6. Ethik und Theater: Die griechische Tragödie

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Max Klopfer (Hrsg.)
Studienbriefe Ethik
Elisabetta Abbondanza
ETHIK UND THEATER
DIE GRIECHISCHE TRAGÖDIE
Tragische Schicksale für den Ethikunterricht
2
3
Inhalt
ERSTER TEIL
.
5
ETHIK UND TRAGÖDIE …………………………..………………………………………
EINFÜHRUNG IN DIE ETHISCHE SICHTWEISE DER GRIECHISCHEN TRAGÖDIE. ….……..
5
5
I. 1. Die moralische Wirkung der Tragödie bei Aristoteles ……………………………..
I. 2. Ursprung und Entwicklung der griechischen Tragödie ...............................................
I. 3. Mythos als Stoff der Tragödie ......................................................................................
I. 4. Aischylos .......................................................................................................................
I. 5. Sophokles ......................................................................................................................
I. 6. Euripides ........................................................................................................................
I. 7. Die tragische Konstellation ...........................................................................................
I. 8. Die Hybris und die ethischen Lehren der Tragödie ......................................................
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ZWEITER TEIL …………………………………………………………………………... 19
DIE TRAGÖDIEN ………………………………………………………………………….
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II. 1. Aischylos „Prometheus gefesselt“ .............................................................................
II. 1. 1. Die Handlung .............................................................................................................
II. 1. 2. Ethische Grundfragen des Stückes.............................................................................
II. 1. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht ..............................................................................
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II. 2. Aischylos „Sieben gegen Theben“ .......... ..................................................................... 26
II. 2. 1. Die Handlung .............................................................................................................. 26
II. 2. 2. Ethische Grundfragen des Stückes ............................................................................. 31
II. 2. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht ............................................................................... 31
II. 3. Sophokles „Antigone“...................................................................................................
II. 3. 1. Die Handlung ..............................................................................................................
II. 3. 2. Ethische Grundfragen des Stückes ..............................................................................
II. 3. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht ................................................................................
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II. 4. Euripides „Medea“ .......................................................................................................
II. 4. 1. Die Handlung ..............................................................................................................
II. 4. 2. Ethische Grundfrage des Stückes ................................................................................
II. 4. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht ................................................................................
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FRAGEN UND ANTWORTEN............................................................................................ 53
LITERATUR .......................................................................................................................... 68
4
5
Erster Teil: Ethik und Tragödie.
Einführung in die ethische Sichtweise der griechischen Tragödie.
Der Ethikunterricht kann seine Themen auf zweierlei Weise behandeln: als Untersuchung von
Normen (im weitesten Sinn des Wortes) und als konkrete Analyse erzählter Handlungsweisen von
Menschen. Im zweiten Fall schlägt man den Weg der narrativen Ethik ein. Diese bringt die conditio
humana, die situativen Bedingungen menschlicher Handlungen, zum Vorschein.
Die narrative Ethik als didaktische Disziplin thematisiert aber vor allem die ethischen
Fragestellungen, die eine erzählte Geschichte stellt. Somit bestimmt sie die Form der Lektüre,
welche den Schülern die ethische Reflexion näher bringen soll.
Im folgenden soll gezeigt werden, dass die Werke der griechischen Tragödie einen besonders guten
Ansatz für ethische Themen geben können. Diese Geschichten sind deshalb auch für den Unterricht
von besonderem pädagogischen Wert, weil in ihnen die Handlung eine von der Allgemeinheit des
Publikums anerkannte feste ethische oder politisch-religiöse Ordnung zugrunde hat, gegen die eine
oder mehrere Personen - manchmal bewusst, manchmal ohne es zu wollen, manchmal zu Recht,
manchmal zu Unrecht - verstoßen. Dem folgt in der Regel eine existentielle Ausweglosigkeit für
den Täter und häufig auch für dessen Familie und Nachfolger, die schon in den frühen Zuschauer
solcher dramatischer Darstellungen „Jammer und Schaudern“ hervorrief und dadurch den ethischen
Konflikt stark ins Gedächtnis einprägte. Zudem wirkten diese Werke so stark auf das kulturelle
Gedächtnis des Abendlandes, dass bis in die Gegenwart Dichter und Dramatiker von jenen
tragischen Schicksalen immer wieder angezogen wurden, und versuchten, sie aufs Neue zu
formulieren und vorzustellen.
I. 1. Die moralische Wirkung der Tragödie bei Aristoteles
In der Poetik des Aristoteles finden wir eine treffende Definition der Aufgabe des Dichters - wir
würden heute sagen des Schriftstellers oder Autors -, wie sie sich von der Aufgabe des Historikers oder auch des Berichterstatters tatsächlichen Geschehens - unterscheidet.
Danach ist es
„…nicht Aufgabe des Dichters [...] mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr,
was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit
Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch
voneinander, dass sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie
unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der
andere, was geschehen könnte.“ (Kap. 9)1
1
Zitiert wird nach: Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann.
6
Aristoteles kommt dabei zu einem Schluss, der die ethische Bedeutung von „Dichtung“, was
insbesondere Tragödiendichtung meint, einräumt. Er betont und verteidigt den Vorteil der guten
Literatur (dafür gibt er in seiner Poetik Anweisungen und Beurteilungskriterien) gegenüber
anderen Darstellungsformen. Denn allein in der Dichtung stehen allgemeingültige mögliche
Handlungen im Zentrum der Darstellung:
„Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn
die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung mehr das Besondere mit.“ (Kap.
9)
Das, was Aristoteles zum „Allgemeinen“ rechnet, hat eine Vorbild- und Musterfunktion und in
diesem Sinne eine übergeordnete Gültigkeit. Es steht über der Wirklichkeit mit ihren
Einzelereignissen und weniger durchschaubaren Geschehnissen, die in ihrer jeweiligen
„Besonderheit“ nur über sich selber, keineswegs aber Allgemeingültiges aussagen.
Aufgabe der Tragödie ist nach Aristoteles auch, „bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der
Wirklichkeit vorkommen“ (Kap. 3). Also ist den Charakteren und Personen, die in der Tragödie
vorkommen, eine größere sittliche Qualität beizumessen, als denen der Wirklichkeit oder der
Geschichte. Da sie nach dem Prinzip der Möglichkeit „erfunden“ sind, sagen sie mehr aus als bloße
Einzelereignisse, wie sie in der Wirklichkeit gelegentlich und eher zufällig vorkommen. Die
„erfundenen“ Charaktere und Handlungen auf der Bühne stellen aber das Geschehen an sich, vom
Zufälligen befreit und klar in seinen Bahnen gezeichnet, dar.
Mit folgenden Argumenten wird von Aristoteles der Dichtung eine ethische Funktion
beigemessen:
1. Allgemeingültige Aussage einer fiktiven Handlung („denn die Dichtung teilt mehr das
Allgemeine ... mit.“).
2. Vorbildcharakter von fiktiven Personen (denn sie sind „bessere Menschen ... als sie in
der Wirklichkeit vorkommen“).
Dem Bestreben, anhand von literarischen Geschichten moralische Erziehung anzubahnen, wurde
seit der Antike auch mit Skepsis begegnet. Obwohl diese Abhandlung ein Plädoyer für Literatur im
Ethikunterricht ist, sollen dennoch zunächst auch die Argumente, auf die jene Skepsis zurückgriff,
nicht übergangen werden. Gehört es doch zu den zentralen Anliegen einer narrativen Ethikdidaktik,
im Gegenzug gegen jene Skepsis Argumente für eine ethische Zugangsweise zur Literatur und für
die ihr zugrunde liegenden ethischen Fragen zu entwickeln.
Kritische Argumente hinsichtlich der Vermittlung von ethischen Werten in Dichtung und Drama
aufgrund ihres fiktionalen Charakters äußerten Philosophen wie Platon und Immanuel Kant.
Stuttgart 1982 (Reclam Nr.7828). Hervorhebungen im Text von E.A.
7
Während Kant aus realen Fakten, tatsächlichen Geschehnissen Beispiele für „wirkliche“ moralische
Handlungen zu geben sucht, kritisiert er bei den „bloß erfundenen“ Geschichten ihren fiktionalen
Möglichkeitscharakter, in der Befürchtung, dieser würde auch der Moral den Status bloßer
Möglichkeit verleihen. Allerdings betont er die veranschaulichende Funktion von erzählten
Geschichten, hält dabei die „Biographien alter oder neuerer Zeit“ für das geeignete
Anschauungsmaterial2 und empfiehlt für das Aufsuchen moralischer Handlungsweisen Biographien
wie die über Maria Stuart oder Heinrich VIII. von England. Dass bestimmte Handlungen wirklich
geschehen sind, gibt nach Kant der Moralität eine Verankerung in der Realität.
Den Topos des „lügenden“ und daher in Sachen der Moral nicht zuverlässigen Dichters finden wir
schon bei Platon. Im Dialog Politeia (Der Staat) verfolgt er das Ziel, Richtlinien zur Reinigung der
Dichtung von ihren „Lügen“ zu geben und zu begründen. Im platonischen Idealstaat ist Dichtung
nur zugelassen, wenn sie vor allem über die Götter nur noch das „Richtige“, also „Gutes“ sagt. Sie
darf schwache, böse, oder ungerechte Götter nicht darstellen, um die (Staats)Religion nicht ins
Wanken zu bringen. Auch sind in der Dichtung weder Fiktionen, noch die Darstellung von
Menschen und dramatischen Handlungen von Menschen erlaubt. Aufgabe der Dichtung ist
lediglich, die Götter in ihren Qualitäten der Unendlichkeit, des Guten und der Gerechtigkeit zu
preisen. Allein als Götterverehrung oder versifizierten Gebet - nicht aber als epische oder
dramatische Darstellungsform - dient nach Platon die Dichtung der sittlichen Verbesserung der
Menschen. Nicht zu vergessen ist jedoch dass Platon selber, bevor er zur Philosophie griff,
Tragödien dichtete. Er verbrannte sie jedoch alle nachdem er Sokrates und mit ihm der
philosophischen Reflexion über Ethik begegnet war. Diese Reflexion führte dann später bei Platon
dennoch zu einem wesentlichen Gedanken der narrativen Ethik, so wenn er häufig an die Stelle des
Dialogs zweier Gesprächspartner einen erzählten Mythos bzw. ein Gleichnis folgen lässt3.
Im Gegensatz zu Platon hütet sich Aristoteles, den Dichtern solche Vorschriften zu machen. Er
verteidigt vielmehr - wie oben ausgeführt - ihre besondere Art, durch Darstellung von Möglichem,
also durch Fiktion, allgemeingültige ethische Prinzipien in den Handlungen der Menschen
anschaulich zu machen. Besonders die Darstellung der Götter- und Heroengeschichten, in denen es
um ethische, politische wie religiöse Inhalte geht, die den Menschen betreffen und ansprechen, wird
in der tragischen Dichtung von Aristoteles empfohlen.
Mit einem weiteren Einwand greift Platon die Wirkung der Dichtung und besonders der Tragödie
auf die Menschen an. So lässt er Sokrates sagen „dass sie [die Tragödie] imstande ist, auch die
Wohlgesinnten, einige gar wenige ausgenommen, zu verderben ...“4.
Es ist diese „die größte Anklage“, aufgrund derer die Dichter und besonders die Tragödiendichter
2
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 274.
Zu erinnern ist hier an das Höhlengleichnis im Dialog Politeia oder and das Gleichnis des Wagenlenkers im Dialog
Phaidros.
3
4
Platon, Staat, X. Buch, 605c-607a. Zitiert wird nach: Platon, Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich
Schleiermacher hrsg. von Ernesto Grassi und Walter F. Otto. Hamburg 1958, Bd. 3.
8
aus seinem imaginierten Staat verbannt werden. Sein Argument lautet folgendermaßen: die
Dichtung wende sich einzig an die niederen Kräfte der Seele und zerstöre im Menschen die
Vernunft. Sie versetze den Menschen in eine fremde unwirkliche Welt, beeinflusse sein Gemüt
durch Vorspielen von Klagen oder heftigen Gefühlen. Damit fördert für Platon diese Kunst
zunehmend jene „unkontrollierte“, unbeherrschbare starke Gefühle wie Mitempfinden, Furcht und
Trauer, Wut oder Ausgelassenheit. Ein tugendhafter Mensch sollte aber gerade diese Gefühle
zurückhalten, damit er von der Außenwelt und einem fremden, dazu noch „erfundenen“ Geschehen
nicht beeinflusst, sich allein auf sich selbst - d. h. für Platon auf die Inhalte seiner intellegiblen Seele
- und auf die Beherrschung seiner Gefühle konzentrieren kann: "denn sie [die Dichtkunst] nährt
und begießt alles dieses, was doch sollte ausgetrocknet werden, und macht es in uns herrschen,
obwohl es doch müsste beherrscht werden, wenn wir Bessere und Glücklichere statt Schlechtere
und Elendere werden sollen.“ (606 d)
Eigentlich wirft Platon den Tragödiendichtern vor, dem Zuschauer seine Autonomie und
Eigenständigkeit zunehmen, da sie den schlechteren, weil leidenschaftlichen und triebhaften Teil
der Seele fördern.
Diesem Vorwurf setzt Aristoteles seine berühmte Definition der Tragödie entgegen. Darin werden
die menschlichen Gefühle, die jene erweckt, zugelassen und auf die Fähigkeit des Menschen
Vertrauen gesetzt, heftige Gefühle auszugleichen, oder sich von heftigen Gefühlen gerade mittels
dieser Gefühle zu befreien.
So lautet seine epochemachende und bis ins 18. Jahrhundert wirkende Definition der
Tragödie:
„Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von
bestimmter Größe, [...] von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und
Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen
bewirkt.“5
Die „Katharsis“, oder Reinigung der durch das Geschehen auf der Bühne erregten (jedoch nicht
ausgelebten!) Leidenschaften - mitunter auch der Gewalt - gibt dem Gemüt Ruhe und Fassung
zurück und übernimmt dabei die Funktion eines Ventils im menschlichen Gefühlshaushalt, so dass
die provozierte Gefühlserregung zuletzt zu einer geläuterten Gemütstimmung führt6.
Mit Schiller könnte man hinzufügen: dem Zuschauer ist zudem die Möglichkeit einer selbständigen
Reflexion gegeben, d. h. des sich Erhebens über das bisher Erlebte und über die dabei empfundenen
Gefühle. Dies könne das moralische Bewusstsein des Menschen nur stärken. Neben seiner reichen
5
Aristoteles, Poetik, Kap. 6.
Vgl. Walter Burkert, Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen. Berlin 1991. Zu nennen ist hier auch
Aristoteles Prinzip der „gemäßigten Leidenschaftlichkeit“ (metriopatheia), vgl. dazu M. Fuhrmann im Nachwort zur Poetik
des Aristoteles, a.a.O., S.160ff.
6
9
Dramenproduktion, beschäftigte sich Schiller eingehend mit der moralischen Wirkung des Theaters.
Die vom Zuschauer empfundene Rührung ließ er dabei „auf ein dunkles Bewusstsein ähnlicher
Gefahr“ zurückgehen. Fest für ihn stand, dass Leser oder Zuschauer um eine Lehre von der
tragischen Geschichte entnehmen zu können „warm werden“ müsse „wie der Held“ selbst7.
Der Zuschauer eines Dramas fühlt sich dem Helden der Handlung nah, er ist mitgerissen und kann
trotzdem über dieses Erlebnis aus der Distanz, als Zuschauer, reflektieren. Wichtig ist, dass er die
„fremde“ Handlung auch als eigene erlebt, sie zum Thema des Empfindens und der moralischen
Reflexion macht. Am wichtigsten stellt sich jedoch bei Schiller jenes Wechselspiel von
Empfindung und moralischem Bewusstsein erst in der Befreiung von den gefühlsmäßigen
Erregungen des Gemütes.
Fundamentalgesetze der tragischen Kunst sind für Schiller:
1. : Darstellung der leidenden Natur;
2. : Darstellung der moralischen Selbständigkeit im Leiden.8
Die folgenden Sätze erklären das näher: „Darstellung des Leidens - als bloßes Leidens - ist niemals
Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig. Der letzte Zweck
der Kunst ist die Darstellung des Übersinnlichen, und die tragische Kunst insbesondere
bewerkstelligt dieses dadurch, dass sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im
Zustand des Affekts versinnlicht.“9
Diese Weiterführung des aristotelischen Grundgedankens über die ethische Bedeutung der Tragödie
führt uns zu unserer Hauptfrage zurück: die nach der ethischen Auseinandersetzung, die eine
Tragödie möglich macht, d. h. das Nachdenken über ethische Themen und Fragen anhand eines nah
erlebten Bühnenbeispiels.
Die „ethische Lehre“ erfolgt aus der Darstellung eines Menschen, der sich in einer fast immer
selbstverschuldeten und auswegslosen Konfliktsituation befindet. Die griechische Tragödie liefert
uns sehr anschauliche Beispiele für solche Konfliktsituationen und schicksalhafte Verstrickungen.
In der Regel liegt ihnen ein maßloses, selbstüberhebendes Verhalten zugrunde.
I. 2. Ursprung und Entwicklung der griechischen Tragödie
Zu den Ursprüngen der Tragödie (nach dem Griechischem „tragodos“: Bocksgesang, eigentlich
7
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (F.S. Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, München
1989, Bd. V, S.14).
8
F. Schiller, Vom Erhabenen, 1793, Sämtliche Werke, Bd. V, S.512.
9
F. Schiller, Über das Pathetische, 1793, Sämtliche Werke, Bd. V, S.512.
10
aber: Gesang beim Opfer des Bocks)10 gehört ein Opfer- und Reinigungsritual, das in einem
umschlossenen Bezirk den Göttern bereitet wurde.
Das Wort „heilig“ (ieron) ist ebenfalls an diese Handlung (opfern = iereuein) geknüpft, wie die
Wörter mit gleicher Wurzel beweisen. In dieser Kulthandlung liegt auch der enge Zusammenhang,
wenn nicht der einheitliche Ursprung von griechischer Religion und Theater.
Geopfert wurde, um eine begangene „Schuld“ zu sühnen, um den Menschen mit den Göttern, die
seine Umwelt beschützten - so der frühe Glaube - und mit seiner Gemeinschaft durch eine fast
magische Handlung zu versöhnen, und ihn in die alte Ordnung („Kosmos“) wieder eintreten zu
lassen.
In der Folge verbanden sich mit dieser religiösen Funktion, die dem Kult des Dionysos galt und zu
bestimmten Jahreszeiten in Athen stattfand, öffentliche Feste11. Seit 534 v. Chr. wurden die
Hauptfeste der Tragödien die Großen oder Städtischen Dionysien im März/April gefeiert12. In ihren
Anfängen bestand die Tragödie im Wechselgesang - später Dialog - des Dichter-Schauspielers mit
dem Chor, danach wurden Masken und weitere Figuren eingeführt.
Jeder Dichter führte drei Tragödien und ein Satyrspiel (Tetralogie) an einem der drei dazu
vorgesehenen Tagen hintereinander auf. Am vierten Tag wurden Komödien gespielt, aber nur
jeweils eine von einem Dichter. Eine ausgesuchte Jury ernannte schließlich einen der Teilnehmer
zum Sieger des Wettkampfes (Agon).
Trotz der wenigen erhaltenen Tragödien müssen wir mit einer sehr großen Zahl von Tragödien
rechnen, sicher mit über tausend im Laufe des fünften Jahrhunderts, wenn man bedenkt, dass die
drei großen Tragiker insgesamt 35 Mal siegten und dass vom ersten Sieg des Aischylos bis zum Tod
des Sophokles 77 oder 78 Tragödien-Agone stattfanden. Aischylos und Euripides sollen je etwa 90
Stücke geschrieben haben, für Sophokles sind 113 bezeugt. Von anderen tragischen Dichtern sind
keine Texte erhalten.
In der frühen Zeit fanden kurz vor den Feierlichkeiten gerichtliche Verhandlungen statt. Die
Ausübung von Recht und Gesetz geschah also in nächster Nähe zur Ausübung des religiösen
Gesetzes und Rituals, die die Tragödie seit ihren Anfängen beherrschten, wenn der Ursprung von
Gericht und Ritual nicht sogar ein einziger ist13.
10
Dazu Walter Burkert, Griechische Tragödie und Opferritual, in: a.a.O., S. 13-39.
Christian Meier (Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S.54-74) spricht in diesem
Zusammenhang von der Öffentlichkeit und dem gesellschaftlichen Charakter des Festes. Zugleich bot das Fest für die Bürger
von Athen eine Distanzierung vom Alltag, um Klarheit und Ausgleich zu gewinnen, und die Möglichkeit von
Wiederaufrichtung des Menschen in einem bestimmten Weltbild, nachdem die Veränderungen der Gegenwart selbst in den
Tragödien problematisiert worden waren.
12
Später fanden neben diesen Hauptfestspielen auch am kleineren Dionysosfest der Lenäen Aufführungen statt.
13
Vgl. besonders Walter Burkert, Buzyge und Palladion: Gewalt und Gericht in altgriechischem Ritual, a.a.O., S.77-85.
Dazu auch: Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a. M. 1982, Kapitel I.
11
11
Die klassische griechische Tragödie die wir kennen, ist nun nicht die ursprüngliche Tragödie
sondern das Resultat einer langen Entwicklung, die im fünften Jahrhundert v. Chr. kulminierte14.
