1 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik Hausarbeit in der Fachrichtung Psychologie Seminar: Borderline-Persönlichkeitsstörung vorgelegt von Reinhold Vögerl (Wutke WS 2005-2006) 2 Inhaltsverzeichnis 1 Theoretischer Hintergrund ........................................................................... 3 2 Aufbau der OPD ............................................................................................ 4 3 Konzeptualisierung und Operationalisierung............................................. 5 3.1 Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen ................... 5 3.2 Achse II: Beziehung ..................................................................................... 8 3.2.1 Manual Achse II - Beziehung .................................................................. 10 3.2.2 Klinisches Fallbeispiel ............................................................................. 12 3.3 Achse III: Konflikt ...................................................................................... 13 3.3.1 Manual Achse III - Konflikt .................................................................... 16 3.3.2 Innere zeitlich überdauernde Konflikte ................................................... 18 Abhängigkeit versus Autonomie ....................................................... 18 Unterwerfung versus Kontrolle ......................................................... 20 Versorgung versus Autarkie .............................................................. 20 Selbstwertkonflikte (Selbst- versus Objektwert) ............................. 20 Schuldkonflikte (egoistische versus prosoziale Tendenzen) ........... 20 Ödipal-sexuelle Konflikte................................................................... 21 Identitätskonflikte .............................................................................. 21 Eingeschränkte Konflikt- und Gefühlswahrnehmung .................... 21 Konflikthafte äußere Lebensbelastungen ......................................... 21 3.4 Achse IV: Struktur ...................................................................................... 22 Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung ................................................... 24 Fähigkeit zur Selbststeuerung ........................................................... 24 Fähigkeit zur Abwehr......................................................................... 24 Fähigkeit zur Objektwahrnehmung ................................................. 25 Fähigkeit zur Kommunikation .......................................................... 25 Fähigkeit zur Bindung........................................................................ 25 3.4.1 Manual Achse IV - Struktur .................................................................... 25 3.4.2 Allgemeine Charakteristika der Integrationsniveaus ............................... 26 Niveau: Gute Integration ................................................................... 26 Niveau: Mäßige Integration ............................................................... 27 Niveau: Gering integriert ................................................................... 27 Niveau: Desintegration ....................................................................... 28 3.4.3 Das gering integrierte Niveau .................................................................. 29 3.5 Achse V – Psychische und Psychosomatische Störungen .......................... 32 4 Das diagnostisch Interview zur OPD ......................................................... 33 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 36 3 1 Theoretischer Hintergrund Bei der „Operationalisierten psychodynamischen Diagnostik – OPD“ handelt es sich um ein seit 1992 in mehrjähriger Arbeit im deutschsprachigen Raum von insgesamt etwa 40 psychotherapeutischen Klinkern und Forschern erstelltes System der Diagnostik im Bereich der psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapie. Psychodynamisch orientierte Psychotherapie klassifiziert psychische Phänomene meist auf dem Hintergrund (meta)-psychologischer Konstrukte der psychoanalytischen Theorie. Freud beschrieb in seiner Strukturtheorie erstmals die Persönlichkeit in den Instanzen von Ich, Es und Überich und schuf damit die Grundlage für eine psychoanalytische Klassifikation psychischer Phänomene. Die historischen Wurzeln des Projektes OPD reichen recht weit in die Vergangenheit. Auch wenn man der Psychoanalyse immer eine gewisse Beliebigkeit, um nicht zu sagen Idiosynkrasie in ihren diagnostischen Kategorien vorgeworfen hat, wurden bereits in den 30er Jahren die ersten Versuche der Systematisierung und der einheitlichen Vermittlung diagnostischer Kategorien unternommen. Als ein erster Ordnungsversuch ist die Beschreibung der Abwehrmechanismen durch Anna Freud bekannt geworden. In den folgenden Jahrzehnten war sie außerdem maßgeblich an der Entwicklung des Hampstead-Index1 beteiligt, der als ein Versuch umfassender psychoanalytischer Systematik in der Diagnostik zu verstehen war. Auch in den folgenden Jahrzehnten gab es weiter diagnostische Modelle, wobei zuletzt Otto F. Kernberg mit seinem strukturellen Ansatz der Persönlichkeitsorganisation zu nennen ist. Trotz dieser Arbeiten blieb das hohe Abstraktionsniveau der psychoanalytischen Metapsychologie mit ihrem Bezug auf das – per definitionem nicht beobachtbare – Unbewusste und die damit einhergehenden Probleme bei der Erreichung eines klinischen Konsens (Interrater- Übereinstimmung) ein ungelöstes Problem. Neben dem Wunsch, psychoanalytische Diagnostik kommunizierbar zu machen lag ein weiteres Movens des Projektes in der raschen und weltweiten Entwicklung kategorialer psychiatrischen Diagnosesysteme. Diese waren mit 1 Hampstead-Index: Ein metapsychologisches Persönlichkeitsprofil für Kinder (A. Freud 1962) und für Erwachsene (A. Freud 1965) 4 ihrer scheinbar ätiologiefreien Orientierung von Beginn an eine Provokation für psychoanalytische Kliniker: Neben dem Verzicht auf intrapsychische Modelle als Erklärungs- und Ordnungsprinzip lag ihre Begrenzung aber auch darin, dass die syndromalen Kategorien von DSM-IV und ICD-10 nur wenig geeignet waren, Handlungsanleitungen für spezifische Therapieansätze in der Psychotherapie zu geben. Als sich der Arbeitskreis OPD 1992 konstituierte, hatte er sich deshalb folgende Ziele gesetzt: 1. Es sollten klinisch-diagnostische Leitlinien geschaffen werden, die sowohl psychodynamisch relevante Merkmale abbildeten, als auch den Anwendern genügend Spielraum für die Entwicklung individueller und idiographischer psychodynamischer Hypothesen lassen konnten. 2. Das Instrument sollte für die Weiterbildung in psychoanalytischer und psychodynamischer Psychotherapie nutzbar sein und unterschiedliche Blickwinkel auf verschiedenen Ebenen des psychischen Geschehens erlauben. 3. Die OPD verstand sich als Beitrag zur Forschung im Bereich der psychodynamischen Psychotherapie. Hier sollte sie zunächst in der Stichprobenbeschreibung, bei der Erfassung unterschiedlicher Behandlungsvoraussetzungen und hinsichtlich seiner Vorhersagekraft (prädiktiven Validität) geprüft werden, ebenso hinsichtlich der Möglichkeit der Darstellung von Veränderungen durch Psychotherapie. 4. Die OPD sollte ein Instrument der Kommunikation unter Klinikern und Forschern über die traditionellen Konstrukte psychodynamischer und psychoanalytischer Theorie sein. 2 Aufbau der OPD Als therapierelevante diagnostische Aspekte wurden entsprechend der klinischen Erfahrung, aber auch der psychoanalytischen Denktradition zunächst das bewusste Behandlungsvoraussetzungen Krankheitserleben angesehen, des und die weiteren subjektiven typische und maladaptive Beziehungsmuster und zentrale vorbewusste Konflikte sowie 5 zuletzt die Einschätzung struktureller Fähigkeiten und Merkmale der Persönlichkeit. Eine fünfte Achse nimmt die syndromale Diagnostik der ICD10 auf, ergänzt durch einige Aspekte psychosomatischer Störungen. Die OPD konstituiert sich somit aus vier psychodynamischen und einer deskriptiven Achse: 1. Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen 2. Beziehung 3. Konflikt 4. Struktur 5. Psychische und Psychosomatische Störungen 3 Konzeptualisierung und Operationalisierung 3.1 Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen Die Behandlungsmethode stellt große Ansprüche and die emotionale und kognitive Bereitschaft und Belastbarkeit des Patienten. Je nach Krankheitsbild und Individualität des Patienten stellt sich die Frage der Behandlungskooperation (Compliance). Unter dem Krankheitserleben versteht man einen Teilbereich der Krankheitsverarbeitung, der sich einerseits auf die Bewältigungskompetenzen des Individuums auswirkt und andererseits im Sinne eines Prozessmodells von den Verarbeitungsmechanismen des Patienten beeinflusst wird. Krankheitserleben und Krankheitsverhalten beinhalten emotionale und kognitive Prozesse sowie offenes Verhalten auf dem Hintergrund der spezifischen Erkrankung und der nachstehenden Variablen. - Art und Schwere der Krankheit kann grundsätzlich in vielfältiger Weise das Krankheitserleben beeinflussen, z.B. über die mit der akuten oder chronischen Erkrankung verbundenen körperlichen oder psychischen Symptome und Behinderungen. - Die Arzt – Patient - Beziehung wirkt direkt auf das Krankheitserleben und die Krankheitsverarbeitung des Patienten. Leider weist das weitgehend am organischen Krankheitsmodell orientierte Versorgungssystem dem Patienten im Prozess der Diagnosestellung und bei der Behandlung in der Regel eine passiv-rezipierende Rolle zu, 6 dient meist der Bestätigung der psychischen Normalität und legt damit bei Patienten, die eine solche Krankheitsvorstellung bevorzugen, Somatisierungsneigungen nahe. - Durch das psychosoziale Umfeld wird das Krankheitserleben und die Verarbeitung des Patienten im hohen Maße beeinflusst. Verfügbare Ressourcen im sozialen Umfeld sowie soziale und emotionale Unterstützung, die der Patient in Anspruch nehmen und mobilisieren kann, sind von großer Wichtigkeit. - Von besonderer Bedeutung ist die Ich-Struktur, die Belastbarkeit bzw. das Arsenal an Ich-Funktionen des Individuums, zu denen z.B. die Art der Abwehrmechanismen, die Frustrations- und Angsttoleranz, die Realitätsprüfung und die Beziehungsfähigkeit gehören. Weiterhin spielen Aspekte des Selbstbildes und der Umgang mit dem Selbstbild unter den Bedingungen der Erkrankung eine wichtige Rolle. Hier ist von Bedeutung, ob der Patient in der Lage ist, sein Selbstbild trotz der Erkrankung aufrechtzuerhalten oder adäquat zu verändern. - Behandlungsmotivation entsteht durch den Leidensdruck des Patienten, der die Voraussetzung oder das Motiv dafür ist, dass das Individuum mit einer seelischen oder körperlichen Störung Möglichkeiten der Veränderung aktiv aufsucht (Arztbesuch oder Psychotherapie). Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen werden im Rahmen der OPD in insgesamt 18 Dimensionen abgebildet, die je nach Ausprägung als niedrig, mittel und hoch eingeschätzt werden (Siehe Abbildung 1). Dabei werden die Merkmalsbereiche so formuliert, dass sie sowohl für Patienten mit psychischen als auf für solche mit psychosomatischen und somatischen Krankheiten Geltung haben können. Besonderen Stellenwert hat hierbei die Beurteilung der Symptomschwere bezogen auf den Leidensdruck des Patienten. Ein wichtiges Ziel dieser Operationalisierung besteht darin, ein hohes Maß an Praxisnähe und –relevanz zu erreichen, um Aussagen für die Indikationsstellung zur Psychotherapie zu ermöglichen. 7 Abbildung 1: Erhebungsbogen Achse I – Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetung Achse I – Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzung nicht vor- niedrig mittel hoch handen (0) 01. Schweregrad der somatischen Symptome 02. Schweregrad der psychischen Symptome 03. Leidensdruck 04. Beeinträchtigung des Selbsterlebens 05. Ausmaß der körperlichen Behinderung 06. Sekundärer Krankheitsgewinn 07. Einsicht in psychodynamische/-somatische Zusammenhänge 08. Einsicht in somatopsychische Zusammenhänge 09. Einschätzung des Patienten bzgl. geeigneter Behandlung: Psychotherapie 10. Einschätzung des Patienten bzgl. geeigneter Behandlung: Körperliche Behandlung 11. Motivation zur Psychotherapie 12. Motivation zur körperlichen Behandlung 13. Compliance 14. Somatische Symptomdarbietung 15. Psychische Symptomdarbietung 16. Psychosoziale Integration 17. Persönliche Ressourcen für die Krankheitsbewältigung 18. Soziale Unterstützung 19. Angemessenheit der subjektiven Beeinträchtigung nicht beurteilbar (1) (2) (3) (9) 8 3.2 Achse II: Beziehung Psychische Erkrankungen sind „Beziehungskrankheiten“, insofern gilt traditionell interpersonelles Verhalten als zentraler Aspekt für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen. Zahlreiche Forscher und Klinker bemühen sich seit Anfang der 70er-Jahre, Beziehungsmuster systematisch zu beschreiben und abzubilden. Beispielhaft sei hier „Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens“ (SASB) und „Zentrales Beziehungskonfliktthema“ (ZBKT) erwähnt und kurz beschrieben. Die von Benjamin entwickelte SASB erlaub eine differenzierte und gleichzeitig reliable Abbildung auch komplexer Beziehungsereignisse. Die Methode kann u.a. dazu verwendet werden, Stereotypien im beobachtbaren dyadischen Interaktionsprozess zu identifizieren und relativ invariante interpersonelle und intrapsychische Verhaltensmuster von Personen dazustellen. Luborskys und Crits-Chrisophs Methode des Zentralen BeziehungskonfliktThemas beurteilt in Beziehungsepisoden von Patienten die Art der beim Erzähler ausgedrückten Wünsche, die Reaktion anderer hierauf und die erneute Reaktion des Subjekts. Diese Grundstruktur findet sich häufig in Erzählungen (Narrativen) von Patienten wieder. Gemeinsam ist den meisten Modellen eine Anordnung des interpersonellen Verhaltens in bipolare Dimensionen: Kontrolle (dominant-kontrollierend versus subversiv-unterwürfig) und Affiliation (liebevoll-zugewandt versus feindselig-distanziert). Das Gesamt der interpersonellen Beziehungen kann als Mischverhältnis dieser beiden Grunddimensionen bestimmt werden. Die unendliche Vielzahl zwischenmenschlicher Interaktionen muss hierbei auf wesentliche Grundkategorien, die reliabel und valide erschließbar sind, reduziert werden. Die Abbildung von dysfunktionalen bzw. maladaptiven Beziehungsmustern ist in den letzten Jahren in das Zentrum der psychodynamischen und psychotherapeutischen Forschung gerückt. Wie ein Mensch seine Beziehungen zu anderen lebt und erlebt ist besonders in der psychodynamischen Psychotherapie von zentraler Bedeutung. Aus Sicht der psychodynamischen Psychotherapie tragen intrapsychische Konflikte ganz wesentlich zu 9 dysfunktionalem Beziehungsverhalten Beziehungsgestaltung kann wiederum bei. Von der individuellen auf intrapsychische Konflikte zurückgeschlossen werden. Die Beziehungsdiagnostik im Rahmen der OPD greift einige Aspekte dieses komplexen Geschehens an der Schnittstelle der intrapsychischen und interpersonellen Ebene auf. Sie stützt sich dabei überwiegend auf beobachtbares und beschreibbares Beziehungsverhalten. Um zu einem psychodynamischen Verständnis für die Symptomentwicklung des Patienten zu kommen, achtet der Untersucher auf bewusste und unbewusste Zusammenhänge zwischen der geschilderten Symptomatik eines Patienten und seinen konflikthaften Beziehungen. Das Beziehungsverhalten wird dabei als Ausdruck der Dynamik zwischen den mehr oder weniger bewussten Beziehungswünschen verstanden, den damit verbundenen intrapsychisch wirksam werdenden Ängsten des Patienten und den Befürchtungen, wie das Gegenüber auf die Wünsche reagieren könnte. Das habituelle Beziehungsverhalten des Patienten kann als überdauernde psychosoziale Kompromissbildung zwischen seinen Wünschen und seinen Befürchtungen in Beziehungen Beziehungsverhalten wird also verstanden diejenige werden. Als habituelles interpersonelle Einstellung beschrieben, die bei einem Patienten nach außen hin als dominant und mehr oder weniger durchgängig wirksam erscheint. Als dysfunktionales habituelles Beziehungsmuster wird die spezifische – für den Patienten leidvolle – Konstellation bezeichnet, die sich aus seinem habituellen Beziehungsverhalten und den typischen Reaktionsweisen seiner Sozialpartner ergibt. Im klinischen Erstgespräch erhält man diagnostische Informationen über das Beziehungsverhalten des Patienten aus seinen Erzählungen von Beziehungsepisoden mit anderen. Besonders festgefügte und wiederholte Beziehungserfahrungen werden häufig in erinnerten und erzählten Alltagsepisoden deutlich. Zusätzlich werden auch aus dem eigenen Erleben des Therapeuten innerhalb der Therapeut-Patient-Beziehung während des Gespräches Informationen gewonnen. Die psychodynamische Diagnostik basiert zentral auf der Annahme, dass in der therapeutischen Kontaktaufnahme von Patienten unbewusst ein zentrales Beziehungsmuster induziert wird, das dem Therapeuten eine bestimmte Übertragungsrolle zuweist. Diese ist der einer 10 signifikanten Bezugsperson nachgebildet. Die unbewussten Konflikte mit dieser werden wiederholt. Von Krause wird Übertragung als ein spezifischer Satz von Verhaltensweisen definiert, mit denen Sozialpartner dazu gebracht werden, sich konkordant zu spezifischen unbewussten Erwartungen zu verhalten. Anhand der bei sich beobachteten Reaktionen und Impulse kann der Therapeut Rückschlüsse darauf ziehen, wie andere sich ihrerseits in der Interaktion mit dem Patienten fühlen und eventuell verhalten. So kann das Gegenübertragungserleben auch als Instrument für die interpersonelle Diagnostik genützt werden. 