Schriftliche Arbeit zur Zweiten Staatsprüfung Eingereicht dem: Studienseminar für Grund-, Haupt-, Real- und Förderschulen in Wiesbaden Der Einsatz des Lesetagebuches im Rahmen eines Literaturprojektes als Möglichkeit der Empathieförderung unter Genderaspekten Durchgeführt in einem dritten Schuljahr anhand der Ganzschrift „Emma und der Blaue Dschinn“ von Cornelia Funke Name und Anschrift der LiV: Julia Derstroff Lehramt an Grundschulen Abgabetermin: 01.02.2008 1 1. 1 Vorwort I. 2. 3 Theoretische Auseinandersetzung Das Lesetagebuch im offenen Deutschunterricht der Grundschule 2.1 Allgemeines zur Bedeutung des Lesens 2.2 Der Einsatz des Lesetagebuches im Rahmen 3 3 des literarischen Deutschunterrichts 3. 7 2.2.1 Zum Begriff und den Funktionen des Lesetagebuches 3 2.2.2 Formen des Lesetagebuches – unter besonderer Berücksichtigung der ausgewählten Variante 5 2.2.3 Der offene Literaturunterricht als geeignete Unterrichtsform im Umgang mit dem Lesetagebuch 6 Das Buch „Emma und der Blaue Dschinn“ von Cornelia Funke in Verbindung mit der Entwicklung von Empathiefähigkeit bei Mädchen und Jungen im Grundschulalter – unter Genderaspekten 3.1 Das Buch „Emma und der Blaue Dschinn“ 7 von Cornelia Funke 3.2 3.1.1 Inhalt des Buches 7 3.1.2 Aufbau, Erzählstruktur und Sprache 7 Empathiefähigkeit bei Mädchen und Jungen 8 des Grundschulalters – unter Genderaspekten 3.2.1 Was heißt Empathiefähigkeit im Literaturunterricht? 8 3.2.2 Empathiefähigkeit bei Mädchen und Jungen – unter Genderaspekten 9 3.2.3 Das Lesetagebuch zu „Emma und der 10 2 Blaue Dschinn“ im Hinblick auf Empathiefähigkeit und Genderaspekte II. 4. Unterrichtspraxis Unterrichtsplanung 4.1 Analyse der Lernbedingungen 4.1.1 Die Lernausgangslage der Klasse hinsichtlich des Unterrichtsvorhabens 4.1.2 Die Lernvoraussetzungen der Schüler Na. und La. im Hinblick auf Lesen und Empathiefähigkeit 4.2 Didaktische Entscheidungsbegründung 4.2.1 „Lesen ist wie Kino im Kopf“ – Chancen und Grenzen innerhalb des Unterrichtsvorhabens 4.2.2 Didaktische Reduktion 4.2.3 Kompetenzziele des Unterrichtsvorhabens 4.2.4 Bezug zum Rahmenplan Grundschule und den Bildungsstandards des Faches Deutsch 4.3 Methodische Vorgehensweise 5. Durchführung des Unterrichtsvorhabens anhand ausgewerteter Beobachtungen und schriftlicher Arbeiten der Schüler Na. und La. 5.1 Na. 5.1.1 Allgemeines zur Vorgehensweise 5.1.2 Bearbeitungsweise 5.1.2.1 Auswahl der Angebote im Lesetagebuch 5.1.2.2 Figurenwahl 5.1.3 Analyse von Textausschnitten hinsichtlich Empathiefähigkeit 5.2 La. 5.2.1 Allgemeines zur Vorgehensweise 3 5.2.2 Bearbeitungsweise 5.2.2.1 Auswahl der Angebote im Lesetagebuch 5.2.2.2 Figurenwahl 5.2.3 Analyse von Textausschnitten hinsichtlich Empathiefähigkeit III. Auswertung 6. Feststellung des Kompetenzzuwachses – Reflexion und Ausblick 7. Literaturverzeichnis Anhang 4 1. Vorwort „Kindheit heute ist nicht mehr vergleichbar mit Kindheit noch vor wenigen Jahrzehnten.“1 Ein bedeutsames Merkmal der gegenwärtigen Zeit sind rapide Veränderungen innerhalb des gesellschaftlichen und familiären Lebens und somit auch der kindlichen Lebensumwelt. Diese spiegeln sich zum einen in den äußeren, sichtbaren Verhaltensweisen von Kindern wider; zum anderen kommt es in der heutigen, schnelllebigen Zeit häufig dazu, dass innere Einstellungen bei Kindern nicht richtig aufgebaut und gefestigt werden, was allerdings notwendige Voraussetzung für die Förderung ihrer emotionalen Entwicklung ist. So werden sich Kinder frühzeitig ihrer Begrenztheiten, ihren