Sitzungen_Grammatikunterricht

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Boettcher/ Rothstein
VL Sprachreflexion
Wise 2009/10
Unterrichtskonzeptionen (und ihre geschichtlichen Hintergründe)
1. Formaler Grammatikunterricht
-
Es besteht ein indirekter Zusammenhang zwischen der historisch-vergleichenden,
altphilologisch
orientierten
Sprachwissenschaft
und
dem
formalen
Grammatikunterricht.
To have established the principles and methods used in setting up these, and other,
language-families, and, what is more important, to have developed a general theory of
language change and linguistic relationship was the most significant achievement of
nineteenth-century linguistic scholarship. (Lyons 1969:22)
-
-
Formaler Grammatikunterricht ist vorwiegend altsprachlich geprägt.
Er umfasst die Behandlung der Satz-, Wort- und Formenlehre in einer kleinschrittig
geplanten deduktiven Vorgehensweise.
Die Orientierung an den Methoden des altsprachlichen Unterrichts erklärt sich durch
die gemeinsame Anlegung von Deutsch- und Lateinunterricht im frühen 19.
Jahrhundert.
formbezogene Sprachanalyse
isolierte Vermittlung grammatischer Kategorien nach einer festgelegten Reihenfolge
der formale Grammatikunterricht beruht vor allem auf den Arbeiten von Karl
Ferdinand Becker, bei dem systematisch die deutsche Grammatik abgehandelt wird:
Der Satz ist als ein organisch gegliedertes Gebilde anzusehen. Wenn wir aber irgend ein organisches
Gebilde z.B. eine Pflanze betrachten wollen; so fassen wir es zuerst als eine ungetheilte Einheit auf. Wir
unterscheiden demnächst in dieser Einheit Wurzel, Stamm, Blüthe und Frucht als besondere Stufen
ihrer Entwicklung. Erst dann, wenn wir im Allgemeinen die Bedeutung der Wurzel, des Stammes, der
Blüthe und der Frucht als unterschiedener Entwickelungsstufen in dem Leben der Pflanze erkannt
haben, wenden wir uns zu der Betrachtung des Besonderen und beschränken uns nun z.B. auf die
Betrachtung des Kelches, der Blumenkrone, der Staubfäden u.s.s. als besonderer Organe der Blüthe.
Wir gelangen so stufenweise zu einer wahrhaften und lebendigen Erkenntnis der Pflanze in ihrer
organischen Gliederung, indem wir in der Pflanze zuerst die Natur und Bedeutung der Blüthe und dann
in der Blüthe die Natur und Bedeutung der Blumenkrone, der Staubfäden u.s.s. erkennen und verstehen.
Eben so müssen die besondern Verhältnisse der Sprache und ihre Formen aus dem Satze stufenweise
nacheinander und in einer solchen Ordnung hergeleitet werden, daß das Nachfolgende immer aus dem
Vorangehenden entwickelt wird. Die Anschauung des Gedankens muß der Anschauung der Begriffe
und ihrer Arten, die Anschauung der Begriffe der Anschauung ihrer Beziehungen, die Betrachtung des
Gedankens und der Begriffe der Betrachtung der Satzverhältnisse und die Betrachtung jedes
Satzverhältnisses im Allgemeinen der Betrachtung der besonderen Formen der Satzverhältnisse
vorangehen. Das Besondere muß immer als eine besondere Form des Allgemeinen aufgefaßt und als
solche aus dem Allgemeinen entwickelt werden z.B. aus dem Prädikate alle besonderen Arten und
Formen des Prädikates, aus dem Attribut die besonderen Formen desselben, aus dem Objekte die
mannigfaltigen Formen des ergänzenden und bestimmenden Objektes. (Becker 1833:31f.)
-
Nach Gornik (2003:816) ist ein solcher Grammatikunterricht nach wie vor „im
Unterricht […] irritierend präsent“.
