01. 09. 2006 „Winston Churchills „Europäische Staatenorganisation“ - europäische Föderation oder Konföderation?“ Analyse und Kommentierung der Rede Winston Churchills am 19. 09. 1946 in Zürich Professor Dr. Martin Seidel Zentrum für Europäische Integrationsforschung an der Universität Bonn A. Analyse der Rede In seiner berühmt gewordenen Rede vom 19. 09. 1946 vor Studenten der Züricher Universität schlägt Winston Churchill zur Sicherung eines dauerhaften Friedens in Europa als Aufgabe der Nachkriegszeit die Errichtung einer „Europäischen Staatenorganisation“ vor. Churchill spricht, wenn auch nicht so unmissverständlich, wie ihm in den Mund gelegt wird, von den zukünftigen „Vereinigten Staaten von Europa“. Die Bezeichnung als „Vereinigte Staaten von Europa“ wird seit jeher dahin verstanden, dass die neue „Europäische Staatenorganisation“ nach Auffassung des ehemaligen britischen Premierministers ähnlich wie die „Vereinigten Staaten von Amerika“ verfasst sein sollte. Winston Churchill bezeichnet indes seine „Europäische Staatenorganisation“ bewußt in überaus präziser Weise als „eine Art von Vereinigten Staaten von Europa“. Auch bei dieser Umschreibung liegt indes eine Assoziation mit den Vereinigte Saaten von Amerika nahe. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind, obgleich ihre Bezeichnung „Vereinigte Staaten“ auf einen Staatenbund hindeutet, ein Bundesstaat. Als Bundesstaat (Föderation) haben die Vereinigten Staaten von Amerika sogar eine stärkere zentrale Ausprägung als die Bundesrepublik Deutschland, die ebenfalls kein Staatenbund, sondern ein Bundesstaat ist. Im englischen Sprachgebrauch „is the USA a state“, d.h. „ist“ (nicht „sind“) die Vereinigten Staaten von Amerika ein Staat. Winston Churchill nennt die USA die „große Republik jenseits des Atlantischen Ozeans“ und qualifiziert sie insoweit als einen Staat. Die Schweiz ist ungeachtet ihrer internationalen Kurzbezeichnung CH (Confederatio Helvetica) kein bloßer Staatenbund (confederatio), sondern ebenfalls ein Bundesstaat. Die Kurzbezeichnung CH stammt aus der Zeit vor 1848, zu der die Kantone der Schweiz noch eine Konföderation bildeten. Ähnliches gilt von der Bezeichnung „United States of America“. Aus der Rede ergibt sich eindeutig, dass dem ehemaligen britischen Premierminister nicht die Errichtung eines Bundesstaates vorschwebte. Winston Churchill ging es um eine „Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch soviel davon wie möglich“. Nicht einem europäischen Volk, einer europäischen Nation, sondern „der europäischen Völkerfamilie“ müsse „eine Struktur gegeben werden, in welcher sie in Frieden, in Sicherheit Professor Dr. jur. Martin Seidel, früherer Angehöriger des Bundesministeriums für Wirtschaft, langjähriger Bevollmächtigter der Bundesregierung in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, Mitglied der deutschen Delegation bei der Maastrichter Konferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion, Rechtsanwalt in Bonn. 2 und in Freiheit bestehen“ könne. Die Entstehung „einer Art von Vereinigten Staaten von Europa“ für die europäische Völkerfamilie, nicht deren Einbindung und Aufgehen in einem Bundesstaat, war sein Anliegen. Winston Churchill ging es um die Versöhnung der Völker Europas, nicht um deren Integration. Die Völker Europas miteinander zu verschmelzen und – als Voraussetzung für einen Bundesstaat – in einer integrierten Willens- und Schicksalsgemeinschaft, einer Art „Europäischen Nation“ aufgehen zu lassen, war zu jener Zeit für jedermann ein fernliegender Gedanke. Winston Churchill verkannte als Historiker und Politiker kaum die Probleme, die mit der Errichtung eines Bundesstaates Europa auf dem Kontinent verbunden sein würden. Er hätte sich mit ihnen auseinandergesetzt, ebenso wie er der Frage nachgegangen ist, ob die ihm vorschwebende „regionale europäische Organisation“, die für ihn nur ein Staatenverbund sein konnte, „auf irgendeine Weise mit der Weltorganisation der Vereinten Nationen in Konflikt geraten“ könnte. Hierauf gab er als Antwort, dass der „größere Zusammenschluß“ – gemeint waren die Vereinten Nationen – „nur lebensfähig bleibe“, wenn er sich auf eng verbundene „natürliche Gruppen“ stützen könne. Eine in der westlichen Hemisphäre bereits existierende „natürliche Gruppierung“ von Staaten, nämlich das britische Commonwealth of Nations, schwäche die Weltorganisation nicht, sondern stärke sie. Die neue „Grupppierung“ europäischer Staaten, an der Großbritannien seiner Vorstellung nach nicht teilhaben würde, würde vergleichbar dem britischen Commonwealth of Nations unter dem Dach der Vereinten Nationen diese stärken. Wenn Winston Chirchill überhaupt eine verfeinerte Organisationsstruktur vor Augen gehabt haben sollte, war für ihn das britische Commonwealth of Nations das Organisationsmuster. Das Commonwealth of Nations war selbst zu Zeiten seiner größten inneren Verbundenheit keine Föderation, es war ein reiner Staatenverbund, wenn auch sehr eigener Art. Dem ehemalige britischen Premierminister war klar, dass ein europäischer Bundesstaat, dem Großbritannien nicht angehören würde, anders als ein bloßer Staatenverbund, zu einer imperialen Übermacht erstarken könnte. Der britischen Politik ging es seit jeher um das Gleichgewicht der Staaten und Völker auf dem Kontinent. Ein loser Verbund der Staaten, die in den Jahren zuvor Kriegsgegner waren, würde die traditionelle Rolle sichern, die Großbritannien auf dem Kontinent zu spielen gewohnt war. Der Verbund würde