Ängsten und Zweifeln bewusst. Sie fühlen sich alleine gelassen und unverstanden, da sie oftmals ohne feste Bezugspersonen aufwachsen, die Verständnis für ihre Gefühle und Gedanken aufbringen.2 Erschwerend kommt hier die neue Struktur von Familie hinzu, die immer häufiger aus alleinerziehenden Elternteilen mit Kindern besteht. Dies führt zu fehlenden Identifikationsmöglichkeiten des Kindes und kann nur schwer (z.B. durch die Existenz eines Ersatzvaters/ einer Ersatzmutter) ausgeglichen werden.3 Diese ‚veränderte Kindheit’ wirkt sich schließlich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen von Kindern aus: Ihnen fällt es immer schwerer, sich in andere Personen hineinzuversetzen. Im Rahmen des folgenden Unterrichtsprojektes im Fach Deutsch soll genau diese Fähigkeit zur Empathieübernahme – die es erst möglich macht, anderen und sich selbst gegenüber verantwortlich zu handeln – gefördert werden. Der äußere Rahmen des Unterrichtsvorhabens bildet das Lesen der Ganzschrift „Emma und der Blaue Dschinn“ von Cornelia Funke. Diese fiktive Geschichte soll den Kindern helfen, in ihre eigenen Welten, voller Fantasien und Träume einzutauchen und sich ihre persönlichen Vorstellungen über das Gelesene zu entwickeln. Dabei soll das ‚Eintauchen’ in die Geschehnisse die Kinder dazu befähigen, die Abenteuer und Erfahrungen der Figuren mitzuerleben, ihre Gefühle und Denkweisen nachzuempfinden und auf ihre eigene Person ein Stück weit zu übertragen. Auf diese Art und Weise wird die Empathiefähigkeit der Schüler 4 gefördert. Doch eine intensive Auseinandersetzung mit Gelesenem fordert eine geeignete Methode, die ein ‚Eintauchen’ in jene fiktive Welt erst ermöglicht. Zu diesem Zweck wird ein Lesetagebuch (LTB) auf die konkrete Schwerpunktsetzung hin ausgerichtet und im Deutschunterricht eingesetzt. 1Schieder, B. 2000,10. Dies ist u. a. ein Resultat, das auf das Phänomen „Veränderte Kindheit“ zurückzuführen ist. Vgl. Fölling – Albers, in: Einsiedler u. a. 22005, 159 und 160. 3Vgl. ebd.. 4Diese Bezeichnung steht im Rahmen dieser Arbeit sowohl für Mädchen als auch Jungen. 2 5 Gerade bei dem Thema ‚Empathiefähigkeit’ spielt der Genderaspekt – der vor allem in Schule und Unterricht immer wieder zu kontroversen Diskussion führt – eine bedeutende Rolle. Ziel dieses Projekts ist es, Mädchen und Jungen in gleichen Maßen anzuregen, Gefühle, Denkweisen und Einstellungen anderer nachzuvollziehen und darüber eigenständig zu reflektieren. Innerhalb des ersten Teils dieser Arbeit werden die theoretischen Grundlagen der vorliegenden Thematik näher beleuchtet. Wichtig ist hierbei, einen Überblick der einzelnen Bausteine zu liefern und diese in einen Bezug zueinander zu setzen. Der zweite Teil stellt das eigentliche Unterrichtsvorhaben, das heißt die Planung, Durchführung und Auswertung der Unterrichtspraxis in den Fokus. Hierbei ist zu erwähnen, dass – aufgrund des begrenzten Umfangs der Arbeit – an einigen Stellen exemplarisch gearbeitet werden muss. Insbesondere die Durchführung und Auswertung des Unterrichts wird am Beispiel der Schüler Na. und La. vollzogen. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der individuellen Arbeitsweise mit dem Lesetagebuch sowie des Kompetenzzuwachses im Bereich ‚Empathiefähigkeit’. Dennoch soll der Blick auf die gesamte Lerngruppe nicht vernachlässig werden. Neben dieser Eingrenzung werden nur wenige Bausteine des Lesetagebuches genau analysiert und interpretiert werden können. Mit den Worten einer Schülerin „Wenn man liest, dann stellt man sich das ganze Bild – worüber man gerade liest – als Bild im Kopf vor“5, möchte ich nun das im Folgenden dargestellte Unterrichtsvorhaben zum Thema „Der Einsatz des Lesetagebuches im Rahmen eines Literaturprojektes als Möglichkeit der Empathieförderung unter Genderaspekten. Durchgeführt in einem dritten Schuljahr anhand der Ganzschrift „Emma und der Blaue Dschinn“ von Cornelia Funke“ eröffnen. 5Annegret, 9 Jahre. 6 I. Theoretische Auseinandersetzung I. Theoretische Auseinandersetzung 2. Das Lesetagebuch im offenen Deutschunterricht der Grundschule 2.1 Allgemeines zur Bedeutung des Lesens Die Bedeutung des Begriffs „Lesen“ ist in einen äußerst komplexen und facettenreichen Vorgang eingebettet. In diesem Zusammenhang hat sich im Rahmen fachdidaktischer Diskussionen der letzten Jahre der „Lesekompetenz“ manifestiert, der im Folgenden näher beleuchtet wird. Begriff 6 Der bekannte Satz „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ von Erich Kästner trifft auch auf die Entwicklung der Lesekompetenz zu. Leseförderung über den Erstleseunterricht hinaus ist spätestens seit IGLU und PISA7 ein zentrales Thema der Grundschuldidaktik.8 In der Vergangenheit lagen die Schwerpunkte des Lesens vor allem auf einem flüssigen, ausdrucksstarken, möglichst fehlerfreien Vorlesen.9 Lesen wird heute als „[...] Akt der aktiven Sinnkonstruktion aus Geschriebenem durch den Lesenden [...]“10 umschrieben. Kinder zum Lesen und zur Literatur hinzuführen, gilt als zentrale Aufgabe des Deutschunterrichts und ist Bestandteil weit über die Grundschulzeit hinaus. Über das sinnerfassende Lesen hinaus muss auch das lustvolle, literarische Lesen zur Ausbildung einer positiven Einstellung in den Lesekompetenzbegriff integriert werden. Darunter lassen sich unter anderem die Fähigkeit der Vorstellungsbildung, das Verständnis innerer Vorgänge des Geschehens, die subjektive Beteiligung und das Gespräch über persönliche Leseeindrücke nennen.11 Die Grundschule hat die Aufgabe, den Grundstein für einen langen Prozess des sinnerfassenden und literarischen Lesens zu legen.12 Innerhalb dieser Arbeit soll eine Form, vornehmlich zur Intensivierung des literarischen Lesens, fokussiert werden: Das Lesetagebuch. 2.2 Der Einsatz des Lesetagebuches im Rahmen des literarischen Deutschunterrichts 2.2.1 Zum Begriff und den Funktionen des Lesetagebuches Der Begriff „Lesetagebuch“ beinhaltet zum einen das Lesen von Büchern, zum anderen das Schreiben von Tagebucheinträgen. Das traditionelle Tagebuch wird in der Regel als Mittel zur Skizzierung von Begebenheiten, Gedanken, Wünschen, Erfahrungen und Stimmungen gebraucht. Während die Aufzeichnungen in einem Tagebuch oftmals durch ein hohes Maß an Intimität geprägt sind und ein Ventil für die Auseinandersetzung mit der eigenen Person darstellen können, wird seit geraumer Zeit das Tagebuch als Lern- und 6Die Lesekompetenz wird meist stufenförmig dargestellt. Vgl. Lesekompetenzmodell nach K. H. Spinner im Anhang des Dokuments, A1. 7Ausführliche Darstellung des Pisa- Modells in: Messner, R. 2005, 53-55. 8Vgl. Merkelbach, V., in: Steffens, U., Messner, R. 2005, 45. 9Vgl. Groeben, N., u . a. (Hrsg.) 2002, 80 f.. 10 Rosebrock u. a. „Lesen“, in: Kliewer, H. J., Pohl, I. 2006. 11Vgl. Übersicht über die Teilkompetenzen nach Spinner, K. H. 2006, 9-12 im Anhang des Dokumentes, A1. Dazu ausführlich Waldt , K. 2003. 12Vgl. Steffens, U., Messner, R. 2005, 9. 