3.2.1 Manual Achse II - Beziehung Voraussetzung für die Einschätzung der zentralen Beziehungsgestaltung eines Patienten ist ein eingehendes klinisch-diagnostisches Gespräch. Die vom Patienten im therapeutischen Gespräch geschilderten Beziehungserfahrungen (Erlebensperspektive des Patienten: Perspektive A) und die szenischinteraktionellen Informationen aus der aktuellen Interaktion mit dem Patienten (Erlebensperspektive der Anderen: Perspektive B) werden in die diagnostische Beurteilung des zentralen Beziehungsverhalten einbezogen. Perspektive A beschreibt die innere Vorstellung des Patienten von seiner Beziehungsgestaltung und welche Beziehungsaspekte er selbst in seinem eigenen Verhalten und dem seiner Interaktionspartner erleben und benennen kann. Unter der Perspektive B wird beurteilt, wie Interaktionspartner das Beziehungsverhalten des Patienten immer wieder erleben und wie sie auf dieses Verhalten reagieren. Dieses Urteil basiert auf unterschiedlichen Informationen. Der Untersucher kann sich einmal auf der Grundlage der Beziehungsepisoden in die Position der geschilderten Objekte hineinversetzen und prüfen, wie er aus dieser Sicht das Verhalten des Patienten wahrscheinlich erleben und darauf antworten würde. Er kann zweitens sein eigenes Erleben im Kontakt mit dem Patienten untersuchen und die Impulse und Gefühle beobachten, die der Patient in ihm auslöst. Dysfunktionelle interpersonelle Beziehungsmuster werden als spezifische Konstellationen a) des habituellen Verhaltens des Patienten und b) der typischen Reaktionsweisen seiner Sozialpartner beschrieben. Der Fragebogen organisiert dementsprechend die diagnostische Einschätzung der 11 Beziehungsdynamik anhand der zwei interpersonellen Positionen, die für Perspektive A und Perspektive B unterschiedlich zu formulieren sind (Siehe Abbildung 2, mit einer zufälligen Auswahl von Items aus den zwei zur Verfügung stehenden Itemlisten, wobei die eine interpersonelle Verhaltensweisen des Patienten und die andere die seiner Interaktionspartner beschreibt). Abbildung 2: Achse II – Beziehung (Grundstruktur) Perspektive A: Das Erleben des Patienten Der Patient erlebt sich immer wieder so, dass er (andere, bzw. an anderer)... Der Patient erlebt andere immer wieder so, dass sie ... - besonders bewundert und idealisiert - besorgt hilft, sie versorgt und beschützt - belehrt und bevormundet - bestimmt und beherrscht - ... - ihn besonders bewundern und idealisieren - ihm besonders helfen, ihn versorgen und beschützen - ihn belehren und bevormunden - ihn bestimmen und beherrschen - ... Perspektive B: Das Erleben anderer/des Untersuchers Andere, auch der Untersucher, erlebt/en, dass der Patient (sie/ihn) immer wieder ... - beschuldigt und anklagt - ausbeutet und manipuliert - aggressiv zurückweist - trotzt und sich widersetzt - ... Andere/der Untersucher, erleben sich gegenüber dem Patienten immer wieder so, dass sie/er ... - ihn beschuldigen und anklagen - ihn ausbeuten und manipulieren - ihn angreifen und bedrohen - ihm trotzen und sich widersetzen - ... Ausgangspunkt im praktischen Vorgehen sind die beiden Itemlisten, die jeweils 30 Items enthalten. Die erste beschreibt interpersonelle Verhaltensweisen des Patienten, die zweite die seiner Interaktionspartner, also auch des Untersuchers. Zunächst werden alle Items in den Itemlisten für jede Erlebensperspektive markiert, die das Beziehungserleben des Patienten (entsprechend seiner Schilderungen) und das Beziehungserleben des Untersuchers zutreffend beschrieben. Die Zahl der auszuwählenden Items ist dabei nicht begrenzt. Bei der Markierung ist darauf zu achten, dass nur die typischen und zugleich dysfunktionalen Verhaltensweisen erfasst werden. In den Erhebungsbogen werden nur die wichtigsten Items aufgenommen, deshalb ist es notwendig, aus den Itemlisten für jede interpersonelle Position (Patientenverhalten bzw. Verhalten der Interaktionspartner) und für jede Erlebensperspektive (Erleben des Patienten bzw. des Untersuchers) jeweils maximal bis zu drei Items auszuwählen. Damit erhält man - maximal bis zu drei Items für das Verhalten des Patienten aus dessen Erlebensperspektive, 12 - maximal bis zu drei Items für das Verhalten der anderen aus der Erlebensperspektive des Patienten, - maximal bis zu drei Items für das Verhalten des Patienten aus der Erlebensperspektive der anderen (auch des Untersuchers) und - maximal bis zu drei Items für die Reaktionen der anderen (auch des Untersuchers) aus deren Erlebensperspektive. In einem weitern optionalen Schritt kann aus den beiden Erlebensperspektiven A und B eine psychodynamische Formulierung des dysfunktionellen Beziehungsverhalten des Patienten abgeleitet werden, die die verschiedenen Beziehungsaspekte zu einem sinnvollen Ganzen integriert. Der Aufbau dieser Formulierung besteht aus einer sequentiellen Anordnung der erfassten Beziehungsaspekte, so dass ihr dynamischer Zusammenhang erkennbar wird. 3.2.2 Klinisches Fallbeispiel Eine 44jährige schwer depressive Patientin beklagt sich darüber, dass sie zu Haus alles machen muß. Sie kümmere sich um jede Kleinigkeit, käme selbst aber zu kurz. Sie fühlt sich von ihren Kindern im Stich gelassen, weil keines der Kinder die zugeteilten Haushaltspflichten übernimmt. Sie beschwert sich auch über den Ehemann, den sie im Beruf ständig unterstützt und für den sie Entscheidungen treffen muß. Erlebensperspektive der Patientin: Die Patientin ist gewohnt, der Versorger und Beschützer ihrer Familie zu sein. Sie fühlt sich in der Familie in zentraler Position. Sie fühlt sich überfordert und beklagt sich in depressiver Weise, weil sie von den anderen im Stich gelassen wird. Abbildung 2.1: Erhebungsbogen Perspektive A (Das Erleben der Patientin) Die Patientin erlebt sich immer wieder so, dass sie Die Patientin erlebt andere immer wieder so, dass sie 1. (3)2 hilft, versorgt, beschützt 1. (5) Ansprüche, Forderungen (haben) 2. (14) ignorieren 3. ........................................................... 2. (8) beschuldigt, anklagt 3. ............................................... 2 Die Zahl in der Klammer bezieht sich auf die Itemnummer in der Itemliste 13 Erlebensperspektive des Untersuchers: Die Patientin spricht fast ohne Pause, wobei sie sich ängstlich immer wieder vergewissert, ob sie die Aufmerksamkeit des Therapeuten besitzt. Kurz vor Ende der Stunde schaut sie erwartungsvoll auf den Therapeuten, weil sie sich jetzt Rat verspricht. Die Patientin „füttert“ und versorgt unbewusst den Therapeuten mit Information. Erst gegen Ende der Stunde spürt sie, dass sie womöglich zu kurz kommt, wenn sie nicht auch etwas vom Therapeuten zurückbekommt. Nach der Stunde beschreibt der Therapeut, dass er immer wieder „abschaltete“, weil ihm der Redeschwall zuviel wurde. Abbildung2.2: Erhebungsbogen Perspektive B ( Das Erleben des Therapeuten) Der Therapeut erlebt, dass die Patientin (ihn) immer wieder 1. (6) bestimmt, beherrscht 2. (21) anklammert 3. .............................................. Der Therapeut erlebt sich gegenüber der Patientin immer wieder so, dass er 1. (30) sich abschottet 2. ................................................ 3. ................................................ Mögliche beziehungsdynamische Formulierung (optional): Die Patientin erlebt sich in ihrer versorgenden, helfenden Haltung (3) überfordert. Sie beschuldigt (8) andere wegen ihrer Ansprüche (5) und ihrer Ignoranz (14). Es ist ihr wahrscheinlich unbewusst, dass sie andere dabei bestimmt (6). Die anderen Beziehungspartner ziehen sich zurück (30), was bei der Patientin möglicherweise zu anklammerndem Verhalten (21) führt. 