es der britischen Politik weiterhin ermöglichen, das Gleichgewicht der Staaten des Kontinents untereinander und ihres gemeinsamen „Konzerts“ zu Großbritannien zu sichern. Als Bundesstaat würde sich der Kontinent nur als solcher präsentieren. Ein Staatenbund würde auch ausreichen, um - zu Gunsten Großbritanniens - den vorherrschenden Einfluß der Vereinigten Staaten von Amerika, der durch den zweiten Weltkrieg entstanden war, einzudämmen und auch die UdSSR in Schach zu halten. Mit einer übermäßigen äußeren Machtentfaltung der „Europäischen Staatenorganisation“ als bloßer Staatenverband war nicht zu rechnen. Selbst ein Bundesstaat, der intern durch übergewichtige und mächtige staatenbündische Fesseln in seiner Machtentfaltung nach außen gehemmt wäre, kam für die „Vereinigten Staaten Europas“ nach der britischen Interessenlage nicht in Betracht. Die Winston Churchill mehr als manchen anderen bekannte jüngste Geschichte Europas ließ überdies 1946 kaum den Gedanken aufkommen, dass sich die Völker Europas in naher Zukunft stärker vereinigen könnten, als es dem ehemaligen britischen Kriegspremierminister – unter einer gemeinsamen Führerschaft zwischen einem versöhnten Frankreich und Deutschland innerhalb einer Konföderation – immerhin visionär möglich erschien. In den vergangenen 60 Jahren ist – unter Einbeziehung Großbritanniens – die Europäische Union mit einer Struktur entstanden, die den Vorstellungen Winston Churchills gerecht wird. Die 1958 (1952) gegründete Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft bzw. die mit dem Vertrag von Maastricht 1993 geschaffene Europäische Union ist ein Staatenbund, und selbst nach dem noch nicht in Kraft getretenen Vertrag über eine Verfassung für Europa kein Bundesstaat. Sie 3 weist allerdings, vornehmlich innerhalb ihres sog. ersten Pfeilers, der Europäische Gemeinschaft, abweichend von dem klassischen Modell des Staatenbundes supranationale Ausprägungen auf. Ihre supranationalen Ausprägungen qualifizieren die Europäische Union als geeignetes Fundament für ihre Umwandlung in einen zukünftigen Europäischen Bundesstaat. B. Kommentar zur Rede I „United Nations of Europe“ – die Europäische Union als Staatenbund Die Europäische Union, insbesondere auch die Europäische Gemeinschaft, übt aufgrund der ihr übertragenen Hoheitsbefugnisse eine eigene Hoheitsgewalt aus. Sie leitet ihre Hoheitsgewalt indes ihrer Herkunft und der Legitimation nach nicht von einer europäischen Bürgerschaft oder Nation, sondern von den Mitgliedstaaten ab. Träger der Unions- und Gemeinschaftshoheit sind die in einem Verbund miteinander stehenden Mitgliedstaaten, und nicht, wie in einem Staat, die Organe der Europäischen Union. Die Unionsbürger stehen als Bürger der Mitgliedstaaten ausschließlich gegenüber diesen in einem Schutz- und Gehorsamsverhältnis. Nicht die Europäische Union, sondern die Mitgliedstaaten sind den Bürgern - auch in deren Eigenschaft als Unions- und Marktbürger - für alles Geschehen verantwortlich, das von ihnen und von der Union ausgeht. Die höchste Loyalität der Bürger gilt nach wie vor nicht der Europäischen Union, sondern den jeweiligen Mitgliedstaaten. Die Struktur der Europäischen Union als Staatengemeinschaft, namentlich die Struktur der Europäischen Gemeinschaft als deren erster Pfeiler, zeigt sich darin, dass ungeachtet der von Regierungskonferenz zu Konferenz zunehmenden Stärkung des Europäischen Parlaments nach wie vor primär Träger der politischen Beschlußfassungs- und Rechtsetzungshoheit der Rat der Europäischen Gemeinschaft ist. Das Europäische Parlament reflektiert seinerseits als sog. unitarisches Organ der Europäischen Union die Grundstruktur der Europäischen Union als Konföderation. Es ist seit seiner Errichtung 1958 (1952) ungeachtet seiner späteren Umbenennung von „Versammlung“ in „Parlament“ unverändert eine Versammlung von Gruppen nationaler Abgeordneter. Die Abgeordneten repräsentieren weder ein Europäisches Volk noch eine Europäische Nation noch eine „Europäische Bürgerschaft“ („Civitas Europaea“), sondern vertreten jeweils die Bevölkerung in den Ländern, in denen sie gewählt werden. Das Europäische Parlament ist im Einklang mit der Grundstruktur der Europäischen Union als Staatenbund eigener Art (sui generis) seiner Grundstruktur nach - intergouvernemental (staatenbündisch), nicht supranational verfaßt. Die Änderung seiner Verfassung, zu der die Einführung der Direktwahl der Abgeordneten 1979 geführt hat, hat sich darauf beschränkt, dass die Abgeordneten nicht mehr von den nationalen Parlamenten in das Europäische Parlament delegiert, sondern in ihrem Land jeweils direkt gewählt werden. Die Struktur des Europäischen Parlaments weist zwar als Folge der direkten Wahl der Abgeordneten unbestreitbar eine supranationale Ausprägung auf, hat sich aber durch den Übergang zur direkten Wahl nicht grundlegend geändert. Des weiteren ist der „Grundsatz der demokratischen Gleichheit der Bürger und Bürgerinnen“, den der Vertrag über eine Verfassung für Europa expressis verbis festschreibt, nach geltendem Recht bei der Wahl zum Europäischen Parlament, und damit im „demokratischen Leben der Union“ nicht gewährleistet.1 Auf die Mitgliedstaaten entfallen Abgeordnetenkontingente, deren Größe sich nicht proportional an der Bevölkerungszahl orientiert, sondern mit abfallender Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten relativ zunimmt. 