7 I. Theoretische Auseinandersetzung Mitteilungsmedium für den schulischen Bereich genutzt. Im Zuge dessen hat sich der Begriff „Lesetagebuch“ – im Sinne einer Methode im Umgang mit Büchern – für den Deutschunterricht manifestiert, dessen Funktion sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Lesetagebuch vor allem zu Forschungszwecken genutzt worden, um den literarischen Entwicklungsstand junger Leserinnen und Leser festzustellen und den Leseumfang im häuslichen Bereich zu überprüfen.13 Im Rahmen des Deutschunterrichts ist es als brauchbares Mittel zum Aufbau erwünschter Lesegewohnheiten, zur Dokumentation gelesener Bücher sowie zur Förderung sprachlicher Bildung eingesetzt worden. Im Laufe der Zeit hat sich die Ansicht verstärkt, dass der Einsatz von Lesetagebüchern die Chance einer individuellen und altersgemäßen Auseinandersetzung mit Lektüren im Unterricht biete.14 Heute wird es vor allem innerhalb geöffneter Verfahren des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts zur Leseförderung und im Sinne eines Schreibanlasses eingesetzt. Hierbei werden Bücher als Schreibvorlage angesehen, an welche verschiedenen Erzählweisen im Rahmen des Lesetagebuches schreibend erprobt werden.15 Im Vergleich zu der ebenfalls geläufigen Bezeichnung ‚Lesebegleitheft’16, zeichnet sich das Lesetagebuch durch ein offeneres Konzept, ähnlich dem herkömmlichen Tagebuch aus, das den Kindern mehr Freiraum in ihrer Beschäftigung mit Texten einräumt. Jedoch wird das Lesetagebuch nicht zu privaten Zwecken gebraucht, sondern im Sinne einer öffentlichen Präsentation im Deutschunterricht eingesetzt.17 Gemäß des heutigen Anspruches an das Lesetagebuch, die Selbstständigkeit der Schüler herauszufordern und den eigenen Lernprozess zu dokumentieren, ist es „[...] eine Methode der Aneignung von Gelesenem und der Auseinandersetzung damit, die zulässt, dass die einzelnen Schülerinnen und Schüler in selbst gewähltem Lese- und Schreibtempo [...] zu einer intensiven und individuellen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen gelangen.“18 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Funktion eines Lesetagebuches, je nach Schwerpunktsetzung und individueller Organisationsform, variieren kann. Dennoch soll bei jeglicher Behandlung das Nachdenken der Kinder über den eigenen Erfahrungsprozess unterstützt werden. „Andere Bücher habe ich immer nur gelesen, aber bei diesem Buch muss ich jetzt viel nachdenken.“19 13Der Pädagoge und Schriftsteller Richard Bamberger hat die Methode des Lesetagebuches erstmals in seinen Schulklassen anhand verschiedener Fragestellungen erprobt. Vgl. ebd. 62f. 14Vgl. Spinner, K. H. 2006, 27f. 15Vgl. Hintz, I. 22005, 79. 16Lesebegleithefte werden von Verlagen angeboten und bestehen aus Arbeitsblättern, die unterschiedlichste Aufgaben wie z.B. inhaltserschließende Fragen oder Kreuzworträtsel – enthalten. Vgl. Spinner, K. H. 2006, 27. 17Vgl. Hintz, I. 22005, 92. 18Friederike, LT 126, in: Ebd., 205. 19ebd., 255. 8 I. Theoretische Auseinandersetzung 2.2.2 Formen des Lesetagebuches – unter besonderer Berücksichtigung der hier ausgewählten Variante So vielfältig die Funktion eines Lesetagebuches sein kann, manifestieren sich auch die Varianten der Auseinandersetzungsweisen. Ingrid Hinz unterscheidet sechs Formen des Lesetagebuches, die sie in die Kategorien „frei“ und „vorstrukturiert“ gliedert.20 Alle Versionen führen die Intentionen des intensiven Lesens, freien Arbeitens, produktiven Schreibens und der Förderung von Lesekompetenz, mehr oder weniger ausgeprägt mit sich. Die folgende