3.3 Achse III: Konflikt Konflikt meint in seiner allgemeinen Bedeutung das zusammentreffen unterschiedlicher Positionen innerhalb einer Person (Widerstreit von Motiven, Wünschen, Werten und Vorstellungen) oder zwischen mehreren Personen. Konflikte sind ein universelles Phänomen. Seit Freud wird im psychodynamischen Denken diesen inneren Konflikten eines Menschen ein zentraler Stellenwert zugewiesen. Psychodynamische Konflikte sind innere, 14 unbewusste Konflikte und müssen abgegrenzt werden von äußeren Belastungen oder konflikthaften Belastungen. Die Bedeutung innerseelischer, unbewusster Konflikte bei der Entstehung seelischer und psychosomatischer Störungen wird heute kaum noch in Frage gestellt. Aber auch äußere und innere bewusste Konflikte können, sofern sie anhaltend und intensiv genug sind, zu Störungen führen und in diesem Sinne konflikthaft wirken. Unbewusste innerpsychische Konflikte sind innerseelische Zusammenstöße entgegengerichteter Motivationsbündel, z.B. der Wunsch nach Versorgung und der Wunsch, autark zu sein. „Wenn ich mich ganz auf einen Menschen einlasse, werde ich über kurz oder lang enttäuscht, die dadurch entstehende Trennungsangst oder den Trennungsschmerz kann ich nicht aushalten; aus diesem Grund habe ich Abwehrmöglichkeiten entwickelt, die Beziehung zu einem anderen Menschen niemals so intensiv werden zu lassen, dass ich von dieser Beziehung abhängig werden könnte“ (Mertens 1992). Diese unbewussten zeitlich überdauernden „neurotischen“ Konflikte beschreiben die Fixierung in einem rigiden und unauflösbaren Entweder/Oder, ohne dass es zu einer Lösung oder Entscheidung kommen kann. Äußere und innere konflikthafte Belastungen hingegen sind bewusst und grundsätzlich dem Menschen einer Verarbeitung und Lösung zugänglich. Als derartige Konflikte sind z.B. zu nennen, die durch äußere Gründe als unaufhebbar geltende Gegensätzlichkeit des Wunsches einer Frau nach Ehe und Familie gegenüber dem Wunsch nach beruflicher Karriere. Die zeitlich überdauernden psychodynamischen Konflikte sind hingegen gekennzeichnet durch festgelegte Erlebensmuster eines Menschen. Dieser Mensch reagiert in entsprechenden Situationen immer wieder mit ähnlichen Verhaltensmustern, ohne dass diese dem Menschen bewusst wären. Psychodynamische Konflikte wurden mit der Entwicklung des Instanzenmodells durch Freud im wesentlichen als intersystemische Konflikte, also Konflikte zwischen Ich und Es, Ich und Über-Ich, Ich und Realität angesehen. Später wurden noch intrapsychische Konflikte, also Konflikte zwischen unterschiedlichen Komponenten des „Über-Ichs“ oder des „Es“, hinzugefügt. Realitätsangemessene Bescheidenheit und die innere 15 Notwendigkeit, Großartiges leisten zu müssen, ist ein Beispiel für einen intrapsychischen Konflikt zwischen zwei Überichforderungen. Das Vorhandensein unbewusster, zeitüberdauernder Konflikte ist an bestimmte Ich-strukturelle Voraussetzungen geknüpft, ohne die ein solcher Konflikt- und Verarbeitungsprozess nicht möglich ist. Bestehen deutliche Ich-strukturelle Störungen, kommt es nicht zur Ausprägung derartiger zeitüberdauernder unbewusster Konflikte. Somit setzt die Diagnostik von Konflikten eine Annahme zur psychischen Struktur voraus. Damit echte Konflikte entstehen können, müssen abgegrenzte und definierte Motive bestehen, mögen sie auch unbewusst sein. Das bedeutet auch, dass die strukturelle Basis der Person zu einer Reihe von Funktionen (noch) in der Lage sein muss. Das Rating einer desintegrierten Struktur schließt deshalb notwendig und das einer gering integrierten Struktur (Siehe 3.4: Achse IV – Struktur) teilweise die gleichzeitige Markierung umschriebener Konflikte aus – auch, wenn zahlreiche Phänomene solcher Patienten „konflikthaft“ erscheinen. Konflikt und Struktur stellen somit eine Ergänzungsreihe dar. Konflikte wachsen vor dem Hintergrund einer konfikthaften Beziehungserfahrung, also immer wiederkehrender Beziehungsmodi, die bis zur Traumatisierung gehen können. Die Folgen extremer Traumata in der Entwicklung werden sich aber eher als strukturelle Defizite nachweisen lassen. Konflikt und Struktur stellen in diesem Verständnis Pole einer klinischen Ergänzungsreihe dar. Eine nicht mehr aufrecht zu erhaltende Grundannahme der traditionellen analytischen Theorie war, dass in sensiblen Entwicklungsphasen gewisse Verhaltens- und Charakterbildungen geprägt werden. Die klassischen Konfliktthemen, wie das Ringen um Nähe und Distanz (Intentionale Phase: Strukturelle Störung), Geborgenheit und Versorgung (Orale Phase: Depression) oder Kontrolle versus Unterwerfung (Anale Phase: Zwangsneurose), wie auch die ödipale Konfliktthematik (Ödipale Phase: Konversionsneurose) wurden gewissen Entwicklungsphasen zugeordnet. Die Auswirkungen (Fixierungen) sollten sich in einer entsprechenden Charakterstruktur oder einer Störung manifestieren. Die bisherige Forschung hat nun jedoch keinerlei Belege dafür finden können, dass es eine „Phase“ gibt, in der gewisse Verhaltens- und Charakterbildungen geprägt werden. Die aktuelle Diskussion um den Zusammenhang von zentralen Konflikten und Fixierungen auf bestimmte 16 triebtheoretische Entwicklungsphasen geht dahin, dass man heute eher von einem Modell Berücksichtigung der kontinuierlichen zeitlich begrenzter Entwicklung unter Reifungsabschnitte besonderer ausgeht. Das Scheitern der Integration zentraler Grundkonflikte kann also prinzipiell in jeder Lebensphase seinen Anfang nehmen. Traditionelle psychoanalytische Termini werden in der OPD aufgrund dieser Loslösung von entwicklungspsychologischen Annahmen und der schulenspezifischen Vieldeutigkeit so weit wie möglich vermieden. Konflikte manifestieren sich in den wesentlichen Lebensbereichen eines Menschen. Hierzu zählen Partnerwahl, Bindungsverhalten und Familienleben, den Bereich der Herkunftsfamilie, den gesamten Arbeits- und Berufsbereich, das Besitzverhalten, den umgebenden soziokulturellen Raum sowie das Krankheitserleben. Anhand dieser Lebensbereiche werden in der OPD folgende innere zeitlich überdauernde Konflikte unterschieden: - Abhängigkeit vs. Autonomie - Unterwerfung vs. Kontrolle - Versorgung vs. Autarkie - Selbstwertkonflikte (narzisstische Konflikte, Selbst- vs. Objektwert) - Schuldkonflikte (egoistische vs. prosoziale Tendenzen) - Ödipal-sexuelle Konflikte - Identitätskonflikte (Identität vs. Dissonanz) - Eingeschränkte Konflikt- und Gefühlswahrnehmung - Konflikthafte äußere Lebensbelastung 3.3.1 Manual Achse III - Konflikt Widersprüchliche innerseelische oder zwischenmenschlich Interessen sind ein Grundbestand menschlichen Lebens. Vielen Menschen gelingt es, diese Spannungen den inneren und äußeren Anforderungen entsprechen zu integrieren. Hier wird abgehoben auf Menschen, denen eine solche Integration nicht gelingt. Bei den im folgenden aufgeführten Konflikten handelt es sich vorwiegend um zunächst nicht erlebbare (unbewusste) Gegensätzlichkeiten und Problembereiche des Erlebens und Handelns. Konflikt als unbewusstes 17 Geschehen muß somit von vorwiegend bewusst erlebter Spannung abgegrenzt werden. Die nachstehend beschriebenen Konfliktmuster finden sich im Leben des Betroffenen immer wieder, ohne dass eine zufriedenstellende Bewältigung möglich war. Die Konfliktmuster bleiben im Leben des Betroffenen lebendig und über lange Lebenszeiträume erlebens- und handlungsbestimmend, wir sprechen demzufolge von „zeitlich überdauernden Konflikten“. In Ergänzung und Abgrenzung zu diesen zeitlich überdauernden Konflikten stehen aktuelle „konflikthafte Lebensbelastungen“: Einschneidende Lebensveränderungen und Belastungen führen auf dem Hintergrund einer individuellen und soziokulturellen Vulnerabilität – ohne dass aber ein sich wiederholendes Grundmuster vorliegt! – zu körperlichen und seelischen Belastungserscheinungen. Verlusterlebnisse, Krankheit oder aktuelle Traumata sind typische Beispiele. Oft kann eine Belastungsreaktion (ICD-10: F43.0 und F43.1) oder Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) diagnostiziert werden (OPDAchse V). Die Belastungen sind begleitet von inneren Verarbeitungsprozessen, die häufig einen Widerstreit von Gefühlen, Vorstellungen, Erleben und Interessen auslösen, also „konflikthaft“ erscheinen, ohne dass aber