Trotz vielerlei Veränderungen und Erweiterungen gegenüber dem ersten „tragodos“ blieben in der
Erzählstruktur der Tragödie dessen Grundmerkmale erhalten.
Wir fassen zusammen:
1. Aus der tradierten Ordnung, in der der Mensch fest eingebunden ist, ist er durch eine
ungerechte Tat, oder durch einen Frevel aus Übermut ausgetreten.
2. Das seelische Gleichgewicht oder die "Versöhnung" und "Ausgleichung"15 müssen durch
einen Akt, durch einen Opfer - der meistens grausam und ungerecht erscheint wiederhergestellt werden.
3. Dieses Opfer ruft trotz der Gesetzlichkeit, in der es verankert ist, Entsetzen aus: denn es
richtet sich gnadenlos gegen den Menschen (Helden) und seine Familie auch über mehrere
Generationen hindurch.
4. Das Opfer bildet den tragischen Kern der Handlung, den vor allem das Ende der Tragödie in
seiner zerstörenden Macht offenbart. Die Tragödie selbst bietet keine Versöhnung, kein
„glückliches Ende“, sondern in der Regel einen grausamen Abschluss.
5. Aufgabe des Zuschauers ist, den „Sinn“ dieses Endes, d. h. die „Gerechtigkeit“ zu verstehen,
die ein „tragisches" Geschehen notwendig machte.
6. Diese Reflexion ist nach der Kátharsis (= Reinigung) der durch das Geschehen erregten
Leidenschaften und Gefühle möglich.
Früher, in den Anfängen der Tragödie, war der Zusammenhang von Opfer und Verschuldung
eindeutiger als in ihrer späteren Form, bei Aischylos oder Sophokles. Von einer eindeutigen
Verschuldung entfernte man sich im Laufe der Zeit immer mehr, so dass die Hauptfigur oft auch
„unschuldig“ oder „unwissend“ oder „unschuldigerweise schuldig“ erschien. Dennoch hatte sie
gegen die tradierte Ordnung verstoßen, und musste dafür „bezahlen“. Was dann als prägendes
Element erhalten blieb, war die starke Wirkung, die das „Opfer“ - gleichgültig wie begründet hervorzurufen hatte. Diese Wirkung, die Aristoteles mit den Worten „phobos“ und „eleos“ (Furcht,
Entsetzen, Jammer) beschreibt, sollte in der griechischen Tragödie konstant bleiben und bietet selbst
heute das Kriterium zur Beurteilung einer „echten“ Tragödie.
I. 3. Mythos als Stoff der Tragödie
14
Zur Entwicklung und Geschichte der Tragödie vgl. H. Patzer, Die Anfänge der griechischen Tragödie, Wiesbaden 1962;
Christian Meier, a.a.O.; Walter Burkert, a.a.O., mit weiterführenden Literatur.
15
Vgl. J. W. Goethe, Nachlese zu Aristoteles Poetik 1827. In: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd.12, S.342-345.
12
Der Stoff und die Vorlage von dem nun die Tragödie - sowie der größte Teil der damaligen
griechischen Dichtung - ausgeht, ist nicht die Geschichte der Tatsachen, sondern die Mythen, die
Erzählung der Götter- und Menschengeschichte. Wenn aber ein tragischer Dichter wie Aischylos
auf die reale Geschichte zurückgreift, dann heroisiert er sie, wie z. B. in den Persern.
Aus dem religiösen und mythengeschichtlichten Kulturgut, in dem Bild und Aussage eng
miteinander verstrickt sind, werden Handlungen entnommen, die als Beispiele, als Gewand von
einem Allgemein-Menschlichen, als Verdeutlichung von Schicksalen und Entscheidungen dienen
sollen.
Im Drama blieb es jedoch nicht nur bei der mythischen Welterklärung. Diese wurde mit der sich
entwickelnden Rationalität des fünften Jahrhunderts ergänzt und verknüpft. Am Mythos wurde
immer wieder dramatisch durchgespielt, was die Bürger Athens beschäftigte, als die Stadt, infolge
des Persischen und Peloponnesischen Krieges, zu immer größerer Machtposition innerhalb
Griechenlands aufstieg.
Durch den mythischen Rahmen blieben die dunklen Aspekte der Wirklichkeit erhalten, aber sie
konnten auf die neuen aktuellen Situationen und Fragen des gemeinschaftlichen und politischen
Lebens übertragen werden. Somit konnte die Tragödie der Demokratie eine Stütze sein.
Bei Aristophanes, dem Komödiendichter, heißt es sogar einmal, Tragödien seien dazu da gewesen,
die Bürger zu erziehen16. Das Durchspielen von bekannten Stoffen mit jeweils anderen
Akzentuierungen - je nach Zeitbezug - gab den Bürgern Athens eine Form von
Selbstvergewisserung der eigenen Weltordnung und deren Recht. Also vermittelte die Tragödie
anhand von Menschen- und Götterschicksale ein Weltbild und erfüllte das Bedürfnis, einen
allgemeinen Sinn der Welt in der Gemeinschaft wach zu halten.
Auf die enge Verquickung von tragischer Dichtung und politischer Gegenwart in Athen werden wir
bei der Tragödienanalyse nicht eingehen - weisen aber mit Nachdruck darauf hin.
I.4. Aischylos
(geboren 525/524 v. Chr. im attischen Demos Eleusis - gestorben 456/455 in Gela, Sizilien).
Aischylos war Sohn des Euphorion, aus altem Adel. Er erlebte in seiner Jugend das Ende der
Tyrannis und das Erstarken der Demokratie. 490 kämpfte er in Marathon gegen die Perser und 480
gegen eine erneute persische Invasion Griechenlands.
Den ersten Sieg bei den tragischen Agonen in Athen errang er im Jahre 484. Dem folgten weitere 12
Siege. Mit den Persern und drei weiteren Tragödien (Tetralogie) siegte er im Jahre 472. 468
16
So die Hauptthese von Christian Meier, a.a.O.
13
unterlag er dem in diesem Jahr zum ersten Mal auftretenden Sophokles. 467 siegte er wieder mit der
Thebanischen Tetralogie (von den vier Tragödien ist jedoch nur Sieben gegen Theben erhalten).
Nach seiner Sizilienreise feierte er seine größten Erfolge. Es handelt sich um drei Trilogien, die
zwischen 460 und 450 aufgeführt wurden. Erhalten davon ist die Trilogie der Orestie (Agamemnon,
Choephoren, Eumeniden). Die weiteren erhaltenen Tragödien: Hiketiden und Prometheus gefesselt.
Er starb während seiner zweiten Sizilienreise.
Die von ihm geschriebenen und aufgeführten Tragödien enthalten lange statische Rezitative sowie
Dialoge zwischen erstem und zweitem Schauspieler (der zweite Schauspieler wurde von ihm
eingeführt) und dem Chor. Er behandelt alle großen Sagenkreise (Troia, Theben, Argos), aber auch
kleinere Mythen.
Die Heroen wachsen zu übermenschlichen Kolossalgestalten, denen das Publikum nacheifern kann.
Das Schicksal übt einen starken Druck auf Menschen und Heroen, die aber das Leid eigene
Verschuldung wird aber, möglicherweise durch ganze Generationen mit Würde getragen. Die
Heroen werden in dem Moment schuldig, als sie in einer Art von Verblendung die von Gott
gesetzten Grenzen durch Hybris, die höchste Anmaßung, verletzen.
In Aischylos Dramen ist auch die Tendenz spürbar, demjenigen, der sich von der „Ordnung“
entfernt hat, doch gute Gründe für seine Entfernung zu geben.
Der Konflikt, der schließlich zur Katastrophe führt, wird jedoch nicht gelöst. Während das Heros
handelt, dient oft der Chor der Vermittlung von ethischen und Religiösen Werten: der Erklärung des
Bösen in der Welt, der Herrschaft des Zeus, aber auch der Erziehung des Menschen zur
vernünftigen Einsicht, die für Aischylos nur durch einen Leidensweg erreicht werden kann.
I.5. Sophokles
(geboren ca. 496 v. Chr. in Colonos, in der Nähe von Athen - gestorben 406 in Athen)
Über den wohlhabenden Vater genoss Sophokles eine gute Erziehung. Bezeugt ist, dass er schon im
Knabenalter in körperlichen und musischen Agonen erfolgreich war.
Seinen ersten Sieg bei einem tragischen Agon (der Großen Dionysien) erhielt er 486 gegen
Aischylos. Als tragischer Dichter war er sehr produktiv und erfolgreich. Er schrieb ca. 123 Dramen,
von denen nur 7 erhalten sind (Trachierinnen, Aias, Antigone, König Ödipus, Elektra, Philoktetes,
Ödipus in Kolonos)17.
Bei den tragischen Agonen gewann er 24-mal, nie errang er weniger als den 2. oder 3. Platz.
Außerdem nahm er am öffentlichen und religiösen Leben in Athen teil:
17
Einige Bearbeitungen in deutscher Sprache: Hölderlin: Antigonä, Ödipus der Tyrann; Hugo von Hofmannsthal: Ödipus,
Elektra.
14
– 443/442 war er Schatzmeister des attischen Seebundes,
– 441/439 einer der 10 Strategen mit Perikles,
– seit 441 Mitglied der Oligarchie.
Als Priester des Heilheros Halon nahm er das aus Epidauros nach Athen gebrachte Götterbildnis des
Asklepios bis zur Errichtung eines heiligen Temenos (tempelähnlicher, umschlossener Bezirk) in
seinem Hause auf. Über seine „Heiligkeit“ wurde viel berichtet, nach dem Tod wurde er schließlich
als Heros verehrt. Es heißt auch, dass er wegen seiner Liebenswürdigkeit allgemein beliebt war. Er
überlebte Euripides um wenige Monate und starb kurz vor dem Ende des Peloponnesischen
Krieges.
Unter seine dramatischen Neuerungen zählt man
– das Zurücktreten der inhaltlich zusammenhängenden Trilogie,
– die Erweiterung der Mitglieder des Chors,
– die Einführung eines dritten Schauspielers.
Damit trat die dramatische Handlung, mitunter die Darstellung eines komplizierten Geschehens um
die Hauptfigur stärker in Vordergrund und die Chorlieder zurück.
Das Schicksal deutet in den sophokleischen Tragödien auf das Überragen der göttlichen Macht. Die
Kollision des Einzelnen mit dem zu wenig beachteten Gott führt zur Zerstörung. Sicher war dabei
ein Ziel des Sophokles, der im 5. Jahrhundert bereits schwankende Glaube an die Götter wieder zu
beleben.
I. 6. Euripides
(geboren 484 in Athen - gestorben 406 in Mazedonien)
Anders als Sophokles nahm er nicht Teil am öffentlichen Leben Athens. Von ihm blieb die
Erinnerung an einen nüchternen Einzelgänger, der sich stark mit den philosophischen Ideen des
Anaxagoras beschäftigte und Kritik an die gesetzte Religion der Stadt übte - dies ist auch an seinen
Dramen abzulesen.
Seit 455 v. Chr. beteiligte er sich an tragischen Agonen, den ersten gewann er im Jahre 441.
Insgesamt nahm er an 22 Wettkämpfe teil, bei denen er jeweils drei oder vier Stücke vorstellte. Er
gewann selten, vier mal während seiner Lebenszeit, einmal posthum. Seine Laufbahn als tragischer
Dichter blieb lebenszeitlich im Schatten des erfolgreicheren Sophokles. Seine spätere Wirkung auf
die europäische Literatur ging jedoch weit über die von Aischylos und Sophokles hinaus.
Vermutlich waren seine religiösen Einstellungen der Grund für seine vom Staat aus geförderten
Unbeliebtheit. Es ist sogar zu vermuten, dass gegen ihn ein Asebieprozess (wegen Gottlosigkeit) wie damals auch gegen Sokrates, Anaxagoras, Protagoras und weitere Denker und öffentliche
Persönlichkeiten, die sich der Religion und dem Glauben der Stadt nicht fügten - unternommen
15
wurde18. Solche Prozesse hatten einen politischen Hintergrund: wer die Religion der Stadt nicht
respektierte war verdächtigt, auch die Gesetze und Regierung der Stadt zu verwerfen und insgeheim
dagegen zu handeln. Man darf nicht vergessen, dass es in Athen die Zeit der inneren Kämpfe
zwischen Oligarchie und Demokratie war. Gleichzeitig wollte sich Athen im Peloponnesichen
Krieges behaupten, und war darauf bedacht, jede Form von innerer Unruhe, wenn nötig mit Gewalt,
zu unterdrücken. Seine letzten Lebensjahre (seit 408) verbrachte Euripides wahrscheinlich in
Verbannung fern von Athen am Hof des Archelaos, König von Mazedonien, der vielen Künstlern
Schutz bot.
Erhalten sind von 92 nachgewiesenen Tragödien 18 Stücke (die bekanntesten davon: Alkestis,
Medea, Troerinnen, Hekabe, Bakchen, Elektra, Iphigenia bei den Tauren)19 und mehrere
Fragmente.
Er führte nach der Regel der dramatischen Feste Trilogien und Tetralogien auf, sowohl inhaltlich
zusammenhängende als aus inhaltlich voneinander unabhängigen Stücken bestehende (wie bei
Sophokles). Der Chor ist bei ihm nur mehr miterlebender und mitfühlender Teilhaber des
Geschehens.
Der Held seines Dramas ist das Individuum.
-In seinen Stücken ging Euripides relativ frei mit dem Stoff der Sagen um, er gab den Göttern sehr
menschliche Züge und ließ die Heroen auf menschliche Weise ihr tragisches Schicksal erfahren.
-Er ließ auch einfache Menschen in die Gesellschaft der Tragödie auftretenen und Frauen zu
Hauptgestalten heranwachsen (bisher war das nur bei Sophokles mit der Antigone geschehen).
- Weiterhin bediente er sich eines psychologischen Realismus und ließ viel Raum für die
Thematisierung von ethischen und sozialen Fragen.
Der Mensch ist immer
- selbst zur Tat aufgerufen,
- er muss aus freiem Willen handeln und
- trägt die Verantwortung im Guten wie im Bösen.
Tragischer Untergang erwächst, wo die dunklen Lebensmächte wie Leidenschaft, Trieb und
Begierde über Vernunft und Verstand siegen und den Menschen in grauenvolle Schuld verstricken.
18
Vgl. dazu mit weiterführender Literatur Jochen Schmidt: Sophokles, König Ödipus. Das Scheitern des Aufklärers an der
alten Religion. In: J. Schmidt (Hrsg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik
von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt, 1989, S.43f.
19
Einige Bearbeitungen in deutscher Sprache: Goethe: Iphigenie auf Tauris, Hugo von Hofmannsthal: Alkestis, Helena;
Franz Werfel: Troerinnen.
16
I. 7. Die tragische Konstellation
Was uns hier interessiert ist die Handlung in einer begrenzten Zahl von Tragödien, also die
- Aktion der Figuren auf der Bühne,
- ihre Konflikte und
- die ethische Problematik, die aus einer jeden Tragödie hervorgeht.
Was wir sehen oder lesen ist menschliches Handeln in Grenzsituationen und ihr Entstehen. Die
Hauptfigur gerät in Konflikt gegen eine festgefügte religiöse, moralische und auch politische
Ordnung und Macht.
In jeder Tragödie ist diese Konstellation mit jeweils verschiedenen Situationen, Inhalten und
Bewertungen durchgespielt.
Thematisiert werden die großen Fragen der Ethik, d. h. des menschlichen Verhaltens und die
Verantwortung des Menschen auf dem Horizont seiner Existenz mit anderen Menschen.
Damit ist auch der Bereich des Politischen berührt, der bei den Griechen ohnehin von dem der Ethik
nicht zu trennen war. Im Zentrum stehen
- individuelle und politische Freiheit,
- Würde des Menschen unter der Tyrannis,
- Tapferkeit,
- Treue und
- Verantwortung gegenüber der eigenen Stadt und Familie,
- Zivilcourage,
- Religion,
- die zerstörenden Folgen des Zornes und der Rache.
17
Elemente einer tragischen Konstellation
1. Verstoßen gegen eine von Göttern beschützte Ordnung und Macht, also gegen die Götter
selbst. Die Verschuldung, ist meistens ein Frevel aus Übermut (Hybris).
2. Darstellung der Macht der Götter (manchmal auch negativ besetzt, wie im Prometheus
gefesselt)
3. Entwicklung der Handlung bis zur letzten Steigerung des Verstoßes (Medea), oder bis zur
Aufdeckung eines geschehenen, nicht gewussten Verstoßes (König Ödipus).
4. Opfer als Folge des Verstoßes: eingesetzt als
a) Versuch einer Wiedergutmachung
b) Folge des Fluches, den der Verstoß hervorgerufen hat, der über Generationen lastet
(Antigone, Sieben gegen Theben)
I. 8. Die Hybris und die ethischen Lehren der Tragödie
Oben genannte ethische Themenbereiche werden beleuchtet aus der Perspektive des maßlosen,
grenzübertretenden Verhaltens, den die Griechen Hybris nennen.
Hybris ist ein grundlegender Begriff der griechischen Ethik schon bei Homer und Hesiod, und wird
in der Tragödie in seiner ganzen Tragweite verbildlicht. Man kann sich darunter ein übergroßes
Sicherheitsgefühl vorstellen, ein übermütiges Vertrauen auf sich selbst und die eigene Macht bei
gleichzeitigem Missachten der äußeren Welt und ihrer Zeichen und Boten (besonders bei Ödipus zu
vermerken).
Dieses Gefühl führt zur Überschreitung der dem Menschen gesetzten Grenzen und der Gesetze, zur
Verachtung und Lästerung der Götter der mythischen Ordnung und fordert somit ihre Rache und
Vergeltung, die "Nemesis" - selbst eine Göttin - heraus.
Hybris ist auch in der griechischen Gesetzgebung ein Generaldelikt, dessen objektiver Tatbestand
in einer gesetzwidrigen Verletzung der körperlichen Integrität eines anderen, nämlich Kind, Frau,
Mann oder Sklave besteht.
Das Unrecht dieses Deliktes liegt in der Gesinnung des Täters, der sich selbst überhebt und das
Opfer herabwürdigt. Dieses Delikt wurde öffentlich angeklagt und war außerdem erblich: die
Anklage konnte also durch mehrere Generationen hindurch ausgetragen werden, wie auch die
Tragödie zeigt.
Also haben wir in der Tragödie eine ziemlich genaue Wiedergabe eines Gerichtvollzugs gegen ein
Kapitalverbrechen.
Die schicksalhafte Verstrickung, in die sich die Hauptfigur begibt und die während der Handlung
zur Überspannung seiner Position zu einer extremen Einseitigkeit bis zur Ausweglosigkeit
18
gesteigert wird, ist fast immer durch seine Hybris verursacht20.
Die allgemeine ethische Lehre, die daraus entspringt, ist die des Maßes, oder des maßvollen
Handelns und des Beobachtens der Normen, fern von den Extremen der Rechtlosigkeit, der
Selbstüberheblichkeit gegenüber der mythischen Ordnung und der Herabwürdigung eines anderen
Menschen.
Aus ethischer Sicht von größter Bedeutung in der Tragödie ist außerdem, dass die in ihr handelnden
Personen immer eine eigene Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit behalten. Der Mensch,
als ein Ganzes genommen, trägt Verantwortung für das, was er tut. Er steht zu seinem Tun, auch
wenn er aus Unwissenheit handelte (Ödipus). Er und seine Nachfolger zahlen dafür
selbstverständlich Buße.
Wichtig für uns ist die ethische Grundhaltung des Verantwortung-Tragens für die eigene Handlung.
Wir schließen diese Einführung mit einem Rückblick auf Hegel, der sich in seinen Vorlesungen
über die Ästhetik (erschienen 1832)21 gründlich mit der griechischen Tragödie auseinandersetzte.
Für ihn sind der „wahrhafte Inhalt“ und „das eigentlich Hindurchwirkende“ der dramatischen
Handlung die „ewigen Mächte, das an und für sich Sittliche, die Götter der lebendigen Wirklichkeit,
überhaupt das Göttliche und Wahre, aber nicht in seiner ruhenden Macht, in welcher die
unbewegten Götter, statt zu handeln, als stille Skulpturbilder selig in sich versunken bleiben,
sondern das Göttliche in seiner Gemeinde als Inhalt und Zweck der menschlichen Individualität, als
konkretes Dasein zur Existenz gebracht, zur Handlung aufgeboten und in Bewegung gesetzt.“
Jene „ewigen Mächte“ sieht er durch die Tragödie in der Welt auftreten, durch menschliche Figuren
miteinander in einem Konflikt geraten, der dennoch unter der Macht der "Notwendigkeit" steht. Ein
letzter Sinn bleibt trotz der faktischen Unausgleichbarkeit der personifizierten Mächte, trotz der
Zerstörung erhalten. In der Antike, so Hegel, hält im Untergang der Individuen die „ewige
Gerechtigkeit“ die Welt zusammen.
20
Gemeint sind die Kerntragödien einer Trilogie, in den Folgetragödien wird meistens nur die weitere Wirkung der Hybris
in der Nemesis nachgezeichnet.
21
G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. In: Theorie Werkausgabe (Suhrkamp 1970), Bd. 14, S.474-573.