-
Aufgabe:
Untersuchen Sie den abgedruckten Auszug aus dem Deutschbuch
Di@loge und stellen Sie dar, wie ein solcher Sprachunterricht wohl
Grammatikdidaktik
2
11. Formaler GU
aussieht. Welche Aufgabe hat die Lehrperson, welche Aufgaben haben
die Schüler?
Aus: Di@loge. Deutsch für berufliche Gymnasien. Troisdorf: Bildungsverlag eins, 314-315.
2. Operationaler Grammatikunterricht
2.1. Strukturalismus
-
ausgehend von Saussures Cours de linguistique générale
 Sprachsystem (langue) und Sprachgebrauch (parole).
 Es geht nicht um die konkrete Tätigkeit des Sprechens, sondern um die Sprache
selbst.
 Das Sprachsystem besteht aus einer gewissen Anzahl sprachlicher Zeichen, die in
syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zueinander stehen.
 Daher interessiert weniger das einzelne Zeichen, sondern die synchronen
Beziehungen der Zeichen untereinander.
 sprachliche Phänomene werden einheitlich nach formalen Prinzipien klassifiziert,
 Sätze werden auf die in ihnen auffindbaren syntagmatischen und paradigmatischen
Beziehungen zwischen den sprachlichen mit Hilfe von Segmentierungsverfahren
untersucht.
 Trennung zwischen Synchronie und Diachronie, die der Sprachdidaktik als
wissenschaftliche Legitimierung für die Abtrennung vom altsprachlichen Unterricht
diente.
 nicht länger das Regelsystem einer Sprache als Ausgangspunkt (z.B. Latein) für die
Beschreibung anderer Sprachen annimmt, sondern jede Sprache auf die ihr
eigentümlichen Phänomene untersucht.
 In Deutschland ist Hans Glinz Habilitationsschrift Die innere Form des Deutschen
die erste strukturalistisch orientierte Arbeit
 Die Übernahme des Strukturalismus in die muttersprachliche Schulgrammatik
erfolgte vor allem durch die Arbeiten von Glinz selbst.
Der Begriff des Strukturalismus, der schon innerhalb der Linguistik sehr unterschiedliche Konzeptionen
zusammenfaßt, ist dabei freilich etwas brüchig geworden. Gemeinsam ist den divergierenden
Bestrebungen nur der Gesichtspunkt, daß menschliche Äußerungen und Verhaltensweisen nicht als
isolierte Einzelerscheinungen betrachtet werden, sondern auf dem Hintergrund eines systematischen
Zusammenhangs, der ihre Struktur bestimmt. (Bierwisch 1966:78)
2.2. operationaler Grammatikunterricht




vom Strukturalismus abgeleitete Methode zur Analyse der muttersprachlichen
Grammatik nach u.a. Glinz (1968)
nach strukturalistischen Segmentierungsverfahren werden Sätze zerlegt und so
Wortarten und Satzglieder bestimmt.
Glinz’schen Proben: zum Beispiel die Weglass-, die Ersetzbarkeit- und die
Verschiebbarkeitsprobe.
Mit einher geht die Aufwertung des Schülers als kompetenten Sprecher der
erwachsenen Zielsprache:
Diese Veränderung [die Einführung der Glinz’schen Proben, B.R.] des meist noch traditionellen
Grammatikunterrichts hat aber langfristig – und eigentlich bis heute – eine Öffnung nicht nur für eine
Linguistisierung bewirkt, sondern auch für eine Anerkennung des Schulkindes als kompetenten Sprecher
bzw. Sprachteilhaber gesorgt – zumindest für den Bereich der Syntax, dem damals und wohl immer noch
dominanten Bereich der „Grammatik“ in der Schule. (Klotz 1996:18)

Kritik: die Anwendung der Proben ist nicht immer möglich:
(1)
*Sich fragt Peter.