ein zeitlich überdauernder Konflikt vorliegt. Die zeitlich überdauernden, unbewussten Konflikte erschließen sich aus der klinischen Beschreibung wahrnehmbarer Verhaltens- und Erlebensweisen. Sie manifestieren sich sowohl auf der Subjekt- wie auch auf der Objektebene (innerpsychisch wie auch in der Interaktion mit anderen Personen), häufig stehen Konflikte in Verbindung mit leitenden Affekten (z.B. Wut bei narzisstischer Kränkung), und oft ergibt sich eine Unmittelbarkeit des Konfliktes in Übertragung und Gegenübertragung. In jeder Konfliktebene findet sich ein passiver und ein aktiver (kontraphobischer) Modus. In der Entwicklung und im Leben des Menschen besteht eine grundsätzliche Bipolarität zwischen Passivität und Aktivität, zwischen Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit. Auf der einen Seite steht der passive Rückzug auf das Selbst, die Selbstbezogenheit, am anderen Ende die aktive Suche des Objektes, die Objektbezogenheit bis hin zur Objektabhängigkeit. Diese gegensätzlich erscheinenden Tendenzen sind natürlich nicht voneinander unabhängig, sondern interdependent. Gerade aber 18 die Betonung des passiven – selbstbezogenen oder aktiven – objektbezogenen Modus entspricht häufig einer konflikthaften Verarbeitung, da eine integrative „Sowohl-als-auch-Lösung“ nicht gefunden werden konnte. 3.3.2 Innere zeitlich überdauernde Konflikte Im Folgenden werden die in der OPD benannten inneren zeitlich überdauernden Konflikte kurz skizziert, wobei der Konflikt „Abhängigkeit vs. Autonomie“ exemplarisch für alle anderen genauer dargestellt wird. Abhängigkeit versus Autonomie Es geht hierbei um die existentielle Bedeutung von Bindung und Beziehung. Die gegensätzlichen Pole sind einerseits die Suche nach Beziehungen sowie andererseits das Streben nach Autonomie und die Ängste um Selbstständigkeit und Verantwortung. Beides entspricht der grundlegenden Bedeutung, die Bindung und Autonomie im Leben eines jeden Menschen besitzen. Abhängigkeit und Autonomie sind Grundkategorien im menschlichen Erleben und in allen Konfliktbereichen enthalten. Ein Autonomie-AbhängigkeitsKonflikt liegt nicht vor, wenn die Menschen zu flexiblen und wechselseitigen Beziehungen in der Lage sind und diese vertiefen können. Hier ist jedoch nicht diese grundlegende Bipolarität des menschlichen Lebens gemeint, sondern die konfikthafte Polarisierung. Ein Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt als lebensbestimmendes Thema zeigt sich in der existentiellen Bedrohung, die sich im Leben eines Betroffenen immer wieder findet und die alle anderen Konflikte überragt. Klinisches Beispiel sind schizoide Charakterstrukturen (als Beispiel für die aktive Verarbeitung) oder auf die Autonomie verzichtende, verschmelzende Beziehungsaufnahmen (passiver Modus). Leitaffekt ist die durch Nähe und oder Distanz ausgelöste Angst. Passiver Modus: Eigene Autonomiewünsche werden unzureichend wahrgenommen und den Wünschen bedeutsamer Bezugspersonen untergeordnet, um die Bindung nicht zu gefährden oder die Selbstverantwortung nicht zu forcieren. Es besteht eine ausgeprägte Abhängigkeit, verbunden mit einer Selbstwahrnehmung in 19 Richtung von Hilflosigkeit und Schwäche. Konflikte in Beziehungen werden demzufolge verleugnet, bagatellisiert und rationalisiert. Ziel dieses Modus ist es, die Beziehung nicht zu gefährden. Diese Menschen erscheinen abhängig, was in der Untersuchungssituation charakteristischerweise durchgängig erlebt werden kann. In der Gegenübertragung entstehen Gefühle von Sorge und Verantwortung. Den Patienten spürbar ist eine starke Angst, Bindungen zu verlieren. - Der Patient nimmt in Familie und Partnerschaft freiwillig einen nachgeordneten, nicht aktiven Part in Beziehungen ein und bleibt in dieser Stellung regelhaft ... - Es besteht ein psychisches „Nicht-Erwachsen-Werden“ ... - Die Patienten üben im Beruf meist eine nachgeordnete Tätigkeit aus ... - Oft besteht Bedürfnislosigkeit, weil Eigentum eher zu Verantwortung verpflichtet ... - Im gesellschaftlichen Umfeld werden Gruppenzugehörigkeit mit Einund Unterordnung bevorzugt ... - Erkrankungen schaffen Möglichkeiten, die Abhängigkeit nun verstärkt „zurecht“ auszuleben ... Aktiver Modus: Vorrangiges Lebensziel ist der Aufbau einer übersteigerten emotionalen und existentiellen Unabhängigkeit. Es besteht ein ständiges Ringen mit anderen Menschen um Autonomie. Eigene Bedürfnisse, sich anzulehnen und sich zu binden, werden entsprechend unterdrückt. Menschen mit diesem Modus sind selten in psychotherapeutischen Institutionen zu finden, da sie Abhängigkeiten vermeiden. In der Gegenübertragung entwickelt sich trotz massiver Symptomatik wenig Verantwortungs- und Versorgungsgefühl, man ist bereit, den Patienten „ziehen“ zu lassen, da starke abgewehrte Wünsche spürbar werden. - In der Partnerwahl wird eine ausgeprägte Unabhängigkeitsposition angestrebt ... - Häufig findet sich eine forcierte Loslösung ... - Unabhängig von der hierarchischen Position werden Berufsnischen mit Autonomie angestrebt ... 20 - Es werden sichere finanzielle Verhältnisse als Basis der Eigenständigkeit bevorzugt ... - Gruppenzugehörigkeiten werden eher selten gesucht ... - Krankheit ist eine zentrale Bedrohung ... Unterwerfung versus Kontrolle Gehorsam/Unterwerfung (passiver Modus) versus Kontrolle/Sich-Auflehnen (aktiver Modus) bestimmen die interpersonellen Beziehungen und das innere Erleben. Erkrankungen werden „bekämpft“ oder sind ein zu erleidendes Schicksal, dem man sich (wie auch dem Arzt) „fügen“ muss. Versorgung versus Autarkie Die Wünsche nach Versorgung und Geborgenheit führen zu starker Abhängigkeit (passiver Modus) oder werden als Selbstgenügsamkeit und Anspruchslosigkeit abgewehrt (altruistische Grundhaltung, aktiver Modus). Bei Krankheit erscheinen diese Menschen passiv-anklammernd oder wehren Hilfe ab. Selbstwertkonflikte (Selbst- versus Objektwert) Das Selbstwertgefühl erscheint brüchig bzw. resigniert, aufgegeben (passiver Modus) oder die kompensatorischen Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des ständig bedrohten Selbstwertgefühls dominieren (pseudoselbstsicher, aktiver Modus). Schuldkonflikte (egoistische versus prosoziale Tendenzen) Schuld wird bereitwillig bis hin zu masochistischer Unterwerfung auf sich genommen und Selbstvorwürfe herrschen vor (passiver Modus) oder es fehlt jegliche Form von Schuldgefühlen, diese werden anderen zugewiesen und auch für Krankheit sind andere verantwortlich (aktiver Modus). 21 Ödipal-sexuelle Konflikte Erotik und Sexualität fehlen in Wahrnehmung, Kognition und Affekt (passiver Modus) oder bestimmen alle Lebensbereiche ohne dass Befriedigung gelingt (aktiver Modus). Identitätskonflikte Es bestehen hinreichende Ich-Funktionen bei gleichzeitig konfikthaften Selbstbereichen (Identitätsdissonanz): Geschlechtsidentität, Rollenidentität, Eltern-/Kindidentität, religiöse und kulturelle Identität. Der Annahme des Identitätsmangels (passiver Modus) steht das kompensatorische Bemühen, Unsicherheiten und Brüche zu überspielen, entgegen (aktiver Modus). Eingeschränkte Konflikt- und Gefühlswahrnehmung Gefühle und Bedürfnisse bei sich und anderen werden nicht wahrgenommen und Konflikte übersehen (passiver Modus) oder durch sachlich-technische Beschreibung ersetzt (aktiver Modus). Konflikthafte äußere Lebensbelastungen Es besteht eine aktuelle äußere Lebensbelastung, deren Ausmaß und konflikthafte Verarbeitung zur Erklärung der seelischen und körperlichen Symptomatik ausreicht. Eine Wiederholung der oben erfassten lebensbestimmenden Konflikte im Sinne eines repetitiven Musters liegt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vor. Typische Beispiele sind Trauer nach Verlust, Erkrankung, Lebenskrisen oder Angst nach Traumata. Die oben aufgeführten Grundkonflikte sowie die Kategorie der „mangelnden Konfliktwahrnehmung“ werden aufgrund von Idealtypen-Beschreibungen nach dem Grad des Vorhandenseins beurteilt (dimensionale Wertung: nicht vorhanden, wenig bedeutsam, bedeutsam, sehr bedeutsam). Darüber hinaus werden für jeden Patienten noch die zwei Hauptkonfliktbereiche und der Modus der Verarbeitung des wichtigsten Konflikts angegeben (Siehe Abbildung 3). 