-1- Karl Wilhelm Böddeker Technische Universität Hamburg-Harburg Kultur und Technik – Dualismus für Ingenieure 1 Einführung: Dualismus Das Johannes-Evangelium beginnt mit dem Satz "Am Anfang war das Wort". Goethe lässt Faust darüber nachdenken, ob nicht "Am Anfang war die Tat" richtiger wäre – Wort oder Tat, entweder-oder. Später dann diese Gedichtzeilen, noch einmal von Goethe: Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; Der Widerwille ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. Nun also beides, Natur und Kunst. Wir sind an solche Begriffspaare gewöhnt, wir spielen mit ihnen, wir können zu jedem Stichwort auch gleich das passende Gegenüber benennen: Leib und Seele; Himmel und Erde; Yin und Yang; Theorie und Praxis; – aber auch weniger Vordergründiges, zum Beispiel Preis und Wert (eines Gegenstandes, einer Dienstleistung). Gemeint ist immer ein Ordnungsgefüge: Jedes Begriffspaar bildet ein Bezugssytem nach Art von Koordinaten. Mit nur jeweils einer Koordinate (Wort oder Tat) lässt sich die Welt nicht beschreiben. Mehr noch: Die Koordinaten werden als voneinander unabhängig angesehen, haben jeweils ihre eigene Identität und lassen sich nicht auseinander herleiten, – so jedenfalls die Lehre vom Dualismus als Orientierungshilfe im Dickicht der wirklichen beziehungsweise der von uns wahrgenommenen Welt (auch das ein Dualismus). Warum ich Ihnen das alles erzähle: Weil ich Ihnen ein Bezugssystem vorstellen möchte, welches in besonderer Weise geeignet ist, die Gegebenheiten der naturwissenschaftlich geprägten Welt (und unseres schlechten Gewissens darin) analytisch zu betrachten. Es handelt sich um das Begriffspaar des Titels, Technik und Kultur mit den dazugehörigen Koordinaten • technische Machbarkeit • menschliche Einsichtsfähigkeit -2- Das sind sehr pauschale, aber dennoch deutlich unterscheidbare Kriterien: Die Welt als Ort der menschlichen Betätigung wird beschrieben durch das Kriterium der technischen Machbarkeit; das Leben als individuelle und Gemeinschaftserfahrung wird betrachtet am Maßstab der menschlichen Fähigkeit zu einsichtigem (umsichtigen) Verhalten ("Mitdenken" als Schlüsselwort). Im Bild eines gewöhnlichen Koordinatensystems kann man sich die x-Achse als den Vektor des technischen Fortschritts, also zunächst einmal als Zeitachse vorstellen; die Benennung der zweiten Achse, der menschlichen oder Kulturdimension, richtet sich dagegen nach den vielen Einzelkriterien, in welchen menschliches Verhalten seinen Ausdruck findet. Im "Ursprung" dieses Systems (null in jeder Richtung) ist jener vor-menschliche Zustand lokalisiert, der ohne technische Hilfsmittel und ohne verbale Kommunikation existiert, und dessen soziales Gefüge die naturgemäße Hackordnung ist. Als Beispiel die folgende Graphik [Bild 1], die das Bevölkerungswachstum mit Meilensteinen der technischen Entwicklung (hier mit Fokus auf Agrartechnik) korreliert. Der technische Fortschritt ist an Einzelereignissen ablesbar, oder nach anerkannten Regeln der Naturwissenschaft messbar und dokumentierbar. Ganz anders die Beurteilung der menschlichen oder Kulturdimension: hier sind es die Regeln selbst (als Verhaltensnormen), ebenso wie die tatsächlich beobachteten (anthropogenen) Verhaltensmuster, die die Kriterien für "Entwicklung" liefern. Bild 1. Entwicklungsbeeinflussende Faktoren der Neuzeit und Bevölkerungswachstum. NachVollrath Hopp: Wasser – Krise? Wiley-VCH, Weinheim 2004. – Ergänzt. 2 Die Dimension der technischen Machbarkeit Wie gesagt: es handelt sich um eine Zeitachse, – die Summierung unseres naturkundlichen und technischen Wissens, eine Bestandsaufnahme in jedem Moment, gleich darauf Teil des Langzeitgedächtnisses der Menschheit. Es kommt immer wieder vor, dass naturkundliche Erkenntnisse oder technische Fertigkeiten vorübergehend in Vergessenheit geraten oder zurückgehalten werden; ich nenne die astronomischen Kenntnisse der "alten" Griechen, oder die mittelalterliche Alchemie (jede Geheimwissenschaft), oder die militärische Forschung. Immer steckt eine Absicht, ein Gruppeninteresse dahinter, welches als Ausdruck einer eminent menschlichen Verhaltensweise ein Merkmal der Kulturdimension ist. (Es sei angemerkt, dass auch die – hier nicht betrachtete – Geisteswissenschaft ihre Vergesslichkeitsproblematik hat.) Die Geschichte der technischen Fertigkeiten, ebenso wie die der Naturwahrnehmung, ist hinreichend bekannt; sie wird belegt durch Artefakte, steinerne und metallene Zeugnisse, und schließlich durch schriftliche -3- Überlieferung. Staunenswert ist die Rate des technischen Fortschritts: Für eine Million Jahre waren Faustkeil und Speerspitze das Werkzeug und die Waffe des Homo sapiens (Dualismus Werkzeug und Waffe); das Rad (als Töpferscheibe) ist vielleicht 6000 Jahre = 200 Generationen alt; die industrielle Revolution als Resultat der europäischen Aufklärung (einem Kulturgut) ist keine 10 Generationen alt. Die Genugtuung, mit der von Anthropologen immer frühere Hinweise auf menschliches Tun begrüßt werden, erschließt sich mir nicht (ein nicht-identifizierbarer Fund ist unweigerlich ein kultisches Relikt); noch weniger Freude bereitet die Auskunft, unser Gehirn sei schon in frühester Steinzeit "fertig" gewesen (ich muss auf diesen Punkt gelegentlich zurückkommen). Nun zur Motivationsgeschichte. Bis in unsere Tage galten und gelten für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zwei schlichte Grundsätze, die nicht – oder doch erst in jüngster Zeit – ernsthaft hinterfragt werden: • Die technische Entwicklung und die mit ihr befassten Ingenieure und Wissenschaftler machen keinen Unterschied zwischen friedlicher und militärischer Nutzung ihres Tuns; es überwiegt die reine Freude am Gelingen. • Forschung und Entwicklung kennen keine prinzipielle Beschränkung des Machbaren, auch wenn gelegentlich (weltanschaulich begründete) Begrenzungen gefordert werden; was hier nicht erforscht wird, wird dort erforscht. Ein schönes Beispiel für die "Freude am Gelingen" ist in Bild 2 dargestellt; der Hohlspiegel des Archimedes versinnbildlicht die Rolle der Physik in den Ingenieurwissenschaften. – Auch dem Schießpulver, mit dem die Chemie in Erscheinung tritt, haftet anfänglich noch Idyllisches an; Kanonenrohre und Kirchenglocken (wieder ein Dualismus) kamen aus derselben Werkstatt ("Stückgießer"). Alfred Nobel soll glaubhaft der Meinung gewesen sein, wenn die Waffen nur furchtbar genug seien, würden Kriege sich von selbst erledigen. (Entgegen landläufiger Auffassung hat er sein Geld hauptsächlich im Tunnel- und Eisenbahnbau verdient; ein gnädiges Schicksal hat ihn den ersten Weltkrieg nicht erleben lassen.) Bild 2. Archimedes verwendet fokussierte Sonnenstrahlung um römische Schiffe bei der Belagerung von Syracus in Brand zu setzen (212 v.Chr.). – Gemälde von Guilio Parigi, Florenz, Uffizien. Die heutigen Reizthemen im Diskurs zwischen Technik (dem Machbaren) und Gesellschaft (Kultur) sind Energie, Wasser, Gesundheit, – und das Reizwort ist Nachhaltigkeit (ein aus der Forstwirtschaft stammendes Betriebsmodell). Noch hat die Bedarfsdeckung durch technischen Aufwand Vorrang vor der Bedarfsanpassung durch Einschränkung, – jedenfalls für diejenigen, die den technischen Aufwand bezahlen können. Als Beispiel "water unlimited": Das technisch Machbare, die erste industrielle Meerwasserentsalzung in Saudi Arabien, 1970 [Bild 3]. Mit 20 000 Tagestonnen Trinkwasser bildete diese Anlage -4- eine Art Semistandard für viele folgende; die zur Zeit größte "Wasserfabrik", ebenfalls in Saudi Arabien, besteht aus 40 derartigen Einheiten und liefert täglich 800 000 Tonnen Trinkwasser. – Nun die Kulturdimension: Water is a gift of God and should not be paid for, – es war schwer, die arabischen Verbraucher an Wasserzähler zu gewöhnen. Bild 3. Water unlimited: Die erste industrielle Meerwasserentsalzungsanlage (Kapazität 20 000 m3/d) in Jeddah, Saudi Arabien (1970). "Bedarfsanpassung durch Einschränkung", – das ist für unsere Ohren noch ein Unwort. Inzwischen hat ein Umdenken eingesetzt (in Bild 1 als "Phase der Verhaltensevolution" angedeutet), – Wandel allerdings nicht als Ergebnis eines plötzlichen Entwicklungsschubes unseres Steinzeitgehirns, sondern unter Sachzwang. "Ingenieurethik" ist das Etikett für den Sinneswandel; die ursächlichen Sachzwänge gehören zwei Kernbereichen ingenieurwissenschaftlicher Aktivität an: • Erstens dem Wettbewerb um schwindende und ungleich verteilte Ressourcen (Süßwasser im obigen Beispiel); • Zweitens der ungehemmten Militarisierung der Welt (die wir Deutsche nach 64 beschützten Friedensjahren mit merkwürdiger Indifferenz wahrnehmen). Ingenieurethik verlangt, dass sich unser technisches Wissen und Können der erkennbaren Nöte der Menschheit annimmt, – oder sie wenigstens im Taumel der noch immer geltenden Wachstumsrhetorik nicht aus den Augen verliert. Es wird also gefragt, auf welche Probleme Ingenieurwissen angewendet werden sollte, und auf welche möglichst nicht. Die Bewegung (wenn man sie so nennen darf) heisst peace engineering; beteiligt sind neben verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGO's) die Weltbank und die "Ingenieure ohne Grenzen", die sich nach dem Vorbild der "Ärzte ohne Grenzen" organisiert haben. Ingenieurethik ersetzt echtes einsichtiges Verhalten der Menschen im Umgang – d.h. im Ge- und Verbrauch – der Welt nicht, aber sie hat eine diesbezügliche Komponente. 3 Die Dimension der menschlichen Einsichtsfähigkeit Um es vorweg zu nehmen: Während unsere wissenschaftlich-technische Selbstverwirklichung keine Obergrenze anerkennt und auch die wildesten Spekulationen ernst nimmt (im Bedarfsfall wird eben eine neue kosmologische Konstante eingeführt), sind unserer Fähigkeit zu einsichtigem Handeln natürliche Grenzen gesetzt. Gäbe es ein Gleichmaß zwischen beidem, so müsste dies sich in den gewählten Koordinaten sinnbildlich als Diagonale mitteilen. In Wirklichkeit kommt so etwas nicht vor: Zwischen unseren technischen Fähigkeiten und unserem Vermögen, diese zum Wohl der Menschen (der Schöpfung schlechthin) -5- maßvoll einzusetzen, besteht ein schmerzliches Defizit. Der an dieser Stelle übliche Begriff cultural lag meint nicht etwa ein zeitliches Hinterherhinken (im Sinne einer Phasenverschiebung), gemeint ist vielmehr ein fundamentaler Rückstand in der kulturellen Verarbeitung von Wissenschaft und Technik durch diejenigen, die mit ihr leben müssen und letztlich auch wollen. Es stellt sich somit die Frage nach den Ursachen, vor allem aber nach den Erscheinungsformen des kulturellen Defizits (Dualismus Ursache und Wirkung). Die Ursache sind wir selbst. Hier eine kleine Selbstdarstellung: Der Mensch (Homo sapiens und folgende) ist