Entwurf / S. 1 / 5/13/2016 Produktives Üben Ziel des Übens ist bewusste Verfügbarkeit und nicht blinde Routine. Kenntnisse und Fertigkeiten sollen nicht reflexartig, sondern gezielt und bewusst eingesetzt werden. Gute Übungen fordern immer auch zum Den-ken heraus. Wenn dabei neue Fragen auftauchen, führt das Üben zum aktiv-entdeckenden Lernen zurück. Dann sprechen wir von produktivem Üben. Das Konzept des produktiven Übens Beim produktiven Üben stehen die einzelnen Aufgaben in einem Zusammenhang. Sie sind systematisch ausgewählt, so dass mit dem Üben Gesetzmässigkeiten auftreten und Strukturen sichtbar werden, Fragen und Vermutungen auftauchen. Dabei kann sich der Zusammenhang aus einem sachlichen Kontext oder aus einer innermathematischen Struktur ergeben. Produktive Übungen leiten über das reine Üben hinaus wieder eine Phase des aktiv-entdeckenden Lernens ein. Beim produktiven Üben wird nicht weniger geübt, aber es wird mehr als nur geübt. Zwei Arten von Üben Die Grundoperationen mit natürlichen Zahlen sind im überschaubaren Zah-lenraum bis zur sicheren Verfügbarkeit zu üben. Z.B. sollen Schülerinnen und Schüler zweistellige Zahlen im Kopf problemlos subtrahieren können. Dazu müssen sie sehr viele solche Aufgaben lösen. Das kann grund-sätzlich auf zwei Arten geschehen. - Die Aufgaben können unstrukturiert - z.B. von einem Zufallsprogramm erzeugt - sein: 83 - 17 = 48 - 25 = 91 - 77 = usw. - Dann leisten die Übungen nicht mehr als den nackten Übungsinhalt, in diesem Fall eben «Subtraktion von zweistelligen Zahlen». Sie können rasch sinnleer wirken. - Demgegenüber könnte eine strukturierte Übung zu diesem Inhalt etwa so aussehen: a) Nimm zwei zweistellige Zahlen, welche die Z.B. gleichen Ziffern in umgekehrter Reihenfolge aufweisen, und subtrahiere die kleinere von der 61 - 16 = 45 grösseren. Löse ein paar derartige Beispiele. Fällt dir etwas 93 - 39 = 54 auf? 85 - 58 = 27 Es resultieren lauter Neunerzahlen. b) Rechne mit den Resultaten in der gleichen Art 61 - 16 = 45 weiter. Beschreibe die auftretende 54 - 45 = 9 Gesetzmässigkeit. 90 - 09 = 81 usw. Die Resultate laufen in einen Zyklus von Neunerzahlen. c) Untersuche die Gesetzmässigkeit, die sich bei 61 - 16 = 45 46 11 Entwurf / S. 2 / 5/13/2016 Blindtitel folgender Variante ergibt: Zähle bei jedem Resultat 1 dazu, bevor du weiter rechnest. 64 - 46 = 18 19 91 - 19 = 72 73 usw. Die Reihe «fällt in einen Trichter» (36) d) Mache die entsprechende Übung; zähle aber immer eins weg, bevor du weiterfährst. Auch bei einer produktiven Übungsanlage werden viele Übungen zum gewünschten Inhalt gemacht. Darüber hinaus tauchen Strukturen auf, die untersucht werden können. Das Üben ist wieder Ausgangspunkt zu aktiventdeckendem Lernen. In der Hand der Lehrkraft Eine Lehrkraft kann produktive Übungen selber entwerfen, wenn sie die Aufgabenstellung systematisch variiert, so dass eine Struktur sichtbar wird. Wenn sie also z.B. 1x1-Aufgaben nicht unstrukturiert, zufällig stellt: sondern systemisch strukturiert: 4·4= 8·6= 3·5= 3·7= 2·6= 4·6= 7·7= 9·5= 7·7= 8·6= 9·5= 10·4 = 4·4= 3·5= 2·6= 1·7= 1·9= 2·8= 3·7= 4 · 6 = Produktive Übungen fordern Schülerinnen und Schüler zu weiterem Forschen und damit zu operativem Vorgehen auf. Mathematische Struktur oder Sachstruktur 12 Die obigen Beispiele sind mathematisch strukturiert. Die zu entdeckenden Gesetzmässigkeiten sind innermathematisch. Produktive Übungen können aber auch ausgehend von Sachstrukturen konstruiert sein. Wenn Kinder z.B. die Tageslängen im Verlauf eines Jahres ausrechnen und diese graphisch