Boettcher/ Rothstein VL Sprachreflexion Wise 2009/10 Unterrichtskonzeptionen (und ihre geschichtlichen Hintergründe) 1. Formaler Grammatikunterricht - Es besteht ein indirekter Zusammenhang zwischen der historisch-vergleichenden, altphilologisch orientierten Sprachwissenschaft und dem formalen Grammatikunterricht. To have established the principles and methods used in setting up these, and other, language-families, and, what is more important, to have developed a general theory of language change and linguistic relationship was the most significant achievement of nineteenth-century linguistic scholarship. (Lyons 1969:22) - - Formaler Grammatikunterricht ist vorwiegend altsprachlich geprägt. Er umfasst die Behandlung der Satz-, Wort- und Formenlehre in einer kleinschrittig geplanten deduktiven Vorgehensweise. Die Orientierung an den Methoden des altsprachlichen Unterrichts erklärt sich durch die gemeinsame Anlegung von Deutsch- und Lateinunterricht im frühen 19. Jahrhundert. formbezogene Sprachanalyse isolierte Vermittlung grammatischer Kategorien nach einer festgelegten Reihenfolge der formale Grammatikunterricht beruht vor allem auf den Arbeiten von Karl Ferdinand Becker, bei dem systematisch die deutsche Grammatik abgehandelt wird: Der Satz ist als ein organisch gegliedertes Gebilde anzusehen. Wenn wir aber irgend ein organisches Gebilde z.B. eine Pflanze betrachten wollen; so fassen wir es zuerst als eine ungetheilte Einheit auf. Wir unterscheiden demnächst in dieser Einheit Wurzel, Stamm, Blüthe und Frucht als besondere Stufen ihrer Entwicklung. Erst dann, wenn wir im Allgemeinen die Bedeutung der Wurzel, des Stammes, der Blüthe und der Frucht als unterschiedener Entwickelungsstufen in dem Leben der Pflanze erkannt haben, wenden wir uns zu der Betrachtung des Besonderen und beschränken uns nun z.B. auf die Betrachtung des Kelches, der Blumenkrone, der Staubfäden u.s.s. als besonderer Organe der Blüthe. Wir gelangen so stufenweise zu einer wahrhaften und lebendigen Erkenntnis der Pflanze in ihrer organischen Gliederung, indem wir in der Pflanze zuerst die Natur und Bedeutung der Blüthe und dann in der Blüthe die Natur und Bedeutung der Blumenkrone, der Staubfäden u.s.s. erkennen und verstehen. Eben so müssen die besondern Verhältnisse der Sprache und ihre Formen aus dem Satze stufenweise nacheinander und in einer solchen Ordnung hergeleitet werden, daß das Nachfolgende immer aus dem Vorangehenden entwickelt wird. Die Anschauung des Gedankens muß der Anschauung der Begriffe und ihrer Arten, die Anschauung der Begriffe der Anschauung ihrer Beziehungen, die Betrachtung des Gedankens und der Begriffe der Betrachtung der Satzverhältnisse und die Betrachtung jedes Satzverhältnisses im Allgemeinen der Betrachtung der besonderen Formen der Satzverhältnisse vorangehen. Das Besondere muß immer als eine besondere Form des Allgemeinen aufgefaßt und als solche aus dem Allgemeinen entwickelt werden z.B. aus dem Prädikate alle besonderen Arten und Formen des Prädikates, aus dem Attribut die besonderen Formen desselben, aus dem Objekte die mannigfaltigen Formen des ergänzenden und bestimmenden Objektes. (Becker 1833:31f.) - Nach Gornik (2003:816) ist ein solcher Grammatikunterricht nach wie vor „im Unterricht […] irritierend präsent“. - Aufgabe: Untersuchen Sie den abgedruckten Auszug aus dem Deutschbuch Di@loge und stellen Sie dar, wie ein solcher Sprachunterricht wohl Grammatikdidaktik 2 11. Formaler GU aussieht. Welche Aufgabe hat die Lehrperson, welche Aufgaben haben die Schüler? Aus: Di@loge. Deutsch für berufliche Gymnasien. Troisdorf: Bildungsverlag eins, 314-315. 