1 Gemäß Artikel 44 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 2 des Verfassungsentwurfs bleibt der derzeitige Rechtszustand , d.h. die fehlende Gleichheit der Bürger und Bürgerinnen bei der Wahl zum Europäischen Parlament auch in Zukunft unverändert bestehen. 4 Das Kontingentssystem hat zur Folge, dass bei der Wahl zum Parlament - anders als dezentral auf der jeweiligen nationalen Ebene - auf der europäischen Ebene die Gleichheit des Wahlrechts der europäischen Bürger und Bürgerinnen nicht gewährleistet ist. Die Gleichheit des Wahlrechts ist nicht zu verwechseln mit der Einheitlichkeit des Wahlverfahrensrechts in den Mitgliedstaaten, die ebenfalls nicht gewährleistet ist. Die Stimmen der Bürger und Bürgerinnen der Europäischen Union haben bei den Wahlen zum Europäischen Parlament je nach ihrer Nationalität bzw. ihres Wohnsitzes in der Europäischen Union bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht das gleiche (Zähl-)Gewicht. Der Zählwert ihrer Stimmberechtigung ist von höchst unterschiedlichem Gewicht. Der in Malta wohnhafte Bürger der Union (Malteke oder gebietsansässiger EU-Bürger anderer Nationalität., beispielsweise ein Franzose), ist im Europäischen Parlament zehn Mal besser vertreten als der in Frankreich wahlberechtigte EU-Bürger (Franzose oder in Frankreich wohnhafter EUBürger anderer Nationalität, beispielsweise ein Malteke). Entsprechende Relationen, wenn auch nicht gleich große, bestehen zwischen der Wahlberechtigung der EU-Bürger aller anderen Mitgliedstaaten, je nachdem in welchem Mitgliedstaat die Unionsbürger wahlberechtigt sind. Je größer das Verhältnis der Mitgliedsländer zueinander ist, um so größer sind bei der Wahl zum Europäische Parlament die Diskrepanzen des Stimmgewichts ihrer Bürger. Das gleiche Wahlrecht ist ein fundamentales demokratisches Grundrecht. Jedes Mehrklassen- oder Mehrvölkerwahlrecht wirft die Frage auf, ob es den Anforderungen von Parlamentarismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerecht wird.2 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa greift die Frage einer Änderung der derzeitigen Rechts- und Verfassungslage nicht auf. Er erteilt im Gegenteil der Herstellung der Gleichheit des Wahlrechts eine klare Absage, indem er festlegt, dass die „Mitglieder des Europäischen Parlaments zwar (Verfasser) in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl“ gewählt werden, aber nicht zugleich vorsieht, dass sie auch in „gleicher Wahl“ gewählt werden. An anderer Stelle verdeutlicht der Vertrag die Absage, indem er expressis verbis vorschreibt, dass die „europäischen Bürger und Bürgerinnen im Europäischen Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch mit vier Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten“ sind. Maßgeblicher Grund für das derzeitige System der Repräsentation im Europäischen Parlament ist der Anspruch der Mitgliedstaaten auf eine angemessene Vertretung ihrer Bevölkerung im Europäischen Parlament. Dieser Anspruch ist mit der Gleichheit des Wahlrechts indes nicht vereinbar; allenfalls unter ganz besonderen Bedingungen ist er mit ihr in Einklang zu bringen. Würden unterschiedlich bevölkerungsreiche Regionen oder unterschiedlich großer Bevölkerungsgruppen einen Anspruch auf „angemessene“ Vertretung im Europäischen Parlament geltend machen, würde der gleiche Einwand gelten. Ein demokratisches Parlament ist nicht dazu berufen, Ansprüchen auf angemessene Vertretung bestimmter wahlberechtigter Gruppierungen, nicht einmal dem Anspruch vereinzelter nationaler Minderheiten auf „angemessene Vertretung“ Rechnung zu tragen. Auf dezentraler Ebene, beispielsweise für die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag von Schleswig Holstein mag eine „angemessene Vertretung“ für den Fall einer kleinen Minderheit durch einen Abgeordneten ausnahmsweise möglich sein. Im Rahmen eines mehrere Völker umfassenden politischen Gemeinwesens, wie sie die Europäische Union darstellt, beansprucht jedoch der jeweils kleinere Mitgliedstaat gegenüber dem im Vergleich zu ihm größeren 2 Das hierin liegende Demokratiedefizit der Europäischen Union erklärt sich daraus, dass der Art und Weise, wie das Europäischen Parlament verfaßt ist, historisch im Kern die Konzeption einer Versammlung von Vertretern gleichberechtigter Mitgliedstaaten zugrunde liegt. Eine Versammlung von Vertretern gleichberechtigter Mitgliedstaaten beruht auf dem – völkerrechtlichen – Grundsatz gleicher Teilhabe, zumindest abgestufter Teilhabe der Mitgliedstaaten an der Ausübung der Gemeinschaftsgewalt. Eine Staatengemeinschaft braucht dem – staatsrechtlichen – Grundsatz der gleichen Teilhabe der Bürger an der Ausübung der Hoheitsgewalt, der mit dem Grundsatz gleicher Teilhabe der Mitgliedstaaten bei deren unterschiedlichen Größe zwangsläufig kollidiert, nicht Rechnung zu tragen. 