
Loewit, K.
Paraphilien und Sexualdelinquenz, Sexualmedizin, Verlag Urban & Fischer, 2. Auflage,
2005, 437-553
Beier, K.M.2
Sexualität und Geschlechtsidentität – Entwicklung und Störungen in Eggers, C, Fegert, J.M.,
Resch, F. (Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters,
Springer Verlag, 2004, 653-689
Fraiberg, S., Adelson, E. &
Shapiro, V.
Ghosts in the nursery. A psychoanalytic
approach to the problems of impaired infantmother relationships. Journal of the American
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1975, 14 (3), 387-421
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