4
-
Aufgabe:
Untersuchen Sie den abgedruckten Auszug aus dem Deutschbuch
Deutscher Sprachspiegel und stellen Sie dar, wie ein solcher
Sprachunterricht wohl aussieht. Welche Aufgabe hat die Lehrperson,
welche Aufgaben haben die Schüler?
5
Aus: Deutscher Sprachspiegel für Realschulen 1. Düsseldorf: Schwann. 1965, 102-105.
6
3. Funktionaler Grammatikunterricht
A functional approach to language means, first of all, investigating how language
is used: trying to find out what are the purposes that language serves for us, and
how we are able to achieve these purposes through speaking and listening, reading
and writing. But it also means more than this. It means seeking to explain the
nature of language in functional terms: seeing whether language itself has been
shaped by use, and if so, in what ways – how the form of language has been
determined by the function it has evolved to serve. (Halliday 1973:7)
In the Functional Paradigm, the basic assumption is that linguistic expressions are
not arbitrary objects defined by some formal calculus, but that their properties are
essentially codetermined by the semantic and pragmatic factors which play a
central role in human linguistic communication. The structure of the linguistic
instrument is judged to be at least in part explainable in terms of the conditions in
which, and the purpose for which it is put to use. (Dik 1993:369)
Aber: Verhältnis von Form und Funktion werden nicht immer ausreichend beachtet:
Die Funktion gilt Dik als Meister der Form, sie wird mit dieser konglomeriert
nach dem Grundsatz >Je mehr Funktion, desto weniger Form< (vgl. [Dik] 1983:
7ff.). Die Formbeschreibungen dienen vor allem als Folie für das Dranschreiben
dessen, was unter Funktion verstanden wird. Dieser Grammatiktyp interessiert
sich eher für die Darstellung bestimmter Sprachfunktionen an sich als für die
Beziehung zwischen Form und Funktion. (Eisenberg 1994:24)
Doppelperspektivik der Grammatik der deutschen Sprache (=Ids-Grammatik) von Gisela
Zifonun, Ludger Hoffmann und Bruno Strecker, eine (vgl. Zifonun et al. 1997:7).
Grundlegend für die Doppelperspektivik ist zum einen, das „Ensemble sprachlicher Formen
und Mittel […] zu erklären durch die kommunikativen Aufgaben und Zwecke im
Handlungszusammenhang“, zum anderen „die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks […]
aus den Bedeutungen seiner Teile auf der Basis ihrer syntaktischen Beziehungen“ zu ermitteln
(Zifonun et al. 1997: 8). Es geht demnach einmal um „Form und Pragmatik“ und das andere
Mal um „Form und Semantik“.
Diese Funktionalstruktur ist so einzurichten, daß der syntaktische Aufbau dem
Aufbau eines Aspektes der Satzbedeutung – dem wahrheitskonditionalen –
möglichst direkt entspricht. (Zifonun 1986:50-51)
Der funktionale Grammatikunterricht setzt bei der Funktion an:
Grammatische Formen haben durch ihre spezifischen instruktiven Funktionen und
ihren spezifischen kognitiven Gehalt immer auch eine besondere Funktionalität
für bestimmte Äußerungssituationen und Textsorten, weil sie entscheidend zur
sprachlichen Ökonomie und Prägnanz beitragen. Deshalb ist es eine wichtige
Aufgabe, die Funktionalität grammatischer Formen für bestimmte Textsorten
herauszuarbeiten und zugleich auf funktionsähnliche Sprachformen hinzuweisen.
(Köller 1997:32f.)
Nach Köller (1997) muss Grammatikunterricht folgende Prinzipien berücksichtigen:
7
Das Prinzip der Verfremdung:
Da die Schüler im Alter von 10-12 Jahren ein vorbewußtes Wissen von den
grammatischen Ordnungsformen ihrer Muttersprache haben und diese auch
praktisch beherrschen, müssen grammatische Phänomene verfremdet werden,
damit sie ihnen als diskutierbare Phänomene überhaupt erst begegnen können.