2. Operationaler Grammatikunterricht 2.1. Strukturalismus - ausgehend von Saussures Cours de linguistique générale Sprachsystem (langue) und Sprachgebrauch (parole). Es geht nicht um die konkrete Tätigkeit des Sprechens, sondern um die Sprache selbst. Das Sprachsystem besteht aus einer gewissen Anzahl sprachlicher Zeichen, die in syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zueinander stehen. Daher interessiert weniger das einzelne Zeichen, sondern die synchronen Beziehungen der Zeichen untereinander. sprachliche Phänomene werden einheitlich nach formalen Prinzipien klassifiziert, Sätze werden auf die in ihnen auffindbaren syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zwischen den sprachlichen mit Hilfe von Segmentierungsverfahren untersucht. Trennung zwischen Synchronie und Diachronie, die der Sprachdidaktik als wissenschaftliche Legitimierung für die Abtrennung vom altsprachlichen Unterricht diente. nicht länger das Regelsystem einer Sprache als Ausgangspunkt (z.B. Latein) für die Beschreibung anderer Sprachen annimmt, sondern jede Sprache auf die ihr eigentümlichen Phänomene untersucht. In Deutschland ist Hans Glinz Habilitationsschrift Die innere Form des Deutschen die erste strukturalistisch orientierte Arbeit Die Übernahme des Strukturalismus in die muttersprachliche Schulgrammatik erfolgte vor allem durch die Arbeiten von Glinz selbst. Der Begriff des Strukturalismus, der schon innerhalb der Linguistik sehr unterschiedliche Konzeptionen zusammenfaßt, ist dabei freilich etwas brüchig geworden. Gemeinsam ist den divergierenden Bestrebungen nur der Gesichtspunkt, daß menschliche Äußerungen und Verhaltensweisen nicht als isolierte Einzelerscheinungen betrachtet werden, sondern auf dem Hintergrund eines systematischen Zusammenhangs, der ihre Struktur bestimmt. (Bierwisch 1966:78) 2.2. operationaler Grammatikunterricht vom Strukturalismus abgeleitete Methode zur Analyse der muttersprachlichen Grammatik nach u.a. Glinz (1968) nach strukturalistischen Segmentierungsverfahren werden Sätze zerlegt und so Wortarten und Satzglieder bestimmt. Glinz’schen Proben: zum Beispiel die Weglass-, die Ersetzbarkeit- und die Verschiebbarkeitsprobe. Mit einher geht die Aufwertung des Schülers als kompetenten Sprecher der erwachsenen Zielsprache: Diese Veränderung [die Einführung der Glinz’schen Proben, B.R.] des meist noch traditionellen Grammatikunterrichts hat aber langfristig – und eigentlich bis heute – eine Öffnung nicht nur für eine Linguistisierung bewirkt, sondern auch für eine Anerkennung des Schulkindes als kompetenten Sprecher bzw. Sprachteilhaber gesorgt – zumindest für den Bereich der Syntax, dem damals und wohl immer noch dominanten Bereich der „Grammatik“ in der Schule. (Klotz 1996:18) Kritik: die Anwendung der Proben ist nicht immer möglich: (1) *Sich fragt Peter. 4 - Aufgabe: Untersuchen Sie den abgedruckten Auszug aus dem Deutschbuch Deutscher Sprachspiegel und stellen Sie dar, wie ein solcher Sprachunterricht wohl aussieht. Welche Aufgabe hat die Lehrperson, welche Aufgaben haben die Schüler? 5 Aus: Deutscher Sprachspiegel für Realschulen 1. Düsseldorf: Schwann. 1965, 102-105. 6 3. Funktionaler Grammatikunterricht A functional approach to language means, first of all, investigating how language is used: trying to find out what are the purposes that language serves for us, and how we are able to achieve these purposes through speaking and listening, reading and writing. But it also means more than this. It means seeking to explain the nature of language in functional terms: seeing whether language itself has been shaped by use, and if so, in what ways – how the form of language has been determined by the function it has evolved to serve. (Halliday 1973:7) In the Functional Paradigm, the basic assumption is that linguistic expressions are not arbitrary objects defined by some formal calculus, but that their properties are essentially codetermined