Deckblatt für Manuskript

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Volker Bernius
WISSENSWERT
Spiel mir das Lied vom Film (2)
Gabriel Yared
Von Matthias Keller
Sendung:
Samstag, 30.07.2005, 09.30 Uhr, hr2
Sprecher:
Sprecher:
02-036 Kurzfassung
COPYRIGHT:
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O-Ton: Annaud (159:00) „This is a man, he comes with his entirety. When he goes into a movie,
he doesn’t go on a movie - he goes into the movie, you know - and he goes in a passionate travel
with the movie and with the director.“ (0:18)
Musik: „L’Amant“/T 1/runter....1:25
drüber Sprecher:
Ist es der gewisse Hauch des Orients? - Die außergewöhnlichen Drehbücher? Die Geschichten
voll Leidenschaft und Hingabe?
Jedenfalls erkennt man sie meist auf Anhieb - die Handschrift des Komponisten Gabriel Yared.
So wie hier mit dem Hauptthema aus Jean-Jacques Annauds „L’Amant“ - Der Liebhaber. Eine
Musik, die 1993 immerhin mit dem „César“ ausgezeichnet wurde, dem französischen Gegenstück
zu Hollywoods glamourösem „Oscar“. Auch den konnte Yared inzwischen für sich verbuchen und
zwar 1997 für seine Musik zum Film „Der Englische Patient“. Und noch so manch andere Trophäe
wie „Golden Globe“, „Victoire de la Musique“ oder den „Grand Prix de la Sacem“, der
französischen Gema-Gesellschaft.
Doch was sind schon all die sprachlosen kleinen Trophäen im Regal, wo der Mensch und Künstler
Yared doch soviel wertvoller ist, wie Regisseur Jean-Jacques Annaud betont. Und der sollte es
eigentlich wissen, nachdem er bereits mit so manchem Filmmusik-Star zusammengearbeitet hat,
angefangen bei James Horner in „Der Name der Rose“ über Philippe Sarde in „Der Bär“ bis hin zu
John Williams und seinem Beitrag zu „Sieben Jahre in Tibet“.
O-Ton: Annaud (154:15) „Gabriel is in my view ....talented man. (156:00) X...X (156:22) Because
this is what we were talking...has in his heart“ (1:30)
drüber Synchronsprecher:
Gabriel ist für mich einer der talentiertesten und inspiriertesten Komponisten. Er ist sehr
leidenschaftlich und empfindsam und ein Gefühlsmensch durch und durch - was auch zum
Problem werden kann. Wir hatten ein solches Problem während einer gemeinsamen Filmarbeit;
da gab es gewisse Divergenzen, die schließlich in einem großen Chaos endeten - eben weil er
sehr leidenschaftlich ist. Aber was er dafür einbringt, ist einzigartig. Es gibt sicherlich viele Leute,
die ihr Handwerk verstehen. Gabriel dagegen ist ganz der emotionale Typ mit einem
unglaublichen Gefühl für die Bilder. Klar - die Gefahr dabei ist, dass sich gar nicht erst die richtige
Gefühlsverbindung einstellt. Aber in meinem Fall ging es sensationell gut, weil wir vor allem
frühzeitig anfingen, das Projekt zu diskutieren. Ich gab ihm das Skript und er präsentierte mir
seine Ideen am Klavier. Er ist nämlich ein ausgezeichneter Klavierspieler mit viel Tiefgang und
Empfindung, wie bereits gesagt.
Und das ist es, wovon wir zuvor gesprochen haben: jemanden zu haben, der deine Bilder sieht,
dein Skript liest und eine Meinung dazu hat - auf sensorischem Niveau. Es ist doch so: es gibt
Szenen, da bist du dir keineswegs sicher, was ihre Aussage betrifft, und genau da liefert die Musik
den Schlüssel und sorgt für die entsprechende Steigerung. Deshalb ist es so wichtig, jemanden zu
finden, der das nötige Feeling besitzt und die Fähigkeit, sich in seinem Medium auszudrücken.