Das Prinzip der operativen Produktivität
Im Grammatikunterricht soll produktives Denken angeregt und praktiziert werden,
wenn auch reproduktives Denken realistischerweise nie völlig ausgeschlossen
werden kann. Produktives Denken lässt sich am besten über Operationen an der
Sprache auslösen (Umformungen, Streichungen, Ersetzungen usw.). Solche
operativen Verfahren fordern Schüler ständig auf implizite Weise auf, die
Ergebnisse ihrer Operationen kognitiv zu bewältigen. (Köller 1997:29)
Hinzu kommt das genetische Prinzip, nach dem die Schüler Einsichten in den
wissenschaftlichen Hintergrund der Beschreibungskategorien erhalten sollen. Die Frage nach
der Herkunft dieser Kategorien soll den Schülern beim Verstehen des Sachverhalts helfen.
Nach dem funktionalen Prinzip sollen Texte in den Grammatikunterricht einbezogen werden,
um den funktionalen Charakter und den „Werkzeugcharakter“ (Köller 1997:30) sprachlicher
Zeichen erkennen zu lassen.
Das integrative Prinzip überschneidet sich in vielen Hinsichten mit dem
funktionalen. Gleichwohl kann man es aber als eigenständiges Prinzip
hervorheben, weil sich mit ihm besonders klar darauf verweisen lässt, daß der
Grammatikunterricht didaktisch nur dann wirklich legitimiert werden kann, wenn
er immer wieder in umfassendere Fragestellungen integriert wird. Nur so lässt
sich der Funktionsbegriff wirklich konkretisieren und der Werkzeugcharakter
grammatischer Zeichen exemplifizieren. Das Spektrum solcher integrativen
Bezüge reicht auf verschiedenen Abstraktions- und Komplexitätsebenen von der
Sprachphilosophie und Systemtheorie über der Textinterpretation und
Textproduktion bis zur Sprachgeschichte und zum Sprachvergleich. (Köller
1997:31)
Der funktionale Grammatikunterricht erlaubt damit die Möglichkeit, auf das sprachliche
Wissen von Schülern zurückzugreifen und so zur Sprachreflexion anzuregen.
- Ausgegangen wird also nicht von den Kategorien selbst, sondern vom sprachlichen
Handeln.
- So stehen am Anfang der Sprachbetrachtung häufig verschiedene verbale
Realisierungsmöglichkeiten ein- und desselben Sachverhalts.
- Diese Möglichkeiten können miteinander verglichen und gegebenenfalls durch weitere
ergänzt werden.
- Erst dann werden die verwendeten Kategorien im Hinblick auf ihre unterschiedlichen
pragmatischen Funktionen untersucht.
o Klotz (1995:6) führt als Beispiel die Aufforderung an ein kleines Kind auf, ins
Bett zu gehen. Diese kann sehr unterschiedlich formuliert werden. Bekannte
Ausdrücke sind Bitte geh allmählich ins Bett, Ab ins Bett und Jetzt wird aber
sofort ins Bett gegangen! Dabei fallen verschiedene Funktionen auf.
Beispielsweise erlaubt das Passiv eine scheinbar nicht adressatenbezogene
Aufforderung.