by the semantic and pragmatic factors which play a central role in human linguistic communication. The structure of the linguistic instrument is judged to be at least in part explainable in terms of the conditions in which, and the purpose for which it is put to use. (Dik 1993:369) Aber: Verhältnis von Form und Funktion werden nicht immer ausreichend beachtet: Die Funktion gilt Dik als Meister der Form, sie wird mit dieser konglomeriert nach dem Grundsatz >Je mehr Funktion, desto weniger Form< (vgl. [Dik] 1983: 7ff.). Die Formbeschreibungen dienen vor allem als Folie für das Dranschreiben dessen, was unter Funktion verstanden wird. Dieser Grammatiktyp interessiert sich eher für die Darstellung bestimmter Sprachfunktionen an sich als für die Beziehung zwischen Form und Funktion. (Eisenberg 1994:24) Doppelperspektivik der Grammatik der deutschen Sprache (=Ids-Grammatik) von Gisela Zifonun, Ludger Hoffmann und Bruno Strecker, eine (vgl. Zifonun et al. 1997:7). Grundlegend für die Doppelperspektivik ist zum einen, das „Ensemble sprachlicher Formen und Mittel […] zu erklären durch die kommunikativen Aufgaben und Zwecke im Handlungszusammenhang“, zum anderen „die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks […] aus den Bedeutungen seiner Teile auf der Basis ihrer syntaktischen Beziehungen“ zu ermitteln (Zifonun et al. 1997: 8). Es geht demnach einmal um „Form und Pragmatik“ und das andere Mal um „Form und Semantik“. Diese Funktionalstruktur ist so einzurichten, daß der syntaktische Aufbau dem Aufbau eines Aspektes der Satzbedeutung – dem wahrheitskonditionalen – möglichst direkt entspricht. (Zifonun 1986:50-51) Der funktionale Grammatikunterricht setzt bei der Funktion an: Grammatische Formen haben durch ihre spezifischen instruktiven Funktionen und ihren spezifischen kognitiven Gehalt immer auch eine besondere Funktionalität für bestimmte Äußerungssituationen und Textsorten, weil sie entscheidend zur sprachlichen Ökonomie und Prägnanz beitragen. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, die Funktionalität grammatischer Formen für bestimmte Textsorten herauszuarbeiten und zugleich auf funktionsähnliche Sprachformen hinzuweisen. (Köller 1997:32f.) Nach Köller (1997) muss Grammatikunterricht folgende Prinzipien berücksichtigen: 7 Das Prinzip der Verfremdung: Da die Schüler im Alter von 10-12 Jahren ein vorbewußtes Wissen von den grammatischen Ordnungsformen ihrer Muttersprache haben und diese auch praktisch beherrschen, müssen grammatische Phänomene verfremdet werden, damit sie ihnen als diskutierbare Phänomene überhaupt erst begegnen können. Das Prinzip der operativen Produktivität Im Grammatikunterricht soll produktives Denken angeregt und praktiziert werden, wenn auch reproduktives Denken realistischerweise nie völlig ausgeschlossen werden kann. Produktives Denken lässt sich am besten über Operationen an der Sprache auslösen (Umformungen, Streichungen, Ersetzungen usw.). Solche operativen Verfahren fordern Schüler ständig auf implizite Weise auf, die Ergebnisse ihrer Operationen kognitiv zu bewältigen. (Köller 1997:29) Hinzu kommt das genetische Prinzip, nach dem die Schüler Einsichten in den wissenschaftlichen Hintergrund der Beschreibungskategorien erhalten sollen. Die Frage nach der Herkunft dieser Kategorien soll den Schülern beim Verstehen des Sachverhalts helfen. Nach dem funktionalen Prinzip sollen Texte in den Grammatikunterricht einbezogen werden, um den funktionalen Charakter und den „Werkzeugcharakter“ (Köller 1997:30) sprachlicher Zeichen erkennen zu lassen. Das integrative Prinzip überschneidet sich in vielen Hinsichten mit dem funktionalen. Gleichwohl kann man es aber als eigenständiges Prinzip hervorheben, weil sich mit ihm besonders klar darauf verweisen lässt, daß der Grammatikunterricht