Musik: „Wings of Courage“/T 10 … 1:00
drüber Sprecher:
Ein Ausschnitt aus Gabriel Yareds Musik zu „Wings of Courage“, jener zweiten Zusammenarbeit
mit Jean-Jacques Annaud, in deren Verlauf sich auch die erwähnten Probleme einstellten. Der
Film, gedreht als erster 3D-Spielfilm im sogenannten IMAX-Verfahren, erzählt die Geschichte
dreier französischer Postflieger und der ersten Überquerung der südamerikanischen Anden - eine
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authentische Story, in der unter anderem Antoine de Saint-Exupéry eine Rolle spielt. Eine Story
zugleich, wie geschaffen für Gabriel Yared und sein emotionales Ausdruckspotential. Denn das
Ganze wird schließlich zum Schicksalsdrama auf Leben und Tod. Und diese Klaviatur beherrscht
Yared am allerbesten. Seine Klänge wollen nicht nur sekundieren und untermalen. Sie sind
vielmehr ein eigenständiges Destillat der Story, eine Synopse der anderen Art - nämlich der
wortlos-musikalischen. Kurz: ein paralleles Drehbuch, das wenig zu tun hat mit der gewohnten Art
filmmusikalischer Unterwürfigkeit auf Schnitt und Szenenwechsel.
Yared ist ein Charismatiker. Mit Bildern, so sagt er selbst, habe er seine Probleme. Ebenso damit,
wenn man ihn nach Hollywood-Manier festlegt auf ein bestimmtes Genre. Vor allem aber damit,
dass Filmmusik sich ständig um sich selbst dreht, sich wiederholt anstatt nach neuen Definitionen
zu suchen.
Über dem Regal seines Pariser Büros eine Papp-Attrappe des Filmmusik-Oscars, den er für seine
Musik zu „Der Englische Patient“ erhielt. Seither hat seine Auftragslage rapide abgenommen –
erstaunlicherweise. Yared führt es darauf zurück, dass die Leute nun vielleicht denken, einen
Oscar-Preisträger könnten sie nicht mehr bezahlen.
Möglicherweise liegt die Ursache aber auch bei ihm selbst. Denn er leistet sich den Luxus, nicht
allzu oft ins Kino zu gehen, sich stattdessen lieber in sinfonische Partituren zu vertiefen als in die
Filmmusik seiner Kollegen.
Musik: „La Lune dans le Caniveau“/T 32 .... 1:45
drüber Sprecher:
Ein Ausschnitt aus Gabriel Yareds Musik zu Jean-Jacques Beineix’ Film „La Lune Dans Le
Caniveau“ - der Mond in der Gosse, einer von Yareds frühen Arbeiten aus dem Jahr 1983.
Milieuzwänge und die Liebe zwischen Arm und Reich sind hier das Thema. In den Hauptrollen
Gérard Dépardieu und Nastassja Kinsky - und Yareds Musik, die sich bereits hier deutlich um ein
eigenständiges Vokabular bemüht. Das hat sehr viel zu tun mit seiner Herkunft, seiner
Entwicklung. Geboren 1949 in Beirut, hatte Yared einen denkbar ungewöhnlichen musikalischen
Werdegang.
O-Ton: Yared (1:35) „Je suis un autodidacte....j’ai tout déchiffré.“
drüber Synchronsprecher:
Ich bin Autodidakt, vollständiger Autodidakt. Das heißt, ich bin bei den Jesuiten aufgewachsen, im
Internat, von meinem 4. bis zu meinem 14. Lebensjahr. Dort hatte ich einen Klavierlehrer, immer
Mittwochs um 10 Uhr, eine halbe Stunde pro Woche. Der hat mir einen Klavierband hingelegt mit
Sonaten von Clementi, Dussek oder Sonatinen von Beethoven. Wenn ich weitergeblättert habe,
fand ich dort Namen wie Schumann, Bach und dergleichen. Wenn dann die Pause kam und alle
nach draußen rannten, blieb ich stattdessen drin - im Musiksaal. Dort habe ich angefangen, Noten
zu lesen, bis ich bald genauso gut Noten lesen konnte wie das Alphabet. Ich fing also regelrecht
an, Musik zu „essen“, zu verschlingen - alles was ich finden konnte. Was zwar mein Klavierspiel
nicht verbesserte, aber das war mir egal. Mein Lehrer sprach eines Tages meinen Vater an, weil
er merkte, dass mein ganzes Interesse auf die Musik gerichtet war: Ich selbst wusste sehr bald,
dass ich Komponist werden wollte.