8
4. Integrierter Grammatikunterricht
Der integrierter muttersprachliche Grammatikunterricht ist
- ein Kind des integrativen oder fächerübergreifenden Deutschunterrichts
- sucht in expliziter Schülerorientierung unter handlungsorientierten
Methoden die Abwendung vom traditionellen lehrerzentrierten
Deutschunterricht sucht
- verbindet auf Basis von inter- und intrafachlicher Ausrichtung mindestens
ein germanistisches Gebiet mit einem anderen Gebiet
- integrativen Pragmatikunterricht versucht, Themen der linguistischen
Pragmatik in den Unterricht zu importieren
So haben wir uns […] bemüht, den Anforderungen gerecht zu werden, die die
moderne Welt an das Sprachvermögen jedes einzelnen stellt. Es wurden wiederum
Situationen des alltäglichen Lebens in der Familie, der Freizeit, in der Schule und im
späteren Berufsleben ausgewählt. Daneben gibt es zahlreiche Themen, die dazu
beitragen sollen, Probleme des Schüleralltags sprachlich zu bewältigen: die Suche
nach Leitbildern, die Rechtfertigung für Versäumnisse oder die Beschreibung von
Experimenten im naturwissenschaftlichen Unterricht. (Die Herausgeber und Autoren
von Thema: Sprache. Sprachbuch Deutsch. 7. Schuljahr. Ausgabe A. Frankfurt:
Hirschgraben-Verlag 1979, 7.)
- integrierten Grammatikunterricht: Vermischung von Lerngegenstand
Grammatik mit anderem Lernbereich
Spätestens seit dem Aachener Germanistentag 1994 versteht sich die Germanistik
nicht länger als streng philologisch ausgerichtetes Fach, sondern betrachtet sich als
besondere Form der Kulturwissenschaft, die am kulturellen Gedächtnis der
Gesellschaft mitwirken möchte. Die Fachdidaktik Deutsch hat diesen entscheidenden
Richtungswechsel zum Teil im integrativen Deutschunterrichts rezipiert, in dem
entweder mehrere germanistische Teildisziplinen (etwa Grammatik und kreatives
Schreiben) oder verschiedene Schulfächer (Kunst und Deutsch) verbunden sind (vgl.
Klotz 2003; Bogdal 2001).
Der integrierte Grammatikunterricht lehrt Grammatik im Zusammenhang mit anderen
Unterrichtsstoffen. Entsprechend den Vorstellungen des situativen
Grammatikunterrichts wird Grammatik dann Unterrichtsthema, wenn Texte untersucht
werden und Grammatik Einsicht in Sprachgebrauch und Sprachverstehen stärkt. Im
Gegensatz zum situativen Grammatikunterricht sind nicht authentische
Unterrichtssituationen Katalysator für die Beschäftigung mit Grammatik, sie wird
vielmehr durch die Auswahl bestimmter Texte oder Sprechanlässe arrangiert. Zwar
wird dadurch die Behandlung eines grammatischen Kanons möglich, doch stellt sich
der integrierte Ansatz keiner wirklichen Abarbeitung eines bestimmten Inventars.
(Einecke 1995:58)
Der integrierte Ansatz soll helfen,
- Schülerwiderstände abzubauen,
- indem Transfererwartungen bei den Schülern aufgebaut werden (vgl.
Einecke 1995:10).
9
Gefahren sind:
Damit ist das Prinzip der Integration der Lernbereiche angesprochen und die
Frage, wie viel Integration dem Lernen zuträglich ist. In der Unterrichtspraxis ist
[…] zu beobachten, dass falsch verstandene Integrationskonzepte mit
Intransparenz einhergehen und damit das Lernen behindern. (Gross 2007:98)
Zweitens besteht die Gefahr, dass integrierter Grammatikunterricht ein
eigentlich versteckt systematischer ist oder die Grammatikarbeit an ein anderes
Thema angeschlossen wird, ohne eine wirkliche Verbindung beider Themen
herzustellen.
Einecke (1999): Phasenmodell zur Integration
1. Kontextuierung: Kerntext (Text, Szene, Situation) als Teil einer kurzen
Unterrichtssequenz präsentieren; zunächst die inhaltliche Seite thematisieren.
2. Fokussierung: bei genauerer Untersuchung des Textes, bei Verständigungsund Verstehensproblemen an inhaltlich, stilistisch oder grammatisch auffälligen
Stellen auf die sprachlichen Mittel hinlenken.