5 Mitgliedstaat eine „angemessene Vertretung“. Bei dieser Sachlage läßt sich das Prinzip der „angemessenen Vertretung“ nicht verwirklichen, ohne dass die Wahlrechtsgleichheit relevant mißachtet wird. In einem quasi staatlichen Gemeinwesen, das wie die Europäische Union aus mehreren Völkern besteht, kann die „angemessene Vertretung“ der Bevölkerung kleinerer Mitgliedstaaten, genauer der „Schutz“ ihrer Identität und ihrer nationalen Interessen, sofern dieser anerkennenswert erscheint, nur in der Gestalt einer Staatenkammer als zweites, dem Europäischen Parlament gleichgeordnetes oder übergeordnetes Gesetzgebungsorgan, gewährleistet werden. Eine angemessene Mitsprache und Mitwirkung der kleinen und kleineren Mitgliedstaaten bei der Gesetzgebung und politischen Beschlußfassung auf der Ebene der Europäischen Union kann, wie zu zeigen ist, im Rahmen einer Staatenkammer durchaus - sogar wirksamer als innerhalb des Europäischen Parlaments - gesichert werden. Die staatenbündische Struktur der Europäischen Union zeigt sich des weiteren auch in dem Verfahren der Bestellung der Mitglieder ihrer sog. unitarischen Organe. Die Mitglieder der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs werden nicht von anderen Organen der Europäischen Union, insbesondere nicht vom Europäischen Parlament, sondern einvernehmlich von den Mitgliedstaaten bestellt. Der Staatenbund zeigt sich ferner darin, dass die durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelten Grundrechte der Europäischen Union - und das gleiche gilt von dem Grundrechten des Vertrages über eine Verfassung für Europa - ausschließlich gegenüber der Unionsgewalt freiheitssichernde Wirkungen entfalten. Die Grundrechte binden - anders als in der Regel die Grundrechte eines Bundesstaates – zusätzlich die Mitgliedstaaten nicht schlechthin, sondern nur in den Bereichen, in denen diese in Ausübung bzw. zur Durchführung von Unions- und. Gemeinschaftsrecht tätig werden. Soweit die Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Hoheitsgewalt tätig sind, die ihnen nicht gebunden durch Unions- oder Gemeinschaftsrecht verblieben sind, entfalten sie gegenüber den Mitgliedstaaten keinerlei Wirkung. Diese Einschränkung hat beträchtliche Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz, den die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft an sich gewährt. Die Unionsbürger sind im Falle einer Beeinträchtigung grundrechtlich schutzwürdiger Interessen durch einen Mitgliedstaat, sofern dieser wie beispielsweise bei einer Enteignung im Rahmen seiner eigenen Hoheitsrechte handelt, auf den Grundrechtsschutz angewiesen, den die Verfassung dieses Mitgliedstaates gewährleistet. Bei Eingriffen in ihre Rechts- und Interessensphären, die von polizeilichen Maßnahmen der Mitgliedstaaten beispielsweise beim Grenzübertritt ausgehen, können die Unionsbürger nicht die Instanzen der Europäischen Union, insbesondere nicht den Europäischen Gerichtshof anrufen. II. Supranationale Ausprägungen der Europäischen Union Die Europäische Union, vornehmlich die Europäische Gemeinschaft, weist indes aufbauend auf ihrer Grundstruktur als Staatengemeinschaft beachtliche überstaatliche Ausprägungen auf. Der Europäischen Gemeinschaft sind zur Errichtung und Sicherung des Gemeinsamen Marktes und darüber hinaus zur Gestaltung einer Vielzahl anderer Tätigkeiten – nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung - umfassende Rechtsetzungs- und Verwaltungsbefugnisse übertragen. Die Ausübung dieser Befugnisse erfolgt nicht, wie es bei gewöhnlichen Staatengemeinschaften der Fall ist, nach Maßgabe der Regeln des Völkerrechts. Jegliche Rechtsetzung und jegliches Verwaltungshandeln der Europäischen Union hat – vergleichbar den Verhältnissen in einem bundesstaatlichen Gemeinwesen – Vorrang vor der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten. Die Rechtsetzung durch das Europäische Parlament und den Rat als Unionsgesetzgeber und das Verwaltungshandeln der Kommission, beispielsweise im Bereich der Subventionsaufsicht, vollziehen sich gegenüber den Mitgliedstaaten im Rahmen einer Überordnung der Europäischen Union und einer 6 Unterordnung der Mitgliedstaaten. Die Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaft beruht nicht auf dem Modell der völkerrechtlichen Gerichtsbarkeit. Sie entfaltet sich wie eine staatliche Gerichtsbarkeit im Verhältnis zu den Unionsbürgern und vor allem im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten wie die Rechtsetzung und Verwaltungshoheit im Wege der Überordnung und Unterordnung. Die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ als zweiter Pfeiler der in Maastricht gegründeten „Europäischen Union“ und die „Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Innen und Justizpolitik“ als dritter Pfeiler sind intergouvernemental organisiert. In diesen Bereiche der Europäischen Union sind keine vergleichbaren überstaatlichen Ausprägungen zu verzeichnen. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde von Regierungskonferenz zu Regierungskonferenz mit nur geringen Erfolgen versucht, im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Innen- und Justizpolitik die Aufgaben der Europäischen Union aus Gründen eines stärkeren Integrationsgrades in das Kompetenz- und Entscheidungssystem der Europäischen Gemeinschaft, das sog. „Gemeinschaftssystem“, zu überführen, insbesondere auch die Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaft auf diese Bereiche zu erstrecken. Von Regierungskonferenz zu Regierungskonferenz vollzieht sich indes im Gegenteil eine gegenläufige Entwicklung, die darin besteht, dass, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit und der Fachwelt, die supranationalen Strukturelemente der Europäischen Gemeinschaft kontinuierlich eingeebnet oder bei der Erstreckung des „Gemeinschaftssystems“ auf andere Bereiche nicht übernommen werden. Seit langer Zeit wird außerdem seitens der Mitgliedstaaten die Rückverlagerung von Kompetenzen der Europäischen Union auf die Mitgliedstaaten gefordert. Die Forderung wird erboten, obgleich an sich zur Bewältigung der Aufgaben, die mit der Erweiterung und den Herausforderungen von außen auf die Europäischen Union zukommen, statt einer Reduzierung der Aufgaben der Europäischen Union dieser in beträchtlichem