Tabelle soll einen Überblick der Varianten aufzeigen. FREI vollkommen frei VORSTRUKTURIERT mit Anregungszettel .................................. S. werden dazu angehalten, Leseprozess und Leseeindrücke in freier Form zu dokumentieren. mit ausgewählten offenen Aufgaben .................................. .................................. S. erhalten Anregung-en, die sie frei wählen können. S. erhalten vorge-staltete offene Aufgaben, aus denen sie auswählen können. mit ausgewählten offenen Aufgaben mit buchbezogenen Lesetagebüchern .................................. S. erhalten vorgestaltete offene Aufgaben, die sie bearbeiten müssen. mit erstellten Lesetagebüchern .................................. .................................. S. führen vorstrukturiertes, buchbezogenes LTB, das von Verlagen angeboten wird. S. führen vorstrukturiertes Lt., das von Lehrkraft zu einem Buch selbst erstellt worden ist. Die freien Formen des Lesetagebuches eignen sich im Besonderen als Begleiter des Leseprozesses über eine längere Zeit. Dabei ist es sinnvoll, dass die Schüler ihre Lektüre selbst auswählen. Wird ein Buch unter bestimmten Schwerpunktsetzungen gemeinsam mit der Klasse gelesen, ergeben sich für das Lesetagebuch andere Formen.21 Das geplante Literaturprojekt enthält ein durch die Lehrkraft erstelltes Lesetagebuch mit vorstrukturierten Aufgaben. Diese sind buchbezogen und enthalten meist einen Pflicht- und einen Wahlteil. Die zu bearbeitenden Vorgaben richten sich auf die vorliegende Schwerpunktsetzung. Auch wenn diese Art des Lesetagebuches einem Lesebegleitheft zu einer bestimmten Lektüre ähnelt, gibt es Kriterien, die für die Art eines Tagebuches sprechen: Die Schüler sollen trotz verbindlicher Aufgaben Auswahlmöglichkeiten haben, die Spielräume innerhalb ihrer Bearbeitung gewährleisten. Das Verhältnis zwischen Bindung und Offenheit scheint hierbei ausschlaggebend.22 Innerhalb des hier vorliegenden Lesetagebuches wird die freie Variante des Arbeitens in Form von offenen Aufgaben in das Lesetagebuch eingeflochten. Diese stellen sozusagen ‚Extras’ der Auseinandersetzung mit dem Gelesenen dar und sollen den Schülern lediglich 20Vgl. hier und im Folgenden Hintz, I. 22005, 235 und 281. Schösser, J. 1997, 55. 22Vgl. Hintz, I. 22005, 235. 21Vgl. 9 Anregungen für individuelle I. Theoretische Auseinandersetzung Auseinandersetzungsweisen bieten, mit denen sie vollkommen frei umgehen können.23 2.2.3 Der offene Literaturunterricht als geeignete Unterrichtsform im Umgang mit dem Lesetagebuch „Lesen darf in der Schule nicht nur eine Angelegenheit des erarbeitenden Unterrichts sein, sondern muss auch als lustvolle, spannende, erfahrungsintensive Beschäftigung seinen Platz finden.“24 Diese Forderung nach einer grundsätzlichen Öffnung des Literaturunterrichts im Gegensatz zum ‚Lesen im Gleichschritt’ ist vor allem angesichts der bestehenden Heterogenität in Grundschulklassen zu befürworten. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollten je nach Lesefähigkeit der Schüler, unterschiedliche Vorgehensweisen zum Tragen kommen. Freie Lesezeiten und gemeinsames Lesen in der Großgruppe stehen im Rahmen eines offenen Literaturunterrichts in einem mehr oder weniger ausgewogenen Verhältnis. Den Kindern muss einerseits Raum gegeben werden, alleine oder in Kleingruppen zu lesen und über Gelesenes zu sprechen. Andererseits findet an bestimmten Stellen des Leseprojekts, z. B. der Einführung des Buches, eine Besprechung in der Lerngruppe statt.25 Ein