didaktisch nur dann wirklich legitimiert werden kann, wenn er immer wieder in umfassendere Fragestellungen integriert wird. Nur so lässt sich der Funktionsbegriff wirklich konkretisieren und der Werkzeugcharakter grammatischer Zeichen exemplifizieren. Das Spektrum solcher integrativen Bezüge reicht auf verschiedenen Abstraktions- und Komplexitätsebenen von der Sprachphilosophie und Systemtheorie über der Textinterpretation und Textproduktion bis zur Sprachgeschichte und zum Sprachvergleich. (Köller 1997:31) Der funktionale Grammatikunterricht erlaubt damit die Möglichkeit, auf das sprachliche Wissen von Schülern zurückzugreifen und so zur Sprachreflexion anzuregen. - Ausgegangen wird also nicht von den Kategorien selbst, sondern vom sprachlichen Handeln. - So stehen am Anfang der Sprachbetrachtung häufig verschiedene verbale Realisierungsmöglichkeiten ein- und desselben Sachverhalts. - Diese Möglichkeiten können miteinander verglichen und gegebenenfalls durch weitere ergänzt werden. - Erst dann werden die verwendeten Kategorien im Hinblick auf ihre unterschiedlichen pragmatischen Funktionen untersucht. o Klotz (1995:6) führt als Beispiel die Aufforderung an ein kleines Kind auf, ins Bett zu gehen. Diese kann sehr unterschiedlich formuliert werden. Bekannte Ausdrücke sind Bitte geh allmählich ins Bett, Ab ins Bett und Jetzt wird aber sofort ins Bett gegangen! Dabei fallen verschiedene Funktionen auf. Beispielsweise erlaubt das Passiv eine scheinbar nicht adressatenbezogene Aufforderung. 8 4. Integrierter Grammatikunterricht Der integrierter muttersprachliche Grammatikunterricht ist - ein Kind des integrativen oder fächerübergreifenden Deutschunterrichts - sucht in expliziter Schülerorientierung unter handlungsorientierten Methoden die Abwendung vom traditionellen lehrerzentrierten Deutschunterricht sucht - verbindet auf Basis von inter- und intrafachlicher Ausrichtung mindestens ein germanistisches Gebiet mit einem anderen Gebiet - integrativen Pragmatikunterricht versucht, Themen der linguistischen Pragmatik in den Unterricht zu importieren So haben wir uns […] bemüht, den Anforderungen gerecht zu werden, die die moderne Welt an das Sprachvermögen jedes einzelnen stellt. Es wurden wiederum Situationen des alltäglichen Lebens in der Familie, der Freizeit, in der Schule und im späteren Berufsleben ausgewählt. Daneben gibt es zahlreiche Themen, die dazu beitragen sollen, Probleme des Schüleralltags sprachlich zu bewältigen: die Suche nach Leitbildern, die Rechtfertigung für Versäumnisse oder die Beschreibung von Experimenten im naturwissenschaftlichen Unterricht. (Die Herausgeber und Autoren von Thema: Sprache. Sprachbuch Deutsch. 7. Schuljahr. Ausgabe A. Frankfurt: Hirschgraben-Verlag 1979, 7.) - integrierten Grammatikunterricht: Vermischung von Lerngegenstand Grammatik mit anderem Lernbereich Spätestens seit dem Aachener Germanistentag 1994 versteht sich die Germanistik nicht länger als streng philologisch ausgerichtetes Fach, sondern betrachtet sich als besondere Form der Kulturwissenschaft, die am kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft mitwirken möchte. Die Fachdidaktik Deutsch hat diesen entscheidenden Richtungswechsel zum Teil im integrativen Deutschunterrichts rezipiert, in dem entweder mehrere germanistische Teildisziplinen (etwa Grammatik und kreatives Schreiben) oder verschiedene Schulfächer (Kunst und Deutsch) verbunden sind (vgl. Klotz 2003; Bogdal 2001). Der integrierte Grammatikunterricht lehrt Grammatik im Zusammenhang mit anderen Unterrichtsstoffen. Entsprechend den Vorstellungen des situativen Grammatikunterrichts wird Grammatik dann Unterrichtsthema, wenn Texte untersucht werden und Grammatik Einsicht in Sprachgebrauch und Sprachverstehen stärkt. Im Gegensatz zum situativen Grammatikunterricht sind nicht authentische Unterrichtssituationen Katalysator für die Beschäftigung mit Grammatik, sie wird vielmehr durch die Auswahl bestimmter Texte oder Sprechanlässe arrangiert. Zwar wird dadurch die Behandlung eines grammatischen Kanons möglich, doch stellt sich der integrierte Ansatz keiner wirklichen Abarbeitung eines bestimmten Inventars. (Einecke 1995:58) Der integrierte Ansatz soll helfen, - Schülerwiderstände abzubauen, - indem Transfererwartungen bei den Schülern aufgebaut werden (vgl. Einecke 1995:10). 