19
ZWEITER TEIL
DIE TRAGÖDIEN
II. 1. Aischylos: „Prometheus gefesselt“
II. 1. 1. Die Handlung
Die eher statische Handlung, in der mehr ein „tragischer“ Konflikt zwischen göttlichen Mächten als
eine tragische Schuld thematisiert werden, zeigt die Spannung zwischen Zeus, oberstem Gott des
Olympos, und dem unsterblichen Titan Prometheus.
In mythischer Urzeit, nach dem Kampf zwischen Zeus und Titanen um die olympische Macht, hat
Zeus die Herrschaft erlangt.
Am "Ende der Welt", also nach damaliger Vorstellung am äußersten Rand der Erdscheibe, wo
Ozean (der Meeresgott) sie umfließt, lässt Zeus den Titan Prometheus an einen Fels fesseln: Dies
zur Bestrafung, da Prometheus gegen seinen Willen den Göttern das Feuer gestohlen hat, um es zusammen mit anderen Lehren und Kunstfertigkeiten - den Menschen zu schenken. Prometheus
rettete auf diese Weise die Menschen vor dem Untergang, den Zeus beschlossenen hatte22.
Von seiner Entscheidung, den Menschen zu helfen, berichtet Prometheus ausführlich im Dialog mit
den Okeaniden (v. 226-238 und 442-505) und in einer der ersten Szenen (v. 107-113):
... Weil ich Menschen Heil
Gewährt, bin solcher Not ich qualvoll unterjocht.
Im Narthexstengel wohl verhüllt, erbeut des Feuers
22
Vgl. v.226-238. (Zitiert wird hier und im Folgenden nach der Ausgabe der Tragödien von Aeschylos übersetzt von Oskar
Werner. Mit einer Einführung und Erläuterungen von Bernhard Zimmermrann. München, DTV, 1990. Ich empfehle, im
Ethikunterricht diese und folgende Tragödien wenigstens in Ausschnitten mit den Schülern zu lesen):
Wenn ihr nun fragt, was es für Schuld sei, derenthalb
Er Schmach mir antut, das mach ich nunmehr euch klar.
Kaum hatte er sich auf den väterlichen Thron
Gesetzt, gibt er sogleich den Göttern Amt auf Amt,
Dem dies, dem jenes, und teilt ringsum ordnend ein
Sein Reich; aufs Erdvolk aber, das unselge, nahm
Er keine Rücksicht; nein, vernichten ihr Geschlecht,
Ihr ganzes, wollt, ein andres zeugen er aufs neu.
Und dem trat keiner sonst entgegen außer mir.
Ich aber wagt es, machte frei das Menschenvolk
Vom Los, zerschmettert in des Hades Reich zu gehn.
Drum werd ich unter solcher Leiden Not gebeugt,
Zu dulden qual- und schmerzvoll, jammervoll zu schaun.
20
Urquell ich heimlich, der als Lehrer aller Kunst
Dem Erdvolk sich erwies und Helfer voller Macht.
Solcher Versündigung Buße zahl ich nun,
In freier Luft durch Fesseln klammernd festgekeilt.
In der ersten Szene schmiedet Hephaistos, Gott des Feuers und der Schmeidekunst, auf Befehl des
Zeus, Prometheus an einen Felsen des Kaukasus: Er tut es ungern und bemitleidet sehr das
Schicksal des Prometheus.
Aber Kratos (Macht) und Bia (Gewalt), die Schergen des Zeus, drängen Hephaistos unerbittlich zur
Vollendung seines Auftrags.
Erst nachdem sich die Gruppe entfernt hat, bricht der Titan sein Schweigen, das die ganze erste
Szene über gewährt hat, und beklagt sein Schicksal. Er kommt über die Bloßstellung seiner
Niederlage und die beschämende Fesselung nicht hinweg. Nie ist er zuvor wirklich besiegt worden.
Jetzt aber ist er plötzlich allein und dem neuen Machthaber hilflos ausgeliefert.
Es dauert aber nicht lang, da gesellen sich die Töchter des Okeanos zu ihm. Sie hatten in ihren
unterirdischen Behausungen die schweren Hammerschläge des Hephaistos gehört und sind nun,
beim Anblick seines Schicksals, voller Schrecken und Mitleid mit ihm23. Am Leiden des
Prometheus, der vor Zeus zur Familie der herrschenden Göttern gehört hatte, erkennen sie, dass nun
neue Machthaber am Werk sind (v. 149-151):
Sind neue Weltsteurer doch Herrn des Olympos;
Und nach neuer Satzung führt Zeus ohne Fug die Herrschaft;
Was früher gewaltig war, tilgt er aus nun.24
Prometheus klagt nun in ihrer Gegenwart die willkürliche Herrschaft des Zeus an und droht ihm,
dass er einst auch seine Macht verlieren wird (v.186-189):
Ich weiß, er ist hart, und nach Willkür nur
Handhabt er das Recht; und doch wird er gewiss
Nachgiebigen Sinns
Einst werden...
Bei der Frage der Chorführerin, warum er denn so hart bestraft wurde, greift er zuerst auf die
Geschichte der Machtübernahme des Zeus zurück. Er selber sei dabei dem Gott zu Rate gestanden:
die Titanen hätten bei dem damaligen Kampf um die Herrschaft auf bloße Gewalt bestanden. Als
aber in der Folgezeit die neuen Götter die Menschen vergaßen, hätte er sich ihrer erbarmt und für sie
das Feuer gestohlen, was nun Zeus, die alte Freundschaft vergessend, ihm nicht verzeihen kann.
Durch sein Handeln hatte Prometheus Zeus, der die Menschen ausrotten wollte, herausgefordert,
denn er hatte den Menschen nicht nur das Überleben gesichert: er hatte sie durch seine zivilisierende
Erziehung vor allem mündig und unabhängig gemacht.
23
In der Folge teilen sie mit, dass auch in der umgebenden Welt und Natur Trauer um Prometheus' Schicksal herrscht (v.
406ff).
24
Vgl. auch v. 402ff: „Denn voll Miss- /gunst führt ja Zeus hier nach der Will-/ kür Brauch die Herrschaft; und voll
Hochmut weist er den / Göttern von ehedem der Gewalt Speer“
21
In der nächsten Szene erscheint Okeanos auf einem geflügelten Ross. Er kündigt Prometheus an, für
ihn bei Zeus ein gutes Wort einlegen zu wollen, rät ihm aber, seine stolze Haltung abzulegen25.
Überzeugen kann er jedoch Prometheus nicht. Dieser ist sich sicher, dass ihm Okeanos nicht helfen
könne. Er solle sich daher zurückhalten und lieber seine Weisheit für sich behalten.
Der Chor zeigt sich weiter voller Mitgefühl für Prometheus, obwohl es ihm die Parteinahme für
Prometheus langsam unheimlich wird. Die Macht des Zeus ist, trotz seiner Abwesenheit, in den
Erzählungen von Prometheus und in der Ängstlichkeit des Okeanos und seiner Töchter deutlich zu
spüren. Die Okeaniden fangen an, Prometheus Klugheit anzuzweifeln und ihn, in seiner
Besessenheit gegen den neuen Herrscher, für krank und irre zu halten.
Prometheus seinerseits erklärt ihnen, dass ihm Klugheit - im Sinne von Zurückhaltung und
Mäßigung - in seiner Not wenig helfen kann. Da er mit der Gabe der Prophetie, die er von seiner
Mutter Gaia geerbt hat, begabt ist, weiß er genau, wie viele Qualen er vor seiner Befreiung noch zu
erleiden hat. Er ist der Macht der Notwendigkeit vollkommen ausgeliefert. Wehren kann er sich
gegen die äußeren Fesseln nicht. Er kann nur sein Recht sowie seine Feindseligkeit gegen Zeus und
dessen ungerechtes Handeln wach halten: er spricht es mit kühnen Worten offen aus. Prometheus
unterrichtet die Okeaniden, dass auch die Macht und Herrschaft des Zeus der Notwendigkeit verkörpert von den drei Moiren (Schicksalsgöttinnen) und den Erynnien (Schuldentgelterinnen) unterliegt, die den Untergang des Zeus bestimmen wird: „Nicht kann er ja entfliehen dem ihm
verhängten Los“ (v. 518). Konkreter über die Zukunft und Gefahr, die über Zeus hängt, will er
jedoch nicht sprechen.
Als einzige sterbliche Figur des Stücks tritt dann Io auf, ein Mädchen aus Argos. In sie hat sich Zeus
verliebt. Daher wird sie von der Eifersucht der Hera, die Ehefrau des Zeus, verfolgt. Sie hat ihr
Kuhhörner auf dem Kopf wachsen lassen, hat sie vom hundertäugigen Hund Argos bewachen und
schließlich von einer stechenden Bremse verfolgen lassen, so dass sie bis ans "Ende der Welt", wo
sich jetzt Prometheus befindet, irren muss. Die Umherirrende, die nicht still stehen kann, sucht
Trost bei dem im absoluten Gegensatz zu ihr stehenden gefesselten Prometheus (der sich überhaupt
nicht bewegen kann). Er kann ihr aber nur weitere Qualen vorhersagen. Sie hat ein solches
Schicksal in keinerlei Weise verdient. Sie ist ein schuldloses Opfer der Leidenschaft der Götter, was
Prometheus erneut gegen die Gewalt des Zeus auftreten lässt (v.735-740):
.... Wahrlich, scheint euch nicht
Des Götterreichs Gewaltherr allerwegen gleich
Grausam zu sein? Dies Menschenkind, da er's, ein Gott,
Wünscht zu umarmen, stieß er so in Irrsals Qual.
Ein bittrer ward dir, Mädchen, dir ein böser Freir
Und Bräutgam......
Endlich prophezeit er den Untergang des Zeus. Die Gefahr, die dem Gott in der Zukunft droht,
besteht im Zeugen eines Sohnes, der stärker als sein Vater sein wird. Prometheus allein weiß den
25
Auch er gibt jedoch zu: „ein rauher Herrscher, rechenschaftslos, hat die Macht“, v. 324.
22
Namen der Frau, von der Zeus diesen Sohn bekommen wird. Also ist Zeus auf ihn angewiesen,
wenn er nicht mit eigener Schuld, dem geltenden Gesetz der Notwendigkeit folgend, untergehen
will (vgl. auch v. 908ff).
Was Io betrifft, prophezeit ihr Prometheus, dass sie erst in Ägypten Ruhe finden kann: dort wird sie
Zeus "wieder zu Sinnen kommen" lassen, also von der Bremse befreien, und ihr durch bloße
Berührung einen Sohn zeugen. In Kürze schildert Prometheus auch das Schicksal ihrer
Nachkommen, unter denen sich Herakles, sein zukünftiger Befreier, befindet. Erst ihre
Nachkommenschaft gibt ihrem jetzigen Leiden einen Sinn.
Nachdem Io die Bühne verlassen hat, äußert sich der Chor über die Rechtmäßigkeit der
Eheverbindung unter Gleichen, während die unter Menschen und Göttern wegen ihrer Unmäßigkeit
Furcht einflößt. Diese moralisierende Betrachtung kann als weitere Kritik gegen die Unmäßigkeit
des Zeus gedeutet werden.
Zeus hat die Worte des Prometheus, in denen er seinen Untergang prophezeit hat, wohl gehört. Aus
diesem Grund schickt er den Boten Hermes, um Prometheus sein Geheimnis zu entlocken. Hermes
denkt wohl, dass Prometheus durch die erlittene Bestrafung weich geworden und nun zu allem
bereit sei. Er irrt sich aber. Prometheus fühlt sich trotz der Fessel überlegen und ist nicht bereit, sein
Wissen preiszugeben. Statt dessen greift er furchtlos Hermes und mit ihm den neuen Machthaber an
(v. 953-963):
Aus stolzem Mund, hochfahrenden Übermutes voll,
So tönt die Rede, wie's dem Götterknecht gezeimt.
Neu erst, ihr Neuen, herrscht ihr und vermeint, ihr könnt
Leidlos die Burg bewohnen? Hab ich nicht von dort
Schon zwei Herrscher aus der Höhe stürzen sehn?
Vom dritten auch, der jetzt regiert, seh ich den Fall
Schmachvoll und schleunigst folgen. Dünkt dir etwa gar,
Angst hätt ich, duckte vor den neuen Göttern mich?
Viel wahrlich, vielmehr alles fehlt daran. Doch du
Mach schleunigst, wo du herkamst, auf den Rückweg dich!
Erfährst du nichts von dem doch, wonach du mich fragst.
Prometheus hat nicht vor, ein Diener oder Untertan des Zeus wie Hermes zu sein. Lieber dient er
dem Felsen, an den er gefesselt ist (v. 966-970):
Mit deinem Dieneramte mein unselig Los Sollst wohl du wissen! - nicht vertauschen möcht ich's je!
Besser ja dünkt mich's, dienstbar sein dem Felsen hier,
Als "Vater Zeus" in Pflicht als "treuer Bote" stehn,
Also Trotz bieten den Trotzbietenden tut Not!
Trotz seiner Qual lässt sich Prometheus nicht beugen. Er bereut seine Taten nicht und ist vielmehr
stolz darauf, eine Gegenposition zu den neuen, ungerechten Machthabern zu beziehen. So verschärft
23
er den Gegensatz mit seinen aufrührerischen Reden (v. 975f):
... Die Götter hass ich allesamt,
Die mir für Gutes Böses tun wider das Recht!
Für Hermes ist Prometheus "krankhaft" oder "geisteskrank", weil es dem Lakai unvernünftig
erscheint, sich der Macht zu widersetzen (v. 977f). Prometheus verhöhnt ihn, denn "seine Feinde
hassen" ist keine Krankheit, besonders im ethischen Kodex der Griechen, sondern eine Tugend.
Jetzt ist er zwar der Unterlegene, der sich dem Sieger entgegenstellt. Aber mit der Zeit, der auch
Zeus unterlegen ist, wird er einmal Schmerz und Leid erfahren (v. 982).
Die Lehre der "Zeit" ist die Einsicht, dass Legitimität, Gerechtigkeit, Wissen, wenn nicht durch
Leiden, so jedenfalls nur durch Erfahrung erworben werden kann, dass Macht nicht dauerhaft ist,
solange sie nicht die Erfahrung ihrer Grenzen und der Schwäche gemacht hat.
Zeus steht nicht weise über den Dingen. Er ist nur ein Kämpfer, der einmal gewonnen hat und ein
Herrscher, der die Gewaltmethoden seiner Vorfahren, der Titanen, übernommen hat.
Dagegen kennt Prometheus, der „alte“, viel mehr die zivilisatorischen, menschenfreundlichen
Impulse des neuen Denkens, und ist so der puren Gewalt überlegen. Niemand kann ihn zwingen,
sein Wissen um die Zukunft auszusprechen, bevor seine Fesseln gelöst sind, auch Zeus mit seiner
Naturgewalt nicht. Also kann ihn auch Hermes mit der Ankündigung einer weiteren Strafe nicht
zum Reden bringen. Zeus will ihn in die Tiefe der Erde versenken und, wenn er zurückkommt wird
sein Adler ihm die Leber Tag für Tag herausreißen. Prometheus weiß schon längst, dass dies sein
nächstes Leiden sein wird und nimmt es gelassen auf sich (v. 1041f):
... Qual dulden und Not,
Als Feind von dem Feind, bringt keiner Schmach...
Es gibt eine Ehre, die höher steht als die Schmerzen, die man erleidet. Dass er durch sie nicht
sterben kann, weiß er als unsterblicher Gott sehr genau. Nur Zeus hat wohl mit solchem Stolz nicht
gerechnet.
Dafür kommt nun die angekündigte Strafe: der Felsen mit Prometheus und den Okeaniden um ihn
versinkt in der Aufruhr der Elemente, unter Blitzen, Donnern und Krachen.
In seinen letzten Worten ruft Prometheus seine Mutter Gaia (Erdgöttin) und den Äther
(Himmelgott). Sie sollen Zeugen der Ungerechtigkeit sein, die er erdulden muss (v. 1089-1093):
Derart auf mich los nimmt der Ansturm des Zeus
Furchterweckend den Weg mit offner Gewalt.
O Mutter voll Ehr, o Äther, des Alls
Gemeinsames Licht umschwingend im Kreis,
Du siehst, was für Unrecht ich leide!
24
II. 1. 2. Ethische Grundfragen des Stückes
Das Drama bildete vermutlich den ersten Teil einer Trilogie, deren weitere zwei Teile, die die
Geschichte der Befreiung des Prometheus darstellten, verloren sind.
Der mythischen Erzählung zufolge hatte Prometheus sich der Macht des Zeus widersetzt indem er
den Menschen das Geheimnis des Feuers enthüllt hatte und so die ersten Schritte ihrer „Zivilisation“
und Verselbständigung gegenüber der Naturmacht eingeleitet hatte. In dieser Aneignung der
Naturmacht wurde also ursprünglich ein Vergehen gesehen, das zu einem tragischen Ende führen
musste. In diesem Stück wird aber die „Schuld“ des Prometheus in Menschenfreundlichkeit
verwandelt, und Prometheus selber als „positiver“ Rebell, der seine Würde in der Unbeugsamkeit
gegen die Gewaltherrschaft des Zeus bekundet.
Im Zentrum der Handlung steht hier nicht so sehr die „Schuld“ des Prometheus, sondern seine
Würde im Leid und seine Opferbereitschaft für das Wohl der Menschen. Hybrides Handeln wird
dagegen eher dem Zeus vorgeworfen, insofern stößt er gegen die Ordnung der Gerechtigkeit. Die
Wiedergutmachung dieses Verstoßes war mit großer Wahrscheinlichkeit das Thema der Trilogie.
Zeus ist in diesem Stück ein zwar mächtiger Gott, aber nicht der oberste. Notwendigkeit und
Gerechtigkeit (die Moiren und Erynnien) richten über seine Handlungen.
Ganz deutlich wird in dieser dramatischen Handlung die Gefahr der Tyrannie angesprochen. Sie
geht aus der Erfahrung des Umsturzes der alten Ordnung und der Etablierung einer neuen aus, die
auf Unterwerfung und nicht auf Recht basiert26.
Die „schuldmäßige“ Tat, die Prometheus „freiwillig“ auf sich geladen hat, das Stehlen des Feuers
zugunsten der Menschheit, bildet zwar einen Verstoß gegen die allgemeine Ordnung, ist jedoch
verschwindend klein gegen die Gewaltherrschaft des Zeus und dessen Ungerechtigkeit, auf die er
seine Ordnung und Macht gründet.
Tragisch ist hier die unrechtmäßige Verteilung der Macht, das unrechtmäßige Leiden des
Prometheus und der Io - stellvertretend für die Menschheit, die von der Vernichtung bedroht ist - die
Rechtlosigkeit, die sich für göttlich und ewig hält.
Dagegen leuchten mit großer Kraft die Lehren des Prometheus, nämlich die Einsicht, dass diese
Ungerechtigkeit einmal ein Ende finden muss, weil die Notwendigkeit - gemäß dem Gesetz von
Ursache und Wirkung - sie auf die Länge nicht duldet, sein Verlangen, dass Zeus einst auch Buße
zahlt für seine Misshandlungen, das Verharren in der gerechten (und einsichtigen) Position, trotz der
realen Schwäche und Unterlegenheit, in der er sich befindet, und sein Nicht-Akzeptieren der Macht,
das er teuer bezahlt.
26
Ein solches Geschehen ist nach Christian Meier (a.a.O.) auf das damalige Athen zu beziehen. Zur Zeit des Aischylos
zeichnete sich bereits der Kampf zwischen der „neuen“ Demokratie gegen den Adel als Repräsentant der „alten“ Ordnung.
25
II. 1. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht
Im Mythos war Prometheus bloß der Feuerdieb und Opferbetrüger, in diesem Stück wird er durch
Aischylos zur anfänglichen Gottheit. Als Sohn der Gaia, wird er zum Repräsentanten der
elementaren Macht und durch sie auch zum Wissenden und Propheten. Damit steht er höher als
Zeus und ist in diesem Stück derjenige, der durch kluge Ratschläge Zeus' Aufstieg ermöglicht hat.
Er besitzt also das Wissen, das Zeus brauchte, um mächtig zu werden und braucht, um seine Macht
zu behalten. Sonst ist Zeus trotz seiner Gewalt auf die Göttinnen der Notwendigkeit und Rache
angewiesen.
Aischylos schreibt also hier die Mythengeschichte um.
Er verfolgt nicht die von der Religion vorgeschriebene Perspektive des Gewinners Zeus, die
Prometheus zum kleinen Dieb macht, der rechtmäßig bestraft wird, sondern er wertet die
prometheische Gestalt auf.
Dass Prometheus als Rebell gegen eine tyrannische Herrschaft und als Retter der Menschen
rechtmäßig gehandelt hat, geht aus dem Text deutlich hervor: er ist der wirkliche Held der
Handlung, der Tugenden wie Tapferkeit und moralische Festigkeit zeigt. Er kann dem Druck des
Zeus standhalten, weil er unsterblich ist, aber seine Leiden werden deshalb umso länger dauern. Er
ist dennoch bereit, die Leiden zu ertragen und sich für das, was er den Menschen geschenkt hat, zu
opfern. Er ist ein Held, ihm fallen alle Sympathien zu.