Ausmaß weitere Kompetenzen übertragen werden müßten. Die Europäische Union scheint nicht mehr als eine Vorstufe zu einem Bundesstaat verstanden zu werden. Die Geldpolitik wurde auf der Konferenz von Maastricht nicht ausschließlich der Europäischen Zentralbank als einer neu gegründeten unitarischen Institution der Europäischen Union, sondern einem „Europäischen System der Zentralbanken“ überantwortet. Das „Europäische System der Zentralbanken“ ist als Verbund der nationalen Zentralbanken staatenbündisch organisiert. Die Europäische Zentralbank gehört zwar ihrerseits ebenfalls dem „Europäischen System der Zentralbanken“ als dessen weiterer „integraler Bestandteil“ an, im Rat der Gouverneure, dem leitenden Organ sowohl des „Europäischen System der Zentralbanken“ als auch der Europäischen Zentralbank selbst, haben indes die Präsidenten der nationalen Zentralbanken das absolute Übergewicht und bei der Beschlußfassung, die mehrheitlich erfolgt, das Sagen. Einem Staatenbund können nur in begrenztem Umfang staatliche Aufgaben übertragen werden. Das gilt für Gesetzgebungsbefugnisse, deren Ausübung auf europäischer Ebene eine demokratische Legitimation erfordert, vor allem aber für Befugnisse der Besteuerung der Bevölkerung. Die Europäische Union wird entsprechend ihrer Grundstruktur nach als Staatenbund nicht durch Steuern, sondern ausschließlich, ungeachtet ihrer fälschlichen Bezeichnung als „Eigenmittel“, durch - verschleierte - Matrikularbeiträge der Mitgliedstaaten, finanziert. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, durch den kein europäischer Bundesstaat errichtet, vielmehr lediglich das derzeit geltende Organisationsstatut der Europäischen Union als Staatenverbund, wenn auch nicht unwesentlich, verändert wird, sieht die Übertragung einer Steuerhoheit auf die Europäische Union ebenfalls nicht vor. Als einer Staatengemeinschaft kann zwar der Europäischen Union, wie bereits im Vertrag von Rom vorgesehen, aus Gründen gleicher Wettbewerbsbedingungen für die Teilnahme am 7 Wirtschaftsleben, ebenso auch aus Gründen einer einheitlichen Bemessungsgrundlage für die Abführung von Matrikularbeiträgen die Befugnis zur Angleichung der indirekten Steuern, in bestimmtem Ausmaß auch der direkten Steuern der Mitgliedstaaten überantwortet werden. Wegen der mit ihrer Ausübung verbundenen Verteilungswirkungen zwischen den Bevölkerungsgruppen innerhalb der Mitgliedstaaten und zwischen den Mitgliedstaaten kann dagegen der Europäischen Union mangels ausreichender zentraler parlamentarischer und demokratischer Legitimierung eine eigene Steuerhoheit weder im Bereich der indirekten noch der direkten Besteuerung überantwortet werden. Entscheidungen des europäischen Steuergesetzgebers bedürfen einer ausreichenden Akzeptanz in der Bevölkerung aller Mitgliedstaaten, die nur gewährleistet ist, wenn sie von einem echten demokratischen Parlament - zusammen mit einer Staatenkammer – verantwortet werden. III. Umwandlung der Europäischen Union in einen Bundesstaat - „United Europe“ Die Angst vor einer Umwandlung der Europäische Union in einen Bundesstaat scheint groß zu sein. Aus dem Vertrag über eine Verfassung für Europa ergeben sich eben so wenig wie aus den früheren Regierungskonferenzen Ansätze für einen dahingehenden Umwandlung der Organisationsstruktur der Europäischen Union. Die Ergebnisse der Regierungskonferenzen von Luxemburg, Maastricht, Amsterdam und Nizza lassen keinen Zweifel aufkommen, dass der Staatenbund noch auf Dauer die Organisationsform der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaft bleiben wird. Keinem Mitgliedstaat schwebt zumindest zur Zeit die Umstrukturierung der Europäischen Union von einem Staatenbund in einen Bundesstaat, sei es auch nur in einen partiellen Bundesstaat, als eine realistische Perspektive vor. Nicht „United Europe“, sondern „United Nations of Europe“ war die Zielvorstellung der Regierungskonferenzen der Vergangenheit und wird vor allem auch für die neuen Mitgliedstaaten das Ziel jeglichen weiteren Ausbaus der Europäischen Union sein. Ohne eine gewissere Reform im Sinne eines Übergangs zumindest zu einem partiellen Bundesstaat werden indes auch weitere Reformschritte der Europäischen Union vermutlich nicht ausreichen, um die Handlungsfähigkeit der Union nach innen und außen zu gewährleisten. Bereits die anvisierte Einrichtung einer integrierten Grenzaufsicht der Europäischen Union erfordert ebenso - wie auch die Ausstattung von Europol mit echten polizeilichen Befugnissen - den partiellen Bundesstaat. Die mit Eingriffsbefugnissen verbundene Tätigkeit solcher Behörden der Europäischen Union kann nicht über 27 nationale Parlamente legitimiert und kontrolliert werden. Eine integrierte und eine integrierte polizeiliche Ordnungsmacht erfordern eine gestufte eigene Verwaltung der Europäischen Union, Fachschulen und berufliche Bildungsstätten und eine parlamentarisch verantwortliche Verwaltungsspitze bzw. Regierung. Die französische Regierung hat vor einiger Zeit der Perspektive einer Umwandlung der Europäischen Union in einen Bundesstaat (Föderation) eine Absage erteilt. Gleichzeitig hat sie jedoch die Einrichtung einer Grenzaufsicht der Europäischen Union und den Ausbau vom Europol befürwortet. IV. Die Bundesstaatlichkeit als verfassungsrechtliches Denkmodell Bundesstaatlichkeit der Europäischen Union bedeutet nicht Allzuständigkeit der Europäischen Union, im Sinne der Allzuständigkeit des traditionellen Nationalstaats. Sie bedeutet eine 8 bestimmte, ausschließlich