22 Abbildung 3: Erhebungsbogen Achse III - Konflikt nicht wenig bedeutsam sehr vorhanden bedeutsam bedeutsam Achse III - Konflikt (0) (1) (2) (3) nicht beurteilbar (9) 1.1 Autonomie vs. Abhängigkeit 1.2 Unterwerfung vs. Kontrolle 1.3 Versorgung vs. Autarkie 1.4 Selbstwertkonflikte 1.5 Schuldkonflikt 1.6 Ödipal-sexueller Konflikt 1.7 Identitätskonflikt 2 Eingeschränkte Konflikt- u. Gefühlswahrnehmung 3 Konfikthafte äußere Lebensbelastung wichtigster Konflikt Modus der Verarbeitung des wichtigsten Konflikts vorwiegend aktiv zweitwichtigster Konflikt gemischt eher aktiv gemischt eher passiv vorwiegend passiv nicht beurteilbar 3.4 Achse IV: Struktur Der Begriff „Struktur“ umfasst die Gesamtheit von Persönlichkeitsmerkmalen, die im Zuge der lebensgeschichtlichen Entwicklung zu „festgefügten“ psychischen Dispositionen geworden sind, sie umfassen alles, was im Verhalten und Erleben des Einzelnen regelhaft und repetitiv abläuft. Struktur ist nicht starr und unveränderlich, sonder zeigt lebenslang Entwicklungsprozesse. Gleichwohl ist die Veränderungsgeschwindigkeit dieser Prozesse so langsam, dass der Eindruck von Konstanz überwiegt. Um einer allzu statischen Konzeption von Struktur entgegenzuwirken, sei auf die Argumente verwiesen, die es nahe legen, Struktur unter dynamischen Gesichtspunkten zu betrachten: Psychische Strukturen sind, aus einer Entwicklungsperspektive betrachtet, dynamisch, da sie sich lebensgeschichtlich bilden. Zwar gründen sie auf angeborenen Persönlichkeitsdispositionen, 23 werden aber während der Kindheit erst geformt und unterliegen im Verlauf der Lebensentwicklung mehr oder weniger großen Veränderungen. Des weiteren sind psychische Strukturen Dispositionen und als solche nicht beobachtbar; sie realisieren sich nur in konkreten, aktuellen Situationen, von denen aus auf überdauernde Strukturmerkmale zurückgeschlossen wird. Solche Rückschlüsse sind niemals erschöpfend; die Beschreibung von Persönlichkeitsstrukturen ist immer vorläufig und unabgeschlossen. Zudem impliziert der Strukturbegriff eine zeitüberdauernde Stabilität, die ihm auf der psychologischen Ebene nur eingeschränkt zukommen dürfte: Auf der Hintergrundsannahme von potentiell lebenslang möglicher Entwicklung und Wachstum der Persönlichkeit beinhaltet der Strukturbegriff auch Aspekte von Entwicklungsdynamik mit einem zeitlichen, wenn auch langsamen Veränderungspotential. Strukturen verändern sich durch Integration neuer Informationen, stellen damit erneut Regelhaftigkeit her, bis sie sich durch Integration neuer Informationen erneut verändern. Somit bezieht sich der in der OPD verwendete Strukturbegriff nicht auf das topographische Strukturmodell von Freud (Es, Ich, Über-Ich) und auch nicht auf das traditionelle Modell der Neurosenstruktur (schizoid, depressiv, zwanghaft, hysterisch). Es finden sich eher Überschneidungen mit dem traditionellen Konstrukt der Ich-Funktionen. Als wichtige Ich-Funktionen sind zu nennen: Fähigkeit, innere und äußere Reize adäquat zu beurteilen (Realitätsprüfung); adäquates inneres Erleben der äußeren/inneren Welt mit Aufrechterhaltung von Ich-Grenzen (Sinn für Realität); Fähigkeit, Gefühle und Antrieb zu steuern (Kontrolle von Impulsen); Fähigkeit, Kontakte aufzubauen, Beziehungen aufrechtzuerhalten und wechselseitig zu gestalten (Fähigkeit zur Objektbeziehung); adäquater Einsatz von Abwehrmechanismen (Defensive Funktion). Die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Grundkonflikte sind für alle Menschen von großer Bedeutung. Ihre Integration hängt aber von den strukturell vorgegebenen Verarbeitungsmöglichkeiten bzw. Defiziten des Einzelnen ab. Dabei wird davon ausgegangen, dass strukturelle Defizite vor allem in der Folge von (sequentiellen) Traumatisierungen und schweren Beziehungsbeeinträchtigungen entstehen. 24 Die in der OPD verwirklichte Erfassung der Struktur verfolgt einen integrativen, psychodynamischen Ansatz, verzichtet jedoch ebenso wie im Bereich der Konflikte auf die Verwendung überlieferter psychoanalytischer Begriffe, um statt dessen das Verhalten und Erleben von Patienten und Therapeuten in der diagnostischen Situation möglichst beobachtungsnahe zu erfassen. Die psychische Struktur wird hierbei als die Struktur des Selbst in Beziehung zu anderen betrachtet. Anhand von sechs wesentlichen beobachtbaren Funktionen kann die zugrundeliegende Struktur gekennzeichnet werden. Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung Die Fähigkeit, sich selbst reflektieren (Selbstreflexion) und dadurch ein Selbstbild zu gewinnen (was voraussetzt, sicher zwischen Selbst und Objekt differenzieren zu können); die Fähigkeit, das Selbstbild hinsichtlich seiner psychosexuellen und sozialen Aspekte kohärent und über die Zeit konstant zu halten (Identität); die Fähigkeit, innerseelische Vorgänge, vor allem deren affektive Seite, differenzieren zu können (Introspektion). Fähigkeit zur Selbststeuerung Die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, so dass das Selbst als Urheber kompetenten Handelns erlebt werden kann; die Fähigkeit, mit seinen Bedürfnissen und Affekten steuernd und integrierend umzugehen, Belastungen auszuhalten und Gleichgewichte wiederherzustellen. Von besonderer Bedeutung ist die Fähigkeit, das Selbstwertgefühl auf realitätsgerechtem Niveau zu errichten und seine Schwankungen regulieren zu können. Fähigkeit zur Abwehr Die Fähigkeit, sich bestimmter Mittel (Abwehrmechanismen)3 zu bedienen, um das seelische Gleichgewicht in inneren und äußeren Belastungs- und Konfliktsituationen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. „Abwehrmechanismen (oder Copingstile) sind automatische psychologische Prozesse, die die Person vor Angst und vor dem Bewusstsein innerer oder äußerer Gefahren oder Belastungsfaktoren schützen. Betroffene sind sich des Wirkens dieser Prozesse oft nicht bewusst“ (Saß, Wittchen &Zaudig 1996, S. 842) 3 25 Fähigkeit zur Objektwahrnehmung Die Fähigkeit, zwischen innerer und äußerer Realität zu unterschieden und infolgedessen die äußeren Objekte als ganzheitliche Personen, mit eigenen Absichten und Rechten und mit ihren Widersprüchen wahrzunehmen und sich ihnen empathisch nähern zu können. Fähigkeit zur Kommunikation Die Fähigkeit, sich emotional auf andere auszurichten, sich ihnen anzunähern, sich ihnen mitzuteilen und die affektiven Signale der anderen zu verstehen. Fähigkeit zur Bindung Die Fähigkeit, innere Repräsentanzen des Gegenübers zu errichten (ObjektInternalisierung) und längerfristig affektiv zu besetzten (Objektkonstanz); die Fähigkeit, zwischen Bindung und Lösung wechseln zu können (Fähigkeit zu Abschied und Trauer); die Fähigkeit zum Schutz der Bindung Regeln für die Interaktionen mit wichtigen Anderen zu entwickeln. Die genannten strukturellen Dimensionen sind logisch nicht voneinander unabhängig. Sie bilden den Gegenstand der Struktur (das Selbst in Beziehung zum Anderen) aus verschiedenen Perspektiven ab und erfassen die komplexen Funktionsmuster in verschiedenen Zusammenhängen. 3.4.1 Manual Achse IV - Struktur Die vom Patienten in der diagnostischen Beziehung inszenierte Interaktion und die von ihm berichteten Interaktionen seines Lebens stellen das „Material“ dar, das es unter strukturellen Gesichtspunkten zu untersuchen gibt. Dabei orientiert sich die diagnostische Einschätzung der Struktur nicht notwendigerweise an der aktuellen krankheitswertigen Störung, sondern vor allem an der zugrundliegenden strukturellen Bereitschaft, wie sie im interaktionellen Handeln der letzten ein bis zwei Jahre sichtbar wurde. Aktuelle Störungen, insbesondere auch regressive Zustände und Krisen bestimmen nicht für sich allein genommen das strukturelle Niveau, sondern stellen Indikatoren für die strukturelle Bereitschaft dar. 26 Zur abschießenden Einschätzung des Strukturniveaus (gut integriert, mäßig integriert, gering integriert, desintegriert) gilt es zu prüfen, welche im Manual gegebenen Operationalisierungen auf den Patienten zutreffen. Dabei können auf den sechs Integrationsniveaus Befunddimensionen beschrieben durchaus werden. Die unterschiedliche abschließende Gesamteinschätzung des Strukturniveaus bildet einen Durchschnittswert aus den sechs strukturellen Dimensionen (Siehe Abbildung 4). Abbildung4: Erhebungsbogen Achse IV - Struktur Achse IV-Struktur gut integriert (1) (1,5) mäßig integriert (2) (2,5) gering integriert (3) (3,5) desintegriert (4) nicht beurteilbar (9) 1.1 Selbstwahrnehmung 1.2 Selbststeuerung 1.3 Abwehr 1.4 Objektwahrnehmung 1.5 Kommunikation 1.6 Bindung 2 Gesamteinschätzung 3.4.2 Allgemeine Charakteristika der Integrationsniveaus