3. Beispiel: eine Textstelle aufgreifen, die das angezielte grammatische
Phänomen umfaßt und mehrere andere Textstellen repräsentiert = Beginn der
Operationen am Text.
4. Beobachtung/Reflexion: der sprachlichen, grammatischen Darstellungsmittel
und Beschreibung des Beobachteten: zur Form und Funktion; in der Regel im
Unterrichtsgespräch.
5. Isolierung: das grammatische Phänomen herausstellen; durch Vergleich,
Kontrastierung, Nachschlagen und Verknüpfung mit Bekanntem sowie durch
Operationen untersuchen: Ergänzungs-, Streich-, Austausch- und Umstellprobe,
Paraphrase, Klangprobe etc.
6. Systematisierung: Erweiterung des ersten Beispiels um andere parallele
Textstellen, analoge Beispiele; Ausschluß von Gegenbeispielen etc.; zur
Erkenntnis der Regelhaftigkeit; Bildung weiterer Fälle; Klassifizierung,
Generalisierung des Beobachteten.
7. Benennung: mit dem lat. Fachbegriff; ggf. Erläuterung des Fremdworts
(etymologisch, Rohübersetzung etc.); in der Regel durch die Lehrerin oder den
Lehrer.
8. Definition/Regel: Fixierung der Erkenntnisse in einem Merksatz,
definitorisch als Regel (Teilregel):
a) Begriff
b) Regel zur Bildung der Form
c) Regel zur Funktion des grammatischen Phänomens in Äußerungen
d) Beispiel (Satz – Grafik – Schaubild)
9. Reflexion/Rückblick:
Analyse
und
Betrachtung
der
Funktion/Rolle/Bedeutung des grammatischen Elements im Satz/Text/Kontext, in
der Verwendungssituation, d.h. auf den Kerntext zurückgreifende Synthese des
Form- und Inhaltsaspekts; vertiefendes Unterrichtsgespräch.
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10. Anwendung/Übung: an weiteren Textabschnitten, Beispielsätzen, Texten der
Unterrichtssequenz; untersuchen, selbst bilden, ermitteln, in Kontexte einbauen,
sprachlich im thematischen Rahmen der Sequenz gestalten ...; vielfältige
Übungen.
11. Kontrolle: Prüfung durch Anwendung (s. 10); Überprüfung der
Regelkenntnis durch Abrufen der Regel (8), der Benennung durch Zuordnung von
Fachbegriffen zu Textstellen (7), der Beobachtung durch Aufspüren
entsprechender Stellen in Texten (4), der Reflexion durch Erklärungen (9) etc.
5. Grammatikwerkstatt
5.1. Perspektiven der Grammatikwerkstatt
Menzel (1999) wendet sich gegen einen
- formal-systematischen Grammatikunterricht, der nur die Ergebnisse einer Grammatik
vermittelt
- situationsorientierten Grammatikunterricht, dem der wissenschaftliche Aspekt fehlt
und der die Sprache ausschließlich im Dienst der Kommunikation sieht
Menzel (1999) plädiert für eine Werkstatt, die
- wissenschaftspropädeutisch,
- genetisch (Rückführung in die Originalsituation/ Schülerinnen und Schüler entwickeln
selbst grammatikalische Kategorien),
- radikal induktiv (ohne Vorwissen) ist.
Wie auch immer ein Grammatikunterricht durchgeführt wird, er verdient seinen Namen erst,
wenn Schülerinnen und Schüler mit seiner Hilfe lernen, wie grammatische Kategorien zustande
kommen, welches ihre Funktionen sind und was Menschen tun, die eine Grammatik aufstellen.
Unter dieser Prämisse muss eine Schulgrammatik Folgendes leisten:
1. Sie muss den Lernenden Einsichten in den Bau der Sprache vermitteln,
also die Ordnung der sprachlichen Vielfalt zu Kategorien sichtbar
machen (sie muss systematisch sein).