9 Gefahren sind: Damit ist das Prinzip der Integration der Lernbereiche angesprochen und die Frage, wie viel Integration dem Lernen zuträglich ist. In der Unterrichtspraxis ist […] zu beobachten, dass falsch verstandene Integrationskonzepte mit Intransparenz einhergehen und damit das Lernen behindern. (Gross 2007:98) Zweitens besteht die Gefahr, dass integrierter Grammatikunterricht ein eigentlich versteckt systematischer ist oder die Grammatikarbeit an ein anderes Thema angeschlossen wird, ohne eine wirkliche Verbindung beider Themen herzustellen. Einecke (1999): Phasenmodell zur Integration 1. Kontextuierung: Kerntext (Text, Szene, Situation) als Teil einer kurzen Unterrichtssequenz präsentieren; zunächst die inhaltliche Seite thematisieren. 2. Fokussierung: bei genauerer Untersuchung des Textes, bei Verständigungsund Verstehensproblemen an inhaltlich, stilistisch oder grammatisch auffälligen Stellen auf die sprachlichen Mittel hinlenken. 3. Beispiel: eine Textstelle aufgreifen, die das angezielte grammatische Phänomen umfaßt und mehrere andere Textstellen repräsentiert = Beginn der Operationen am Text. 4. Beobachtung/Reflexion: der sprachlichen, grammatischen Darstellungsmittel und Beschreibung des Beobachteten: zur Form und Funktion; in der Regel im Unterrichtsgespräch. 5. Isolierung: das grammatische Phänomen herausstellen; durch Vergleich, Kontrastierung, Nachschlagen und Verknüpfung mit Bekanntem sowie durch Operationen untersuchen: Ergänzungs-, Streich-, Austausch- und Umstellprobe, Paraphrase, Klangprobe etc. 6. Systematisierung: Erweiterung des ersten Beispiels um andere parallele Textstellen, analoge Beispiele; Ausschluß von Gegenbeispielen etc.; zur Erkenntnis der Regelhaftigkeit; Bildung weiterer Fälle; Klassifizierung, Generalisierung des Beobachteten. 7. Benennung: mit dem lat. Fachbegriff; ggf. Erläuterung des Fremdworts (etymologisch, Rohübersetzung etc.); in der Regel durch die Lehrerin oder den Lehrer. 8. Definition/Regel: Fixierung der Erkenntnisse in einem Merksatz, definitorisch als Regel (Teilregel): a) Begriff b) Regel zur Bildung der Form c) Regel zur Funktion des grammatischen Phänomens in Äußerungen d) Beispiel (Satz – Grafik – Schaubild) 9. Reflexion/Rückblick: Analyse und Betrachtung der Funktion/Rolle/Bedeutung des grammatischen Elements im Satz/Text/Kontext, in der Verwendungssituation, d.h. auf den Kerntext zurückgreifende Synthese des Form- und Inhaltsaspekts; vertiefendes Unterrichtsgespräch. 10 10. Anwendung/Übung: an weiteren Textabschnitten, Beispielsätzen, Texten der Unterrichtssequenz; untersuchen, selbst bilden, ermitteln, in Kontexte einbauen, sprachlich im thematischen Rahmen der Sequenz gestalten ...; vielfältige Übungen. 