Ich erinnere mich, dass ich - nachdem ich meine Studien bei den Jesuiten beendet hatte - meinen
Vater damit konfrontierte. Der jedoch reagierte ablehnend und sagte, ich könne wählen zwischen
Jura, Ingenieurstudium, Architektur oder Medizin. Nichts davon interessierte mich, aber ich habe
dennoch 3 Jahre Jura studiert. Genau gegenüber der Uni gab es eine Kathedrale mit einer Orgel.
Mein früherer Lehrer, der auch für diese Orgel zuständig gewesen war, war inzwischen
verstorben. Also standen mir alle Türen offen. Morgens ging ich zum Studieren, nachmittags
erklomm ich dann die Treppen zur Orgel. Da habe ich dann alles erkundet, was man sich
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vorstellen kann: Pachelbel, Bach, Brahms Orgelwerke, sogar Schumanns Stücke für Pedalflügel,
Messiaen, Langlais, Louis Vierne, César Franck - alles was ich in die Finger bekam.“
Sprecher:
Ein Musikbesessener, hineingeboren in eine gänzlich andere orientalische Musikkultur, von der
Yared selbst sagt, sie sei eigentlich gar keine, jedenfalls nicht vergleichbar mit derjenigen des
Abendlandes. Wenig später wird er eingeladen nach Rio de Janeiro, um am brasilianischen
Festival de la Chanson teilzunehmen. Dort erhält er auf Anhieb einen Preis als ChansonSchreiber und beschließt, die nächsten anderthalb Jahre zu bleiben. Auch hier etabliert sich der
musikalische „Bastard“ Yared, wie er sich selbst nennt, schnell und tut sich hervor als begabter
Arrangeur und Stückeschreiber mit brasilianischer Kompetenz.
Sesshaft wird er schließlich in Paris, wo er zunächst eine Karriere als Orchestrator startet, und
zwar im Unterhaltungsmetier. Er arbeitet für Stars wie Charles Aznavour, Gilbert Becaud und
Silvie Vartan und macht sich rasch einen Namen durch seinen speziellen rhythmisch-sinfonischen
Arrangierstil.
Musik: „Betty Blue“ (aus Sampler/T 28)/runter nach.... 1:00
drüber Sprecher:
Geboren im Libanon mit Zwischenstation in Brasilien und Wohnsitz schließlich in Paris. Dort
kommt Yared auch erstmals mit dem Genre „Film“ in Berührung, und zwar durch niemand
Geringeren als Jean-Luc Godard. Den lernte er Ende der 70er Jahre kennen durch Francoise
Hardy und deren Mann Jacques Dutronc. Man taf sich im Café Saint-Cloud, wo Godard ihm sein
aktuelles Filmprojekt unterbreitete.
O-Ton: Yared (13:55) „Il me dis: je vous montre pas le film...traité d’une céllule - voilà“ (1:25)
drüber Synchronsprecher:
Godard sagte mir gleich: den Film zeige ich Ihnen gar nicht erst. Es ist eine eher banale Story.
Was ich brauche, sind 20 Seekunden Musik hier, 30, 40 Sekunden da - und zwar ein
Arrangement der Ouvertüre des 2. Aktes der „Giocchonda“ von Ponchielli. Darauf ich zu ihm:
hören Sie, sowas interessiert mich nicht. Wenn Sie einen Orchestrateur suchen, besorgen Sie
sich am besten den „Guide de Showbusiness“ im nächsten Geschäft an der Ecke; dort werden
Sie sicher fündig. Ich jedenfalls habe kein Interesse. - Wohlgemerkt: ich hatte damals keinerlei
cineastischen Background, kannte deshalb auch Godard nicht, denn die einzige Begegnung mit
Film waren in meiner Kindheit Streifen wie „Die drei Musketiere“, „Herkules“ und 2 HitchcockFilme. Keine Filmkultur also.
Trotzdem gefiel Godard offenbar unser Gespräch, denn wenig später rief er mich an und sagte:
machen Sie, was Sie für richtig halten. Ich gebe Ihnen freie Hand. Also nahm ich 4 Takte aus dem
Ponchielli (singt) und gewann daraus 40 Minuten Filmmusik, aus einer einzigen Motivzelle, so wie
ich es bei meinem Lehrer gelernt hatte.
Sprecher:
- Also doch ein Lehrer?