Zeus erscheint dagegen als gemeiner Tyrann und Gewaltherrscher, der vollständige Unterwerfung
unter seiner Gewalt verlangt. Dementsprechend möchte Zeus Prometheus nicht nur strafen, sondern
zähmen (daher die Fesseln, die letzte Strafe ist der Folterung sehr nah). Er selber tritt im Stück nicht
auf, wird aber umso anschaulicher durch verschiedene Figuren jeweils in einer anderen Facette
seiner Macht dargestellt.
Für Zeus ist Recht stellvertretend für Macht. Da er sie besitzt, ist alles was er tut „gerecht“, durch
sie glaubt er, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein, macht so seine Willkür zum Gesetz und
verwirklicht hiermit eine vollständige Perversion des Rechts.
Aus dem Stück geht klar hervor, dass Zeus, der oberste Gott, sich gegen die Gerechtigkeit
versündigt (außerdem wird Zeus in seiner Verbindung mit Io der Hybris angeklagt), dass er noch zu
lernen hat, sich vor der Notwendigkeit und dem Recht, von dem sie ausgeht, zu beugen. Seine
Macht ist auf die Dauer nicht mit bloßer Gewalt zu erhalten, sondern mit Einsicht. Darin kann ihm
nur Prometheus eine Stütze sein.
Bisher ist die Notwendigkeit des Wandels für einen Gott noch nie so kühn und deutlich dargestellt
worden. Vermutlich suchte Aischylos mit dieser Trilogie einen Ausgleich zwischen der
anfänglichen brutal unterdrückenden Macht des Zeus und dem Wissen des Prometheus, der bis
zuletzt Widerstand leistet.
26
Als erster Zeuge der Macht des Zeus tritt der Gott Hephaistos auf, leider charakterlos, denn trotz
seiner verwandtschaftlichen Bindung an Prometheus gehorcht er dem Befehl des neuen Herrschers.
Weitere Zeugen der neuen Herrschaft sind seine Schergen, Okeanos mit seinem Opportunismus, der
Lakai Hermes und die verfolgte Io. Sie ist wie die übrigen Menschen ein Spielzeug in seinen
Händen.
Eine bemerkenswerte Haltung zeigen aber die Okeaniden. Zuerst wollen sie Prometheus zum
"Guten" überreden, also dazu, sich zu beugen - dann aber, als sie die Ungerechtigkeit des Zeus und
die Unbeirrbarkeit des Prometheus bemerken, schlagen sie sich trotz der Gefahr auf seine Seite,
lernen mit ihm die "Verräter" hassen (v. 1068), bleiben ihm treu, gehen schließlich mit ihm unter.
II. 3. Aischylos: „Sieben gegen Theben“
467 v. Chr. aufgeführt, bildet diese Tragödie das dritte Stück der thebanischen Tetralogie des
Aischylos, deren erstes und zweites Stück (Laios und Oidipus) sowie das abschließende Satyrspiel
(Sphinx) verloren sind.
In dieser Trilogie wird das Schicksal der thebanischen Königsfamilie der Labdakiden durch drei
Generationen verfolgt.
Hier, in der letzten Tragödie, erfahren wir das Schicksal der dritten Generation, der Söhne des
Ödipus Eteokles und Polyneikes.
II. 2. 1. Die Handlung
Zwischen Eteokles und Polyneikes ist Streit um die Herrschaft in Theben entbrannt. Polyneikes
wurde von Eteokles aus Theben verbannt. Nun belagert er seit längerer Zeit mit einem argivischen
Heer die Stadt. Den Krieg führt sein Schwiegervater Adrastos, König von Argos.
Zu diesem Zeitpunkt beginnt das Stück. Es besteht nicht so sehr aus unmittelbarer Handlung,
sondern vielmehr aus den verschiedenen Berichten - des Boten, des Chores, des Eteokles - über den
teils erwarteten, teils gefürchteten letzten Kampf vor den Toren der Stadt und deren Verteidigung.
Der Schauplatz des Stückes ist die Stadt Theben. Auf dem Marktplatz, im Hintergrund mit
Götterbildern und Altären geschmückt, fordert Eteokles die Thebaner auf, sich zu bewaffnen und
die Stadt zu verteidigen, da ein erneuter Ansturm auf die Stadt angekündigt sei. Er will seine Pflicht
als Herrscher der Stadt erfüllen und versammelt die Kämpfer, die er bei der Verteidigung der
Stadtmauer und der Tore anführen wird.
Von einem ausgesandten Boten erfährt er kurz darauf, dass sieben feindliche Heerführer sich rüsten,
um die sieben Stadttore Thebens anzugreifen. Sein anschließendes Gebet gilt den Göttern, die die
27
Stadt in diesem Kampf schützen sollen, was er eindringlich von ihnen fordert, wenn sie weiter
verehrt werden wollen. Es sieht fast so aus, als ob er auf ihrer Ebene stehend, als Wissender mit
ihnen verhandelt und ihnen sogar Befehle erteilt. Ihm ist wohl bekannt, dass der "Fluch, des Vaters
Rachegeist", wovon später die Rede sein wird, nur auf ihm und seinem Bruder lastet, nicht auf der
Stadt. Sie will er jedoch mit oder ohne Götter retten: denn Theben soll ein freies Land bleiben, das
einer fremden Herrschaft niemals unterworfen werden soll27.
Kontrastierend zur Eingangsszene ist der Auftritt des Chores. Es handelt sich um thebanische
Frauen, die wegen der Belagerung der Stadt und des Vormarsches des feindlichen Heers in Panik
geraten sind. Sie fürchten den Tod ihrer Männer im Krieg, den Untergang der Stadt und die Folgen
davon: Knechtschaft und Versklavung.
In ihren Gebeten bitten sie die Götter um Schutz und zeigen ihre Überzeugung, dass die Götter es
sind, die das Los der Menschheit lenken.
Eteokles, als Feldherr gekleidet, ermahnt sie mit strengen Worten und Verachtung für ihre Angst:
Jetzt, wo der Kampf um die Mauer erst begonnen hat, innerhalb der Stadt Angst zu haben und zu
verbreiten, heißt Vernichtung ihres Inneren. Nur Mut kann Stärkung verleihen. Ein
selbstvergessenes Flehen vor den Göttern hat jetzt wenig Sinn, denn diese werden der Stadt nur
dann erhalten bleiben, wenn sie besteht - also müssen die Götter alleine dafür sorgen, dass sie die
Stadt schützen, wie er in seinem Gebet schon geäußert hatte. Weiter rät er den Frauen, sich nicht zu
sehr an die Götterbilder zu klammern und sich eher unmittelbar an die Götter mit einem Gebet und
Opfergaben zu wenden (v. 265-270).
Nachdem er weiter gegangen ist, um neue Verteidiger der Stadttore zu suchen, stimmt der Chor ein
wehmütiges Lied an, in dem das Entsetzen über die Gräuel des Krieges und die Zerstörung, die
dieser verursacht, zur Sprache kommt (v. 287-368).
Als Etoekles in Waffen zurückkehrt, tritt der Bote auf. Er berichtet, welche Krieger gegen die
Stadttore auftreten werden. Außerdem schildert er sechs Kämpfer mit ihren Eigenschaften - vor
allem Gewalt und Brutalität -, ihren Waffen und den Schrecken erregenden Bildern auf ihren
Schildern.
Im Gegenzug stellt Eteokles sechs weitere mutige Kämpfer zur Verteidigung der Tore Thebens vor:
27
(v. 70-77):
O Zeus, o Erde, Götter, Schutzherrn unsrer Stadt,
O Fluch, des Vaters Rachegeist, gewaltiger!
Nicht reißt die Stadt mir samt den Wurzeln und Stamm,
Sie tilgend, feindbewältigt, aus, die Hellas'Laut
Ertönen lässt, noch ihrer Häuser heimischen Herd!
Dies freie Land, es soll gleichwie des Kadmos Stadt
Dem Joch der Knechtschaft niemals unterworfen sein!
Werdet uns Retter! Beiden, hoff ich, frommt mein Wort,
Weil eine Stadt, der's gutgeht, auch die Götter ehrt.
28
- Gegen Tydeus, "toll vor heißer Kampfbegier" und mit erschreckenden Waffen gerüstet, setzt er
Melanippos, edel, schamvoll, weder übermütig noch feige, pflichtbewusst;
- Gegen Kapaneus, einen Riesen mit maßlos trotzigem Stolz, Polyphantes, der zuverlässig, kraftvoll
und mutig, wenn auch „träge mit dem Mund“ ist;
- gegen einem namenlosen Angreifer, der voll von Gewalt und Widerstandskraft, auch erschreckend
laut ist, setzt Eteokles Megareus, fruchtlos auch vor dem wildesten Laut;
- gegen Hippomedon, „riesig an Gestalt“ mit „Mord im Blick“, jedoch prahlerisch, setzt er
Hyperbios, wacker, mutig und mit gutem Sinn (und ihm zum Schutz vor dem Tor die Göttin Onka
Pallas, die den Hochmut bekämpft);
- gegen Parthenopaios, jung aber roh und grimmig, Aktor, nicht prahlerisch und ohne Furcht gegen
die Sphinx, die sein Gegner auf dem Schild trägt;
- gegen Amphiaraos, seinem Namen nach der „Streitsüchtge“, berühmt als Menschenmörder und
Verwirrer seiner eigenen Stadt, der Befürwörter und Planer dieses Krieges bei Adrastos und
Polyneikes zugewandt, setzt Eteokles seinen sechsten Verteidiger, Lasthenes, dessen Geist
„Greisenklugheit“ und Körper „Jünglingskraft“ zeigen.
Eteokles greift auch einen bekannten Seher an, der sich auf der „falschen“ Seite geschlagen hat, den
Angreifern Ruhm und Erfolg vorhersagend, was er als Missbrauch seiner Kunst definiert.
Gegen Polyneikes, der auf seinen Schild die Göttin Gerechtigkeit abgebildet trägt, wird er selber
den siebten Tor verteidigen, dessen Anspruch auf Gerechtigkeit bezweifelnd, da es kein gerechter
Grund sein kann, der Stadt Unheil zu bringen.
Der Hauptgrund des Kampfes zwischen den Brüdern ist hier auf den Nenner gebracht: jeder von
beiden behauptet, im Sinne der Gerechtigkeit zu kämpfen:
- der eine, weil er als Herrscher in seine Heimat zurück möchte, und die Verbannung als ungerecht
empfindet,
- der andere, weil er für die Stadt gegen den Angriff eines fremden Heeres kämpft, obwohl es von
seinem Bruder geführt wird.
Es ist klar, dass das Recht vielmehr auf der Seite des Eteokles liegt, der als König seine Stadt
verteidigt, aber bald wird er sich selber - zusammen mit seinem Bruder - in ein unlösbares Unrecht
verstricken, den Brudermord, der für die Ethik der Tragödie weit verwerflicher ist, als der Angriff
auf eine fremde Stadt oder ein Krieg (v.679-682):
Chor: Genug, wenn mit Argeiern die Kadmeier Schar,
In Kampf kommt; Blut ist sühnbar, das man vergießt.
Doch zweier blutsverwandter Männer Wechselmord Kein Altern gibt's, kein Ende solcher Blutschuld je.
Es folgt ein Wechselgespräch Eteokles' mit dem Chor. Trotz der beschwörenden Worte der Frauen,
die ihn vor dem Weg zum siebten Tor, also vor dem Kampf gegen den eigenen Bruder zurückhalten
wollen, zieht er dorthin: (v. 689-704)
Ete.: Da das Geschehn zum Ende vorwärtstreibt der Gott,
Fahr, sturmgejagt, zu seinem Ziel: Kokytos' Strom
29
Von Phoibos'Haß verfolgt, des Laios ganz Geschlecht.
Chor: Mit allzu wildem Biss treibt dich Begierde an,
Zur Tötung des Manns, der Tat mit bittrer Frucht:
Blutschuld, gesetz- und rechtlos.
Ete.: Es setzt des lieben Vaters feindlich düstrer Fluch
Ja trocknen, tränenleeren Augs sich hin zu mir
Und sagt, Gewinn sei früher Tod statt spätrem Tod.
Chor: Sporn du dich selbst nicht an! Als Feigling giltst du nicht,
Wenn du dein Leben wahrst. Geht nicht, gewitterschwarz,
Der Fluchgeist fort vom Haus, wenn Opfer deiner Hand
Gnädig empfängt die Gottheit?
Ete.: Die Götter! Denen bin ich längst gleichgültig schon.
Das Opfer meines Todes nur hat wert für sie.
Was sollt ich schmeicheln dem Vernichter noch, dem Tod?
In diesem Wechselgespräch sind die Hauptthemen dieser Tragödie angesprochen:
- die Rechtlosigkeit der „Blutschuld“, in die sich die Brüder wissentlich verstricken,
- der Fluch des Ödipus über sein Geschlecht, der nun - Schicksal und Ursache - seine Söhne
gegeneinander auftreten lässt,
- der Hass der Götter und besonders des Apollon (Phoibos) auf Ödipus und seine Nachkommen, der
den Fluch verwirklichen lässt,
- schließlich das Opfer des Eteokles (wie des Polyneikes), der mit seinem und seines Bruders Tod
dem von seinem Vater und Großvater beleidigten Gott genügen muss.
Die Geschichte dieser Beleidigung, der uralten Schuld, vor der es kein Entrinnen gibt, wird nun,
nachdem Eteokles abgegangen ist, vom Chor aufgedeckt (v. 720-791) und vom Boten zu Ende
erzählt, der vom Tod der Brüder am siebten Tor berichtet (v. 799ff).
Es ist die Geschichte des Frevels des Laios gegen Apollon: jener, damals König von Theben, habe
dem Spruch des Priesters des Apollon-Tempels, Loxias: „wenn er kinderlos sterbe, rette er die
Stadt“, nicht Folge geleistet, sondern ein Kind, Ödipus, gezeugt, das, erwachsen, unwissend zum
Vatermörder und Ehemann seiner Mutter sowie Unheilbringer über die Stadt, die er regierte, wurde.
Weil Laios das, was der Apollon-Priester sagte, nicht ernst nahm, rächte sich Apollon mit der
Verwirklichung des Spruches. Als Ödipus seine eigenen Taten aufdeckte, sprach er in tiefster
Verzweiflung einen entsetzlichen Fluch auf seine Nachkommen28, was zum Streit seiner Söhne und
zum Krieg um die Stadt Theben führte. Die Erfüllung des Fluches durch die gegenseitige
Ermordung der Brüder setzt dem „gottverhassten“ Geschlecht der Labdakiden ein Ende (v. 799802):
Bote: Gut steht es allenthalben an der Tore sechs;
Das siebt wählte sich der sieben hehren Gott,
Der Fürst Apollon, um an Oidipus' Geschlecht
Zu enden, was einst Laios' Unverstand begann.
28
In der Tragödie immer wieder erwähnt, vgl. v. 653-655, 695, 709, 724f, 833.
30
Es sieht nun so aus, als ob der ganze Kampf um die Stadt nur deshalb stattgefunden habe, damit
„Oidipus' Geschlecht“ Ende. Durch dieses „Opfer“ ist dann Theben gerettet, das sonst, nach dem
Spruch des Apollon, mit der Königsfamilie hätte untergehen müssen.
Seinerseits spricht der Chor im Schlussteil voll Erschütterung und Entsetzen über das Geschehen (v.
834-839):
Ein Schauder fasst mein Herz und schüttelt es grauenvoll:
Ich schuf dem Grab Chorgesang,
Leidberauscht, als ich gehört,
Wie, blutbetrieft, unselgen Tod sie starben. Wie
Ward unheilvoll - dieser Speerzusammenklang!
Die Klage steigert sich mit der Ankunft von Antigone und Ismene, Töchter des Oidipus und
Schwester der Verstorbenen, als die Leichen der Brüder hereingebracht werden (875ff).
Beim Beweinen der Brüder teilt sich der Chor in zwei Teile:
- der eine Teil beschreibt das letzte Geschehen,
- der andere erinnert an die „Gründe“: den Fluch des Oidipus und das tatsächliche
Auseinandergehen der Brüder: durch die Teilung der Güter, die zum Streit und schließlich zum
Krieg führte. Die Vereinigung der Brüder bringt erst der Tod, als das Blut vermischt wird (v.
940f).
Betont wird die Unumgänglichkeit des Brudermordes, die der Fluch des Vaters geschaffen hat.
Dadurch wird den Brüdern nichts von ihrer Beteiligung genommen, aber diejenige von Oidipus
hinzugesetzt.
Im anschließenden Wechselgesang der Schwester Antigone und Ismene wird der Wechselmord, das
„Erschlagenwerden vom eigenen Blut“ genauer beschrieben und die Macht der Moira, des
Schicksals noch einmal betont.
In den Wiederholungen der Thebanischen Frauen und Königstöchtern, die fast wie ein nie endender
Refrain wirken, bestanden die damaligen Trauerfeiern, die hier, in einem Bühnenstück, die Gefühle
der Trauer, Verzweiflung und des Entsetzens hervorrufen und steigern sollen.
Später wurde von fremder Hand ein weiterer Teil in die Klageszene eingebaut: darin kündigt sich
die Thematik einer weiteren Tragödie, der sophokleischen Antigone, an, mit einem Herold, der das
Bestattungsverbot für Polyneikes ankündigt (die Stadt will nicht, dass er, als Feind, mit Ehren
begraben werde), und Antigone, die ihren Widerspruch dagegen erhebt.
31
II. 2. 2. Ethische Grundfragen des Stückes
Aischylos lässt in dieser Tragödie das Geschehen von menschlicher Hand und durch Menschen dem Chor - ständig kommentieren. Dass die Götter dieses Geschehen dennoch zum größten Teil
bestimmen und beeinflussen spricht Eteokles aus: (v. 719)
Ist gottgewollt, kannst du dem Unheil nicht entfliehn.
Die obersten Götter heißen Notwendigkeit (Moira) und Vergeltung (Nemesis), die in diesem Fall
von Apollon (Gott der Regel und des Gesetzes) und Ares (Kriegsgott) vertreten werden.
Es wird ganz eindeutig geschildert, dass die Kinder des Ödipus sich verschulden müssen, weil ein
Gott, Apoll, als übergeordnetes Gesetz und bestimmende Macht, das Opfer, das aus dieser letzten
Verschuldung entspringt, verlangt.
Um dieses gottgewollte Opfer, wie Eteokles kurz vor dem tödlichen Kampf seinen Tod nennt („Das
Opfer meines Todes nur hat Wert für sie“, gemeint sind die Götter), wird die Handlung und ihr
Thema, der Krieg, als Kampf um die Heimatstadt, entwickelt.
Trotz der Notwendigkeit und der Götter, wird hier der Aufruf des Dichters an den Menschen
deutlich, selber Verantwortung für sein Tun, seine Familie und Stadt (Gemeinschaft) zu
übernehmen und das Gesetz - vor allem des Blutes - zu respektieren. Denn die Verschuldung kann
auf weitere Generationen übertragen und bis zu ihrer Entgeltung unzählige Opfer verlangen. Also
muss der Mensch mit der „Notwendigkeit“, die aus seinem Tun folgt, sowie mit den „Göttern“, bei
Aischylos vor allem als Verkörperung von menschenfeindlichen, rachsüchtigen Mächten dargestellt,
rechnen: sie aus der Distanz zu respektieren heißt sie und ihre Rache nicht zu provozieren.
II. 2. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht
Hauptgestalt ist Eteokles, als verantwortungsbewusster Verteidiger der Stadt und ihrer Freiheit, der
dafür den Kampf mit dem eigenen Bruder aufnimmt. Gezeigt wird
- sein Mut,
- sein Pflichtbewusstsein,
-s eine Entschlossenheit,
- seine strategischen Fähigkeiten.
Er ist der tragische Held, der sich aus einer Rechtsposition - die der Ausübung der eigenen Pflicht
für die Stadt - unweigerlich in eine Position des Unrechtes (des Mordes an den eigenen Bruder)
verstrickt, ja schließlich wissend den Brudermord hinnimmt und in den eigenen Tod geht.
Dass dies geschehen wird, als ob es vorherbestimmt sei, ist ihm aus Prophezeiungen bekannt.
Danach handelt er, obwohl es ihm auch bekannt ist, dass es ein Frevel (gegen Blut und Gesetz) ist,
32
gegen den Bruder zu kämpfen29. Er kann sich nicht zurückziehen - die Gründe nennt er: einmal weil
er die Stadt verteidigen und gegen den Bruder - da dieser als Feind auftritt - nicht zurücktreten will,
außerdem weil das Opfer, das er zu bringen hat, ihm bekannt ist, und er diese Tat nicht allzu lang
noch hinauszögern will.
Polyneikes tritt nicht auf. Das ist auch nicht notwendig, da er als Gegenbild des Eteokles gezeichnet
wird: verteidigt dieser die Stadt, so greift jener sie an, ist derjenige, der das erste Unrecht begeht, ist
„der“ Feind, der ohnehin den Bruder töten und die Macht an sich reißen will, trotz Unterwerfung
seiner Stadt an eine andere, Argos.
Sein Handeln ist nicht zu entschuldigen (er ist der tragischen Darstellung nicht wert). Er ist aber
auch „der“ Bruder, der Eteokles schuldig werden lässt, denn gegen den eigenen Bruder dürfte auch
Eteokles keinen Krieg führen.