auswerten, erhalten sie eine wellenförmige Darstellung mit einem Sprung zwischen Winter- und Sommerzeit. Die Schülerinnen und Schüler üben das Berechnen von Zeitabständen mit Stunden und Minuten («Fahrplanrechnungen»). Gleichzeitig entdecken sie ein Naturgesetz, welches im Sachunterricht weiterverfolgt und eingebettet werden kann. Entwurf / S. 3 / 5/13/2016 Blindtitel Datum 1.Jan. 15.Jan. 29.Jan. 12.Feb. 26.Feb. 12.März 26.März 9.April 23.April 7.Mai 21.Mai 4.Juni 18.Juni 2.Juli 16.Juli 30.Juli 13.Aug. 27.Aug. 10.Sept. 24.Sept. 8.Okt. 22.Okt. 5.Nov. 19.Nov. 3.Dez. 17.Dez. Sonnen- Tageslänge aufgang / untergang h min 1 2 8.16 8.13 8.00 7.41 7.18 6.50 6.22 6.55 6.28 6.06 5.48 5.36 5.34 5.39 5.50 6.05 6.23 6.42 7.00 7.19 7.38 7.57 7.18 7.38 7.57 8.10 16.50 17.07 17.27 17.48 18.10 18.30 18.50 20.10 20.29 20.48 21.05 21.20 21.29 21.29 21.21 21.06 20.45 20.21 19.54 19.25 18.57 18.31 17.08 16.52 16.41 16.41 8 8 9 10 10 11 12 13 14 14 15 15 15 15 15 15 14 13 12 12 11 10 9 9 8 8 T a g e s lä n g e n in B e r n 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 34 54 27 07 52 40 28 15 01 42 17 44 55 50 31 01 22 39 54 06 19 34 50 14 44 31 Innere Differenzierung Nicht alle Schülerinnen und Schüler kommen beim Üben gleich schnell voran, und nicht alle benötigen gleich viele Übungen. Produktive Übungen führen ganz natürlich zu einer sinnvollen Differenzierung: Die Stärkeren werden rascher vom reinen Üben zur dahinterliegenden Struktur vorstossen und tiefer in diese eindringen. Dadurch sind alle mit unterschiedlichen Zielsetzungen im gleichen Bereich sinnvoll tätig. Noch ein Beispiel Die Anwendung der Formel A = r2 ist zu automatisieren. Ab dem 8. Schuljahr sind daher immer wieder Kreise zu berechnen. Statt unstrukturiert irgendwelche Kreise vorzugeben, ist folgende produktive Übung möglich: a) Zeichne Kreisringe gemäss dieser Tabelle und berechne ihren Flächeninhalt. A B C D Äusserer Radius (in cm) 26 30 40 51 Innerer Radius (in cm) 10 18 32 45 b) Versuche, das Ergebnis zu erklären. (Suche in der Zeichnung eine gemeinsame Grösse und stelle sie mit den Radien in einen Zusammenhang.) c) Zeichne einen weiteren Ring, der in die Serie passt. 13 Entwurf / S. 4 / 5/13/2016 Blindtitel d) Findest du ohne Zeichnung - aufgrund der Zahlenverhältnisse - einen passenden Ring? Geübt wird die Kreisberechnung. Zu entdecken ist, dass zur Berechnung des Flächeninhaltes eines Kreisringes nicht zwei Grössen nötig sind, sondern dass die Länge der Ringsehne genügt. Und der Pythagorassatz wird gleich noch mitgeübt. Einwand Rosinendidaktik 14 Hinter diesem Stichwort stehen zwei inhaltlich zusammenhängende Vorbehalte: «Es gibt bei weitem nicht zu allen zu beübenden Inhalten überzeugende produktive Anlagen» und «Selber produktive Übungen zu konstruieren, überfordert durchschnittliche Lehrkräfte». Gewiss sind gute produktive Übungsanlagen nicht immer einfach verfügbar. In neueren Lehrmitteln finden sich aber vermehrt Beispiele (z.B. im Zahlenbuch). Und diesen Büchern - bzw. dem Begleitmaterial dazu - kann auch entnommen werden, wie man selber entsprechende Anlagen findet. Eine ergiebige Quelle sind die beiden Bände des «Handbuchs produktiver Rechenübungen» (Wittmann / Müller; Klett 1992). Obgleich für die Unterstufe konzipiert, bieten die aufgezeigten Beispiele und besonders die ausgedrückte Haltung eine gute Anleitung zur Konstruktion entspre-chender Übungen auch auf der Mittel- und Oberstufe. Auch wenn das Prinzip des produktiven Übens nicht flächendeckend zur Anwendung kommt, ist doch jede produktive Übung eine bessere Übung mehr.