11. Kontrolle: Prüfung durch Anwendung (s. 10); Überprüfung der Regelkenntnis durch Abrufen der Regel (8), der Benennung durch Zuordnung von Fachbegriffen zu Textstellen (7), der Beobachtung durch Aufspüren entsprechender Stellen in Texten (4), der Reflexion durch Erklärungen (9) etc. 5. Grammatikwerkstatt 5.1. Perspektiven der Grammatikwerkstatt Menzel (1999) wendet sich gegen einen - formal-systematischen Grammatikunterricht, der nur die Ergebnisse einer Grammatik vermittelt - situationsorientierten Grammatikunterricht, dem der wissenschaftliche Aspekt fehlt und der die Sprache ausschließlich im Dienst der Kommunikation sieht Menzel (1999) plädiert für eine Werkstatt, die - wissenschaftspropädeutisch, - genetisch (Rückführung in die Originalsituation/ Schülerinnen und Schüler entwickeln selbst grammatikalische Kategorien), - radikal induktiv (ohne Vorwissen) ist. Wie auch immer ein Grammatikunterricht durchgeführt wird, er verdient seinen Namen erst, wenn Schülerinnen und Schüler mit seiner Hilfe lernen, wie grammatische Kategorien zustande kommen, welches ihre Funktionen sind und was Menschen tun, die eine Grammatik aufstellen. Unter dieser Prämisse muss eine Schulgrammatik Folgendes leisten: 1. Sie muss den Lernenden Einsichten in den Bau der Sprache vermitteln, also die Ordnung der sprachlichen Vielfalt zu Kategorien sichtbar machen (sie muss systematisch sein). 2. Sie kann dies nur, wenn sie die Methoden zur Verfügung stellt und erfahrbar macht, mit denen man zu Kategorien gelangt (sie muss induktiv vorgehen). 3. Sie muss einsichtig machen, welche Rolle die zu ermittelnden Kategorien in der Sprache selbst spielen; welche semantischen, textuellen und kommunikativen Funktionen sie haben können – wenn sie denn welche haben (sie muss funktional sein). 4. Sie kann dies nicht anders als im ständigen Wechselspiel von Arbeit an Strukturen und an Inhalten oder Sprachsituationen, wobei sie bald von der einen, bald von der anderen Seite der Sprache ausgeht bzw. da hinführt (sie muss in diesem Sinne integrativ sein). (Menzel 1999:9) - Zur experimentierenden Arbeit bietet Menzel (1999) eine Reihe von Experimenten, wie er sie nennt, an. Im Bereich der Sekundarstufe 1 schlägt er für Adjektive folgende Übung vor: manchmal, selten, zuweilen, gelegentlich, mitunter, oft, häufig, meistens, oftmals, wiederholt, mehrmals, mehrmalig, immer, ständig, dauernd, fortwährend, andauernd, nie, niemals (a) (b) Das _______________ Grinsen von ihm ging mir auf die Nerven. Er grinste mich _______________ an. Probiere der Reihe nach aus, in welche Lücke sich die Wörter einsetzen lassen! (Menzel 1999:60) 11 - Lernziel dieses Experiments ist die Erkenntnis, dass die angebotenen Ausdrücke, obwohl sie semantisch ähnlich sind, nicht allesamt in (a) einsetzbar sind: „Nur was auch in (a) einsetzbar ist, nennen wir Adjektiv“ (Menzel 1999:59). Die Schüler müssen damit durch Einsetzen entscheiden, welche Ausdrücke in welchem Satz möglich sind. - Es wird demnach aus eigenem Handeln ein Grammatikverständnis entwickelt durch folgende Möglichkeiten: o Beobachtung des Regelhaften o Beobachtung des Fehlerhaften o Beobachtung des Anderen (Mundart...) o Experimente mit Sprache – operationale o über Sprache sprechen o Rekonstruktion der Grammatik Die Grammatikwerkstatt ist dabei prozessorientiert: Kategorien werden nicht eingeübt, sondern aufgestellt - Anspruch o Handlungsorientiertes Lernen o Erfahrungsorientiertes Lernen o Selbstständiges Lernen o Schülerorientiertes Lernen o Anwendungsorientiertes Lernen 5.2. Kritik an der Grammatikwerkstatt - Die der Methode zugrunde liegenden Operationen stellen die Schüler vor beträchtliche Schwierigkeiten. o Sie können leicht überfordernd wirken. o Sie setzen eine gewisse metasprachliche Kompetenz bereits voraus o Sie setzen damit grammatisches Wissen und stilistisches Gespür voraus. Menzel vertraut zu sehr auf die Selbsterklärung seiner Werkzeuge, die aber, wie schon die Duden-Grammatik warnend erwähnt, nur in der Hand des Kundigen funktionieren. (Ossner 2000:239) - Das Zusammenspiel von Inhalt und Funktion wird nicht ausreichend reflektiert, sondern eher in Lückentexten abgearbeitet. Das Bild der Grammatik-Werkstatt verleitet zu der Illusion, wir könnten die sprachlichen Dinge wie eine zweite Art von Naturdingen behandeln, wir könnten