Die meistens klagende Stimme des Chors durchzieht die ganze Tragödie. Es ist der Chor, das
immer auf der Bühne anwesend ist, das den moralischen und religiösen Ton und die Stimmung
angibt. Vor dem Chor, dem großen Ansprechpartner des Eteokles, hat er sich zu rechtfertigen, und
dieses hat er aber auch in den Momenten der Not als einsichtiger Herrscher zu führen und zu
ermahnen.
II. 3. Sophokles: „Antigone“
Die Tragödie wurde 442-441 v. Chr. aufgeführt. Sie errang den Sieg und einen ungeheuren Erfolg,
Sophokles wurde darauf zum Strategen im Krieg Athens gegen Samos gewählt. Welche anderen
Stücke von Sophokles bei dem Agon mit aufgeführt wurden, ist nicht bekannt.
II. 3. 1. Die Handlung
Nachdem die Söhne aus der Ehe des Ödipus mit seiner Mutter Jokaste sich im Zweikampf vor
Theben gegenseitig erschlagen haben, ist die Herrschaft Kreon, Bruder der verstorbenen Jokaste,
zugefallen. Er verordnet, dass Eteokles als Verteidiger der Stadt ehrenvoll begraben werde, der tote
Angreifer Polyneikes hingegen als Verräter unbestattet bleibe. Vögel und Hunde sollen die Leiche
zerreißen. Auf den Verstoß gegen seine Anordnung setzt er als Strafe den Tod durch Steinigung30.
29
Das Thema der feindlichen Brüder wurde im deutschen Sturm und Drang wiederholt aufgegriffen. Vgl. Friedrich
Schiller: Die Räuber (1781); Friedrich Maximilian Klinger: Die Zwillinge (1776); Johann Anton Leisewitz: Julius von Tarent
(1776).
30
V. 26-30, Antigone:
Vom anderen der gestorben ist armselig,
Von Polyneikes Leibe sagen sie, man hab'
Es in der Stadt verkündet, dass man ihn
Mit keinem Grabe berg' und nicht betraure.
Man soll ihn lassen unbeweint und grablos,
33
Die Anfangsszene zeigt Antigone und Ismene, die Schwestern Eteokles' und Polyneikes': Antigone
will ihrem Bruder Polyneikes gegen das Verbot Kreons die notwendigen Totenehren erweisen und
ihn begraben. Ismene hat vor einer solchen Tat Angst. Als Überlebende des verfolgten
Ödipusgeschlechts und als Frau, weiß sie sich dem Herrscher ohnehin unterlegen und verpflichtet,
seinem Gesetz zu folgen. So meint sie, die unterirdischen Götter werden ihr die Unterlassung
verzeihen, da sie unter Zwang steht. Antigone ist nicht dieser Meinung: den Totengöttern und dem
bis über seinem Tod verfolgten Bruder fühlt sie sich mehr verpflichtet als dem jetzigen Herrscher
der Stadt (v. 71-79):
... doch ihn
Begrab' ich. Schön ist es hernach, zu sterben.
Lieb werd' ich bei ihm liegen, bei dem Lieben,
Wenn Heiligs (frommes Verbrechen) ich vollbracht.
Und dann ist’s mehr Zeit
Dass denen drunten ich gefall', als hier.
Dort wohn 'ich ja für immer einst. Doch du
Beliebt es, halt ehrlos vor Götter Ehrsams.
Nach einem Streitgespräch zwischen den Schwestern, in dem sich Antigone Ismene gegenüber
voller Verachtung zeigt, und Ismene dennoch Versöhnung sucht31, zieht der Chor der alten
Thebaner auf der Szene ein.
In seinem Lied preist er den eben erfochtenen Sieg32 und ruft zur Feier, zu „Bacchusreigen“ auf.
Kreon kommt hinzu, der den Rat der Alten zu einer Versammlung einberufen hat. Er lobt die Treue
der Bürger und kündigt seine Grundsätze zur Regierung der Stadt an: über alles steht für ihn das
Wohl der Stadt, die allein den Bürgern Rettung sichert. Wer also die Stadt ehrt, wird von Kreon
geschätzt werden, wer dies nicht tut, gilt ihm nichts und soll verfolgt werden: „Nach solcher
Satzung will die Stadt ich fördern.“ (v. 194) Er wiederholt dann vor allen seinen Beschluss gegen
den toten Polyneikes, dessen Verrat an der Stadt er bis über den Tod hinaus bestrafen will (vgl.
v.205-214). Alle sollen sich diesem „Gebot“ fügen, die Todesstrafe droht, und Wächter stehen beim
Leichnam. Mit den Anordnungen, die Kreon zum höchsten Gebot und Gesetz erhoben hat, sind die
Alten der Stadt nicht ganz einverstanden. Sie fügen sich dem Stärkeren, sagen aber, dass Kreon sein
Gebiet - der Gesetzgebung über lebende Menschen - übertreten hat (v. 221-222):
Und das Gesetz gebrauchst du überall
der Todten wegen und der Lebenden.
Süß Mahl den Vögeln, die auf Fraßes Lust sehn.
Zitiert wird nach der Übersetzung Friedrich Hölderlins (1804), in der historisch-kritischen Ausgabe der Werke
Hölderlins, hrsg. von D. E. Sattler, Frankfurt a.M. 1988, Bd.16. Dementsprechend ist die Sprache nicht modernisiert. Wo
der Dichter von einer wörtlichen Übersetzung abweicht, wird in Klammern die Interlinearübersetzung hinzugefügt.
31
(vgl. 98-99):
Wenn dir es dünkt, so geh. Wiss' aber diß,
Sinnlos, doch lieb in liebem Tone sprichst du.
32
Die Handlung der „Sieben gegen Theben“ wird hier mit großer lyrischen und darstellenden Meisterschaft
zusammengefasst.
34
Kurz darauf erscheint der Wächter, der nach langem Zieren meldet, der Tote sei zweimal mit Staub
bedeckt worden „und wie's geziemt gefeiert“. Er sei also bestattet worden. Der Täter ist allerdings
unbekannt.
Der Chor nennt diese Tat „gottgetrieben“, in der Hoffnung, man würde von einer Suche und
Verfolgung des Täters ablassen.
Kreon aber widerspricht sofort: die Götter tragen keine Sorge für einen solchen Toten, der zu
Lebzeiten ja die Stadt und ihre Götter zerstören wollte. Er vermutet, Feinde, die in Theben seine
Herrschaft nicht akzeptieren, seien am Werk gewesen, und hätten die Wächter bestochen. Diese will
er nun - falls sie nicht reden - mit der Folter zur Aussage zwingen.
Nachdem Kreon und der Bote die Bühne verlassen haben, beginnt der Chor sein erstes Standlied. Er
bezieht sich auf das Wort des Boten, der Kreons letzte Aussage als „ungeheuer33 bezeichnet hat,
und beginnt mit dem berühmten Satz (v.335-336):
„Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheuerer, als der Mensch.“
Weiter werden in diesem Standlied die Errungenschaften des Menschen im Laufe der Zivilisation
genannt:
- sein Können und seine Fähigkeiten,
- seine Herrschaft über die lebendige Welt, welche jedoch ins Ungeheure reicht und dennoch im
Tod seine Grenze erhält.
- Vor allem wird die moralische Ambivalenz des menschlichen Könnens betont (367-371):
Von Weisem etwas, und das Geschikte der Kunst
Mehr, als er hoffen kann, besitzend,
Kommt einmal er auf Schlimmes, das andre zu Gutem.
Die Geseze kränkt er, der Erd' und Naturgewalt'ger
Beschwornes Gewissen...
Schließlich kommt auch die Befürchtung zur Sprache, dass es Antigone war, die das „Gesetz“ des
Kreon nicht respektierte - und kurz darauf wird dies vom Boten bestätigt: er führt Antigone, die
nochmals versuchte, Polyneikes zu beerdigen, Kreon zu. Er kann es zunächst nicht glauben, aber
der Bote berichtet (v.424-433):
So wird das Kind gesehn und weint auf
Mit scharfer Stimme, wie ein Vogel trauert,
Wenn in dem leeren Nest verwaist von Jungen er
33
V. 323: „Ach, furchtbar ist Gewissen ohne Wahrheit!“ (Wie furchtbar, was man meint gar, auch falsches sich meinen
lässt). Das griechische Wort kann auch mit „fürchterlich“, „ungeheuer“, „gewaltig“ übersetzt werden; es bezeichnet eine
maßlose Handlung.
35
Das Lager sieht. So sie, da sie entblößt
Erblikt den Toten, jammerte sie laut auf,
Und fluchte böse Fluche, wers gethan.
Und bringet Staub mit beiden Händen, schnell,
Und aus dem wohlgeschlagnen Eisenkrug kränzt
Sie dreimal mit Ergießungen den Todten.
Antigone leugnet nicht. Sie gibt auch zu, dass sie von Kreons Verbot unterrichtet war. Auf seiner
Frage, warum sie das Gesetz brach, antwortet sie (451-461):
Darum. Mein Zeus berichtete mirs nicht;
Noch hier im Haus das Recht der Todesgötter,
Die unter Menschen das Gesetz begränzet34;
Auch dacht'ich nicht, es sei dein Ausgebot so sehr viel,
Dass eins, das sterben muß, die ungeschriebnen darüber,
Die festen Satzungen im Himmel brechen sollte.
Nicht heut' und gestern nur, die leben immer,
Und niemand weiß, woher sie sind gekommen.
Drum wollt' ich unter Himmlischen nicht, aus Furcht
Vor eines Manns Gedanken, Strafe wagen.
Das Gesetz der Todesgötter, das „ungeschrieben“ weitergegeben wird, ist für Antigone „fester“ als
die „Ausgebote“ menschlicher Herrscher. Es bezieht sich auf ein Reich, dem Menschen ausgeliefert
sind und dessen Götter aus diesem Grunde respektiert werden müssen. Vor diesem Hintergrund ist
ihr die Pflicht, dem ungeschriebenen Gesetz der Bestattung eines Toten zu folgen, leicht gefallen.
So leicht wie die Verachtung des Einfalls - denn mehr bedeutet ihr das Verbot nicht - eines Kreon.
Der Chor kritisiert Antigones Unfähigkeit, dem Übel zu weichen und führt dies auf ihrem Vater
zurück. Kreon ist seinerseits wütend ob ihrem „Frevel“ gegenüber dem von ihm beschlossenen
Gesetz. Er verkündigt, ihren „allzu starren Sinn“ zu biegen: sie und Ismene sollen mit dem Tod
bestraft werden. Andernfalls sieht er von solchem Tun auch seine männliche Autorität: er
befürchtet, dass sie, eine Frau, die sich offenbar ihrer Tat rühmt, für maßgebender als er - ein Mann
und der Herrscher - gehalten wird.
Der Streit zwischen Antigone und Kreon wird immer heftiger. Antigone ist stolz über die
Unvereinbarkeit ihrer Position mit der Kreons und glaubt die Alten seien mit ihr einverstanden,
obwohl diese aus Furcht Antigone nicht in Schutz nehmen.
Zuletzt wird mit knappen einfachen Worten der Unterschied der beiden Positionen und Charaktere,
der Antigones Überleben unmöglich macht, nochmals unterstrichen:
Trotzt der „Gottlosigkeit“, mit der sich Polyneikes befleckt hat, und die Antigone bereit ist
34
Wörtliche Übersetzung: „Nicht nämlich etwa mir Zeus war es der verkündete dies, / auch nicht die Mitbewohnering der
unteren Götter Dike, / die diese auch unter Menschen festsetzten die Gesetze...“
36
zuzugeben, ist und bleibt er ihr Bruder. Für ihn gelten nach Antigone andere, menschlichere
Gesetze.
Kreon lässt dagegen bewusst den Unterschied zwischen dem Reich der Lebenden und dem der
Toten außer Acht. Den Feind („Schlimmen“) will er in beiden Reichen verfolgen.
Überspitzt heißt es am Ende des Dialogs (v. 523f.):
Kreon:
Nie ist der Feind, auch wenn er todt ist, Freund.
Antig.:
Aber gewiss. Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich.
Kreon:
So geh hinunter, wenn du lieben willst,
Und liebe dort! Mir herrscht kein Weib im Leben.
Als die hinzugekommene Ismene sich bereit erklärt, mit Antigone zu sterben und offen eine
„Schuld“ zugibt, die sie nicht begangen hat35, stößt sie Antigone mit Bestimmtheit von sich ab36.
Sie fühlt sich alleine dazu bestimmt, zu streben, und hat sich damit scheinbar längst abgefunden
(v.560f):
Sei guten Muths! du lebst, doch meine Seele,
Längst ist sie todt, so dass ich Todten diene.
Nachdem Ismene Kreon daran erinnert, dass er eben die Braut seines Sohnes Hämon zum Tode
verurteilt hat, versucht dieser sich zu rechtfertigen indem er die unverzeihliche Schlechtigkeit
Antigones noch einmal herausstreicht. Gleich darauf lässt er beide Schwestern wegführen.
Es folgt das zweite Standlied des Chors über das schreckliche Schicksal der Labdakiden und über
die Allmacht des Zeus. Die Geschichte der von den Göttern zu Grunde gerichteten thebanischen
Königsfamilie lehrt, dass "nichts im Leben der Sterblichen sehr weit frei von Verderben" ist (v.
611).
Die nächste Szene bringt den Auftritt Haemons, Kreons Sohn und Verlobter Antigones. Kreon
befürchtet wegen seiner Verurteilung Antigones einen wütenden Angriff.
Der Sohn aber scheint die Entscheidung des Vaters höher zu schätzen, als jede Hochzeit.
Davon ermuntert erklärt Kreon dem Sohn, dass er Antigone strafen musste, da er als Herrscher der
Stadt eine Übertretung des Gesetzes nicht zulassen konnte. Dabei stellt er seine Herrschaft als die
einzig wahre und gerechte dar. Dass die Bürger seinen Gesetzen gehorchen müssen, ist im Wesen
dieser Herrschaft begründet, denn die Regierung der Stadt fußt auf der Treue gegenüber den
Gesetzen des Regierenden. Für ihn ist seine Herrschaft eins mit den von ihm erlassenen Gesetzen.
Andere Gesetze, so die alten, ungeschriebenen, können für ihn in diesem Zusammenhang keine
Rolle spielen. Er sieht nur seine Gesetze - oder die von ihm zum Gesetz erhobenen Anordnungen 35
V. 537f: „Gethan das Werk hab' ich, wenn die miteinstimmt, / Und nehme Theil. Die Schuld nehm' ich auf mich.“ An
Antigone gerichtet (v. 541f): „Ich schäme mich an deinem Unglück nicht. /
Und mache zur Gefährtin mich im leiden.“
36
Z. B. v. 544: Die mit den Worten liebt, die mag ich nicht.
37
als gültig an37. Dann weist er mit großen rhetorischen Können darauf hin, wie schlimm es Theben
ohne Herrschaft ergehen würde und dass die Stadt auf einen Herrscher, auf ihn, angewiesen ist,
folglich seinen Gesetzen gehorchen muss (v. 678ff).
Der Chor zeigt sich damit einverstanden, doch Haemon nicht mehr. Er berichtet, dass die Stadt
„voll von Trauer um die Jungfrau“ ist und auf ihrer Seite steht (z.B. v. 693-702), Kreons Haltung
missbilligend. Niemand habe jedoch den Mut, ihm die Wahrheit zu sagen, aus Furcht, verfolgt zu
werden. Haemon zeigt sich mit der kritischen Meinung des Volks vollkommen einverstanden, will
dem Vater aber nicht ungehorsam sein. So versucht er mit aller Zartheit und Liebe, den Vater dazu
zu bewegen, seine jede Menschlichkeit widersprechende Verfügung und seine tendenziell
tyrannischen und eigensüchtigen Überzeugungen zurückzunehmen (v.707f):
Und hege nur in dir jetzt keine eigne Sitte,
Und sage nicht, du habest Recht, kein andrer.
Denn wer allein hält von sich selbst, er habe
Gedanken nicht und Sprach' und Seele, wie ein andrer,
Wenn aufgeschlossen würde' ein solcher Mensch
Erschien er leer. An einem Manne aber,
Wenn irgendwo ein Weiser ist, ists keine Schande,
Viel lernen, und nicht gar zu weit zu treiben.
(...) Gieb nach, da wo der Geist ist, schenk' uns Ändrung...
Mit Haemons Worten ist der Rat der Alten einverstanden, also wird auch von dieser Seite, Kreon
zum Nachgeben zu überreden.
Kreon lässt sich aber die Ratschläge nicht gefallen und wird beleidigend gegen den Sohn. Niemals
kann er erlauben, dass man eine „Ordnungslose“ ehrt.
Haemon widerspricht, Antigone sei nicht einfach gegen Herrschaft und Ordnung (anarchisch)
eingestellt, und Theben wisse es mit ihm.
Kreon erwidert voller Wut, ob die Polis etwa ihm, dem Herrscher, vorzuschreiben habe, was er tun
soll, und vermutet, nun wolle auch Haemon seine Herrschaft über die Stadt in Frage stellen.
Haemon kann nur bestätigen, dass dort, wo ein einziger Mann herrscht und keine andere Meinung
gelten lässt, keine Gerechtigkeit vorhanden sein könne. Wo die Bürger nicht gefragt werden, sieht es
so aus, als ob die Stadt leer sei. Er gibt auch zu, sich um seinen Vater Sorgen zu machen, da dieser
"das Recht anlügt" und die Götter nicht ehrt.
Kreon erwidert, nur seiner Entscheidung, seinem Herrschaftsrecht treu bleiben zu wollen.
Kreon fertigt Haemon damit ab, da er ja durch seine Verbindung mit Antigone, nicht ernst zu
37
Hierin hat Antigone den Wesen der Tyrannis gesehen: "Das Königtum (die Tyrannis) ist überall / Geistreich und tut und
sagt, was ihm beliebet." (v. 507-509).
38
nehmen sei und sagt ihm in voraus, dass er sie lebend nicht mehr als Frau erhalten wird. Im
Abgehen antwortet Haemon voller Zorn: die sterbende Antigone wird einen weiteren töten.
Nach einer kurzen Unterredung mit dem Chor verzichtet Kreon darauf, Ismene zu töten, ordnet aber
an, dass Antigone lebend in eine Höhle eingeschlossen werde, jedoch Nahrung zum Überleben
erhalte.
Nachdem sie die Macht des Eros besungen haben, müssen die Alten weinen. Sie sehen Antigone ein
letztes Mal auf dem Weg in die „Kammer der Toten“ und bezeugen ihr Lob und Ruhm, da sie nach
„eigenem Gesetz“ in den Tod geht. Als sie aber „Gott gleichen gleich“ genannt wird, reagiert sie
mit Hohn. Der Chor hat ja bisher nicht wirklich zu ihr gestanden, hat nichts gegen ihrer
Verurteilung und traut sich nur jetzt, als es keinen Weg zurück gibt, sie zu würdigen. Nun beweint
sie ihr einsames Todesschicksal so nah dem ihres unglücklichen Geschlechtes.
Der Chor möchte nun seine Position klar stellen: er wirft ihr vor, um der Frömmigkeit willen - was
an sich recht ist - sich der Macht allzu eifrig widersetzt zu haben, dieses sei ihr Verderben gewesen
(vgl. v. 850f.).
Obwohl Kreon Antigone zum grausamen Überleben in der Dunkelheit zwingt, hält er sich für gütig
gegenüber einem Mitglied seiner Familie, da er ihr den unmittelbaren Tod erspart: dabei hat er nur
einen Ausweg aus dem von ihm geschaffenen Unrecht, den er immer noch nicht zugegeben hat,
gesucht.
Für Antigone ist aber die „unterirdische Behausung“ eindeutig der Ort des nahen Todes, den sie in
der Hoffnung begrüßt, ihre geliebten Verwandten bald anzutreffen. Sie schließt mit leisem
Selbstzweifel, der bald der Ironie, bald der Prophetie weicht (v. 916f):
Doch einsam so von Lieben, unglückseelig,
Lebendig in die Wildniß der Gestorbnen
Komm ich hinab. Welch Recht der Geister übertretend?
Was soll ich Arme noch zu himmlischen
Gewalten schaun? Wen singen der Waffengenossen?
Da ich Gottlosigkeit aus Frömmigkeit empfangen.
Doch wenn nun dieses schön ist vor den Göttern,
So leiden wir und bitten ab, was wir
Gesündigt. Wenn aber diese fehlen,
So mögen sie nicht größer Unglück leiden,
Als sie bewirken offenbar an mir.
Zuletzt kommt der Seher und Priester Tiresias, auf einen jungen Mann gestützt. Er hat bei der
Beobachtung des Vogelflugs und beim Opferfeuer Unglückszeichen beobachtet und will Kreon
warnen:
... Nach deinem Sinn' erkrankt die Stadt.
Denn die Altäre sind und Feuerstellen
Voll von dem Fras der Vögel wohlbedeutendes
39
Geschrei her, denn es hat von todten Menschenblut
Das Fett gegessen ...
Auch er empfiehlt Kreon, seinen Fehler einzugestehen, die Toten nicht weiter zu verfolgen, sich
nicht tiefer in Schuld zu verstricken. Kreon gibt auch hier nicht nach und wirft Tiresias vor,
bestochen zu sein. Niemand, auch nicht der Seher, kann Kreon davon überzeugen, dass sein
Handeln ungerecht und dem Staat schädlich ist.