Niveau: Gute Integration Das gut integrierte Niveau der Struktur ist dadurch gekennzeichnet, dass die intrapsychisch und interpersonell regulierenden Funktionen für den Patienten prinzipiell verfügbar sind, d.h. dass sie über längere Lebensperioden hinweg und unabhängig von inneren und äußeren Belastungssituationen erhalten oder rasch wiedergewonnen werden können. Die vorhandene, gut integrierte psychische Struktur stellt einen psychischen Innenraum zur Verfügung, in dem intrapsychische Konflikte ausgetragen werden können. Diese ereignen sich zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen 27 sowie zwischen Bedürfnisregungen einerseits und internalisierten Normen (in Gestalt eines ausgereiften Über-Ichs) und Idealen andererseits. Die zentrale Angst gilt dem Verlust der Liebe des Objekts. Niveau: Mäßige Integration Zur Charakteristik des mäßig integrierten Niveaus gehört es, dass die Verfügbarkeit über die beschriebenen Fähigkeiten und Funktionen prinzipiell erhalten, zugleich aber situativ herabgesetzt ist. Auch hier herrschen intrapsychische Konflikte vor, die nun aber andere Inhalte und einen anderen Umgang als die beim integrierten Niveau aufweisen: Auf der Bedürfnisseite stehen unbewusste Regungen der gierigen Bedürftigkeit, der Bemächtigung, der Unterwerfung; auf der steuernden Gegenseite finden sich strenge, rigide und strafende Normen („unreifes Über-Ich“) sowie überzogene Ideale. Die zentrale Angst gilt dem Verlust oder der Zerstörung des stützenden, steuernden Objekts. Niveau: Gering integriert Im Gegensatz zu den vorher beschriebenen Strukturniveaus ist hier die Verfügbarkeit über die intrapsychisch und interpersonell regulierenden Funktionen deutlich reduziert und zwar entweder dauerhaft (im Sinne eines Entwicklungsdefizits: Strukturelle Störung kann bedeuten, dass im Sinne eines Entwicklungsdefizits bestimmte strukturelle Differenzierungen und Integrationsschritte nicht erfolgt sind. Das Selbst vermag weder autonom zu sein noch sich selbst ausreichend zu organisieren noch sich zu reflektieren; eine verlässliche Bindung an haltgebende Andere konnte nicht entwickelt werden) oder immer wieder im Zusammenhang mit Belastungssituationen (im Sinne einer strukturellen Vulnerabilität: Im Falle der strukturellen Vulnerabilität hat sich die Struktur zwar entwickelt, aber sie ist nicht stabil genug ausgebildet, so dass in Situationen innerer und äußerer Belastung regressive Prozesse einsetzen, strukturell verankerte Funktionen verloren gehen und affektive Spannungszustände und Desintegrationszustände aktiviert werden). Ausgeschlossen sind kurzfristige Desintegrationen z.B. im Rahmen posttraumatischer Belastungsstörungen. Im Gegensatz zu den vorgenannten 28 Strukturniveaus ist der seelische Binnenraum wenig entwickelt; die Idealstruktur ist wenig differenziert; die normative Struktur (im Sinne des Über-Ichs) ist dissoziiert. Unbewusste Bedürfnisregungen werden nicht intrapsychisch gebunden, sonder richten sich direkt nach außen. So kommt es weniger zu intrapsychischen Konflikten als zu einem Vorherrschen interpersoneller Konflikte (in Partnerschaft, Beruf und sozialem Umfeld). Die zentrale Angst gilt der Vernichtung des Selbst durch das böse Objekt oder durch den Verlust des guten Objekts. Der Tendenz zur Realisierung intrapsychischer Konflikte in den jeweiligen Interaktionen entspricht auch die Gegenübertragung: Sie ist durch Heftigkeit gekennzeichnet, durch abrupte Veränderungen des Erlebens; gelegentlich wirken aufgewühlte Gefühlsregungen über die Realpräsenz des Patienten nach. Diese Patienten wiederholen nicht an ihrem Gegenüber biographisch relevante Konflikte, sondern mobilisieren im Anderen Teil-Ich-Funktionen, über die sie selbst nicht verfügen. Niveau: Desintegration Da keine kohärente Selbststruktur ausgebildet ist, besteht bei Belastungen die Gefahr der Desintegration oder Fragmentierung. Dem psychotischen Zusammenbruch kann eine psychotische Restituierung folgen. Eine Stabilität der fragilen Struktur wird dadurch zu erreichen versucht, dass wesentliche Triebimpulse und narzisstische Bedürfnisse abgespalten oder verleugnet werden. Diese sind dann langfristig einer bewussten Wahrnehmung nicht mehr zugänglich. Wenn das bisherige labile Gleichgewicht nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, kommt es im Rahmen der psychotischen Dekompensation zu einer projektiven Verarbeitung. Die bislang unbewussten Bedürfnisregungen werden nun als von außen kommend und nicht der eigenen Person entstammend erlebt. (Die Gedanken werden gemacht oder eingegeben, spontane sexuelle Erregung wird durch Manipulation von Außen erzeugt, nur die anderen sind aggressiv und bedrohlich). Falls ein umschriebener Konflikt auszumachen ist, betrifft er die Gefahr einer Fusion mit dem Objekt versus einer isolierenden Abgrenzung oder die narzisstische Selbstüberhöhung Selbstwertzweifel. als Kompensation schwerster 29 3.4.3 Das gering integrierte Niveau Wiederum soll das gering integrierte Niveau exemplarisch anhand der sechs strukturellen Beurteilungsdimensionen dargestellt werden. Selbstwahrnehmung Eine reflexive Selbstwahrnehmung ist nicht möglich; ein Gefühl der psychosexuellen und sozialen Identität wurde nicht entwickelt, es stehen widersprüchliche Selbstaspekte dissoziiert nebeneinander; eigene Affekte können wenig differenziert wahrgenommen werden; das affektive Erleben ist von chronischer Verachtung, Ekel und Wut gekennzeichnet; im Ausdruck tauchen vor allem Verachtung und Ekel auf; an die Stelle affektiven Erlebens können Entfremdung, Affektleere, Depressivität treten; Innen- und Außenattribuierung beim Zustandekommen der Affekte kann nicht klar unterschieden werden. Selbststeuerung Die Möglichkeit, sich Triebwünsche sozial adäquat und gemäß den eigenen Wertvorstellungen zu erfüllen, ist gering, ebenso die Möglichkeit, Triebbefriedigungen aufzuschieben oder zu verlagern; es resultiert also ein impulsives Verhalten, das vom Betroffenen selbst zeitweise als dyston, überwältigend und leidvoll erlebt wird oder das von der Umwelt als inadäquat, feindselig oder überwältigend zurückgewiesen wird. Diese Umweltreaktionen können aber nicht antizipiert werden oder zur Verhaltenskontrolle eingesetzt werden. Die mangelnde Einfühlung in die Reaktion der Objekte (z.B. mangelndes Mitgefühl) kann zum Überwiegen aggressiver Impulse führen. Steuerungsversuche erweisen sich meist als abrupt und ineffektiv. Die selbstund fremddestruktiven Tendenzen sind in Phantasien oder Handlungen offensichtlich. Schuldgefühle werden nicht intrapsychisch bearbeitet, sondern führen zu Selbstbestrafungen, u.U. in Form autodestruktiver Tendenzen. Im Unterschied zum mäßig integrierten Niveau überwiegt die Untersteuerung. Das impulsive Verhalten wird oft ausgelöst durch unangenehme Affekte, die nicht intrapsychisch verkraftet Verhaltensänderungen führen. werden und deshalb zu abrupten 30 Abwehr Auf dieser Stufe reicht die Abwehr gegen innere Triebwünsche und Affekte nicht aus; kennzeichnend ist hier die Veränderung, d.h. verzerrte, überhöhte oder entwertete Ausformung der inneren Bilder des Selbst und des Anderen (Selbst- bzw. Objektrepräsentanzen) durch die Abwehrmechanismen. Die Abwehr wird hier wie auf der nächsttieferen Stufe (desintegriertes Niveau) interpersonal. Typische Abwehrmechanismen: Der kennzeichnende Abwehrvorgang dieser Stufe ist die Spaltung der Selbst- und Objektimagines; aus der Spaltung leiten sich andere Abwehrmechanismen dieser Stufe ab, z.B. die projektive Identifizierung und die Idealisierung bzw. Entwertung äußerer Objekte. - Spaltung: Das Selbst und äußere Objekte werden nicht ambivalent, mit guten und schlechten Merkmalen erlebt, sondern einseitig als nur gut oder nur böse, wobei die Zuordnung zum „Gut/Böse-Schema“ von Person zu Person hin- und herwechseln kann und auch bei der gleichen Person zeitlich rasch wechseln kann. Widersprüchliche, oft in Bezug auf dieselbe Person geäußerte Gefühle (wie Idealisierung und Entwertung) stehen unverbunden nebeneinander, das Wissen um diese Widersprüchlichkeit löst nicht die zugehörigen Affekte bzw. eine Konfliktspannung aus, und führt nicht zu einer Korrektur der völligen Umkehrung aller bisher geäußerten Gefühle oder Vorstellungen. - Projektive Identifizierung: Projektion und Identifizierung finden sich hier verknüpft. Das Subjekt erlebt abgespaltene Selbstanteile beim