zentrale, wenn auch von den Mitgliedstaaten in einer Staatenkammer mitgetragene Organisationsstruktur für die Wahrnehmung der Kompetenzen, die der Europäischen Union überantwortet sind. Die bundesstaatliche Organisationsstruktur kann sich auf eine einzelne Kompetenzen beschränken, beispielsweise auf die Kompetenzen zur Gestaltung des Gemeinsamen Marktes und der Wirtschafts- und Währungsunion. Die derzeit primär bündische Organisationsstruktur Europäischen Union gewährleistet ihre Handlungsfähigkeit im Bereich aller ihr übertragenen Kompetenzen nur begrenzt. Sie gewährleistet vor allem nicht die zentrale Legitimierung der Ausübung der Unionshoheit. Dem Übergang zur Beschlußfassung mit Mehrheit sind im Rahmen einer rein bündischen Organisationsstruktur immanente Grenzen gezogen. Zu dieser Erkenntnis hat nicht erst die Regierungskonferenz von Nizza geführt. Auf der Konferenz von Nizza stand zwar der weitere Übergang zu Mehrheitsentscheidungen auf der Tagesordnung, verhandelt wurde aber über den Ausbau der Blockademacht potentiell überstimmbarer Mitgliedstaaten, nicht dagegen über den Ausbau der Gestaltungsmacht integrationsbereiter Mitgliedstaaten. Auch der Vertrag über eine Verfassung für Europa sieht eher bescheidene Fortschritte beim Übergang zur Beschlußfassung mit - nunmehr doppelter - Mehrheit vor. V Ausbauschritte und „road map“ für den Ausbau des Bundesstaates 1. Umstrukturierung des Europäischen Parlaments Die Umwandlung des Europäischen Parlaments in ein echtes Parlament, dessen Abgeordnete auf der Grundlage gleichen Wahlrechts gewählt werden und die „Civitas Europaea“ als solche repräsentieren, wäre der erste Ausbauschritt. Sie würde den Einstieg in einen Bundesstaat erleichtern. Die Umwandlung des Europäischen Parlaments im Sinne einer echten Repräsentation aller Bürger und Bürgerinnen wäre erleichtert, wenn innerhalb der zweiten Gesetzgebungskammer die „angemessene Vertretung“ der kleinen und kleineren Mitgliedstaaten besser als derzeit im Europäischen Parlament gewährleistet wäre. Die Umwandlung des Europäischen Parlaments könnte auch erfolgen, ohne dass zuvor die Europäische Union als solche in voller Breite in einen Bundesstaat umgestaltet zu werden braucht, beispielsweise eine belastungsneutrale Aufteilung der Steuerhoheit zwischen der Europäische Union und den Mitgliedstaaten erreicht ist. Ein demokratisches Europäisches Parlament erfordert entgegen einer landläufigen Annahme nicht den Nachweis eines europäischen Volkes oder die Entstehung einer europäischen Nation. Die – zunächst fiktive - Konstituierung aller Bürger und Bürgerinnen der Union zu einer europäischen Bürgerschaft im Sinne eine Willens- und Schicksalsgemeinschaft reicht für die Umwandlung aus. Fraglich kann lediglich sein, ob nicht das Funktionieren eines echten europäischen Parlamentssystems unterhalb des Parlaments Institutionen, Gegebenheiten und Bedingungen in Form eines integrierten gesellschaftlichen Systems der Abklärung und des Ausgleichs von Interessen, einer integrierten öffentlichen Meinungsbildung und vor allem eines integrierten Parteiensystems unerlässlicherweise voraussetzt. Diese Vorbedingungen für ein zufriedenstellendes Wirken eines europäischen Parlamentssystems - sog vorrechtliche Funktionsbedingungen - können weder vom Gesetzgeber der Europäischen Union dekretiert noch durch Akte der Verfassungsschöpfung installiert werden. Sie müssen auf der Ebene der Gesellschaft durch politischen Diskurs und durch die Aktivitäten der Zivilgesellschaft geschaffen werden. Der Gemeinschaftsgesetzgeber und der Verfassungsvertragsgesetzgeber können aber, indem sie die Rechts- und Verfassungsordnung der Europäischen Union entsprechend ausgestalten, in mannigfacher Weise, beispielsweise durch die Liberalisierung der nach wie vor verkrusteten nationalen Kommunikationssysteme, in Ausübung ihrer Befugnisse zur Rechtsetzung dazu beitragen, 9 dass sich die sog. vorrechtlichen Funktionsbedingungen unter erleichterten Bedingungen herausbilden können. Die Gleichheit des Wahlrecht führt dazu, dass die Abgeordneten die Unionsbürger entweder als Repräsentanten ihres Wahlkreises oder als Repräsentanten der Gesamtheit der „Civitas Europaea“ als einer Willens- und Schicksalsgemeinschaft im Europäischen Parlament vertreten. Die zur Zeit noch bestimmende intergouvernementale Grundstruktur des Europäischen Parlaments wäre durch eine neue Struktur ersetzt, ohne dass die Struktur der Europäischen Union als solche total umgewandelt, insbesondere der befürchtete, den Rubikon überschreitende Einstieg in den Bundesstaat United Europe damit verbunden wäre. Verschiedene Elemente der derzeitigen Verfassung der Europäischen Union - wie die Mehrheitsentscheidung, der Vorrang des Rechts der Europäischen Union vor der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten und die Überordnung der europäischen Gerichtsbarkeit über die nationale Gerichtsbarkeit - qualifizieren die Europäische Union bereits seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 unangefochten als eine in ihrer Art einzigartige überstaatliche Organisation, die sich durch ihre teilweise supranationale Ausprägung von einem klassischen Staatenbund wesentlich unterscheidet und Züge einer bundesstaatlichen Struktur aufweist. Das Europäische Parlament kann zwar seinen Status nicht autonom ändern, insbesondere die das gleiche Wahlrecht nicht ohne den Verfassungsgesetzgeber einführen. Die Mitgliedstaaten ihrerseits haben die Umstrukturierung des Europäischen