Seine Selbstgefälligkeit und Selbstbesessenheit nähern sich nun dem tragischen Ende. NichtEinsehen wollen der Göttergesetze ist Hybris, und er wird dafür bezahlen müssen. Tiresias sagt ihm
voraus, was geschehen wird, wenn er sein Verhalten nicht ändert, und geht.
Der Chor der Alten folgt jetzt entschieden der Meinung des Tiresias. Sie erinnern Kreon daran, dass
Tiresias bisher immer Recht behalten hat. Sie empfehlen, Antigone zu befreien und Polyneikes zu
bestatten - und zwar schnell, denn die Götter strafen schnell. Kreon wird unsicher und verliert den
Mut, erkennt schließlich seinen Fehler und akzeptiert zuletzt die Gültigkeit des ungeschriebenen
Gesetzes (v. 1110f):
Ich fürcht', es ist am besten, zu erhalten
Bestehendes Gesetz und so zu enden.
Für Umkehr ist es aber zu spät. Auch das Gebet des Chors an Bacchus, Schutzgott Thebens, kann
das Unglück nicht mehr abwehren.
„Gestorben sind sie. Schuldig sind, die leben“
berichtet kurz darauf der Bote:
- Antigone habe sich in der Steinkammer erhängt,
- Haemon in Zorn gegen den Vater Selbstmord begangen.
Eurydice, Haemons Mutter und Ehefrau Kreons, hört den Bericht und geht wortlos ab.
Kurz darauf betritt Kreon die Szene, den toten Haemon im Arm. Er klagt sich an, seinen Fehler, die
späte Einsicht und gibt sich die Schuld für den Tod des Sohnes. Nun habe ihn ein Gott „mit großer
Schwere gefasst und geschlagen“. Es ist aber noch nicht das Ende.
Ein neuer Bote berichtet, Eurydice habe auch, Kreon verwünschend, sich selbst getötet.
Verzweifelt übernimmt Kreon auch für diesen Tod die Schuld. Jetzt würde er lieber sterben oder
getötet werden, aber der prophetische Wunsch der Antigone, es möge ihm nicht schlimmer ergehen
als ihr, geht in Erfüllung: er, der „nun nichts mehr anders ist, als Niemand“, kann nicht sterben,
muss weiter leben und das „unerträgliche Schicksal“ des von ihm verschuldeten Unglücks tragen.
Am Ende bleibt der Chor allein, er preist die Vernunft als das höchste Glück und gibt Sophokles'
Lehre weiter (v. 1339f):
Man muss, was Himmlischer ist, nicht
Entheiligen. Große Blicke aber
40
Große Streiche der hohen Schultern
Vergeltend,
Sie haben im Alter gelehrt, zu denken.
II. 3. 2. Ethische Grundfragen des Stücks
In diesem Stück ist das Feld der Auseinandersetzung noch einmal politisch und religiös zugleich38.
Es geht fast zu deutlich um die Grundlagen des Rechtsstaates und der Gesetzgebung.
Auf jeden Fall - will Sophokles sagen - darf nicht ein Mensch allein das Gesetz oder den Staat
bestimmen.
Er meinte auch, dass alte, religiös fundierte, ungeschriebene Gesetze mehr als die Neuerungen eines
Tyrannen oder vielleicht auch einer Demokratie39 zu achten sind, was für uns nicht heißen soll, dem
Neuen sei weniger zu trauen als dem Alten: beides bedarf der Überprüfung menschlicher Vernunft
und immer wieder eines Korrektivs. Unfehlbarkeit ist vielleicht von der Mathematik, nicht aber von
staatlicher Herrschaft zu erwarten.
Der Raum der Tragödie wird einerseits von Kreons Verfügung und andererseits von den „festen
Satzungen“, den „ungeschriebenen Gesetzen“ religiöser Herkunft, die Antigone vertritt, angegeben.
Die jeweiligen Übertretungen des Politischen und des Religiösen werden mit dem Tod bezahlt.
Antigones „politischer“ Tod ist jedoch von Schicksal, nicht von wirklicher Schuld bestimmt. Es ist
die Verschuldung ihres Vaters, die auch auf ihr Leben Schatten wirft. Es scheint dass auch sie, wie
schon ihre Brüder, ihr oft verfluchtes Blut einem Gott (hier eigentlich: dem ungeschriebenen
Gesetz) „opfern“ will.
Sie fügt sich nun willig ihrem Todesschicksal ein, kann dadurch über ihr befristetes Leben selber
bestimmen, und lässt sich daher keine Vorschriften machen. Mit ihrem Verhalten lässt sie Kreons
Übertretung der alten religiösen Gesetze (die verhinderte Bestattung) und seine unmenschliche
sowie letztlich tyrannische Herrschaft (beispielhaft an Antigones Bestrafung dargestellt) sehr
deutlich werden.
In der Tragödie muss er nun einerseits für seine „Gottlosigkeit“ - auch als Verstoß gegen die
Menschlichkeit zu deuten -, andererseits für seinen Verstoß gegen die Gerechtigkeit mit dem von
ihm verschuldeten Tod seiner Nächsten bezahlen. Er bleibt machtlos und geschlagen und das ist
schlimmer als der ehrwürdige und befreiende Tod der Antigone.
Zu lernen ist, was Kreon am Ende gelernt hat: die „bestehenden Gesetze“, geschrieben oder
38
Maier (a.a.O., S. 224f) spricht davon, dass die Antigone „vom Anfang bis zum Ende von Politischen durchwaltet“ sei.
Er weist auf die Bezüge auf die zeitgenössische Politik und Gesetzgebung, die in dieser Tragödie thematisiert werden, so z. B.
nennt er den attischen Gesetz, der besagte, dass die Leichname eines Verräters im eigenen Land unbestattet bleiben müsse.
Dass in diesem Stück die Grenzen der Gesetzgebung in der Polis zur Debatte stehen, ist wohl anzunehmen.
39
Vgl. Meier, a.a.O., S.220.
41
ungeschrieben, höher als die Machtansprüche eines Herrschers zu halten.
Hegel sah in dieser Tragödie den sittlichen Konflikt zwischen dem Gesetz des Staates und dem der
Familie und verlagerte auf beiden Seiten eine Schuld und ein Recht40:
Antigone sollte dem Gebot des Kreon gehorchen, während Kreon die Heiligkeit des Blutes zu
respektieren hatte: „So ist beides an ihnen selbst das immanent, wogegen sie sich wechselseitig
erheben, und sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreise ihres eigenen
Daseins gehört“41.
Dass in diesem Stück vor allem die Tyrannenmacht die Handlung bestimmt, dass also die
Verschuldung Kreons kritisiert wird und dass Antigone schuldlos ist, wenn auch vom Tode
besessen, sah Hegel nicht. Er sah aber die Komplementarität beider Figuren in ihrer unbedingten
Treue gegenüber einer Idee. Nur verschuldet sich der eine dadurch immer mehr, während die andere
zur Heldin, ja fast zur Märtyrerin für eine Idee wird - gleichzeitig die alte Schuld ihrer Väter
abzahlend.
Kritisch gegenüber Hegels Deutung bemerkte Goethe, das Wesentliche in der Antigone sei „nicht
sowohl das Sittliche, als das Rein-Menschliche in seinem ganzen Umfange; besonders aber in
Richtungen, wo es, mit einer rohen Macht und Satzung in Konflikt geratend, tragischer Natur
werden konnte.“42 In diesem „Rein-Menschlichen“ lag freilich für ihn die höchste sittliche
Kategorie.
II. 3. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht
Antigone ist von Anfang an bereit,
- ihr Leben,
- ihre Liebe und
- Ehe
der Pflicht gegenüber dem Bruder zu opfern.
Trotz ihrer “schwachen“ Position als Frau und Tochter des Ödipus, hat sie nichts Weiches an sich,
ist sicher über den eigenen Weg und kompromisslos, kennt nur die Stärke der Treue gegenüber dem
Bruder und dem „ungeschriebenen Gesetz“, dem Prinzip. Sie weiß auch, dass sie diese Stärke mit
dem Tod zahlen muss und freundet sich mit dem Gedanken fast zu leicht an43.
40
Er übersetzt auch fälschlicherweise die letzte Rede der Antigone als Annahme ihrer Schuld gegenüber Kreon: „Weil wir
leiden, anerkennen wir, dass wir gefehlt“ (Phänomenologie des Geistes, Edition Suhrkamp, Bd. 8, S.348). Die Übersetzung
Hölderlins ist genauer, dabei wird die Ironie der Aussage zur Sprache gebracht: „Doch wenn nun dieses schön ist vor den
Göttern, So leiden wir und bitten ab, was wir gesündiget.“ In der Interlinearübersetzung heißt es: „Doch wenn freilich nun dies
vor Göttern recht sein sollte, im Leiden wohl wir einsähen, gefehlt zu haben“.
41
Phänomenologie des Geistes, S. 549.
42
Gespräche mit Eckermann, 1.4.1827, Bd. II. S. 571.
43
Dazu Hölderlin, in seinen „Anmerkungen zur Antigonä“.
42
Ihr Ungehorsam speist sich aus der Treue gegenüber dem Bruder: dies ist der einzige Punkt, in dem
sie sich der Staatsmacht nicht fügt. Aber eigentlich will sie die Staatsmacht oder die Gesetzordnung
der Stadt nicht in Frage stellen, wie der verständnislose Kreon befürchtet. Sie ist keine
Revolutionärin, oder wie Kreon mehrmals sagt „anarchisch“ und „ordnungslos“.
Durch die tragische Handlung sich immer gleich bleibend, wächst sie zu einem Muster für die
Selbständigkeit und Unbeugsamkeit des Denkens, für eine fast übermenschliche Gradheit der
Handlung auf.
Es geht von alleine, dass sie für die Schwester sowie für jede Form von Schwäche kein Verständnis,
nur Verachtung und bittere Ironie äußern darf.
Auch ihre Liebe für Haemon könnte ihre Position, ihr Entschluss entkräften, daher wird sie von ihr
kaum thematisiert44 und kommt nur am Ende als Klage um das verlorene Leben und Eheglück
zusammen mit dem Mitleid für ihre verstorbene Familie zur Sprache.
Die anfängliche Position der Ismene ist die der Unterordnung der Frauen unter den Männern, der
Schwächeren unter den Stärkeren.
Sie verändert sich aber im Laufe der Handlung. Wird tapfer und mutig, ist bereit, mit der Schwester
in den Tod zu gehen und bereut es, allzu gehorsam gewesen zu sein.
Mit dieser Haltung zeigt sie, wie Recht Antigone hatte, und wie groß die Vorbild-Wirkung von
Zivilcourage sein kann, dass nun auch sie, die „Schwache“ Mut gegen den Gebieter gewinnt.
Kreon ist der rechtmäßige König, der die Stadt nach dem Krieg übernommen hat. Er hat sich bisher
von Tiresias beraten lassen und vertrat fast demokratische Prinzipien, wie das der öffentlichen
Meinungsäußerung. Als pflichtbewusster, korrekter Herrscher handelt er zum Wohle der Stadt und
verfolgt in diesem Sinne die Feinde der Stadt.
Sein Fehler besteht in der Anweisung (Kerygma) gegen Polyneikes, die er mit dem „Wohle der
Stadt“ begründet, und gerne mit Gesetz (Nomos, überkommenes Recht) bezeichnet. Polyneikes
stellt aber keine wirkliche Gefahr mehr für die Stadt dar. Besessen von diesem „Wohle der Stadt“
vergisst er die Menschlichkeit, die einer jeden Regierung zugrunde liegen sollte, also seine
wirkliche Pflicht als Oberhaupt der Stadt. Er bricht die uralten Gesetze, die den Umgang mit den
Toten bestimmen, und schafft sich erst durch sein herrschaftssüchtigen Handeln eine Gegenpartei:
Antigone, und dann Haemon, Ismene, Tiresias.
Unnachgiebig, grenzenlos und übermutig bleibt er bei seiner Überzeugung, er duldet keine andere
Meinung neben der seinen. Er glaubt, allein das Gesetz verkörpern zu können, allein das Gute und
44
In diesem Sinn steht auch die Rede von der Unersetzbarkeit des Bruders in Vergleich mit dem wechselbaren
Ehemann.
43
Schlechte für die Stadt zu wissen. Er wird so vom pflichtbewussten Herrscher immer mehr zum
Tyrannen, der sich von keinem belehren lässt. Eine Vermittlung und Verhandlungsbereitschaft ist
bis zuletzt unmöglich, was schließlich zur Katastrophe führt.
Haemon und Tiresias stellen klare Charaktere dar. Auch sie sind grundsätzlich ihren Pflichten (des
Respektes gegen den Vater einerseits, gegen den Herrscher andererseits) treu, jedoch der
Gerechtigkeit und Menschlichkeit einerseits, und der von Göttern gegebenen Wahrheit andererseits
letztendlich mehr als den Einfällen des Herrschers oder Vaters verpflichtet.
Die Aussagen Haemons über die gerechte Regierung geben ein Vorbild für eine menschengerechte
politische Lehre ab: auf die Bürger Rücksicht nehmen, zuhören, lernbereit sein. Tyrannische
Herrschaft dagegen könne letztendlich, da sie auf niemanden Rücksicht nimmt, nur auf eine
menschenleere Stadt geübt werden - die Regierung dürfe nicht der Ort sein, in dem sich persönliche
Macht auf die Kosten der Allgemeinheit aufspielt. Als Haemon diese letzte Hybris des Vaters
erkennt, kann er sich mit ihm nicht mehr versöhnen, muss mit letzten Konsequenzen drohen und
handeln.
Der Chor, die Mitte zwischen Kreon und Antigone beziehend, gibt die dem Monarchen durch
Gehorsam gebundene Position des Rats der Alten in Athen wieder. Er hält sich meistens fern von
der Handlung. Unbeholfen und erschüttert reagiert er gegenüber Antigones Schicksal und machtlos
wie die Bürger der Stadt beklagt er Antigone. Die Standlieder über das menschliche Schicksal und
über die Macht der Liebe zeigen diese Entfernung, bei genauer Beobachtung und Darstellung
menschlicher Schicksale, die der Dichter in die Reflexion über die Handlung einflechten will. Seine
Lehre durch den Chor ist eine trauervolle Mahnung zu Erkenntnis und vernunftgemäßen Handeln.
II. 4. Euripides: „Medea“
Als erstes Stück einer nicht zusammenhängenden Dramenfolge, wurde die „Medea“ 431 v. Chr.,
etwa 10 Jahre nach der “Antigone“ des Sophokles, aufgeführt.
Das Stück gewann keinen Preis, übte jedoch wegen des Schauder erregenden Kindermordes einen
nachhaltigen Eindruck auf das spätere abendländische Theater sowie auf die bildende Kunst.
In der Vorgeschichte hatte Medea, Tochter des Königs von Kolchis, Jason mit ihren Zauberkünsten
geholfen, das goldene Vlies zu gewinnen und war nach weiteren Abenteuern mit ihm in seine
Heimatstadt Jolchos zurückgekehrt. Dort, nachdem Jason dem Onkel und König Pelias das goldene
Vlies überreicht hatte, entpuppte sich Pelias als derjenige, der Jason und schon dessen Vater Aison
die königliche Herrschaft usurpiert hatte und weiterhin vorenthalten wollte. Medea übernahm die
Rache, indem sie Pelias' Töchter zum grausamen, absichtslosen Vatermord verleitete.
Aus dem Lande vom Sohn des Pelias getrieben, war Medea mit Jason nach Korinth geflohen. Dort
44
lebten beide jahrelang glücklich und bekamen zwei Söhne45.
II. 4. 1. Die Handlung
Im Prolog berichtet die Amme, wie die Geschichte weiterging:
Jason hat Medea und die Kinder verlassen, um die schöne Tochter des Kreon, König von Korinth,
zu heiraten46. Medea ist zutiefst verzweifelt und tödlich beleidigt. Sie sehnt sich in der Not nach
ihrer verlassenen Heimat, nach dem Vater, nach einem Schutz. In ihr wachsen Hass und Rache
empor.
Als die Amme vom Wärter der Kinder erfährt, dass König Kreon Medea und ihre Kinder aus der
Stadt verbannen will, befürchtet sie, dass Medea diesen weiteren Schlag nicht ertragen und
womöglich ein schweres Vergehen begehen wird (v. 89-95):
"Geht ins Haus jetzt, ihr Knaben, auch dies wird vergehn!
Nur halte sie, Freund, von der Mutter zurück;
Ich sah drohend ihr Aug auf die Kinder gezuckt:
Ihr Zorn sucht ein Opfer, ich weiß es genau!
Mögens Feinde und nicht ihre Liebsten sein!"
Der Zuschauer wird schon vor dem Auftritt der Medea auf das tragische Ende vorbereitet. Und
während die Amme mit den Kindern und dem Wärter sich in den Palast flüchten, lässt diese ihrer
wilden Verzweiflung und ihrem Zorn freien Lauf47.
Die nächste Szene zeigt den Chor der Frauen von Korinth im Gespräch mit der Amme. Medea,
noch im Inneren des Palastes, klagt indes verzweifelt Jason, seine Braut und deren Haus an. Sie
wünscht inständig ihren Untergang.
45
Vgl. v. 476-486. Zitiert wird nach: Euripides, Sämtliche Tragödien und Fragmente. Hrsg. G. A. Seeck; Übers. E.
Buschor. München (Heimeran) 1972. Zu dieser Tragödie und ihrer Hauptperson vgl. „Medea“ in: Der kleine Pauly. Lexikon
der Antike in fünf Bänden. München 1979. Bd. 3.
46
Vgl. v. 486-493:
... doch du Schurke verrietest
Mich an neueres Bett, trotz der Söhne; denn wärst
Du noch kinderlos, bliebe die Tat dir verziehn.
Gelten eide noch? Glaubst Du, die Götter von einst,
Sind vom Thron gestoßen durch neues Gesetz,
Das den Meineid erlaubt, den Du offen begingst?
47
Vgl. z. B. v. 110-114:
Weh mir!
Mich traf ein Schlag,
Unsäglicher Schlag!
Elendeste Mutter
Verflucht ihre Kinder,
Verflucht der Vater,
Verflucht das Haus!
45
Die korinthischen Frauen des Chors halten zu Medea in ihrem Unglück. Sie erinnern daran, dass
auch Zeus, als Wahrer des Eides und des Rechts, ihr beisteht (v. 139 auch 180f).
Schließlich erscheint Medea auf der Bühne. Sie schildert den „Streich“, der ihr Leben zerstört hat,
und spricht von ihrem Schicksal als allein gelassene Frau in einem fremden Land. Sie ist zum
äußersten bereit, vor Waffen hat sie keine Scheu.
Der Chor ist mit ihrem Rachegedanken weiterhin einverstanden und verspricht daher zu schweigen.
Die „Moral“ steht also auf Medeas Seite: Euripides lässt ihre Rache, durch den an ihr geübten
Verrat, berechtigt erscheinen.
In der nächsten Szene erfährt Medea von Kreon, dass sie und ihre Kinder die Stadt verlassen sollen.
Er fürchtet nämlich, Medeas Rache an seiner Familie. Daraufhin ändert Medea ihr Verhalten
gegenüber dem König. Sie gibt vor, ihre magischen Fähigkeiten und Kenntnisse zu bereuen und
beschwört Kreon, sie nicht aus der Stadt zu verbannen. Sie werde sich ihrem Schicksal geduldig
fügen. Ohnehin könne sie mit ihrer Magie einen König weder stürzen noch töten.
Trotz ihres tiefen Hasses auf Jason will sie die Entscheidung des Königs, seine Tochter mit Jason zu
vermählen, respektieren: „Ich will schweigen zu dem, was ein Stärkrer verhängt“.
Doch Kreon traut dieser plötzlichen Wandlung nicht und bleibt, trotz ihrer verzweifelten Bitten bei
seinem Entschluss. Das einzige, was er ihr gewährt, ist ein Tag zu Vorbereitung der Abreise, da sie
auch vorgegeben hat, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz ihrer Kinder in der Fremde treffen
zu wollen.
Dem Chor vertraut sie die Wahrheit an: Sie will diesen Tag nutzen, um sich an Kreon, seiner
Tochter und Jason zu rächen und sie zu vergiften und, falls alle Fluchtwege versagen sollten, sich
selbst mit dem Schwert zu töten.
Gleich darauf, bei seinem ersten Auftritt, beteuert Jason, keinen Hass für Medea zu empfinden,
vielmehr sie und ihre Kinder in der Fremde weiter beschützen zu wollen. Er beschuldigt sie aber,
den König und Herrscher, also einen Mächtigen, geschmäht zu haben, und damit die Verbannung
verdient zu haben. Vor dieser Bestrafung mag er sie wohl nicht mehr schützen. Er rechtfertigt seine
neue Ehe dadurch, dass er damit das Schicksal seiner Kinder als Flüchtlinge in einer fremden Stadt
mildern wollte (v. 555-560):
Unser Glück, unsre Wohlfahrt lag mir im Sinn,
Das Elendslos, das die Freund verjagt,
Der Kinder Erziehung im vornehmen Stand
Ihrer späteren Brüder. Ein blühend Geschlecht
Sollte alles kronen! Die schon du gebarst,
Sollten glücklich im Schatten der andern gedeihn!