hierher die Form- und Struktureigenschaften der Sprache selbst kennen, wenn wir nur die richtigen analytischen Operationen anstellen. (Switalla 2000:215) - kein Zusammenhang mit Sprachpraxis Literatur Ader, D. et al. (1976): Didaktik und Linguistik. Linguistik und Didaktik 25, 27-37. Becker, K. F. (1833): Ueber die Methode des Unterrichts in der deutschen Sprache, als Einleitung zu dem Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprachlehre. Frankfurt. Bierwisch, M. (1966): Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden. Kursbuch 5, 77-152. Boettcher, W. & Sitta, H. (1980): Grammatik in Situationen. In: Diegritz, Th. (Hrsg.): Diskussion Grammatikunterricht. München, 202-227. Bogdal, K.-M. (2001): Kulturwissenschaftliche Wende im Deutschunterricht. Der Deutschunterricht 2001/3, 23. Einecke, G. (1995): Unterrichtsideen Textanalyse und Grammatik. Vorschläge für den integrierten Grammatikunterricht. 5. – 10. Schuljahr. Stuttgart. 12 Eisenberg, P. (1994): Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart. Eisenberg, P. & Menzel, W. (1995): Grammatik-Werkstatt. Praxis Deutsch 129, 14-26. Gewehr, W. (1983): Zur Konzeption eines integrativen Grammatikunterrichts. Jahrbuch der Deutschdidaktik 1981/82, 19-47. Givón, T. (1979): On understandig Grammar. New York. Givón, T. (2002): Bio-linguistics. Amsterdam. Glinz, H. (1968): Die innere Form des Deutschen. Bern. Gornik, H. (2003): Methoden des Grammatikunterrichts. In: Bredel, U. / Klotz, P. / Ossner, J. / Siebert-Ott, G. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache - ein Handbuch. Paderborn, 814-829. Gross, R. (2007): Sprachwissen aufbauen. In: Beste, G. (Hrsg.): Deutsch Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin, 97-139. Halliday, M. A. K. (1973): Explorations in the functions of language. London. Haueis, E. (1981): Grammatik entdecken. Grundlagen des kognitiven Lernens im Sprachunterricht. Paderborn. Klotz, P. (1995): Sprachliches Handeln und grammatisches Wissen. Deutschunterricht 47, 3-13. Klotz, P. (1996): Grammatische Wege zur Textgestaltungskompetenz. Theorie und Empirie. Tübingen. Klotz, P. (2003): Integrativer Deutschunterricht. In: Kämper-van den Boogaart, M. (Hrsg.): Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin, 46-59. Köller, W. (1997): Funktionaler Grammatikunterricht. Tempus, Genus, Modus: Wozu wurde das erfunden? Baltmannsweiler. Lyons, J. (1969): Introduction to Theoretical linguistics. Cambridge. Lyons, J. (1977): Semantics. Cambridge. Menzel, W. (1985a): Genetisches Lernen im Sprachunterricht. Jahrbuch für Deutschdidaktik, 42-54. Menzel, W. (1985b): Rechtschreibunterricht. Praxis und Theorie. Aus Fehlern lernen. Seelze. Menzel, W. (1999): Grammatik-Werkstatt. Theorie und Praxis eines prozessorientierten Grammatikunterrichts für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze-Velber. Merten, St. (2007): Grammatikunterricht. Woher er kommt, wohin er führt. Wirkendes Wort 1/2007, 119-127. Ossner, J. (2000): Die nächsten Aufgaben lösen, ‘ohne kleine Brötchen zu backen’. Bemerkungen zu Bernd Switalla: Grammatik-Notizen. In: Balhorn, H. / Giese, H. / Osburg, C. (Hrsg.): Betrachtungen über Sprachbetrachtungen. Grammatik und Unterricht. Seelze, 232-241. Schwenk, H. (1976): Welchen Sinn hat der Grammatikunterricht in der Schule? Diskussion Deutsch 29/1976, 211-227. Switalla, B. (2000): Grammatik-Notizen: In: Balhorn, H. / Giese, H. / Osburg, C. (Hrsg.): Betrachtungen über Sprachbetrachtungen. Grammatik und Unterricht. Seelze, 212-231. Zifonun, G. (1986): Eine neue Grammatik des Deutschen. Konzept zu Inhalt und Struktur. In: Zifonun, G. (Hrsg.): Vor-Sätze zu einer neuen deutschen Grammatik. Tübingen, 11-75. Zifonun, G. / Hoffmann, L. / Strecker, B. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin.