COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur / Literatur Sonntag, 1.5.2005, 0.05 Uhr „Francos endloses Sterben. Gewalt, Zorn und Erinnerung im Werk von Rafael Chirbes und Jorge Semprún“ Von Uwe Stolzmann ANMERKUNGEN FÜR DIE REGIE - Sprecher: drei oder fünf - Autor, Sprecher 1+2, Zitator 1+2 - Sprecher 1 und Zitator 1: Rafael Chirbes - Sprecher 2 und Zitator 2: Jorge Semprún - Sprecher verteilen: Halb links / halb rechts - Bitte auf Ruhepausen im Stück achten. „Musik-Brücken“ als Kapitel-Übergang sollten mindestens 30“ frei stehen. - Musik: zeitgenössische Kammermusik (unbedingt aus Spanien, Streichquartett oder Klavier) und/oder spanische Gitarrenmusik, 20. Jahrhundert (z.B. Paco de Lucía. Oder 2 Jason Carter, CD „Contemporary Spanish Guitar: Entrada – Salida?“ o. CD „Kindred Spirits“, von ARC, LC 5111) 3 Musik: Streicher, modern. Sehr ruhig, eindringlich. UNTERLEGEN. ERST SPRECHER (ÜBERSETZUNG). O-TON FOLGT DANACH. Sprecher 2: Der Übergang zur Demokratie wird nicht mehr gefährdet, wenn wir an den Krieg erinnern und an die Toten der Vergangenheit. Heute nicht mehr. Heute können wir uns den Luxus einer wahrhaftigen und vollständigen Erinnerung leisten. Wir können an die Opfer des Franco-Regimes erinnern, ohne damit, sagen wir, ein Chaos in der Gesellschaft hervorzurufen. 1. O-Ton: Jorge Semprún. Spanisch. KOMPLETT STEHENLASSEN. Musik: Streicher, modern. HOCHZIEHEN. AUS. ODER ÜBERBLENDEN IN: Atmo: Marschmusik aus Spanien oder Aufmarsch/Reportage aus Franco-Zeit. AN REGIE: ATMO BITTE SUCHEN! UNTERLEGEN. Autor: 20. November 1975, ein Donnerstag. Am frühen Morgen ist der Generalissimus verstorben, Francisco Franco Bahamonde, Spaniens Diktator seit knapp vierzig Jahren. 2. O-Ton: Rafael Chirbes. ERST O-TON KOMPLETT, DANN ÜBERSETZUNG! Sprecher 1: Was ich an diesem Tag dachte? Ich hatte Angst. Angst, hinunter auf die Straße zu gehen und im Laden mit lauter Stimme Champagner zu verlangen. Wir wußten nicht, was geschehen würde. 3. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Ich erinnerte mich in jenen Tagen an einen Vers des Dichters Dámaso Alonso: „Madrid ist eine Stadt von mehr als einer Million Leichen“. Ich hatte den Eindruck, es sei eine Stadt mit mehreren Millionen Leichen. Atmo: Marschmusik. HOCHZIEHEN, ETWAS STEHENLASSEN, AUSBLENDEN. TROCKEN: Autor: Franco, der dienstälteste Despot Europas, starb 1975 in Amt und Würden. Seine Gewaltherrschaft wurde nicht gestürzt, sie schaffte sich selbst ab. Eine Vergangenheits-„Bewältigung“ hat es deshalb nie gegeben. - Drei Jahrzehnte nach Francos Tod 4 ist Spanien heute eine normale Demokratie. Und erst jetzt, mit großer Verspätung, beginnt die offene Auseinandersetzung über Gewalt, Zorn und Erinnerung, über Verbrechen und Verluste. 4. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Der Mensch besteht aus Geschichte. Sie begleitet uns ständig, morgens, mittags, abends. Leute, die die Geschichte ignorieren, kommen mir dumm vor. Auch alle Romane handeln von Geschichte, selbst die, die nicht davon reden wollen. 5. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Plötzlich gibt es einen Boom: so viele Bücher zum gleichen Thema. Es gibt eine offene Debatte. Und ganze Dörfer verlangen, daß endlich die Massengräber geöffnet werden, um die Opfer der Repression zu identifizieren. Nur dank allgemeiner Amnestie und Amnesie konnte die Demokratie wiederhergestellt werden. Aber jetzt müssen wir die Gedächtnisschwäche überwinden. Autor: Nicht nur Historiker, auch viele Schriftsteller erforschen und sezieren das spanische Trauma. – Zwei Stimmen aus dem großen Chor, zwei Chronisten. Musik. ETWAS STEHENLASSEN. AUSBLENDEN. 6. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Mein Name ist Rafael Chirbes, ich lebe in einem Dorf zwischen Valencia und Alicante. In jüngster Zeit ist der Ort auf 1200 Einwohner angewachsen. Immer mehr Touristen, überall, und immer mehr Rentner. Die ganze Küstenzone - das erzähle ich auch in meinem jüngsten Roman „Alte Freunde“ erleidet eine Etappe verrückter Bautätigkeit. Es ist die Apokalypse: Jeder Hügel wird zugebaut – oder in einen Steinbruch verwandelt. 5 Autor: Rafael Chirbes ist klein und schmal, er trägt einen eisgrauen Schnauzer und gern eine Strickjacke überm Hemd. Wenn er daheim unter katalanischen Bauern seinen Roten trinkt, fällt er nicht auf. Seit dreißig Jahren schreibt Chirbes Reportagen für ein Wein-, Gourmet- und Reisemagazin. Sein erster Prosaband erschien 1988. In mittlerweile sechs Romanen erkundete er Bürgerkrieg und Nachkriegsära, bis hinein in die Gegenwart. 7. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Manchmal werde ich gefragt: Wie können Sie für eine Zeitschrift der Oberschicht arbeiten und Romane über die Unterschicht schreiben? Ich bin glücklich, daß ich Weine probieren durfte, die ich sonst nie hätte trinken können. Doch ich bin nicht so dumm, eine Sache mit einer anderen zu verwechseln. Ich gehöre zu den Armen. Und ich betrachte die Welt von dem Punkt aus, an dem ich geboren wurde. Autor: Der andere ist ein Mann mit vielen Identitäten. Sein Pseudonym hat er oft gewechselt, so oft, daß er selbst manchmal mutmaßt, er wüßte nicht mehr, wer er sei. 8. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Natürlich weiß ich, wer ich bin. Aber manchmal gab ich mir halt andere Namen. Federico Sánchez, Rafael Artigas, Agustín Larrea... Auch meine Erinnerung trägt viele Namen. Doch am Ende der Geschichte bleibt „Jorge Semprún“ der wichtigste. Denn das ist der Name, mit dem ich nach Buchenwald deportiert wurde. Anders gesagt: Wenn ich an das Konzentrationslager denke, wenn ich mich an jene Erfahrung erinnere, die so fundamental für mein Leben gewesen ist, erinnere ich mich an Jorge Semprún. 6 Autor: Im Kampf gegen das Franco-Regime ist Semprún später nicht nur Beobachter gewesen; er war betroffen, beteiligt. Seine Erfahrungen mit der Diktatur und ihren Wurzeln hat er literarisch in vielen Texten verarbeitet. Kurz nach Francos Tod begründete er seine Obsession für diesen Stoff: Zitator 2: „Mir ging auf, daß der spanische Bürgerkrieg solange bloße Mythologie bleiben würde, wie man ihn denen überließ, die ihn gemacht und die uns kaputtgemacht haben, indem sie ihn so schlecht machten.“ Musik. UNTERLEGEN. Autor: Jorge Semprún, Jahrgang 1923, und Rafael Chirbes geboren 1949: In ihren Texten gehen die Erzähler weit zurück in der Zeit. Zurück bis zum Sündenfall der jüngeren spanischen Politik und noch weiter, in den Urgrund der Gewalt. Musik. HOCHZIEHEN, AUSBLENDEN. Autor: Frühjahr 1931. In Spanien gärt es. Die Monarchie wird gestürzt, die Republik proklamiert, der König verläßt das Land. Doch schon bald stößt die linksgerichtete Regierung auf Widerstand: bei Arbeitern und Militärs, bei Grundbesitzern und Großbürgertum, beim Klerus sowieso. Es gibt Streiks, Revolten und Straßenschlachten, Kirchen und Klöster brennen. In Asturien erheben sich 1934 die Bergarbeiter; eine neue, diesmal rechte Regierung läßt den Aufstand durch einen jungen General blutig niedergeschlagen. Der Truppenführer, mit 42 Jahren eben Generalstabschef geworden, kommandiert sonst die Einheiten in Spanisch-Marokko. Sein Name: Francisco Franco Bahamonde. Musik. KURZE MUSIK-BRÜCKE. DANN UNTERLEGEN. Autor: Februar 1936. Durch Wahlen kommt in Madrid eine Volksfront der Linksparteien an die Macht. Die Folgen: 7 neuerliche Unruhen, Generalstreiks, politische Morde. Die Gesellschaft spaltet sich. Im Juli putscht die Armee. An der Spitze der Erhebung steht bald der Führer der marokkanischen Truppen, General Franco. - [Musik. AUS!] Genau an diesem Punkt beginnt die Geschichte im jüngsten Roman von Jorge Semprún. Zitator 2: „Am 18. Juli 1936 hatten die Bauern auf einem Landgut in der Provinz Toledo, als sie von der Erhebung der Militärs erfuhren, einen der Besitzer umgebracht. Den jüngsten der Brüder. Denn der Tod ist nicht immer wählerisch, und versprochen sind ihm alle. Und doch kam es nicht an auf jenen Tod, auch wenn er die Ursache von allem war. Es gab so viele in jenen Tagen.“ Autor: Semprúns Buch heißt „Zwanzig Jahre und ein Tag“. Gemeinsam mit einem Ensemble erfundener und realer Figuren taucht der Erzähler ein „in die blutige Erinnerung an jenen weit zurückliegenden Sommer“. Zitator 2: „Es war genau drei Uhr nachmittags, und sie hatten sich gerade zum Mittagessen an den Tisch gesetzt. In diesem Augenblick war draußen die verstörte Stimme des Verwalters Mayoral zu hören. ‚Junger Herr! Junger Herr José María!’ Er ging hinaus, unter das Vordach des Hauses; Mayoral fuchtelte wie wild mit den Händen. Hinter der Reihe der Pappeln, auf der Straße von Quismondo, war ein Trupp Leute zu sehen. Und dann hat Mayoral ganz hektisch gefragt: ‚Soll ich die Waffen holen?’“ Autor: Schauplatz des Romans ist ein Gutsbesitz in der Nähe von Toledo. „La Maestranza“ heißt der Hof, und er liegt bei einem Dorf mit Namen Quismondo. 9. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Die Geschichte ist real – dieser Vorfall auf einer Finca. Ich weiß allerdings nicht, ob sie wirklich in Toledo 8 lag oder in der Estremadura. Ich weiß auch nicht, welcher Familie sie gehörte. Doch der Kern stimmt. Ich habe nur die Figuren hinzugefügt. Und dann siedelte ich das Ganze in der Ortschaft Quismondo an. So ein schöner Name: Quismondo! Klingt sehr klassisch. Ich kenne das Dorf. Zitator 2: „Auf der Straße von Quismondo, hinter der Reihe der Pappeln, war undeutlich die Bewegung eines Trupps von Leuten zu erkennen. Wahrscheinlich auch von Pferden. Das Julilicht fiel wie Blei auf die Landschaft. Einen Augenblick lang blitzte es auf über den unkenntlichen Köpfen der Männer, die dichtgedrängt auf der Ladefläche des – eher erahnten als wirklich gesehenen – Fahrzeugs standen. Flinten. Aber vielleicht waren es nicht nur Flinten, sondern auch hochgereckte Sicheln. Und Sensen.“ Autor: Drei Brüder bewirtschaften das Gut. Das Trio wirkt wie ein Spiegelbild der zerrissenen spanischen Republik - ein Faschist, ein Jesuit und ein Liberaler. Der Erstgeborene, José Manuel Avendaño, ist hart und intelligent, ein Geldmensch, Machtmensch. Der Feingeist José Ignacio hat sein Leben Gott geweiht. José María Avendaño, der junge Herr, gebildet und freundlich, ist überall beliebt. Nur er, José María, steht an diesem 18. Juli 1936 auf der Balustrade des Herrenhauses, ein Fernglas in der Hand, den nervösen Verwalter neben sich. Zitator 2: „Und dann hat Mayoral ganz hektisch gefragt: ‚Soll ich die Waffen holen?’ Und der junge Herr hat gerufen, nein, auf keinen Fall, sie würden sie am Ende ohnehin umbringen. Und dann hat er gesagt: ‚Hol den Oldsmobile, den Lederkoffer, der im Eßzimmer steht. Und nimm die Frauen mit, rasch...’ Die Bauern strömten schon herein. Niemand wollte die Besitzer töten, sie wollten das Gut kollektivieren, das war das Zauberwort; Kollektivierung: das machte sie heiß. Jedenfalls erfuhr man nie, warum irgendeine Flinte losgegangen war und der Schuß den jungen Herrn José María getroffen hatte, 9 woraufhin, in einer Mischung aus Angst und Ressentiment, von überallher auf ihn gefeuert wurde, bis der junge Herr im Kugelhagel zusammenbrach.“ Autor: An jenem 18. Juli 1936 beginnt der Spanische Bürgerkrieg. Unterstützt von Hitler-Deutschland und Mussolinis Italien, bekämpft die Armee die gewählte Regierung. Franco ernennt sich zum Generalissimus. Er wird Führer der Staatspartei „Falange“ - „Stoßtrupp“ - und Chef der sogenannten „nationalspanischen“ Regierung. Schon Ende des Jahres 36 belagern seine Truppen die Hauptstadt. Doch Madrid wehrt sich. Arbeiter und Freiwillige der Internationalen Brigaden leisten entschlossenen Widerstand. Für die letzten Angehörigen der „guten Gesellschaft“ in der Metropole beginnt eine Leidenszeit. Die „Proletarier“ rächen sich an der „Bourgeoisie“. – In seinem Roman „Der lange Marsch“ von 1998 beschreibt Rafael Chirbes die Stimmung in der Stadt. Musik. UNTERLEGEN. Zitator 1: „Zwei lange Winter in einem düsteren Madrid, heimgesucht vom Wind aus der Sierra und von den Alarmsirenen. Das Haus wurde geplündert. Eine Horde zerlumpter Gestalten tauchte mit schweren Waffen auf, die Männer stanken nach billigem Tabak und Anis. Als diese Rasenden wieder verschwanden, war der Boden bedeckt mit Papier, Glasscherben und zerfetzten Kleidungsstücken. Es war eine Orgie des Hasses und der Zerstörung. Zwei Jahre Kälte und Angst in einem Madrid unter Schock. Die wenigen in der Stadt verbliebenen anständigen Leute lebten eingeschlossen und waren davon überzeugt, daß ihr Leben an einem seidenen Faden hing, den jede Straßenkontrolle, jedes nächtliche Klopfen an ihrer Haustür zerreißen konnte.“ [Musik: AUS.] Zitator 1: Knapp drei Jahre dauern die Kämpfe; sie fordern fast eine Million Tote. Für die Überlebenden wird die 10 Erinnerung an die letzten Tages des Krieges zum Alptraum. Chirbes berichtet. Musik. UNTERLEGEN. Zitator 1: „Die Masse strömte von allen Landstraßen her auf der Hafenmole und den angrenzenden Klippen zusammen, ohnmächtig vor der unüberwindlichen Barriere des Meeres. Kein Schiff durchbrach die sauber gezogene Linie des Horizonts. Die Menschen drängten nach vorn, ans Ende der Mole. Manche fielen, gestoßen von den Nachdrängenden, hinunter. So nahm der große Traum sein Ende, die am 14. April 1931 eingeläutete Utopie der Trikoloren und der roten Fahnen, der Musikkapellen, der Reden und Umarmungen. Autor: Im März 1939 fällt Madrid. Der Bürgerkrieg ist vorbei, und die Gewinner üben blutig Rache: Bei Massenexekutionen sterben über einhunderttausend Anhänger der Republik. Auf dem Landgut der Familie Avendaño, jenem von Jorge Semprún beschriebenen Besitz in der Provinz Toledo, übernimmt der Erstgeborene die Geschäfte, José Manuel, der FrancoAnhänger, ein „machtbewußter Sieger unter den Siegern“. Auch er, José Manuel, und der Rest des Clans rächen sich: für den Mord an José María, dem jüngsten Avendaño. Zitator 2: „Jedes Jahr, seit dem Ende des Bürgerkrieges, veranstaltete die Familie am 18. Juli eine Gedenkfeier. Eine richtige theatralische Bußzeremonie. Die Bauern des Gutes kamen wieder in wilder Schar herbeigelaufen, mit Flinten bewaffnet, um den Gutsbesitzer rituell, symbolisch erneut zu töten. In der Verewigung dieser Erinnerung verewigten die Bauern nicht nur ihren Status als Besiegte, sondern auch ihren Status als Mörder. Kurz, diese Bußzeremonie trug dazu bei, die soziale Ordnung zu heiligen, von der die Bauern geglaubt hatten, sie hätten sie 1936 durch den Mord am Besitzer des Landguts zerstört.“ 11 Autor: Wie kam Jorge Semprún zu diesem Stoff? Ein Bekannter habe ihm die Fabel erzählt, schreibt Semprún – Domingo Dominguín, ein Stierkämpfer. Es geschah 1954 in einem Madrider Restaurant, und mit am Tisch saß noch ein Prominenter, ein Yankee, Spanien-Reisender und großer Liebhaber des Landes. Zitator 2: „Hemingway hatte gerade eine Anekdote über seine erste Rückkehr nach Spanien nach dem Bürgerkrieg erzählt. Ihr zufolge äußerte der Polizist, als er Hemingways Paß überprüfte: ‚Na so was! Sie heißen ja wie dieser Amerikaner, der in unserem Krieg bei den Roten war...’ Und Hemingway antwortete: ‚Ich heiße wie er, weil ich genau der Amerikaner bin, der in eurem Krieg bei den Roten war...’ Der Polizist zuckte zusammen.“ 10. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Auch dieses Treffen ist real. Domingo Dominguín sagte: Ich gehe mit Hemingway essen, komm doch mit! Er stellte mich als einen Bekannten vor, der sich gerade um einen Lehrstuhl für Soziologie bemühe. Hemingway fragte mißtrauisch: „Sie sind nicht etwa Journalist?“ Neinnein, erwiderte ich, kein Journalist. - Es stimmt auch, daß Hemingway meinte: „Immer sagt ihr das gleiche - unser Krieg...“ Zitator 2: „‚Unser Krieg’, hatte Hemingway gesagt. ‚Alle sagt ihr das gleiche. Als wäre er das einzige, zumindest das Wichtigste, das ihr teilen könnt. Euer täglich Brot. Der Tod, das ist es, was euch verbindet, der alte Tod des Bürgerkriegs...’“ Autor: Realität und Phantasie, Geschichte und erfundene Geschichte - im Werk Semprúns gehen sie beständig ineinander über. Die Zeitebenen überlagern sich. Semprún erzählt assoziativ, er springt von Ebene zu Ebene. Ein anderer Reiz 12 seiner Bücher ist die Zeitzeugenschaft: daß der Erzähler Orte und Menschen sah, die bis heute als Mythen existieren. Zitator 2: „Übrigens, wie willst du denn verhindern, daß deine Erinnerung oder deine erzählerische Phantasie ständig in die historische Erinnerung einmündet, wenn beide, zumindest was das zwanzigste Jahrhundert betrifft, untrennbar miteinander verwoben sind?“ Musik. STEHENLASSEN. MUSIK-BRÜCKE. DANN UNTERLEGEN Autor: Jorge Semprún, geboren 1923 in Madrid: Der Vater ist ein linksliberaler Rechtsprofessor, die Mutter eine Schwester des ersten Innenministers der Republik. Bei deutschen Gouvernanten erlernt der Sohn die Sprache von Goethe und Hegel. Zu Beginn des Bürgerkriegs flieht die Familie nach Paris. Semprún studiert Philosophie, Marx und Hegel liest er im Original. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht wird Semprún Kämpfer der Résistance; ein Jahr später, mit 19, Mitglied der spanischen KP. [Musik: AUS.] 1943 verhaftet ihn die Gestapo. Zitator 2: „Kurz bevor ich in die Knie ging hatte ich die hysterischen Schreie gehört, die die Frau ausstieß, die die beiden Typen von der Gestapo begleitete. Dann hatte ich all dieses Blut in den Augen und diesen Blutgeschmack im Mund. Später hat einer der Typen von der Gestapo meine Papiere gefunden. - Ach so! Ein Rotspanier, sagt er schließlich. In diesem Augenblick habe ich beschlossen, so zu tun, als verstünde ich kein Deutsch. - Du bist ein Rotspanier! brüllt er. Ich rühre mich nicht, da ich ja nichts verstehe. Nun tritt die Frau heran und übersetzt. - Sie sind ein spanischer Roter. Es amüsiert mich, daß sie beim Übersetzen das Du aufgegeben hat. - Rot, sage ich zu ihr, wieso rot? 13 - Ein Roter, sagt sie, ein Roter der spanischen roten Armee.“ Autor: Der Verhaftung folgt eine endlose Fahrt hinein in das Schreckensreich der Konzentrationslager. In Buchenwald verwandelt sich Semprún in eine Nummer: 44904 groß S, „S“ wie „Spanier“. Mehr als ein Jahr bleibt er auf dem Ettersberg – eine Erfahrung, die Stoff für viele Romane bieten wird. 11. O-Ton: Jorge Semprún. DEUTSCH. Jener Tod, der Europa verwüstete und die Folge von Hitlers Siegeszug war, ja, er war ein Meister aus Deutschland. Aber alle haben wir den Tod kennengelernt, der im Innern der totalitären Bestie mit anderen Verkleidungen schlummert, im dekorativen Flitterkram anderer nationaler Ursprünge. Ich selbst habe den Tod als Meister aus Spanien gekannt und manchmal gestreift. Autor: Nach dem Krieg lebt Semprún erneut in Paris. Er macht Karriere in der kommunistischen Partei Spaniens, einer Partei im Exil. Als Mitglied der Führung koordiniert Semprún in den Fünfzigern den Widerstand gegen das Franco-Regime, erst von Frankreich aus, dann in Spanien, im Untergrund. Der neue Deckname: Federico Sánchez. Acht Jahre nach Kriegsende und zehn Jahre nach Semprúns Verhaftung reist dieser Federico Sánchez erstmals nach Spanien. Ein Illegaler, bald ein Mythos, Mann ohne Gesicht, ein moderner Robin Hood. Musik. UNTERLEGEN. Zitator 2: „Als er zum ersten Mal heimlich nach Madrid zurückgekehrt war, im Juni 1953, war er sogleich auf die Straße gestürzt. Es dämmerte, alles glich ganz genau den Bildern seiner Erinnerung, und doch erfaßte ihn ein Gefühl von vager Unruhe: Nie zuvor hatte er sich so fremd gefühlt. Bedrückt lief er durch die Straßen des Viertels auf der Suche nach einem Bezugspunkt. Es war in der Calle Serrano, als er plötzlich auf der anderen Straßenseite das erleuchtete Schaufenster eines Kurzwarengeschäfts sah: Das Paradies der Strümpfe. Aber ja doch, natürlich, endlich, es wurde Zeit: Das 14 Paradies der Strümpfe! Plötzlich, beim Anblick dieses rührend hochtrabenden Namens, schienen die Fluten einer über die Ufer getretenen Erinnerung wieder in ihr Bett zurückzukehren.“ [Musik: AUS.] 12. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: In jener Zeit war das Franco-Regime noch stark und die soziale Situation sehr schlecht. Welchen Eindruck ich vom spanischen Volk hatte? Die Menschen waren nicht unbedingt schlecht gekleidet, aber - alles wirkte so grau. Trist. Und immer noch hatten die Leute spürbar Angst, über Politik zu sprechen. Autor: Federico Sánchez - in fast allen Büchern Semprúns taucht der Doppelgänger auf, das andere, nicht immer bessere Ich des Erzählers. Eine Figur, die es real nur bis 1964 gegeben hat – bis zu Semprúns Abkehr vom Kommunismus und seinem Ausschluß aus der KP. In „Zwanzig Jahre und ein Tag“ spielt das Alter ego sogar eine Hauptrolle, ganz so, als müßte sich der Autor von ihm befreien. 13. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Hier erscheint er erstmals nur als Romanfigur. Im Roman interessiert jedoch nicht die Wahrheit, sondern die Glaubwürdigkeit. Ob ich mich von ihm distanzieren wollte? Nein, im Gegenteil: Ich schrieb davon, um ihn wiederzutreffen. Zitator 2: „Er hört die Stimme in seinem Rücken. ‚Federico’, hat die sachte, gedämpfte Stimme gesagt, ‚Federico Sánchez...’ Er hält den Blick weiter auf das Bild gerichtet, das er gerade betrachtet hat, als er seinen Namen hörte, diesen alten, längst außer Gebrauch geratenen Namen. Federico, Federico Sánchez, ja, aber er dreht sich nicht um, als wäre er nicht gemeint. Ich bin nicht gemeint? Doch, natürlich. Ich war diese Person. Ich war es wirklich, bis auf den Grund. Es kann sogar sein, daß dieses Pseudonym mehr mit mir zu tun hat als mein 15 eigener Name; na ja, vielleicht übertreibe ich: Man weiß nie im voraus, was die eigene Identität am meisten bestimmt.“ Musik. STEHENLASSEN. MUSIK-BRÜCKE. AUSBLENDEN. Autor: Spanien in den fünfziger Jahren. Von Hitlers Weltkrieg und dessen Folgen hat der Generalissimus sein Land weitgehend ferngehalten. Die harte Zeit des Hungers und der faschistischen Militärdiktatur ist eben vorbei. Es folgt die Blütezeit des autoritären „Neuen Staates“. Franco vereint alle Macht in einer Hand: Er ist Staatsoberhaupt, Regierungschef, Befehlshaber der Streitkräfte und Führer der „Nationalen Bewegung“. Jede Opposition bleibt verboten, Gewaltenteilung und Wahlrecht existieren nicht mehr; die Medien sind strenger Zensur unterworfen. - Rafael Chirbes erzählt mehrfach von diesen grauen Jahren, besonders eindrucksvoll in seinem Roman „Der lange Marsch“. Musik. NUR UNTERLEGEN. Zitator 1: „Don Vicente Tabarca schläft noch immer schlecht. Er denkt nach, erinnert sich und hat Angst. Die Erlaubnis, eine Praxis für Allgemeinmedizin zu eröffnen, hatte Don Vicente Tabarca nach einem langen Leidensweg durch endlose Gänge bekommen; und daß sie schließlich erteilt worden war, verdankte er zweifellos der Fürsprache seines Cousins, einst Leutnant des aufständischen Heeres und heute, als Sieger, Kommandeur im Nationalen Heer, der den Funktionären erklärt hatte, daß Vicente Tabarcas Vergehen, obgleich schwerwiegend, doch nur auf dem Feld der Ideen stattgefunden habe; daß er während des Krieges als Arzt aus humanitären Motiven heraus gehandelt habe. Alejandro fügte stets hinzu, daß sein Cousin reichlich Zeit zur Reue gehabt habe.“ [Musik: AUS.] Autor: Während des Bürgerkriegs war Don Vicente Chirurg im Heer der Republik, Feldarzt in einem mobilen Lazarett. Für 16 dieses „Vergehen“ mußte er büßen: In Gefangenschaft geraten, wurde er zum Tode verurteilt und dann zu dreißig Jahren Haft begnadigt, von denen er fünf absitzen mußte. Seither muß der Doktor sich täglich bei der Kommandantur des Stadtviertels melden. Sonst – so erzählt es Rafael Chirbes - sitzt der Arzt in seiner meist leeren Praxis oder, in Gesellschaft einiger Klassiker, in der arg geschrumpften Bibliothek. Musik. NUR UNTERLEGEN. Zitator 1: „Don Vicente liest seine Lieblingsbücher mit einer gewissen Beklemmung. Diese Bücher beweisen, daß er immer noch von einer Denkungsart infiziert ist, die von den Siegern als Seuche eingestuft wurde, die sie mit grausamem und wirksamem Instrumentarium drei Jahre lang in den Schützengräben bekämpft hatten und die sie dann an Erschießungsmauern und in Gefängniszellen kurierten. Musik. NUR UNTERLEGEN. Zitator 1: „In diesen Büchern ist Spanien das ewig nächtliche und unduldsame Kainsland, wo stets die eine Hälfte gewaltsam das Ganze besetzt und es in ihren Dienst zwingt, ein elendes Land, das schreit: ‚Hoch die Ketten!’ und Gottes Namen wie eine Pistole zückt. Hier ist nur noch der Abschaum geblieben: Barbaren in einer Rotunde, in der ein Stier gefoltert wird; Sängerinnen, die nach Achselschweiß stinken, wenn sie die Arme heben, um mit den Kastagnetten zu klappern; Schläger, die in Gruppen arbeiten, sich in Gruppen breitmachen, die in der Gruppe schlagen und töten.“ [Musik: AUS.] Autor: Der Arzt Vicente Tabarca, diese psychologisch fein gezeichnete Figur aus einem Chirbes-Roman, gehört zu jener großen Zahl loyaler und anständiger Menschen, die in FrancoSpanien wie Schwerverbrecher behandelt wurden. Doch verhalten, fast unbemerkt, widersetzt sich Don Vicente der Barbarei. Er übt zivilen Ungehorsam. Seine erste Tochter, 1945 geboren, 17 nannte er Alicia – weil er sie ins Wunderland bringen wollte. Die zweite Tochter bekommt den Namen Helena. Musik. NUR UNTERLEGEN. Zitator 1: „Don Vicente träumte von einer gerechten Abrechnung. ‚Mit H, bitte’, sagte er zu dem Standesbeamten, als er seine zweite Tochter registrieren ließ; mit dem im Spanischen ungebräuchlichen H vor Elena wollte er die klassische, tragische Kraft beschwören, die er der Neugeborenen mitzugeben wünschte. Rache durch stellvertretende Hand.“ [Musik: AUS.] Autor: In seinen Romanen, in denen Biographien im Dutzend zerhackt und als Puzzle neu zusammengesetzt werden, ergründet Rafael Chirbes den Seelenzustand von Vertretern fast aller Volksschichten. Er zeigt militante Klassenkämpfer und schlichte Arbeiter. Er zeigt überzeugte Sozialisten, die sich in Fürsprecher des Regimes verwandeln. Er zeigt Karrieristen und Kriegsgewinnler. Er zeigt die Polizisten und die Unternehmer der neuen Zeit. Und er zeigt Francos Fußvolk, einfache Männer, die sich plötzlich betrogen fühlen. Zitator 1: „Pedro del Moral, der Schuhputzer, haßte Regentage. In dem Dorf, aus dem er bei Kriegsende nach Salamanca gekommen war, hatte er schlicht Pedro Moral geheißen, erst während seiner Zeit im Nationalen Heer hatte er gelernt, wie wichtig es war, ein ‚del’ vor den Nachnamen zu setzen. ‚Pedro del Moral. Hygiene und Glanz für das Schuhwerk’. Er dachte an den Tag, an dem sie beschlossen hatten, nach Salamanca zu ziehen. Jene Fahrt im Autobus: Er trug das blaue Hemd und den Orden auf der Brust und war davon überzeugt, daß sich ihm mit diesem Passierschein jede Tür öffnen würde. Er erinnerte sich an die vielen Eichenwälder, die er durchs Fenster gesehen hatte. Und vor allem an die entmutigende Ankunft in einer Stadt, auf die ein Regen von Blau und Blech gefallen zu sein schien, denn 18 alle Männer waren angezogen wie er selbst. Er meinte, die Welt bräche zusammen.“ Musik. STEHENLASSEN. MUSIK-BRÜCKE. AUSBLENDEN. Autor: La Maestranza, der Grundbesitz der Familie Avendaño aus Semprúns jüngstem Roman. Die Zeit: Mitte der Fünfziger. Zwanzig Jahre lang hat man hier auf dem Gut das Büßerritual zu Ehren des ermordeten José María durchgeführt. Zwanzig Jahre lang, an jedem 18. Juli, mußten die Landarbeiter und später deren Kinder alles noch einmal erdulden: den Marsch zum Herrenhaus, die Schüsse, die Schande. 14. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: In Wirklichkeit gab es diese Bußzeremonie nur vier oder fünf Mal, in den ersten harten Jahren der Franco-Zeit. Dann verlor sich der Brauch. Im Buch verlängerte ich ihn auf zwanzig Jahre. Ich wollte bis 1956 vorstoßen, in jenes Jahr, in dem sich Spanien mit dem Ausbruch einer Studentenrevolte zu verändern begann. Autor: Nach zwanzig Jahren – so will es der Autor - haben beide Seiten plötzlich genug von dem bösen Spiel. Sie sind müde, ermattet von der eigenen Geschichte. 15. O-Ton: Jorge Semprún. DEUTSCH. „Zwanzig Jahre und ein Tag“ ist doppelsinnig. Die wirkliche Geschichte geschieht am 18. Juli 1936. Aber die Zeit des Romans ist zwanzig Jahre später. Für uns, also politische Kämpfer gegen Franco, Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, wir wußten schon, daß wir zu zwanzig Jahre und ein Tag verurteilt würden, wenn wir also ins Gefängnis kämen, nicht wahr. Autor: „Zwanzig Jahre und ein Tag“: Das war – bei geringeren Vergehen - die Haftstrafe für Widerstandskämpfer, „der Tarif der Kader“. Auf gewisse Weise hat der Roman, der 2003 in Barcelona erschien, in Semprúns weitgefächertem Werk 19 Seltenheitsrang: Er schrieb ihn nicht französisch, in der Sprache seiner Wahlheimat, sondern spanisch. 16. O-Ton: Jorge Semprún. DEUTSCH. Und warum auf spanisch? Die Geschichte, die ich erzähle, die Leute, die sie mir erzählt haben, alles ist spanisch. Die Stimmen sind spanisch, die Gerüche sind spanisch, die Landschaften sind spanisch – ich mußte es auf spanisch schreiben. Und dann: Ich bin ein spanischer Schriftsteller, der immer auf französisch schreibt. Das ist ziemlich komisch, nicht wahr. Und plötzlich, weil ich alt bin vielleicht und nicht viel Zeit mehr habe, habe ich gedacht, ich muß doch beweisen, daß ich spanisch schreibe! (Lachen.) Autor: Juli 1956. Ein gewisser Don Roberto besucht das Landgut der Avendaños. Er ist Kommissar der politischen Polizei, ein Verhörspezialist und Folterer, der Chef der Inquisition. Er will das Ritual sehen, doch das Ritual findet nicht mehr statt. Der Kommissar zeigt sich enttäuscht. Sabuesa heißt der Mann im Buch, Roberto Sabuesa. Zitator 2: „Als Kommissar Sabuesa sah, wie José Ignacio – ein Priester obendrein – das Thema der Buße mit verächtlicher Miene abtat, und wie José Manuel sich ihm anschloß – er sollte in den Boden versinken vor Scham, der Undankbare; Reichtum und Macht verdankte er dem Regime, und jetzt kommt er uns mit dem Gewäsch einer dringend erforderlichen Liberalisierung, unverschämt! –, begriff er mit tiefem Erschrecken, daß die Ideale des Kreuzzugs an Kraft verloren, daß das Vaterland im Sumpf eines skeptischen Materialismus versank.“ Autor: Spanien um 1970. Franco ernennt einen Prinzen aus dem Hause Bourbon zum Stellvertreter und Nachfolger, einen Mann, den er nach seinen Vorstellungen erziehen ließ: Juan Carlos, den späteren König. Wieder gärt es im Land. Die Kirche geht auf Distanz zum Regime. Streiks und Terroraktionen häufen sich. Und die Kinder der Sieger und der Besiegten rebellieren 20 gemeinsam gegen die erstarrten Strukturen - ganz so, wie Rafael Chirbes es beschreibt. Den Arzt Vicente Tabarca haben wir bereits kennengelernt. Tabarcas Tochter Helena – Helena mit H, wie die antike Mythenfigur – ist mittlerweile fast erwachsen. Zitator 1: „Don Vicente wußte nur zu gut, wie dieses System funktionierte, das die Patina der Jahre nur maskiert hatte; er wußte, daß in den Kellern an der Puerta del Sol weiterhin Schläge und Schreie erklangen, während Helena nichts von alldem zu merken schien. Einmal hatte sie drei, vier Freunde mitgebracht, und er hatte Worte wie Revolution, Kommunismus, Klassenkampf gehört. An diesem Abend hatte er den ersten Streit mit seiner Tochter gehabt. ‚Bist du verrückt geworden? Weißt du etwa nicht, daß ich zum Tode verurteilt war?’ Am nächsten Tag ging er in ihr Zimmer, durchsuchte die Schränke und sonderte die Blätter aus, in denen von der Volksrevolution die Rede war. Er hatte sie nicht gehütet, damit sie eines Tages das zweite Kapitel seiner Niederlage würde. Um seine Tochter zu retten, wollte er jetzt noch einmal, zum ersten Mal seit Kriegsende, als Chirurg tätig werden, und als er die Papiere in tausend Fetzen riß, war es ihm, als setze er das Operationsmesser an. ‚Soll mit mir geschehen, was will’, sagte er sich leise, ‚aber ihr darf nichts Böses widerfahren’.“ Autor: Helena hält die Befürchtungen des Vaters für maßlos übertrieben. Sie trifft sich weiter mit den Freunden. Die jungen Leute, darunter ein Student namens Carmelo, diskutieren und, ja, sie rebellieren, aber nur in Worten, im Geiste – bis die Geheimpolizei ihnen auf die Spur kommt. Zitator 1: „Das Klingeln überraschte sie inmitten einer wütenden Diskussion. Helena öffnete die Tür, und in das Wohnzimmer, in dem sie zusammen saßen, drängten Männer, die Pistolen und Knüppel gezückt hatten. Einen Monat lang hielt man sie isoliert in Zellen von knapp zwei Quadratmetern an der 21 Puerta del Sol. Bei Carmelos ersten Verhören gab es abwechselnd Fragen und Schläge, später gingen sie dazu über, ihn zu schlagen, ohne ihn etwas zu fragen. Eines Nachts sah er durch den Sehschlitz Helena zwischen zwei Wachen vorbeigehen. Ihre Haare waren zerwühlt, sie hatte zwei blaue Flecken unter den Augen und Reste von trockenem Blut auf der Wange. Während er leise die Internationale pfiff, um ihr Mut zu machen, spürte er, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.“ Musik. STEHENLASSEN. MUSIK-BRÜCKE. AUSBLENDEN. Autor: September 1975. Das Franco-System begleitet seinen Niedergang mit einer letzten Orgie von Gewalt. Erneut werden Hunderte Regimegegner verhaftet, fünf von ihnen hingerichtet. Schwedens Ministerpräsident Olof Palme nennt die Verantwortlichen „satanische Mörder“. Franco zeigt sich unbeeindruckt. Im Oktober 1975 erkrankt der greise Diktator. 32 Ärzte wachen an seinem Bett. Sie diagnostizieren Herzanfälle, Magen- und Darmblutungen, Bauchfellentzündung und Lungenödem, Nierenversagen. Franco fällt ins Koma, wochenlang wird er künstlich am Leben gehalten. In der FAZ heißt es: „Francisco Franco stirbt, wie er regierte – als großer Zauderer. Alle Spanier warten auf den Tod Francos, so makaber das auch klingen mag. Die jungen Liberalen aus dem Bürgertum und der Aristokratie veranstalten Parties in ihren Villen.“ Zur selben Zeit ziehen Trupps vermummter Franco-Anhänger mit Messern, Knüppeln und Ketten durch die Stadt... Rafael Chirbes beschreibt die Stimmung jener Tage in dem vor wenigen Jahren verlegten Roman „Der Fall von Madrid“ aus der Sicht eines alternden Unternehmers. Zitator 1: „Er wollte Nachrichten hören, doch die waren schon vorüber, und bei seinem Spaziergang über die Radioskala traf er nur auf Unterhaltungsmusik und einen Sprecher, der über Fußball redete. Die Musik und die Stimme des Sprechers sagten 22 ihm jedenfalls das Nötige; sie sagten ihm, daß Franco noch lebte, denn, wäre dem nicht so gewesen, hätte man überall dieselbe klassische Musik gehört. Am Vortag hatte er mit Maxi gesprochen. Sein Freund hatte ihm versichert, daß man Franco keine weiteren achtundvierzig Stunden würde am Leben erhalten können; er war anscheinend weiterhin intubiert und an eine Maschine angeschlossen, Maßnahmen, die den spitzfindigen Ärzten erlaubten, nicht ganz und gar zu lügen, wenn sie den Journalisten Bulletins vorlasen, die bestätigten, daß der Caudillo noch am Leben war. Sie nannten es nicht Agonie, aber das war es. Agonie.“ Zitator 2: „Es war im November 1975, in der Zeit von Francisco Francos nicht enden wollendem Todeskampf. Madrid verhielt sich still, als hielte es den Atem an...“ Autor: Das berichtet Jorge Semprún in seiner „Autobiographie des Federico Sánchez“, die nur zwei Jahre nach den Ereignissen erschien. Zitator 2: „Madrid lebte von diesem Tod, passiv, mit leisem, nach innen gezogenem - seltsam genußvollem, masochistischem Schrecken. Jedem, außer den spanischen KP-Führern, die weiter ihre Zwangsvorstellung von einer apokalyptischen Aktion hegten, war längst klar, daß niemand einen Finger rühren würde - als greife Francos Todeslähmung allmählich auf die ganze Stadt über...“ 18. O-Ton. Jorge Semprún. Sprecher 2: Als bekannt wurde, daß Franco im Sterben liegt, fuhr ich von Paris nach Madrid. Dort wartete ich zusammen mit Freunden auf die Todesnachricht. Bei jedem stand schon eine Flasche Champagner im Kühlschrank, alles war bereit. Aber Franco starb nicht! Niemand ging in jener Zeit auf die Strasse, es gab keine Demonstrationen, nichts. Auf mich wirkte 23 das unheimlich: diese Passivität, mit der sie alle in ihren zugesperrten Wohnungen saßen... Das ertrug ich nicht. Die Meldung von Francos Tod erreichte mich erst nach der Rückkehr in Paris. Atmo: Marschmusik aus Spanien, Aufmarsch oder Reportage aus Franco-Zeit. Wie am Anfang! ETWAS STEHENLASSEN, UNTER- UND AUSBLENDEN. Autor: Am 20. November 1975, gegen fünf Uhr früh, ist der Diktator endlich tot. Rafael Chirbes erinnert sich. 19. O-Ton: Rafael Chirbes. ERST O-TON KOMPLETT, DANN ÜBERSETZUNG! Sprecher 1: Ich habe den Champagner aufgemacht und mit meiner Mutter und einigen Freunden eine schöne Paella gegessen. Doch es war ein Moment großer Unsicherheit. Autor: Francos Ministerpräsident verliest im Fernsehen unter Tränen die letzte Botschaft des Diktators. Er verzeihe allen, die sich zu seinen Feinden erklärt hätten, schreibt der Despot. „Vergeßt nicht, daß die Feinde Spaniens und der christlichen Kultur sehr wach sind. Ich vereine die Namen Gottes und Spaniens in einer Umarmung für alle, um ein für allemal zu rufen: Es lebe Spanien!“ Musik. STEHENLASSEN. MUSIK-BRÜCKE. UNTERLEGEN. Autor: Fast vier Jahrzehnte herrschte Francisco Franco Bahamonde. Neuer Staatschef wird sein politischer Ziehsohn, König Juan Carlos. Die „Transición“ beginnt. 20. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Ich hoffte, daß Francos Tod einen Prozeß des Übergangs einleiten würde. Ich hätte jedoch nicht geglaubt, daß der König eine so positive Rolle spielen würde. Der Übergang war kompliziert, aber doch viel einfacher, viel friedlicher, als ich vermutet hatte. Heute fragt man niemanden 24 mehr: Was haben Sie damals getan? Politisch motivierte Straftaten wurden nicht verfolgt. Es gab keinen Prozeß, kein Urteil, nichts. Autor: In der Tat: Den vielgelobten „Konsens“ erkaufte Spanien mit einer Tabuisierung franquistischer Verbrechen. Kommissar Conesa alias Roberto Sabuesa und die anderen Schergen des Systems sind nie belangt worden. Jorge Semprún sah pensionierte Geheimdienstoffiziere - die Todfeinde von einst in den späten Achtzigern manchmal bei Empfängen; man plauderte artig miteinander... Amnestie und Amnesie, das war das Erfolgsrezept der spanischen Wende. Semprún hat einen Teil der „Transicón“ mitgestaltet, ab 1988, als Kulturminister unter dem Sozialisten Felipe González. So verwundert es nicht, daß er heute mit erstaunlicher Milde zurückblickt. 21. O-Ton: Jorge Semprún. Sprecher 2: Ich verstehe, daß einige hofften, der Prozeß des Übergangs würde radikaler sein. Aber... - ja, ich bin mit den Resultaten zufrieden. Sicher, Spanien hat Probleme mit dem ETA-Terrorismus. Doch die Demokratie funktioniert trotz ETATerrorismus. Das heißt, das Wichtige wurde erreicht: das demokratische Miteinander. Autor: Rafael Chirbes ist anderer Meinung. Der Erzähler aus Spaniens Südosten, 26 Jahre jünger als Jorge Semprún, zeigt sich von der „Transición“ enttäuscht. 22. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Dieses Fest, das Übergang genannt wurde: In meinen Büchern kommen die Protagonisten nicht mal dazu, es zu feiern! Denn in der Realität blieben die Arbeiter und die Exilanten vom Fest ausgeschlossen. Der Professor, der sich nach der Rückkehr aus der Emigration in seiner Wohnung verschanzt und nie wieder herauskommt. Oder der Gleisarbeiter von der Metro. 25 Oder das Dienstmädchen, das den Müll wegräumt, den die Sozialdemokraten, die Kommunisten, die Demokraten hinterlassen haben, all jene, die diesen wunderbaren Übergang vollbrachten und die Arbeiterklasse dabei auf der Straße stehen ließen. Autor: Chirbes hadert. Er benennt die von der Diktatur hinterlassenen Verwüstungen. Er attackiert den „Pakt des Schweigens“, jenes Abkommen zwischen Siegern und Besiegten, das Versöhnung und Demokratisierung erst ermöglichte. In Chirbes’ Texten liegt der Schatten des Diktators noch immer auf dem Land. Die Wunde ist nicht geschlossen, nichts vergessen, nichts vergeben. Man spürt Zorn in diesen Büchern, den Zorn des enttäuschten Demokraten. Mit diesem Zorn wurde er zum Pathologen einer deformierten Gesellschaft, ein Beobachter ohne Gnade. Das dreifache Trauma der Spanier – erst Bürgerkrieg und Diktatur, dann der „Pakt des Schweigens“ – ist seine literarische Obsession. 23. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Ich will niemanden erziehen. Ich habe nur meine Vorstellungen vom Leben und von der Welt und viele Zweifel, und wenn ich schreibe, versuche ich, sie auszudrücken. Autor: Chirbes’ Bekenntnis lautet: Niemand ist unschuldig. Das Werk des Dichters, ein Planet der Hoffnungslosigkeit, kreist um einen längst erloschenen Stern. Man darf den Fixstern – den Diktator - aber nicht beim Namen nennen, sonst gerät Rafael Chirbes schnell außer sich. 24. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Ich spreche nicht von Franco, ich habe nie von Franco gesprochen! In meinen Romanen stelle ich nur die Widersprüche der Gegenwart dar. Da geht es um Felipe González, der meinte, das einzig Wichtige sei die Wirtschaft. Es geht um die Kinder ehemaliger Franco-Anhänger, die zu Linken wurden. 26 Es geht um deren Väter, die sagen: Ich mußte töten, damit du den Wohlstand genießen, unschuldig bleiben und Sozialdemokrat sein kannst! Franco - die Jungen wissen nicht einmal mehr, wer das war. Autor: Doch die Älteren, die wissen. Bis zum Frühjahr 2005, dreißig Jahre nach dem Ende der Diktatur, stand vor einem Madrider Ministerium noch immer ein Reiterstandbild des Führers. Nur Monate zuvor, zu Francos Todestag im November, fand man rund um das Monument gelbe und rote Nelken. 25. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Ich schreibe keine historischen Romane! Ich schreibe nicht über Franco! Ich schreibe über mich – heute! Heute! Und in „Alte Freunde“ geht es auch nicht um Franco. Es geht um heute! Autor: „Alte Freunde“, so heißt Chirbes’ Roman aus dem Jahr 2003. Die alten Freunde, das sind die Compañeros von einst, Kampfgefährten, die ehemaligen Mitglieder einer kommunistischen Untergrundzelle. [O-Ton: EINBLENDEN.] Drei Jahrzehnte nach Auflösung der Zelle im Gefolge von Verrat und Verhaftungen treffen sich die Genossen wieder, zu einem Nachtmahl in Madrid. Es gibt Reismehlravioli mit Steinpilzfüllung. Und Skrei, Dorsch, in knuspriger Kruste. Und schwarze Schokolade mit Kokosschaum. Man wird Champagner trinken, Chardonnay und einen wunderbaren 86er Rotwein. 26. O-Ton: Atmo Gasthaus in Madrid. Stimmengewirr. ALS TEPPICH UNTERLEGEN. Zitator 1: „Ich sagte: ‚Ich komme. Und ich freue mich. Ich freue mich, die alten Kadaver wiederzusehen. Ein letzter Blick auf uns, auf diese fast schon begrabenen Toten. Kann doch nicht schaden, noch mal einen Blick auf diese Leichen zu werfen, die man schon ewig nicht mehr gesehen hat.’“ 27 Autor: Mit „Alte Freunde“ ist der Chronist bei seiner Irrfahrt durch Spaniens jüngere Geschichte im Hier und Jetzt angekommen. Die Rebellen von gestern sind heute angepaßte Bürger – ein Maler und ein Schriftsteller sitzen in der Runde, eine Galeristin und eine Wein-Fachjournalistin, ein Medienmogul und ein EU-Bürokrat. Die Illusionen der Genossen sind zerbrochen; Ernüchterung herrscht, ideologische Katerstimmung. Konflikte brechen auf. Es gibt keinen Erzähler, der zwischen den Protagonisten vermitteln könnte; nur Monologe, Verteidigungsreden. [O-Ton: Gasthaus. AUSBLENDEN.] Chirbes nennt das Buch ein „Requiem“, eine „trostlose Geschichte, deren Protagonisten zur Leere verurteilt sind“. 27. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Wer „Alte Freunde“ liest, merkt bald: Das Buch sprengt alle früheren Figuren von Chirbes in die Luft. Das ist Chirbes contra Chirbes. Ich erzählte mir Dinge, die ich nicht hören wollte. Die Geschichte hat sich mir förmlich aufgedrängt. Zitator 1: „Pedrito glaubt an das Geld, das man in der Hand hält, alles andere ist Rauch, Nebel, Möglichkeit. In der Gruppe wurde nie über Geld gesprochen. Ein Tabu.“ Autor: Pedrito war der Chef der kommunistischen Zelle, ein besonders militanter Genosse, er warf Molotov-Cocktails. Heute ist Pedrito Unternehmer, ein Baulöwe von der Ferienküste. 28. O-Ton: Rafael Chirbes. Sprecher 1: Dieser Pedrito ist, wenn auch recht zynisch, sicherlich die positivste Figur im Buch. Die ehrlichste - weil er sich nicht hinter einer ideologischen Sprechweise verbirgt. Nein, dieser Pedrito entlarvt alle ideologischen Sprüche. 28 Autor: Mit „Alte Freunde“ gelang Chirbes der Brückenschlag zwischen gestern und heute. Sein Pedrito ist ein Sinnbild der modernen spanischen Gesellschaft, eine Figur, die den Kreuzfahrergeist der Vergangenheit auf beklemmende Weise mit der pragmatischen Gegenwart versöhnt. Der Ex-Kommunist sagt: „Am Ende hat sich herausgestellt, daß wir zum Besitzen besser befähigt waren als jene, die mit Klauen und Zähnen ihren lächerlichen Besitz verteidigten.“ Pedritos Credo, so scheint es, ist am Ende auch das Credo von Rafael Chirbes, dem unversöhnlichen, mitleidlosen Chronisten. Zitator 1: „Nütze den Augenblick, die Zukunft existiert nicht. Das Leben ein Hauch, ein Windstoß; manchmal ein Orkan. Und das war’s. Das waren wir. [Musik. EINBLENDEN!] Anonyme Figuren in den Religionskriegen der Neuzeit: Sich einander bis aufs Messer befehdende Grüppchen, die darüber stritten, ob das Paradies nach dem Tode kommen sollte oder schon auf Erden zu errichten sei. Diese letzten Ketzer wollten das Paradies auf Erden, so wird es dastehen in dreihundert Jahren, ein paar Seiten in den Büchern zur Weltgeschichte, irgendwo neben den Hussiten, den Waldensern. All das vergossene Blut, die Tränen und die Lieder, ein Absatz in einem Buch. Diese Etappe ist vorbei. Ende des Kapitels über die Neuzeit in den Geschichtsbüchern. Die Mauer in Berlin ist gefallen und der Krieg ist aus, wir wissen nun, daß auf Erden das Paradies nicht errichtet wird. Gebt auf, Verdammte dieser Erde.“ Musik. HOCHZIEHEN BIS ENDE. - E N D E -