Über das Los der Mutter seiner Kinder aber macht er sich weniger Sorgen: Dank schuldet er, seiner
46
Meinung nach, nur der Liebesgöttin Kypris, die in Medea die Liebe zu ihm entfacht und Medea so
zu seiner Gehilfin gemacht hatte.
Medea fühlt er sich nicht (mehr) verpflichtet. Im Gegenteil glaubt er, sie habe bereits viel
gewonnen, indem sie ihm nach Hellas, dem „Sitz des Rechts“, gefolgt war und so „ihr wildes
Land“, das „Reich der Gewalt“, hinter sich zurücklassen konnte. Der berechnende Jason sieht daher
keinerlei Veranlassung dafür, etwa aus Rücksicht oder Treue zu Medea auf seine neue Ehe und
Prinzenwürde zu verzichten. Ihren Schmerz nimmt er nicht ernst. Medeas Zorn ist in seinen Augen
Ausdruck blinder Eifersucht und nicht - wie seine neue „Pflichtehe“ - der Sorge um das
Wohlergehen der Kinder.
Jason entpuppt sich schließlich als frauen- und fremdenfeindlich: Wie alle Frauen trachte Medea
doch nur danach, dem Mann ohne Rücksicht auf Verluste Fesseln anzulegen. Gäbe es eine Geburt
ohne Frau, so wäre das Leben glücklich. Es ist klar, dass Jason unehrlich ist, wenn er, um seinen
neuen Bund zu rechtfertigen, das „Heil“ seiner ersten Familie angibt. Medea trifft den Grund
genauer (v. 591-592):
Was dich trieb, war die Angst, das barbarische Weib
Sei dir ewige Bürde und ewige Schmach.
Die sophistischen Argumente, mit denen er der Medea den Dank und die Anerkennung für ihre
Hilfe (von ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter seiner Kinder ist nicht einmal die Rede) und vor allem
für ihre Liebe abspricht, können die berechtigte Wut der Medea nur noch weiter steigern (v. 580587):
... Wer Unrecht klug
Beschönigt, hat härteste Strafe verdient.
Mit der Zunge Prunk macht er Böses gut
Und frevelt weiter und bleibt ein Tor.
So kommst du und spielst hier den ehrbaren Mann
Mit Reden - und fällst durch ein einziges Wort:
Wärst du ehrlich, du hättest den neueren Bund
Mit der Gattin beraten, nicht vor ihr versteckt.
Auch der Chor lässt sich nicht überzeugen und spricht unbeirrt sein Urteil aus (v. 576-578):
Du hast mit Geschick deine Worte gesetzt,
König Jason, doch sag ich dir frei heraus:
Der Verrat an der Gattin bleibt schlimmste Tat.
Medea lehnt jede Hilfe von Jason für ihr künftiges Leben in der Fremde ab. Sie gibt ihm außerdem
zu verstehen, wie ungerecht sie die Verbannung empfindet, da sie keinen Verrat begangen hatte.
Auch in diesem Punkt hat sie die volle Unterstützung des Chors (vgl. v. 643-662).
Einen Freund und weitere Unterstützung findet Medea in Aigeus, König von Athen, der in der
dritten Hauptszene auftritt. Er ist in Korinth zu Besuch und fragt die für ihre Weisheit weithin
bekannte Medea um Rat bei der Deutung eines Orakels. Beeindruckt von ihrem düsteren Aussehen
47
fragt er sie nach ihrem Schicksal. Medea berichtet von ihrer Verbannung und von dem an ihr
geübten Verrat, worauf Aigeus ihr verspricht, sie in seinem Hof aufzunehmen und gegen Feinde zu
schützen. Nun kann sie, gestärkt, an die Verwirklichung ihres Racheplanes gehen. Sie teilt ihn dem
Chor mit (v. 780-794):
Ich sende die Kinder mit Gaben ins Schloss
Und legt sie [Jasons Braut] die an, stirbt sie kläglich dahin
Auch wer sie berührt; so stark ist mein Gift.
Doch genug von dem allen! O furchtbares Werk
Das mir dann noch bleibt: meiner Kinder Mord!
Nichts kann sie erretten! Und ist bis zum Grund
Jasons Haus zerstört, so jagt mich vom Land
Meiner Liebsten Tod, die unseligste Tat.
Vom wiederholten Ermahnen und Flehen des Chors, diesen Plan nicht auszuführen und die Kinder
zu schonen48, lässt sich Medea nicht beeindrucken, überzeugt wie sie ist, dass nur wer so gelitten
hat wie sie, sie verstehen und ihren Plan gut heißen kann.
Dass die Rache ihr eigenes Blut trifft, ist nur Nebensache, denn das übergeordnete Ziel ist es, „den
Gatten ins innerste Herz“ zu treffen. Da er an seinen Nachkommen sehr hängt, weiß Medea seit
ihrem letzten Gespräch mit Jason, mit dem Tod seiner Kinder kann sie ihn mehr zerstören, als wenn
sie ihn selber töten würde.
Jason überzeugt sie dann mit ihrer vorgespiegelten Reue auch sehr schnell, die Verbannung ihrer
Kinder von Kreon lösen zu lassen. Sie gibt auch an, auch von der neuen Braut Jasons ein
milderndes Wort für die Kinder erbitten zu wollen. So sendet sie die Kinder mit vergifteten
Festgewand und Schmuck zur Prinzessin.
Als die Kinder mit dem Wärter aus dem Königspalast zurückkehren, ist der erste Teil des Plans
vollendet. Später wird ein Diener den grausamen Tod der Königstochter und des Kreon mit großer
Rührung beschreiben und Medea zur Flucht aufrufen (v. 1134-1221). Seine letzten Worte enthalten
die von religiösem Glauben nicht mehr berührte und eher pessimistische Weltanschauung des
Euripdes (v. 1224-1229):
Doch, dass Menschending nur ein Schatten ist,
Erwies sichs aufs neue. Ich sags ohne Scheu:
Die Weisen und Klugen auf dieser Welt
Sind die größten Toren; kein Sterblicher kennt
Das Glück, und erhebt ihn auch Gold und Rang:
Glückselig kann er nicht heißen.
Nun muss Medea an den zweiten Teil ihres Racheplans gehen. Wir sehen sie zuerst in einem
heftigen inneren Kampf. Beim Anblick der Kinder verschwindet in ihr der Mut zur Mordtat,
48
„Als treuster Freund und im Namen des Rechts/Der Menschen verbiet ich dir die furchtbare Tat“, vgl. auch das dritte
Standlied, v. 824-866.
48
gleichsam versucht sie nicht weich zu werden. In diesem Zusammenhang ist wiederum von Opfer
(die Kinder) und Opfernder (Medea) die Rede49. Es sieht so aus, als ob sie von einer fremden,
göttlich-dunklen Macht getrieben ist, eine Handlung zu vollenden, ein Opfer zu bringen, das sie gar
nicht bringen will, als ob zwei Stimmen in ihr reden, und die des Todes zugleich die Stimme der
Pflicht und Notwendigkeit sei: „Ganz unabwendbar ist dieses Los“ (v. 1063).
Hinzu kommt, dass die Kinder, als Überbringer der giftigen Gewänder, in der Stadt verfolgt werden.
Medea ist sich sicher, dass die Kinder den „Feinden“ nicht entfliehen werden, dass sie auf jeden Fall
sterben müssen, deshalb will sie selber das Straf-Opfer bringen. Ihr Leid um den Tod der Kinder
nimmt sie in Kauf um Jason zu treffen.
Sie nimmt Abschied von den Kindern mit großer Zärtlichkeit, und schickt sie ins Haus (v. 10761080):
Nicht vermag ich euch länger zu schaun,
Die Not ist zu groß und sie lehrt mich zu spät,
Wie furchtbare Tat ich verrichten muss.
Der klare Verstand weicht dem dunklen Trieb,
Diesem Unheilstifter in aller Welt!
Mit dem sechsten Standlied begleitet der Chor die Mordtat, zuerst in der Hoffnung, sie abzuwenden,
dann langsam sie als Schicksal aufnehmend (v. 1266-1270):
Feuer furchtbaren Grolles
Hat dich befallen Weh, diese Glut
Wird doch nur vom Blut gelöscht!
Mordlast eigenen Bluts
Ruht auf dem Land,
Fällt auf den Mörder zurück,
Ruft Rache der Götter
Auf ganze Häuser!
Der Tod der Kinder wirkt furchtbar nah und real, obwohl es im Inneren des Hauses, also außerhalb
der Bühne statt findet. Der Chor hört Schreie und Hilferufe der Kinder, kann aber den Mord nicht
verhindern.
In der letzten Szene kommt Jason zu Medeas Haus, um die Kinder vor der Bestrafung und Rache
der Königsfamilie zu retten. Er sieht entsetzt ihre Leichen auf einem von geflügelten Drachen
gezogenen Wagen, den Medea von Helios, ihrem Ahnherrn, erhalten hat, und den sie selber lenkt.
Jason kann die Kinder nur noch von einer gewissen Distanz sehen, sie aber nicht berühren, oder
Medea festhalten.
Es ist die schwächste Stelle des Stücks, in der die Szene mit dem Drachenwagen und der Dialog wie
49
V. 1052-1054: „Wen Scheu vertreibt/Von dem Opfer, der ziehe den eigenen Weg/ Und lähme nicht länger des Opferers
Hand!“ Vgl. dazu Burkert, Griechische Tragödie und Opferritual, a.a.O., S. 28.
49
aufgesetzt wirken50.
Die ehemaligen Gatten streiten sich ein letztes Mal vor dem Anblick der toten Kinder:
Jason verflucht Medea als Mörderin, und Medea nennt ihn den wirklichen Töter, da er mit seinem
„schändlichen Ehebruch“ ihre Hand geführt habe.
Sie wirkt jetzt selbstsicher und ruhig, von Helios geschützt, und der Aufnahme von Aigeus in Athen
sicher. Sie hält ihr Handeln - die Bestrafung des Jasons - als im Einklang mit dem Gesetz des Zeus
geschehen. Sie will ihre Kinder selber auf „der Hera hochheiligem Berg“ begraben und dazu ein
Opferfest stiften, das in Korinth jährlich „zur ewigen Sühne für blutige Tat“ stattfinden soll. Von
den Göttern auf diese Weise als Vergelterin in Schutz genommen und in den Stand einer Opfer
bringenden Priesterin erhoben, prophezeit sie dem Jason seinen Tod und fliegt davon. Jason bleibt
nur die Klage um die verlorenen Kinder und Braut.
II. 4. 2. Ethische Grundfragen des Stücks
Mit diesem Drama will Euripides vergegenwärtigen, wie Leidenschaft, triebhaftes Handeln, oder
das Nicht-Achten eines gültigen Gesetzes, aus welchen Gründen auch immer, der Grund einer
unlösbaren, tragischen Verstrickung und des Untergangs von mehreren Menschen sein können.
Wer hier für sein Unrecht bezahlt ist vor allem Jason, der dem Tod der neuen Frau, ihres Vaters und
seiner Kindern überleben muss; während Medea, die aus dem Bereich des Göttlichen und
Halbgöttlichen stammt, unversehrt bleibt. Ihre Maßlosigkeit und Selbstvergessenheit ist für alle
erschreckend, sie folgt aber nur dem Vergehen des Jason wie Donner dem Blitz. Ihre Tragödie
besteht zuletzt in ihrem Opfer, im Verlust der Kinder, somit hat sie für ihre Tötung „bezahlt“.
Von einer weiteren Verfolgung und Bestrafung lässt sie der Dichter frei, obwohl sie die
ungerechteste aller Taten begangen hat.
Dennoch wird schon zu Anfang des Stücks von der Amme den „kleinen“ Menschen die „mittlere
Straße“, die Mäßigung, die Sicherheit bietet, empfohlen (v. 120ff). Die „Großen der Welt“ aber, die
„nie gehorchen, die nur befehlen“, neigen durch ihre Macht zum Unmaß und zur Übertretung des
Gesetzes. Also stürzen sie mit ihren Familien. Und keiner kann sich auf dieser Welt glücklich
nennen, - fügt er der Diener des Königs hinzu - sei er noch so groß, reich oder weise. Alle sind sie
endlich und müssen leiden.
Medea gibt sich mit einer Moral des mittleren Weges nicht zufrieden. Sie will sich nicht fügen, vor
allem dem ihr geschehenen Unrecht nicht. Wie ein wahrer Held würde sie eher den Tod in Kauf
50
Dazu Aristoteles, Poetik (a.a.O.), Kap. 15: „Es ist offenkundig, dass auch die Lösung der Handlung aus der Handlung
selbst hervorgehen muss, und nicht - wie in der Medea und wie in der Ilias die Geschichte von der Abfahrt - aus dem Eingriff
eines Gottes.“
50
nehmen. Hier nimmt sie das Leben der Kinder, um ihre Rache zu vollenden51. Mit der Tötung der
Kinder, die sie in der Vernichtung ihrer Gegner hoffnungslos verstrickt hat, verwandelt Medea ihre
Tragödie (der Verlassenen und Verratenen) in die Tragödie Jasons, wo sie triumphiert. Zusätzlich
überredet sie sich selber, ihre Kinder Zeus, dem Gott des Gesetzes, und Hera, der Göttin der
Familie, zu opfern.
Die Götter stellen dennoch bei Euripides - anders als bei Aischylos und Sophokles - nur noch
unpersönliche, wenn auch übergeordnete ideale Instanzen (z. B. das Recht) dar. Im Vordergrund
stehen die menschlichen Schicksale, ihre Gefühle und persönliche Züge. So opfert Medea vielmehr
ihrem eigenen Zorn als einem Gott. Euripdes erhebt sie aber am Schluss zur übermenschlichen
Kultstifterin. Er verkleidet den Mord in Opfer- und Kulthandlung - und versucht zugleich dem
damals noch bekannten korinthischen Kult einen Ursprung in Opfer und Tod anzudichten.
Nach seiner Moralauffassung waltet in diesem Geschehen die Gerechtigkeit: „Alles verwaltet Zeus
im Olympos, niemals Geahntes bereiten die Götter“ spricht der Chor im Abziehen. Auch rettet sich
Medea nicht zufällig in Athen, der Stadt des Gesetzes. Der Verrat Jasons ist schlimmer als die
Tötung der Kinder durch Medea, die im Zeichen der Götter steht. Diese „Moral“ ist vielleicht das
Tragischste in dieser Tragödie. Hier weicht Euripides im Gegenzug zu Aischylos entschieden von
dem griechischen Moralkodex und Gesetz ab.
II. 4. 3. Die Gestalten aus ethischer Sicht
Medea stammt, als Enkelin des alten Sonnengottes Helios und als Schützling der Hekate (Göttin der
Unterwelt) aus dem Bereich der elementaren Kräfte (in der früheren Mythologie wurde sie sogar als
Göttin verehrt). Sie weiß diese Kräfte zu ihren Zwecken zu nutzen. Darin besteht ihre Weisheit.
Damit half sie Jason, der in starkem Maße in ihrer Schuld steht und ihr im Wissen untergeordnet ist.
Den neuen, olympischen Göttern ist sie nur lose verbunden. Sie kommt aus einem fremden - für die
Griechen „barbarischen“ - und wilden Land.
Sie und nicht der „griechische“ Heimatheld Jason stellt für Euripides den entscheidenden Charakter
der Tragödie dar. Sie lehrt schließlich dem König von Athen die Weisheit und hält sich strenger an
das Gesetz und an den Recht als Jason, der nur damit prahlt und sich zusätzlich überheblich über
ihre „barbarische“ Herkunft äußert. Sie hat die für sie neue griechische Welt und deren Recht auf
sich genommen und es ist die Übertretung dieses Rechts durch Jason, die in ihr die „alte“ Welt der
Blutrache auferstehen lässt (vgl. v.257f).
Nachdem Jason sein Eid gegenüber der der Familie gebrochen hat, übernimmt Medea die weitere
Zerstörung ihrer „Familie“ oder dessen, was davon übrig blieb, auf sich. Da ihr die Rolle der
„guten“ Frau, die mit viel Leid und Unterordnung erkauft war, nur Unheil gebracht hat, duldet sie
von nun an keine Unterordnung mehr, weder unter einem Mann, noch unter dem Gesetz: ihre Macht
51
Das Motiv der Kindertötung durch die Mutter, das die Sage nicht kannte, stellt eine der wichtigsten Erfindungen
Euripides' dar.
51
gilt es jetzt auszuspielen, und zwar wohlbewusst als „Meisterin des Bösen“.
Der Chor ist hier weniger von der Leidenschaft des Augenblicks geleitet. Er denkt logischer und
klarer: in diesem Sinne wird die Macht des Mannes über die Frau in Frage gestellt, wenn der Mann
seine göttlichen Eide bricht. Somit wenden sich Recht und Gerechtigkeit vom Mann ab und die
Stunde der Frau ist gekommen: sie soll nicht mehr geschmäht werden, ihr muss endlich Ehre
widerfahren, und dem Mann gleichwertig werden52.
Der Chor der korinthischen Frauen nimmt außerdem warmen Anteil an Medeas Schicksal: er
bestätigt sie immer wieder in ihren Reaktionen und stellt sich gegen die Herrscher von Korinth auf
der Seite der verlassenen Frau. Der Chor vertritt die allgemeine Moral, indem er auch im
Zusammenhang mit der Liebe die Mäßigung, Ehe, und ein friedliches Glück lobt (v. 627-641). Was
Jason tat, ist für die korinthischen Frauen unverzeihlich. So war es ein „gerechter Gott“, der das
Leid Jasons verursacht hat. Dennoch ist der Chor nicht einverstanden mit Medeas Mord an den
eigenen Kindern.
Jasons Gestalt gewinnt gegenüber Medea kein wirkliches Gewicht. Er löst er durch seinen
Treuebruch die Handlung aus. Er hat eine kleine, berechnende Seele und ist bereit, Prinzipien und
Eide dem Gebot des eigenen Nutzens zu opfern. Also verhält er sich unterwürfig gegen den
Mächtigen. So erweist er sich bei seiner „Rechtfertigung“ gegenüber Medea im Grunde auch als
käuflich. Er ist nicht bloß untreu. Er stellt sich als elend dar, obwohl er als Held des
Argonautenzuges aufgenommen wurde, obwohl Medea eine Königstochter ist. Aber da sein
Familienstand mit einer „Barbarentochter“ ihm jetzt wohl nicht mehr nützt, löst er den Bund und
versucht sie noch tiefer als bisher in den Flüchtlingsstand herabzusetzen (v. 591-592).
Schließlich wirkt seine Verteidigung des griechischen Gesetzes, mit dem er Medea aus ihrem
früheren wilden Stamm befreit und erhoben habe, nur noch überheblich und verlogen, da er es selbst
nicht für nötig hält, sich an dieses hoch gepriesene Gesetz zu halten.
Kreon, König von Korinth, gibt in seinem Verhalten ein weiteres Bild charakterlicher Schwäche
und dessen Folgen für die ihm untergeordneten Menschen: er bestätigt und schützt durch seine
Machtposition das Unrecht, das Jason begangen hat, weil dieser seine Tochter heiratet und sein
Nachfolger werden soll. Außerdem verstößt er gegen die Gerechtigkeit in seiner Verbannung der
Medea, einer verlassenen, einsamen Frau mit Kindern, was nichts anderes heißt, sie der Wildnis
preiszugeben. Er tut dies aus Selbstschutz, da er langsam Angst vor den Folgen seiner
Entscheidungen bekommt. Er vertritt das Gesetz des Stärkeren, nicht aber das Recht, und entkräftet
hiermit Jasons Lobpreisungen vom Griechenland als Sitz des Rechtes.
Moralische Zweifel über ihr Tun stören nicht das Gewissen von Jason und Kreon, Euripides stellt
keine schillernde Gestalten, die zum Beispiel gut meinen und schlecht handeln, anders als
Sophokles, der Kreon doch schließlich zur Einischt kommen lässt, und auf jeden Fall nicht im bloß
52
Zu jedem vorkommenden Thema gibt der Chor seine Meinung ab: so außer über die Rolle der Frau auch die Liebe, das
Kinderkriegen, über die Bedeutung der Gastfreundschaft Athens etc.
52
egoistischen Interesse handelt, sondern zum Wohl der Stadt meint seine Gebote verteidigen zu
müssen. Weder Kreon noch Jason lässt Euripides - in also wesentlich pessimistischer Sicht vom
Menschen als Sophokles - Bedenken jeglicher Art aufkommen, sie verfolgen selbstherrlich ihr
Nutzen und Interesse, dem sie alle anderen menschlichen Werten und Gesetze unterordnen.
53
Fragen53
(1)
Nennen Sie die Argumente, mit denen Aristoteles und Schiller die ethische Funktion fiktiven
Erzählens und besonders die ethische Wirkung der Tragödie fundieren.
Antwort:
Die ethische Funktion einer Erzählung, also die Veranschaulichung von allgemeingültigen
ethischen Prinzipien durch fiktive Handlungen, liegt für Aristoteles in der Allgemeingültigkeit ihrer
Aussage gegenüber dem Punktuellen und Zufälligen des wirklichen Geschehens.
Zum Zweiten liegt die ethische Funktion der Dichtung in dem Vorbildcharakter von fiktiven
Personen. Besonders die Darstellung der Götter- und Heroengeschichten, in denen es um ethische,
politische wie religiöse Inhalte geht, die den Menschen betreffen und ansprechen, wird in der
tragischen Dichtung von Aristoteles empfohlen.