Tatsächlich hatte Yared eine Tages beschlossen, seinem autodidaktisch erworbenen Wissen ein
wenig auf die Sprünge zu helfen, indem er Privatstunden nahm bei einem emeritierten Professor
des Pariser Conservatoire. Dieser trimmte ihn zwei Jahre lang vor allem in kontrapunktischer
Technik und in Sachen Motiv-Verarbeitung. Ein Kapital, das zu einer der tragenden Säulen in
Yareds Kompositionen werden sollte: die Ableitung einer ganzen Filmpartitur aus einer einzigen
Kernidee. So zu hören ewa in seiner Musik zu „Camille Claudel“ aus dem Jahr 1988. Auch dieser
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Film ein intensives Schicksals-Melodram um die Bildhauerin Camille Claudel, die Geliebte und
Muse des Bildhauers Auguste Rodin. In den Hauptrollen Isabelle Adjani und Gérard Dépardieu...
Musik: „Camille Claudel“/ Sampler T 23... 2:15
(über Musik)
O-Ton: Yared (20:00) „J’ai un problem véritable avec l’image....le plus possible (21:23)X...X
(21:40)Si non.....on fini par etre repetitiv.“ (2:00)
drüber Synchronsprecher:
Ich habe da ein echtes Problem mit Bildern. Erstens: wenn ein Bild zu schnell ist, kann ich nicht
folgen - ein physisches Problem, das der Epilepsie ähnelt. Das heißt, wenn ich einer
aktionsreichen Szene folge, muss ich die augen schließen, weil sich sonst alles im Kopf dreht.
Dann gibt es da noch ein anderes Problem: dass mir Bilder weit weniger zu Herzen gehen als
Worte. Wenn mir zum Beispiel ein Regisseur von seinem Film erzählt oder mir das Skript zu lesen
gibt, beginnt es in mir sofort zu singen. Zeigt er mir aber den Film, singt da gar nichts. Also: seit
meiner damaligen Begegnung mit Godard weiß ich im Grunde, dass ich eine sehr eigene Art habe
zu arbeiten - eine Art, die dummerweise kaum verbreitet ist. Praktisch gesprochen heißt das: ich
mache nicht 3 Filme pro Jahr sondern einen. Aber ich will von Anfang an dabei sein - weil ich
erstens Zeit brauche zum Nachdenken und zweitens, um den Film zu abstrahieren und mit dem
Regisseur zu diskutieren - einfach, um das Bestmögliche zu erreichen.
Angenommen, man zeigt mir einen Film - drei Monate vor Veröffentlichung - und sagt mir:
Monsieur, sie haben 12 Wochen Zeit; wir wünschen uns Musik hier und hier und dort: sowas finde
ich als Komponist zynisch und lehne wenn möglich ab. Das hat sich immer wieder als schwierig
herausgestellt, denn es gibt Leute, die verstehen das und wiederum solche, die es nicht
verstehen. Denn was tut ein Filmkomponist? Meist hört man von den Regisseuren: die Musik soll
den Flm unterstützen, soll ihn retten. Aber das kann sie gar nicht - jedenfalls nicht bei nur 3
Monaten Zeit. Und ich meine, je mehr Filme man pro Jahr macht, desto mittelmäßiger wird die
Musik. Auf jeden Fall schwindet unsere künstlerische Kapazität, denn man fängt schließlich an,
sich zu wiederholen.
Musik: „English Patient“/Convento di St Anna... 2:15
Sprecher:
„Convento di Sant’Anna“ heißt dieses Stück aus „Der Englische Patient“. Eine Komposition, die
ebenso gut von Johann Sebastian Bach stammen könnte, tatsächlich aber von Gabriel Yared ist.
Im Film bildet sie eine Art Brückenschlag zur Aria aus Bachs „Goldbergvariationen“, die an
entscheidender Stelle aus der Szene heraus erklingt, auf einem ramponierten Flügel gespielt von
der Hauptdarstellerin Juliette Binoche.