Parlaments bislang nicht auf die Tagesordnung einer der vielen Regierungskonferenzen gesetzt. Für sie wäre die Umwandlung in gewisser Hinsicht mit einer Einbuße ihrer uneingeschränkten Herrschaftsstellung verbunden, die sie möglicherweise befürchten. Das Europäische Parlament hat sich seinerseits bislang hauptsächlich auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs seiner Mitwirkungsrechte im Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union beschränkt, der jedoch, nicht zuletzt mangels seiner Umstrukturierung zu einem echten Parlament, von Konferenz zu Konferenz erkennbar Grenzen gesetzt sind. Eine Entschließung des Europäischen Parlaments, mit der das Europäische Parlament im Sinne eine weiteren demokratischen Ausbaus der Europäischen Union seine Umstrukturierung vorschlägt, wäre indes für die Mitgliedstaaten als vertragliche Verfassungsgeber der Europäischen Union eine Vorgabe, an der er kaum vorbeigehen könnte, zumal die europäische Öffentlichkeit sensibilisiert wäre. Dem Europäischen Parlament müßte daran gelegen sein, dass sich mit einer entsprechenden Änderung seiner Struktur die Legitimation seines Wirkens erheblich verstärkt. Den „Schutz“ der kleinen und kleineren Mitgliedstaaten, der nach der Einführung der Gleichheit des Wahlrechts und der Umstrukturierung des Europäischen Parlaments durch das Europäische Parlament nicht mehr ausreichend „gewährleistet“ wäre, wäre von einer Staatenkammer als zweitem Gesetzgebungsorgan zu übernehmen. Er ließe sich sogar in der Staatenkammer in verbesserter Weise verankern, als er derzeit im Europäischen Parlament verankert ist. Die Staatenkammer, die aus dem Ministerrat hervorgehen und gleichberechtigt, wenn nicht gegenüber dem Europäischen Parlament sogar übergeordnet, neben dem Europäischen Parlament stehen würde, hätte in allen Funktionsbereichen der Europäischen Union ein Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrecht, wobei die Mitgliedstaaten gleiche bzw. je nach Funktionsbereichen abgestufte Stimmen hätten. Um „fundamentale Interessen“ der Mitgliedstaaten, insbesondere der kleinen und kleineren Mitgliedstaaten zu „schützen“, könnte sogar bei sog. „vitalen Fragen“ die Einstimmigkeit gelten. Voraussetzung für die Einstimmigkeit und für Sperrminoritäten wäre allerdings, dass im Falle blockierender Stimmen in der Staatenkammer, die die Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments und damit der Europäischen Union lähmen, das Veto eines Mitgliedstaats bzw. das Veto einer 10 relevanten Minderheit von Mitgliedstaaten einem wirksamen öffentlichen Rechtfertigungszwang unterworfen wird. Diese letztere Voraussetzung wäre erfüllt, wenn sich die Mitgliedstaaten nicht wie bislang in eigener Verantwortung nur gegenüber der nationalen öffentlichen Meinung, sondern in Zukunft auf europäischer Ebene gegenüber dem Europäischen Parlament und damit gegenüber der europäischen und der Öffentlichkeit der anderen Mitgliedstaaten und im Anschluß daran gegenüber dem Europäischen Gerichtshof zu rechtfertigen hätten. Die Umstrukturierung und Aufwertung des Europäischen Parlaments bedeutet nicht notwendig, dass der Minsterrat im zukünftigen Gesetzgebungsverfahren als Staatenkammer abgewertet wird. In den Vereinigten Staaten von Amerika steht der Senat, der im Vergleich zur Nationalversammlung (Parlament) rechtlich weitaus größeren Machtbefugnisse („advise and consent“) hat, gleichermaßen wie der Präsident, der durch die Art seiner Wahl ebenfalls die bundesstaatliche Struktur des amerikanischen Staatswesens repräsentiert, nicht unter dem Nationalparlament, sondern über ihm. In der Europäischen Union wäre zwar in gewisser Hinsicht die Vorherrschaft der Mitgliedstaaten im Rat über die Europäische Union als Folge der Umstrukturierung des Europäischen Parlaments geschmälert, sie bliebe aber im Europäischen Rat und nach wie vor insofern im Prinzip erhalten, als bei Änderungen der Verfassung der Europäischen Union das Europäische Parlament auf ein Anhörungsrecht beschränkt werden könnte. Die europäische Integration würde mit der Umwandlung des Europäischen Parlaments in der Bevölkerung an Vertrauen und Zustimmung gewinnen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlaments stünden europäische Parteien mit konkurrierenden Parteiprogrammen zur Entscheidung der Wähler an, die den bislang von Jahr zu Jahr nachlassenden Gang zu den Wahlurnen verändern würden Der Perspektive des Europäischen Bundesstaates, den zu gründen Europa nicht umhin kommt, wäre mit der Umwandlung des Europäischen Parlaments der Schrecken genommen. 2. Integriertes europäisches Parteiensystem Um die faktische Funktionsfähigkeit des neuen parlamentarischen Systems zu gewährleisten, müßte sich das europäische Parteiensystem, das derzeit einen Verbund nationaler Parteien darstellt, zu einem echten integrierten europäischen Parteiensystem umwandeln. 3. Europäische öffentliche Meinung, integriertes gesellschaftliches System der Abklärung und des Interessenausgleichs. Hinzuzutreten hätte ein integriertes gesellschaftliches System der Abklärung und des Ausgleichs weltanschaulicher, regionaler, sektoraler sowie mitgliedstaatlicher Interessen, das ebenfalls nicht „dekretiert“ werden kann, sondern sich durch das Wirken der politischen und gesellschaftlichen Kräfte eigenverantwortlich entwickeln müßte. Gleichermaßen müßte eine europäische öffentliche Meinung als „vorrechtliche Voraussetzung“ für ein parlamentarisches Regierungssystem auf europäischer Ebene zur Entstehung gelangen. 