Anderen wieder; anders als bei der Projektion kann damit jedoch keine Distanz vom Anderen geschaffen werden. Vielmehr wirkt der Andere, der die – bedrohlichen – Selbstanteile „enthält“, seinerseits bedrohlich, er muß daher ständig überwacht und kontrolliert werden. In dieser Bedrohlichkeit „rechtfertigt“ er gegen ihn (Untersuche/Therapeut) gerichtete Aggressivität. Projektive Identifizierung entspricht einer unvollständigen Projektion, vom Standpunkt der Selbst-ObjektDifferenzierung aus gesehen. Der Untersucher bemerkt, dass er vom Patienten in eine Szenerie nach einem „Täter-Opfer-Schema“ einbezogen worden ist, indem er stellvertretend für den Patienten dessen inakzeptable Impulse ausdrückt und dafür vom Patienten 31 kontrolliert und gefürchtet wird. Der Untersucher fühlt sich immer wieder veranlasst, gegen seinen Willen in ein bestimmtes, ihm sonst fremdes Rollenmuster zu geraten. Objektwahrnehmung Die Schilderung anderer Menschen rufen beim Untersucher das Gefühl hervor, solche Menschen könne es doch gar nicht geben. Jeder müsste doch starke und schwache Seiten haben, aber gerade die sind in den Schilderungen des Patienten über andere Menschen nicht zu erkennen. Dem Patienten fehlt ein Verständnis dafür, dass sein jeweiliges Gegenüber eine eigene Geschichte hat, mit der Folge persönlicher Schwächen und Stärken. Jemand muss ihm entweder ganz entsprechen, oder mit einer anderen Person kann er nichts anfangen. Die Fremdschilderungen wirken flächig, tupferhaft, nicht „dreidimensional“, gestalthaft-abgegrenzt. Auf Befragen nach dem „idealen Partner“ kennzeichnet der Patient einen Supermenschen, mit dem alles möglich ist, der aber seinerseits keine eigenen Ansprüche stellen und keine Unzulänglichkeiten aufweisen darf. Kommunikation Es liegen erhebliche Schwierigkeiten im Verstehen eigener und fremder Affekte sowie in der Mitteilung eigener Affekte vor; der Patient wirkt unbeteiligt gegenüber Gefühlen anderer, es fällt ihm schwer, warme und zärtliche Gefühle zu erleben und Ärger zu zeigen. Im Extremfall erfolgen Kommunikationsabrisse. Die Beziehungsstörung zeigt sich im Vorbeireden und Missverständnissen, der Patient neigt zu Übergriffen, Manipulationen und Distanzlosigkeit. Verwirrung und Leere werden u.U. durch rationales Argumentieren und Als-Ob-Kommunikation überdeckt. Bindung Im Unterschied zum mäßig integrierten Niveau ist hier die Fähigkeit, innere Bilder von Menschen zu entwerfen und so unabhängiger von ihrer Präsenz zu sein (Objektinternalisierung), ernsthaft gestört, ebenso die Fähigkeit, stabile, d.h. andauernde und einigermaßen ausgeglichene innere Bilder zu entwerfen (Objektkonstanz). Daraus folgt, dass die emotionale 32 Bindung an wichtige Menschen im Zeitverlauf inkonstant und ihre Schilderung von in sich widersprüchlichen Bildern beherrscht ist. Die Beziehungsmuster wirken sehr ambitendent, z.B. schwanken zwischen übergroßer Liebe und starkem Hass oder großer Distanz und intensiver Nähe. Ebenso ist die Möglichkeit, sich in die Welt der Anderen einzufühlen (Objekteinfühlung), behindert. Sie werden schwer einschätzbar, unberechenbar; die Form, wie sie erlebt werden, ist von Extremen gekennzeichnet: sie erscheinen einseitig, entweder als besonders gut oder als besonders schlecht, die diese Objektbeziehungen begleitenden Affekte sind stark und neigen zu Extremen, Hassgefühle werden z.B. ungefiltert und daher besonders zerstörerische erlebt. Die zentrale Angst ist es, dass das Selbst durch das böse Objekt oder den Verlust des guten Objekts vernichtet werden könnte. 3.5 Achse V – Psychische und Psychosomatische Störungen In dieser Achse werden die syndromal-deskriptiven Diagnosen nach ICD-10 Kapitel V (F) abgebildet. Mit diesem Vorgehen trägt die OPD der Bedeutung einer weltweiten Verständigung auf einheitliche Kategorien psychiatrischer und neurotischer Krankheitsbilder Rechnung. Den besonderen Bedürfnissen der psychotherapeutischen und psychosomatischen Praxis entsprechend werden von der OPD Ergänzungen im Bereich der Persönlichkeitsstörungen (Übernahme der narzisstischen Persönlichkeitsstörung aus dem DSM-IV: F60.81) sowie der Kategorie der psychischen Einflüsse auf andernorts klassifizierte Erkrankungen (z.B. Asthma: F54 und J45) vorgeschlagen (Siehe Abbildung 5). 33 Abbildung5: Erhebungsbogen Achse V - Psychische und Psychosomatische Störungen Va: Psychische Störungen: ICD-10 DSM-IV (optional) Hauptdiagnose: F . . Weitere Diagnose 1: F . . Weitere Diagnose 2: F . . Weitere Diagnose 3: F . . Vb: Persönlichkeitsstörungen: ICD-10 (F60.xx oder F61.xx) DSM-IV (optional) Hauptdiagnose: F . . Weitere Diagnose 1: F . . Bei Diagnosen sowohl auf Achse Va als Welche Störung steht klinisch im auch auf Achse Vb: Vordergrund? (1=Achse Va; 2=Achse Vb) Bei Diagnosen nach DSM-IV (sowohl Welche Störung steht klinische im psychische als auch Vordergrund? (1=psychische; Persönlichkeitsstörungen): 2=Persönlichkeitsstörung) Vc: Körperliche Erkrankungen: ICD-10 (nicht Kapitel V (F)!) DSM-IV (optional) Hauptdiagnose: . . Weitere Diagnose 1: . . Weitere Diagnose 2: . . Weitere Diagnose 3: . . 4 Das diagnostisch Interview zur OPD Unerlässlich für die Einschätzung der fünf verschiedenen Achsen ist ein ausführliches diagnostisches Interview. Voraussetzung für die Durchführung solcher Interviews sind die Akzeptanz des psychodynamischen Zugangs, Erfahrungen in der psychodynamischen Erstinterviewtechnik und hinreichende Selbst- und Behandlungserfahrungen. Die Diagnostik beruht auf dem beobachtbaren szenischen Material und den verbalen Mitteilungen. Es werden also Elemente des tiefenpsychologischen psychoanalytischen biographischen Erstinterviews Anamnese und der zusammengefügt. Der Interviewfaden ist wie ein semistrukturelles Interview angelegt. Am Anfang 34 sollte das Gespräch weitgehend offen geführt werden und im weiteren Verlauf kann eine zunehmende Strukturierung notwendig werden. Eröffnungsphase In der Eröffnung sind dem Patienten das Ziel des Gespräches und der Zeitrahmen mitzuteilen. Der Patient wird in der Regel mit Beschwerdeschilderungen beginnen, denn er kommt mit spezifischen psychischen oder somatischen Problemen, um darüber mit dem Therapeuten ein Gespräch zu führen. Der Therapeut sollte in der Lage sein, die Kernsymptome nach ICD-10 zu erfassen. Weiterhin können erste Anhaltspunkte über das Krankheitserleben und die Behandlungsvoraussetzung gewonnen werden, auch der Schweregrad der psychosomatischen Krankheit und der Leidensdruck des Patienten werden hier erfasst. Beziehungsepisoden Es wird die Beziehung zum Interviewer in ihrer szenischen Darstellung erfasst (Beziehungsepisode Arzt – Patient). Der Interviewer greift des Weiteren erste Beziehungsschilderungen als Hinweise auf und fragt nach typischen Beziehungssituationen (Episoden): „Ich habe Ihre Beziehung zu Ihrer Mutter noch nicht recht verstanden, vielleicht können Sie mit ein Beispiel aus letzter Zeit geben“. Selbsterleben und relevante Lebensbereiche Wie sieht der Patient sich selbst und sein Verhalten in Gegenwart und Vergangenheit. „Wie sehen Sie sich selbst heute? Wie waren Sie früher?“ Hierbei werden nicht nur das aktuelle Selbstverständnis, sondern auch die Konflikte im Umgang mit anderen sowie die persönliche Identität des Einzelnen geklärt. Objekterleben und Lebensgestaltung Hierbei geht es um die Frage, wie der Patient andere Menschen im Hier und Jetzt und Dort und Damals sieht und einschätzt: „Wie sehen Sie denn andere und wie werden Sie von anderen gesehen?“ 35 Psychotherapiemotivation, Behandlungsvoraussetzungen und Einsichtsfähigkeit In dieser Phase gilt es, das Hauptproblem des Patienten herauszuarbeiten und erste gemeinsame Überlegungen mit dem Patienten durchzuführen. Der Patient muss einen Hinweis über das weiter Vorgehen erhalten. Der Ablauf dieser Phasen erfolgt nicht schematisch, sondern ist als innerer diagnostischer Leitfaden zu handhaben. Je nach Umfang und Zielsetzung des Interviews können auch nur einzelne Achsen (z.B. Konflikt und Struktur) erhoben werden. 36 Literaturverzeichnis Arbeitskreis OPD. Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Grundlagen und Manual. 4.Aufl. Bern: Huber; 2004 Schauenberg H, Buchheim P, Cierpka M, Freyberger HJ (Hrsg.) Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik –Konzepte, Ergebnisse, Anwendungen. Bern, Hans Huber Senf W, Broda M (2005) Praxis der Psychotherapie. Stuttgart: Thieme