O-Ton: Yared (49:38) „I can tell you: this....c’est fini“ (0:40)
drüber Synchronsprecher:
Ich kann Ihnen verraten: dieses Präludium in G ist für mich das vielleicht schwierigste Stück, das
ich je geschrieben habe. Was man ihm sicher nicht ansieht, denn es ist ganz einfacher
Kontrapunkt. Aber ich wollte damit eine Hommage an Johann Sebastian Bach schreiben, an ein
Stück - die Goldberg-Aria - die wir an dieser Stelle nicht genommen haben. Und obwohl ich meine
kontrapunktische Lektion gelernt habe, habe ich mich hier Takt für Takt vorangetastet, um etwas
zu schaffen, das immerhin einigermaßen vollkommen ist. Und wenn ich es mir heute anhöre, bin
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ich ganz zufrieden damit. - Wobei ich sagen muss, dass ich mir nie im Nachhinein meine Musik
anhöre.
Sprecher:
Seine barocke Leidenschaft teilt Gabriel Yared mit Anthony Minghella, dem Regisseur des
„Englischen Patienten“ . Der war es auch, der dafür sorgte, dass dieses Klavierstück überhaupt im
Film Verwendung fand; denn ursprünglich hatte man geplant, die Bach’sche „Goldberg-Aria“ in der
entsprechenden Szene zu wiederholen. Minghella jedoch setzte sich schließlich durch - nicht
zuletzt deshalb, weil er zu den wenigen Regisseuren gehört, die eine ausgeprägte
filmmusikalische Ästhetik haben. Ein Glücksfall, wie Yared findet:
O-Ton: Yared (28:34) „Anthony - il a hésité... entre l’image et la misique“ (1:55)
drüber Synchronsprecher:
Anthony wollte eigentlich Chanson-Komponist werden. Er gründete eine Band, schrieb Songs und
spielt Klavier; er ist durchaus notenkundig. Bei ihm zu Hause findet man zum Beispiel die BachSuiten, das Wohltemperierte Klavier: er liebt die Musik, auch wenn er kein großer Pianist ist. Aber
er hört - und er hat musikalischen Geschmack. Vor allem hat er kein festgelegtes Vokabular im
Kopf, für welchen Szenetyp welche Musik passt. Im Gegenteil: wenn man ihm zum Beispiel sagt,
hier passe genau diese Art von Musik, probiert er erst recht etwas anderes aus. Das ist nur
möglich, weil wir gemeinsam für lange Zeit am Projekt arbeiten. Zum Beispiel bereiten wir derzeit
„Cold Mountain“ vor, einen Film über den amerikanischen Bürgerkrieg 1870. Anthony hat noch
nicht einmal mit dem Casting angefangen, geschweige denn mit dem Drehen. Aber nächste
Woche treffen wir uns bereits in London, um gemeinsam über die Musik nachzudenken: weil die
Musik bei ihm immer Bestandteil des Konzepts ist. Und seine Drehbücher enthalten immer
musikalische Anspielungen: es gibt immer ein Stück von Bach, oder Händel, Mozart,
Tschaikowsky. Es gibt immer musikalische Affinitäten bei ihm - nicht nur zu großen Meistern
sondern auch filmmusikalisch. - Also, wenn ich mit Anthony ein neues Projekt beginne, dauert das
8 Monate, 1 Jahr oder länger. „Der Englische Patient“ zum Beispiel hat sich eineinhalb Jahre
hingezogen - immer hin und her, solange bis sich das ergab, was man schließlich im fertigen Film
vorfindet: eine äußerst enge Verbindung von Bildern und Musik.
Musik: „English Patient“/Main Title ... 2:15
Sprecher:
Am Beginn des „Englischen Patienten“ steht eine Solostimme. Es ist diejenige der ungarischen
Volkssängerin Marta Sébestyen; ein fremdartig-exotisches Idiom, das den Zuschauer
augenblicklich entführt in eine Welt multikultureller Verstrickung - eben die des Michael Ondaatje
und seines „Englischen Patienten“. Erst nach dieser homophonen Arabeske fädelt sichYareds
Orchester ein - äußerst behutsam, so, als suche es nach einem organischen Anknüpfungspunkt.
O-Ton: Yared (1:05:00) „Anthony listens a lot ....de tourner autour de ca - sans jamais l’aprocher.“
(1:00)
drüber Synchronsprecher:
Anthony hört sich jede Menge CDs an, die er von den Produktionsfirmen tonnenweise geschickt
bekommt. Eines Tages sagte er: hör die das mal an. Es war das Lied „Serelem“. Darauf ich: was
ist das? - Es schien irgendwie orientalisch zu sein. Und er sagte: nein, es ist türkisch-bulgarisch
mit ungarischem Text. Und er fragte mich, wie wir das einbinden könnten in meine Filmmusik.