Die bestimmte Wirkung der Tragödie definiert Aristoteles als Hervorrufen von „Jammer und
Schaudern“ und hierdurch einer „Reinigung von derartigen Erregungszuständen“. Die menschlichen
Gefühle, die eine Tragödie erweckt, werden zugelassen und auf die Fähigkeit des Menschen
Vertrauen gesetzt, heftige Gefühle auszugleichen, oder sich von heftigen Gefühlen gerade mittels
dieser Gefühle zu befreien, um zu einer geläuterten und gefassten Gemütsstimmung zu gelangen.
Die nachfolgende Reflexion über die ethischen Inhalte des Stückes, am Wichtigsten der
moralischen Selbständigkeit im Leiden des Helden, führt nach Schiller zu einer Stärkung des
moralischen Bewusstseins des Zuschauers und stellt die moralische Wirkung eines Dramas dar.
53
Hier wird nur eine Auswahl der ethisch relevanten Fragen formuliert. Eigentlich könnte für jede Figur, die in einer
der hier behandelten Tragödien auftritt, eine Frage zur ethischen Reflexion über ihr Handeln gestellt werden.
54
(2)
Nennen Sie die Gründe, weshalb Platon und Kant die Tragödie und allgemein die fiktive Erzählung
als nicht geeigneten Gegenstand ethischer Reflexion kritisieren.
Antwort:
Platon kritisiert zum einen die Inhalte der Dichtung, da sie menschliche Handlungen bloß erfinde
und Fälschungen hervorbringe, vor allem aber die Wahrheit über die Götter verstelle, indem sie
nicht immer als „gute Götter“ dargestellt werden (ein Beispiel dafür haben wir hier in der
Darstellung des Zeus im „Prometheus gefesselt“). Daher sind bei Platon in einer nach seinen
Vorstellungen „gereinigten“ Dichtung weder Fiktionen, noch die Darstellung von Menschen und
dramatischen Handlungen von Menschen erlaubt. Allein als Götterverehrung oder versifizierten
Gebet, und nicht als epische oder dramatische Darstellungsform, dient nach Platon die Dichtung der
sittlichen Verbesserung der Menschen.
Zum anderen kritisiert Platon die „verderbende“ Wirkung der Dichtung und Tragödie auf die
Menschen. Er wirft den Tragödiendichtern vor, dem Zuschauer seine Autonomie und
Eigenständigkeit zu nehmen, da tragische Aufführungen den schlechteren, weil leidenschaftlichen
und triebhaften Teil der Seele fördern. Dichtung und Tragödie wenden sich nach seiner Meinung
einzig an die niederen Kräfte der Seele und zerstören im Menschen die Vernunft. Sie versetzen den
Menschen in eine fremde unwirkliche Welt, beeinflussen sein Gemüt durch Vorspielen von Klagen
oder heftigen Gefühlen. Damit fördert für Platon diese Kunst zunehmend jene „unkontrollierten“,
unbeherrschbar starken Gefühle wie Mitempfinden, Furcht und Trauer, Wut oder Ausgelassenheit,
die ihn von den Inhalten seiner intellegiblen Seele fern halten.
Kant kritisiert bei fiktiven Erzählungen den Charakter der Möglichkeit, der der Erzählung
innewohnt, in der Befürchtung, dieser würde auch der Moral den Status bloßer Möglichkeit
verleihen. Das dagegen eine ethisch fundierte Handlung wirklich geschehen ist, gibt nach Kant der
Moralität eine Verankerung in der Realität.
55
(3)
Welches Geschehen bildet den Kern der ursprünglichen tragischen Handlung und inwiefern hängt
es allgemein mit Ethik zusammen?
Antwort:
Aus der tradierten Ordnung, in der der Mensch fest eingebunden ist, ist er durch eine ungerechte Tat
oder durch einen Frevel aus Übermut ausgetreten. Das seelische Gleichgewicht muss durch ein
Opfer, das meistens grausam und ungerecht erscheint, wiederhergestellt werden. Dieses Opfer ruft
trotz der Gesetzlichkeit, in der es verankert ist, Entsetzen aus, denn es richtet sich gnadenlos gegen
den Menschen (Helden) und seine Familie, auch über mehrere Generationen hindurch. Das Opfer
bildet den tragischen Kern der Handlung, der vor allem das Ende der Tragödie in seiner
zerstörenden Macht offenbart.
Aufgabe des Zuschauers ist, den „Sinn“ dieses Endes, d. h. die „Gerechtigkeit“ zu verstehen, die ein
„tragisches“ Geschehen notwendig machte.
56
(4)
Inwiefern hängen ethische Lehre der Tragödie und Hybris zusammen?
Antwort:
Unter Hybris versteht man in der griechischen Gesetzgebung ein Generaldelikt, dessen objektiver
Tatbestand in einer gesetzwidrigen Verletzung der körperlichen Integrität eines anderen Menschen
besteht. Sie beruht auf einem übergroßen Sicherheitsgefühl, einem übermütigen Vertrauen auf sich
selbst und die eigene Macht und führt so zum Missachten der äußeren Welt und ihrer Zeichen und
Boten (besonders in der Ödipus-Tragödie zu vermerken). In der Hybris überschreitet der Mensch
die ihm von Staat, Religion und Moral gesetzten Grenzen.
Dieses Unrecht liegt in der Gesinnung des Täters, der sich vor allem über die Grenzen der Moral
stellt und seine „Opfer“ herabwürdigt. Laut Gesetzgebung wurde das Hybris-Delikt öffentlich
angeklagt und war erblich: die Anklage konnte also durch mehrere Generationen hindurch
ausgetragen werden, wie auch die Tragödie zeigt. Die schicksalhafte Verstrickung, in die sich die
Hauptfigur oder -figuren der Tragödie begeben und die während der Handlung zur Überspannung
ihrer Positionen bis zur Ausweglosigkeit gesteigert wird, ist fast immer durch Hybris verursacht.
Die allgemeine ethische Lehre, die daraus entspringt, ist die des maßvollen Handelns und des
Beobachtens der Normen, fern von den Extremen der Rechtlosigkeit, der Selbstüberheblichkeit
gegenüber der mythischen Ordnung der Naturkräfte und der Herabwürdigung und Verletzung eines
anderen Menschen.
57
(5)
Inwieweit verschuldigt sich Kreon in „Antigone“ gegen die Stadt, inwieweit gegen die Menschen?
Antwort:
Kreon verschuldigt sich durch seine wachsende Tyrannenmacht: er lässt gegen Antigones Pflicht
und Treue gegen ihren verstorbenen Bruder nur die Staatsraison gelten, die er selber ausgegeben hat,
und wertet schließlich jede Kritik daran (z. B. von Seiten des Chores oder Haemons) als Angriff
gegen den Staat, vertreten durch seine Person. Die Polis (oder eine demokratische Regierung) soll
nach seiner Meinung, dem Herrscher nicht vorgeben, was er zu tun oder zu entscheiden hat. Der
Konflikt, den er nicht zu lösen vermag, ist der zwischen tyrannischer und demokratisch-gerechter
Staatsmacht.
Durch die Steigerung seiner Position, die er weder durch Bereitschaft zur Selbstkritik, noch durch
moralische Reflexion zu korrigieren fähig ist, verschuldigt er sich gegen Menschen und Staat. In der
Folge sterben Antigone, Haimon und Euridyke, was Kreon schließlich vor der Stadt und ihren
Göttern verantworten muss. „Gottlos“ gilt. Sein Handeln ist in letzter Konsequenz ein Verstoß
gegen die Menschlichkeit.
58
(6)
Welchem moralischen Konflikt unterliegt Antigone in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles?
Antwort:
Die Figur der Antigone ist gezeichnet durch die Pflicht gegenüber ihrem unbestatteten Bruder und
durch den Respekt gegenüber den „ungeschriebenen Gesetzen“ religiöser Herkunft, die die
Bestattung eines Verstorbenen vorschreiben. Dieses Gesetz schätzt sie höher als die Gesetze des
Staates. In ihrer unbedingten Treue gegenüber dieser Idee setzt sie sich in Widerspruch gegen den
Staat und dessen Gesetz, das Kreon vertritt (das „Gesetz“ - eigentlich aber eine staatliche
Anweisung - lautet hier: „Der Leichnam eines Verräters muss unbestattet bleiben“). Danach ist der
Konflikt, der die Handlung trägt, der zwischen Religion und Moral des Einzelnen und dem Staat
und dessen Vertreter.
59
(7)
Für welche „Schuld“ muss Prometheus nach der mythischen Erzählung zahlen und worin besteht
die Tragik des Stückes im „Prometheus gefesselt“?
Antwort:
Der mythischen Erzählung zufolge hatte Prometheus sich der Macht des Zeus widersetzt indem er
den Menschen das Geheimnis des Feuers enthüllt hatte und so die ersten Schritte ihrer „Zivilisation“
und Verselbständigung gegenüber der Naturmacht eingeleitet hatte. Die Aneignung der Naturmacht
wurde ursprünglich als ein Vergehen gesehen, für das der unsterbliche Prometheus durch maßlose
Qualen zahlen musste.
In diesem Stück wird aber die „Schuld“ des Prometheus in Menschenfreundlichkeit verwandelt, und
Prometheus selber als „positiver“ Rebell, der seine Würde in der Unbeugsamkeit gegen die
Gewaltherrschaft des Zeus bekundet.
Der tragische Kern des Stückes besteht in der unrechtmäßigen Verteilung der Macht, dem
unverdienten Leiden des Prometheus und der Io - stellvertretend für die Menschheit, die von der
Vernichtung bedroht ist. Tragisch ist hier die Selbstbehauptung der Rechtlosigkeit, die sich für
göttlich und ewig halten darf.
60
(8)
Wie begründet Zeus im „Prometheus gefesselt“ sein Recht, wie wird seine Macht dargestellt und
welche ethische Lehre lässt Aischylos durchblicken?
Antwort:
Sein Recht begründet Zeus allein durch seine (tyrannische) Macht, die am deutlichsten durch die
Unterwürfigkeit des Hephaistos, des Okeanos und des Hermes sowie durch die Verfolgung der Io
dargestellt wird.
Zeus gibt sich zwar den Anschein der Gerechtigkeit - was die Okeaniden mit ihrem Verhalten am
Anfang bestätigen. In der Tat ist er aber nur darauf bedacht, seine Feinde zu bekämpfen und seine
Herrschaft zu bestätigen. Er hat ja die „alte Ordnung“ (die Machtherrschaft der Titanen) mit
Prometheus' Hilfe umgestürzt, duldet dennoch dessen Menschenfreundlichkeit nicht, da er sich
eigentlich vor dem von der Menschheit verehrten Prometheus als möglichem Gegenspieler fürchtet.
Seine ethische Lehre lässt Aischylos von Prometheus, dem Menschenfreund, aussprechen. Es ist die
Einsicht, dass Ungerechtigkeit gegenüber dem Weisen (Prometheus) und Tyrannenherrschaft
einmal ein Ende finden muss. Gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung, duldet die
Notwendigkeit (als Göttin dargestellt) sie auf Dauer nicht.
Das Verharren Prometheus' in der gerechten und einsichtigen Position, seine Würde trotz der realen
Schwäche und Unterlegenheit, werden dagegen von Aischylos mit eindeutig positiven und
heroischen Zügen gezeichnet.
61
(9)
Nennen Sie die Hauptmomente der Vorgeschichte und der Handlung der Tragödie „Sieben gegen
Theben“ aus der ethisch-religiösen Perspektive der griechischen Tragödie.
Antwort:
Die Beleidigung des Apollon durch die Missachtung seines Gebotes durch Ödipus' Vater, Laios, hat
das tragische Geschehen ausgelöst. Die Beleidigung eines Gottes oder die Nicht-Befolgung dessen
Gebote bedeuten für den Griechen ein ethisch-religiöses Vergehen. Diesem folgt als Bestrafung des
Gottes Ödipus' Tötung des Vaters, seine Ehelichung der Mutter, ihre Zeugung von Kindern und das
Unheil über die Stadt Theben. Der Erkenntnis seiner „Schuld“ folgt der Fluch des Ödipus über sein
Geschlecht - eine Vorwegnahme des Opfers, mit dem Ödipus für den Verstoß gegen die ethische
Ordnung der Polis zahlen muss.
Die „Blutschuld“, in die sich die Brüder wissentlich verstricken, stellt das Hauptthema dieser
Tragödie dar, deren ethischer Konflikt darin besteht, dass die Pflicht gegenüber der Stadt von Seiten
ihres Oberhauptes Eteokles zum Brudermord und eigenem Tod führen muss. Hierin kann man auch
allgemein eine Verurteilung des Krieges (als Brudermord) sehen. Durch dieses Opfer sowie durch
den bald darauf folgenden Tod der Antigone soll nach der Ethik der Tragödie die Schuld des Ödipus
wieder gut gemacht werden und die Stadt Theben gerettet werden.
62
(10)
Welche ethische Wandlung erfahren Ismene und Haemon in der „Antigone“?
Antwort:
Die anfängliche Position der Ismene ist die der Unterordnung der Frauen unter den Männern, der
Schwächeren unter den Stärkeren. Sie vertritt also die Moral der Duldung einer ungerechten Tat,
wenn man in der schwächeren Position ist. Im Laufe der Handlung wird sie aber mutiger und ist
schließlich bereit, mit der Schwester für das Recht der „ungeschriebenen Gesetze“ in den Tod zu
gehen. Mit dieser Haltung zeigt sie das über den Tod hinaus gehende Recht der Antigone und die
Vorbild-Wirkung von Zivilcourage, da nun auch sie, die „Schwache“, Mut gegen den Gebieter
gewonnen hat.
Haemon respektiert am Anfang den Beschluss des Kreon, weil er sein Vater ist. Jedoch entwickelt
er im Laufe der Handlung durch die Reflexion über Antigones Entschluss einen Sinn für
Menschlichkeit und Gerechtigkeit im Staat (dass z. B. die Regierung des Staates nicht der Ort sein
darf, in dem sich persönliche Macht auf die Kosten der Allgemeinheit aufspielt), die ihm mehr
bedeuten als die Einfälle des Herrschers oder des Vaters .
63
(11)
Inwieweit verknüpft Euripides in der „Medea“ die Handlung mit dem Opferritual der
ursprünglichen Tragödie?
Antwort:
Nach Euripides Moralauffassung waltet im Racheakt der Medea gegen Jason die Gerechtigkeit im
Sinne von Vergeltung. Jason hat nämlich seinen Eid und die Ehe gebrochen. Medea darf nun Jasons
Verlobte und ihren Vater vergiften und muss schließlich trotz der Liebe- und Pflichtgefühle
gegenüber den Kindern die Rache durch deren Opfer vollenden. Sie ist ein blindes, grausames
Werkzeug der Vergeltung des von Jason begangenen Unrechtes und rettet sich trotz ihrer Tat nach
Athen, der Stadt des Gesetzes.
Euripides verkleidet den Mythos des von ihm angedichteten Kindermordes in Opfer- und
Kulthandlung und lässt ihn Schauer erregend im Zeichen einer göttlich-dunklen Macht, die Medea
beherrscht (und schließlich schützt), geschehen. Diese historisierende Rückkehr zum Ursprung der
Tragödie im Opferkult, der eine begangene Schuld und Übertretung des Gesetzes wieder gut macht,
und die Erhebung der Medea zur triebdurchwalteten und übermenschlichen Kultstifterin können
trotz der dramatischen Schwäche der Flucht auf den Drachenwagen den „tragischen Schauer“ des
früheren „Tragodos“ vergegenwärtigen.
64
(12)
In welchem moralischen Konflikt befindet sich Eteokles in „Sieben gegen Theben“? Worin besteht
seine Tragik?
Antwort:
Er verstrickt sich aus der Rechtsposition der Ausübung der eigenen Pflicht für die Stadt in die
Position des Unrechtes, nämlich des Mordes an dem eigenen Bruder. Der moralische Konflikt, in
dem sich Eteokles befindet, besteht in seiner Pflicht, seine Stadt zu verteidigen und in der Schuld,
die damit verknüpft ist, nämlich den eigenen Bruder zu bekämpfen und ihn zu töten. Das Tragische
daran ist, dass er dem Frevel der Blutschuld nicht entgehen kann, wenn er seine Stadt befreien will.
Er muss also „schuldig“ werden und in der Folge selber dafür bezahlen und untergehen.
65
(13)
Nennen Sie die Grundzüge der „Moral des mittleren Weges“ nach Euripides' „Medea“ und der
Tragödie überhaupt.
Antwort:
Die „Großen der Welt“, Könige und Herrscher, die „nie gehorchen, die nur befehlen“, neigen durch
ihre Macht und ihre Interessen, die höher als das Wohl des Staates oder der anderen Menschen
stehen, zum Unmaß und zur Übertretung des eigentlich von ihnen vertretenen Gesetzes. Daher
müssen sie mit ihren Familien früher oder später stürzen. Die Göttin der Vergeltung (Nemesis) sorgt
dafür. Von der Amme (mit Absicht setzt Euripides diese Worte in den Mund einer nicht mächtigen,
jedoch moralisch starken Person) wird also den Menschen die „mittlere Straße“, die Mäßigung der
eigenen Wünsche, die Achtung vor dem Gesetz, die Zurückhaltung zum Wohl der Gemeinschaft
empfohlen.
Die allgemeine ethische Lehre der Tragödie, ist die des Maßes oder des maßvollen Handelns und
des Beobachtens der Normen, fern von den Extremen der Rechtlosigkeit, der Selbstüberheblichkeit
gegenüber der mythischen Ordnung und der Herabwürdigung eines anderen Menschen.
66
(14)
Welche Wandlung macht im „Prometheus gefesselt“ der Chor der Okeaniden durch? Gibt es
weitere ähnliche Wandlungen in den hier behandelten Tragödien?
Antwort:
Die Wandlung des Okeanidenchors ist die von der Unterwerfung unter den Machthaber Zeus,
dessen Gerechtigkeit zuerst nicht in Frage gestellt wird, zur Einsicht in sein tyrannisches Verhalten
gegenüber Prometheus und den Menschen und schließlich zur Bereitschaft, für den Gerechten und
mit ihm unterzugehen. Eine Wandlung ähnlicher Art wird von Ismene in „Antigone“ durchgeführt.
67
(15)
Wie exemplifiziert die Tragödie die Selbstverantwortung des Individuums?
Antwort:
Aus ethischer Sicht von größter Bedeutung in der Tragödie ist, dass die in ihr handelnden Personen
immer eine eigene Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit behalten. Der Mensch, als ein
Ganzes genommen, trägt Verantwortung für das, was er tut und sogar für das, was seine Väter taten.
Er steht zu seinem Tun, auch wenn er aus Unwissenheit handelte (Ödipus). Er und seine Nachfolger
zahlen dafür selbstverständlich Buße. Beispiele dafür sehen wir besonders in der Tragödie des
Ödipus und seiner Nachfahren: Auch wenn Ödipus nicht wusste, dass er seinen Vater tötete und
seine Mutter heiratete, ist sein Handeln ihm als solches bewusst, er wird also die Stadt, in der er
König ist, verlassen und sich die Augen ausstechen und muss seine Nachkommen verfluchen.
Ebenso wissen Eteokles und Polyneikes, dass sie sterben müssen, weil sie Brüdermord begehen.
Antigone muss ihrerseits sterben, sowohl infolge des väterlichen Fluches, als auch wegen ihrer
Verachtung des Gesetzes. Auch Prometheus zahlt für seinen Feuerdiebstahl seine Buße, dennoch
muss er die ungerechte Herrschaft eines Tyrannen anzweifeln und bekämpfen. Die Helden der
Tragödie bleiben in ihrer „Schuld“ und in ihrem „Opfer“ ganze Menschen, die über Recht und
Unrecht, durch die Einsicht, die ihnen ihre Tragik gibt, reden.
68
LITERATUR
Aeschylos, Tragödien. Übersetzt von Oskar Werner. Mit einer Einführung und Erläuterungen von
Bernhard Zimmermann. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 1990.
Sophokles, Dramen. Hrsg. und übers. W. Willige. Übersrb. K. Bayer. München2 (Heimeran) 1985.
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(Heimeran) 1972.
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Stuttgart 1982 (Reclam Nr.7828).
Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hrsg. R. Tiedemann, Frankfurt a. M.
(Suhrkamp) 1982.
Walter Burkert, Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen. Berlin 1991.
Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München (dtv) 1979.
J. W. Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Beck'sche Verlagsbuchhandlung (München) 1981
G. F. W. Hegel, Theorie Werkausgabe, Suhrkamp 1970.
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Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen, München (dtv) 1966
Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988.
Heinrich Patzer, Die Anfänge der griechischen Tragödie, Wiesbaden 1962.
Platon, Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher hrsg. von Ernesto
Grassi und Walter F. Otto. Hamburg 1958, Bd. 3.
Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, Hanser (München)
69
1989.
Jochen Schmidt (Hrsg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur,
Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt, 1989, S.43f.
Bernhard Zimmermann, Die griechische Tragödie. München, Zürich (Artemis & Winkler) 1992.
70
Dr. Elisabetta Abbondanza
Freiberufliche Autorin, Literaturdozentin
Leiterin „Società Dante Alighieri“ (2010 – 2012)
Dr. Max Klopfer
Herausgeber Studienbriefe Ethik
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