zugleich Teil und Nutzer und Gestalter der Welt, dazu sein eigener und einziger Widersacher. Er kann sich soziales Leben, Leben überhaupt, nur in Gruppen vorstellen und liebt die Nachbargruppen im allgemeinen nicht. Gegen diese Überbeanspruchung hat er sich im Verlauf seiner Evolution "erfolgreich" durchgesetzt. Richtig losgelegt hat er mit dem Ende der letzten Eiszeit, – so erfolgreich, dass diese evolutions-biologische Vokabel inzwischen etwas von schwarzem Humor hat. Richtig ist jedenfalls, dass unser menschliches und mitmenschliches Verhalten entscheidend von Evolutionsrückständen geprägt ist, – weder unsere soziale, noch unsere biologische Ausstattung erwarten von uns "Einschränkung" im Umgang mit der Welt. Anders ausgedrückt: Wir stehen uns selbst im Weg. Unter den Wirkungen steht an erster Stelle ein fundamentales Dilemma im Weltbild der Menschen: Nur eine Minderheit der Menschheit richtet ihr Leben nach rationalen (wissenschaftlich vertretbaren) Grundsätzen ein, der weitaus größte Teil folgt traditionellen bis irrationalen Lebens- und Verhaltensmustern. Die Folgen für das menschliche Miteinander sind, wie man weiß, schrecklich. Die Einzelheiten überlasse ich den Soziologen und Anthropologen und Religionswächtern, – ich erinnere aber daran, dass kein Evolutionserbteil mehr Leid verursacht und mehr Ressourcen verschlingt als dieser archaische Mangel an Verständigungsbereitschaft. Zwei biologische Hürden sind zu nennen. Zum einen: Wir sind unempfindlich gegenüber heraufziehenden Katastrophen. Es scheint einen biologisch angelegten Mechanismus zu geben, der die Angst vor vorhersehbaren Katastrophen – allen voran das eigene Ende – verdrängt und vorsorgliches Handeln behindert. (Zitat: Fast könnte man sich darüber wundern, wie sehr wir uns schon an Katastrophen gewöhnt haben, die die Qualität unserer Umwelt jedes Mal ein wenig verschlechtern.) Sodann unser biologischer Zeithorizont. Gemessen am Zeitmaßstab der Evolution sind wir Eintagsfliegen, das Zeitfenster, durch das wir die Dynamik der Welt – Klimawandel bis Ressourcenschwund – wahrnehmen, ist eng. Entsprechend unterbelichtet ist unser Gefühl für die Dringlichkeit zum Handeln. -6- 4 Verhaltensevolution Apocalypse now? Wir haben Optionen, es gibt Auswege. Wie schon in der Dimension des technisch Möglichen, so bahnt sich auch in der Dimension des technisch Erlaubten ein Wandel an, eine "Verhaltensevolution" [Bild 1]. Grundlage für den erhofften Bewußtseinswandel sind die Ideen der Aufklärung – • Die allgemeinen Menschenrechte (und dito Pflichten) • Toleranz gegenüber Andersdenkenden (gegenseitig) Als relevanter Dualismus bietet sich Wunsch und Wirklichkeit an. Typisch für die europäische Aufklärung ist der Glaube an die Vernunft (hier mit Einsicht gleichgesetzt) als Steuerungsgröße, womit zugleich der Wirkungsbereich der Aufklärung eingegrenzt ist: Nur die rational denkende (empfindende?) Minderheit der Menschheit fühlt sich angesprochen. Von 200 Mitgliedsländern der Vereinten Nationen gelten 40 mit Glück als Demokratien, – alle aber tummeln sich irgendwie im Internet, dem neuen Universalgedächtnis der Menschheit. Warum das hier bedeutsam ist? Grundwahrheiten, einmal ausgesprochen und verbreitet, lassen sich zwar örtlich und temporär ignorieren (die Nazis haben die Relativitätstheorie als "jüdisch" abgelehnt), aber sie können auf Dauer weder unkenntlich gemacht, noch zurückgenommen werden, – sie sind da. Das gilt auch für die Ideen der Aufklärung: Sie sind da. Somit enden meine Ausführungen wie sie begonnen haben: Am Anfang war das Wort.