(singt) - Ich hörte mir das Ganze wieder und wieder an und versuchte, es durch etwas Eigenes zu
ersetzen. Aber es ging nicht. Diese Musik wurde sozusagen das Tor zum „Englischen Patienten“ 6
Anthony hat es eingebracht, und er forderte mich auf, es musikalisch zu umkreisen, ohne ihm
jedoch zu nahe zu kommen.
Sprecher:
- Wie einer Frau, ergänzt Yared, die man liebt und der man eben deshalb nicht zu nahe kommen
will.
Überhaupt - auch dies ein Merkmal des Filmkomponisten Yared: er liebt es, gesungene Titel in
seine Partituren mit einzubauen. Marta Sébestyen hier; Myriam Stockley, die Sängerin aus Carl
Jenkins „Adiemus“-Projekt, in „Es begann im September“ oder Sinead O’Conor in „Der Talentierte
Mr. Ripley“. Letzterer ebenfalls eine Koproduktion mit Anthony Minghella...
Musik: „Mr. Ripley“/T4 … 1:50
drüber:
„Lullaby for Caine“ heißt dieser Titel, der gleich zu Beginn dieser Patricia Highsmith-Verfilmung
erklingt: ein Wiegenlied, ganz in der Tradition schaurig-schöner Psycho-Sujets - man denke nur
an „Rosemary’s Baby“ und ähnliche Vorläufer. Wobei sich Yared auch hier als sublimer Kenner
des klassischen Repertoires entpuppt. Denn seine durchgängig synkopierte Charakter-Arie für
einen mordenden Psychopathen leitete er ab aus dem langsamen Satz von Joseph Haydns früher
vierter Sinfonie.
Aber Yared - das unterscheidet ihn von so manchem seiner Hollywood-Kollegen - kopiert nicht
einfach fremdes Ideengut sondern lässt sich bestenfalls inspirieren. Weil er ohnehin der Meinung
ist, dass es allemal wertvoller ist, sich mit den großen Meistern auseinanderzusetzen als mit den
immer rasanter um sich selbst kreisenden Spielarten sogenannter Film-Vertonung. Aus diesem
Grunde steht er auch einem maßgeschneiderten Filmmusik-Studium, wie es in den USA
angeboten wird, eher kritisch gegenüber. Denn dieses schürt seiner Meinung nach nur das
Bedienen von Stereotypen und Reflexen.
O-Ton: Yared (41:28) „What we need....une evolution de language de musique“ (0:45)
drüber Synchronsprecher:
Was wir brauchen, um uns weiterzuentwickeln, ist ein offenes Ohr als Gegenüber. Nicht
Akzeptanz um jeden Preis, aber jemand der auch bereit ist, ein Risiko einzugehen - sofern wir
nicht ewig dieselben Reflexe vollführen wollen, dieselben Gewohnheiten von Film zu Film. Für
jeden Szenen-Typ die entsprechende, passgerechte Musik: für die Liebesszene, für Spannung
und so weiter. Diese Art, wie sie in der Vergangenheit praktiziert wurde, hat heute keine
Berechtigung mehr. Man muss ein neues Vokabular finden, neue Ausdrucksmöglichkeiten.
Sprecher:
Um dies zu erreichen, und um seine Technik in Sachen „Orchestration“ zu vervollkommnen, hat
der Autodidakt Yared zwischenzeitlich auch Stunden genommen bei Henri Dutilleux, Frankreichs
führendem Sinfoniker der Neuzeit. Außerdem hat er in Paris die „Academie Pleiade“ ins Leben
gerufen, wo er junge Nachwuchstalente fördert - keineswegs nur auf filmmusikalischem Gebiet.
Sein eigenes Ballett „Clavigo“ wurde erst kürzlich an der Pariser Oper von Roland Petit aus der
Taufe gehoben. Und auch sonst hat der Talentierte Mr. Yared mit dem glühenden Charisma noch
so einiges vor. Wie heißt es doch so schön?: Demnächst in Ihrem Kino...
Musik: „Mr Ripley“/Crazy Tom/ T 5/Schluss … 1:30
7
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