4. Europäische Bürgerschaft An die Stelle der als nicht vorhanden beschworenen „Europäischen Nation“ würde die„Europäische Bürgerschaft“ als Willens- und zunehmend auch als Schicksalsgemeinschaft treten. Entscheidend ist, dass die oberste Loyalität der Bürger Europas – nicht nur faktisch, 11 sondern auch gemeinschaftsrechtlich – nicht mehr wie bislang den Mitgliedstaaten, sondern der Europäischen Union gilt. 5. Staatenkammer Neben dem neu strukturierten Europäischen Parlament wäre - gleichberechtigt, wenn nicht gegenüber dem Europäischen Parlament sogar übergeordnet – eine aus dem Rat der Europäischen Union hervorgehende Staatenkammer zu errichten, in der die Mitgliedstaaten gleiche oder abgestufte Stimmen hätten. Zum Schutz der Interessen der kleinen und kleineren Mitgliedstaaten wäre bei dem Beschlußverfahren der Staatenkammer die Stimmgewichtung und in vitalen Fragen die Einstimmigkeit festzulegen. Um Blockaden der Handlungsfähigkeit einzuschränken, müsste das Veto eines Mitgliedstaats bzw. bei Mehrheitsentscheidungen einer relevanten Minderheit von Mitgliedstaaten einem Rechtfertigungszwang unterworfen werden, und zwar gegenüber dem Europäischen Parlament und damit der europäischen Öffentlichkeit, und im Anschluß daran gegenüber dem Europäischen Gerichtshof. 6. Kommission Die Kommission würde in einer europäischen Regierung aufgehen, deren Mitglieder mit einfacher Mehrheit vom Parlament und mit Zweidrittelmehrheit von der Staatenkammer zu bestellen wären. Das Mißtrauensvotum sollte an die Wahl einer anderen Kommission oder des betreffenden Kommissars gebunden werden. 7. Präsident der Europäischen Union Die Europäische Union sollte eine Präsidenten haben, der anfänglich mit jeweils Zweidrittelmehrheit vom Parlament und der Staatenkammer und später direkt von der Europäischen Bürgerschaft zu wählen wäre. Der Präsident der Europäischen Union sollte über mehr als nur über Repräsentationsbefugnisse verfügen. 7. Eigener Verwaltungsunterbau Die Europäische Union müßte über einen eigenen Verwaltungsunterbau und über ein eigenes dezentrales Gerichtssystem verfügen. Die Durchführung des Unionsrechts über die Mitgliedstaaten und die wechselseitige Anerkennung von Staatshoheitsakten der Mitgliedstaaten stößt angesichts nicht homogenisierbarer gesellschaftlicher Verhältnisse in der Union, angesichts der Sprachenvielfalt sowie angesichts nicht homogenisierbarer Verwaltungs- und gerichtlicher Strukturen in den – 27 – Mitgliedstaaten auf absolute Leistungsgrenzen. 8. Eigene Steuerhoheit Die Europäische Union hätte als – partieller – Bundesstaat eine eigene Steuerhoheit, und zwar ausschließlich in Bereichen der indirekten Besteuerung. Das derzeitige System der Matrikularbeiträge der Mitgliedstaaten wäre schrittweise abzuschaffen. 9. Zuständigkeitskatalog Die Aufgaben der Europäischen Union als Bundesstaat wären in einem Zuständigkeitskatalog in einer Weise festzuschreiben, dass ihre Ausweitung ohne Zustimmung aller Mitgliedstaaten ausgeschlossen bleibt. 12 10. Staatenbindung der Grundrechte Die Europäische Union hätte als Bundesstaat Grundrechte zu gewährleisten, die über die bisherige Wirkung der Grundrechte der Europäischen Gemeinschaft hinaus auch die Mitgliedstaaten in den diesen vorbehaltenen Handlungsbereichen binden. Ein Minderheitenstatut hätte beschränkt auf den Gebrauch der eigenen Sprache, die Errichtung eigene Schulen und die Wahrung kultureller Eigenheiten den Grundrechtskatalog zu ergänzen. 11. Finanzrecht: Prinzip der jährlichen Bewilligung Um Blockaden der Umgestaltung und der Reform der Politik zu verhindern, muß das Prinzip der jährlicher Bewilligung von Zuwendungen und des Auslaufens der Förderung bei Nichterneuerung eingeführt werden. Die Entstehung neuer „Interessenverflechtungsfallen“, durch die - traditionellerweise - notwendige Anpassungen und Reformen verhindert und einmal erlangte Besitzstände verewigt werden, muß verhindert werden. Die Änderung des Finanzrechts der Union durch Einführung dieses Prinzips ist überfällig. C. Politische Fragen Ohne eine grundlegende Strukturreform im Sinne der vorstehenden Reformskizze werden weitere Reformschritte der Europäischen Union nicht ausreichen, um die Handlungsfähigkeit der Union zu gewährleisten. Gleichwohl darf zunächst vor weiteren Reformen und Ausbauschritten nicht Abstand genommen oder zurückgeschreckt werden. Alle denkbaren und realistischerweise erreichbaren Reformschritte sollten sich indes an dem Ziel eines späteren Übergangs zu einem „Bundesstaat“ orientieren und dürfen diesem Ziel nicht zuwiderlaufen. Der Europäischen Union werden angesichts der grundlegenden Veränderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen als Folge ihrer Osterweiterung wahrscheinlich in nicht unbeträchtlichem Ausmaß weitere Aufgaben übertragen werden müssen. Das Anwachsen der Mitgliederzahl der Europäischen Union wird der Wahrnehmung ihrer bisherigen Aufgaben eine andere Richtung und Qualität geben; außerdem wird unter den neuen Bedingungen der Ausgleich nationaler Interessen die Inanspruchnahme der Kompetenzen sowie das Entscheidungsverfahren wesentlich beeinflussen. Voraussichtlich werden in anderer Weise als bisher Koalitionsbildungen entstehen und die bisherigen Verfahren der Konsensbildung zwischen den Mitgliedstaaten gefährden. Der innere Reformzwang, vor dem die Europäische Union angesichts der Osterweiterung steht, reicht weit über seine tägliche Einschätzung durch die Politik und die öffentliche Meinung hinaus.