2. Sie kann dies nur, wenn sie die Methoden zur Verfügung stellt und
erfahrbar macht, mit denen man zu Kategorien gelangt (sie muss induktiv
vorgehen).
3. Sie muss einsichtig machen, welche Rolle die zu ermittelnden Kategorien
in der Sprache selbst spielen; welche semantischen, textuellen und
kommunikativen Funktionen sie haben können – wenn sie denn welche
haben (sie muss funktional sein).
4. Sie kann dies nicht anders als im ständigen Wechselspiel von Arbeit an
Strukturen und an Inhalten oder Sprachsituationen, wobei sie bald von
der einen, bald von der anderen Seite der Sprache ausgeht bzw. da
hinführt (sie muss in diesem Sinne integrativ sein). (Menzel 1999:9)
-
Zur experimentierenden Arbeit bietet Menzel (1999) eine Reihe von Experimenten,
wie er sie nennt, an. Im Bereich der Sekundarstufe 1 schlägt er für Adjektive folgende
Übung vor:
manchmal, selten, zuweilen, gelegentlich, mitunter, oft, häufig, meistens, oftmals, wiederholt,
mehrmals, mehrmalig, immer, ständig, dauernd, fortwährend, andauernd, nie, niemals
(a)
(b)
Das _______________ Grinsen von ihm ging mir auf die Nerven.
Er grinste mich _______________ an.
Probiere der Reihe nach aus, in welche Lücke sich die Wörter einsetzen lassen!
(Menzel 1999:60)
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-
Lernziel dieses Experiments ist die Erkenntnis, dass die angebotenen Ausdrücke,
obwohl sie semantisch ähnlich sind, nicht allesamt in (a) einsetzbar sind: „Nur was
auch in (a) einsetzbar ist, nennen wir Adjektiv“ (Menzel 1999:59). Die Schüler
müssen damit durch Einsetzen entscheiden, welche Ausdrücke in welchem Satz
möglich sind.
-
Es wird demnach aus eigenem Handeln ein Grammatikverständnis entwickelt durch
folgende Möglichkeiten:
o Beobachtung des Regelhaften
o Beobachtung des Fehlerhaften
o Beobachtung des Anderen (Mundart...)
o Experimente mit Sprache – operationale
o über Sprache sprechen
o Rekonstruktion der Grammatik
Die Grammatikwerkstatt ist dabei prozessorientiert: Kategorien werden nicht eingeübt,
sondern aufgestellt
-
Anspruch
o Handlungsorientiertes Lernen
o Erfahrungsorientiertes Lernen
o Selbstständiges Lernen
o Schülerorientiertes Lernen
o Anwendungsorientiertes Lernen
5.2. Kritik an der Grammatikwerkstatt
- Die der Methode zugrunde liegenden Operationen stellen die Schüler vor beträchtliche
Schwierigkeiten.
o Sie können leicht überfordernd wirken.
o Sie setzen eine gewisse metasprachliche Kompetenz bereits voraus
o Sie setzen damit grammatisches Wissen und stilistisches Gespür voraus.
Menzel vertraut zu sehr auf die Selbsterklärung seiner Werkzeuge, die aber, wie schon
die Duden-Grammatik warnend erwähnt, nur in der Hand des Kundigen funktionieren.
(Ossner 2000:239)
-
Das Zusammenspiel von Inhalt und Funktion wird nicht ausreichend reflektiert,
sondern eher in Lückentexten abgearbeitet.
Das Bild der Grammatik-Werkstatt verleitet zu der Illusion, wir könnten die
sprachlichen Dinge wie eine zweite Art von Naturdingen behandeln, wir könnten
hierher die Form- und Struktureigenschaften der Sprache selbst kennen, wenn wir nur
die richtigen analytischen Operationen anstellen. (Switalla 2000:215)
-
kein Zusammenhang mit Sprachpraxis
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