differenziertes Vorgehen im Rahmen einer Klassenlektüre wird durch das Lesetagebuch begünstigt, da es individuelles Lesen bei gleichzeitig gemeinsamer Verständigung über die Inhalte des Buches verknüpft. Für die Kinder ist das Lesetagebuch ein Begleiter auf ihrem Lern- und Leseweg, den sie anhand des Endproduktes immer wieder begutachten können. Eine sich wandelnde Lesekultur bringt jedoch auch eine veränderte Lehrerrolle mit sich. Die Lehrkraft erhält Einblicke, welche Vorgehensweisen die Schüler wählen und nimmt an individuellen Leseerfahrungen teil. Darüber hinaus gibt sie Anregungen und Tipps zur Weiterarbeit und dokumentiert Lernfortschritte. Als Variante eines produktionsorientierten Verfahrens spielt das Lesetagebuch im geöffneten Deutschunterricht eine immer größere Rolle.26 23 Vgl., Hintz, I. 22005, 278. K. H. 2006, 15. 25Vgl. Schösser, J., Knab, J. 1997, 22f. 26Vgl. Hintz, I. 22005, 83. 24Spinner, 10 I. Theoretische Auseinandersetzung 3. Das Buch „Emma und der Blaue Dschinn“ von Cornelia Funke in Verbindung mit der Entwicklung von Empathiefähigkeit bei Mädchen und Jungen im Grundschulalter – unter Genderaspekten 3.1 Das Buch „Emma und der Blaue Dschinn“ von Cornelia Funke 3.1.1 Inhalt des Buches Das Buch „Emma und der blaue Dschinn“27 von Cornelia Funke ist im Jahr 2002 erschienen. Die Protagonistin ist das 8- jährige Mädchen Emma, das auf einem seiner nächtlichen Strandspaziergänge, die es gemeinsam mit ihrem Hund Tristan unternimmt, eine Flaschenpost findet. Als Emma diese öffnet, entschwebt ihr ein Blauer Dschinn. Aber statt Emma – wie im Märchen zum Dank für die Befreiung – drei Wünsche zu erfüllen, berichtet der Flaschengeist Karîm von seinem traurigen Schicksal: Seit ihm der böse Dschinn Sahim seinen Nasenring gestohlen hat, ist er nicht mehr in der Lage, Wünsche zu erfüllen. Von dieser Geschichte bewegt, beschließen Emma und Tristan, Karîm in dessen ferne Heimat zu begleiten, um ihn bei der Suche nach seinem Nasenring zu unterstützen. Auf der Reise und während des Aufenthaltes in dem orientalischen Land, erleben die drei viele Abenteuer: Emma und Tristan lernen den Kalifen und dessen ‚blau gemusterte’ Großmutter kennen und werden letztlich vom hinterlistigen Gelben Dschinn entführt und in den Palast gebracht. Nach einiger Zeit gelingt es Karîm und dem Kalifen, Emma und Tristan zu befreien. Es kommt zum Kampf zwischen den beiden Dschinns, an dessen Ende es Karîm gelingt, Sahim zu überwinden und seinen Nasenring zurückzuerobern. Von neuer Stärke und Kraft durchflutet, ist er in der Lage, Emma drei Wünsche zu erfüllen und sie zurück nach Hause zu bringen. Als bleibende Erinnerung schenkt Karîm ihr zum Abschied eine Flasche mit einem kleinen blauen Dschinn, namens Khalîl. 3.1.2 Aufbau, Erzählstruktur und Sprache Die Geschichte von Emma und dem Blauen Dschinn spielt in einem zeitlichen Rahmen von drei Tagen und drei Nächten. Das Buch gliedert sich in insgesamt neun Kapitel, die in ihrem Umfang unterschiedlich sind. Die Kapitel bauen aufeinander auf, wobei neue Kapitel Einschnitte darstellen. Im Verlauf der Geschichte finden häufig Wechsel zwischen dialogischen und beschreibenden Teilen statt. Der auktoriale Erzähler kennt sowohl den Handlungsablauf als auch die Innensicht der einzelnen Figuren. Aufgrund dieser Kombination wird es den Lesern möglich, nachzuempfinden, wie sich beispielsweise die Protagonistin fühlt, indem sie die lustigen, traurigen, komischen, aufregenden, verzweifelten, ungewöhnlichen und überraschenden Situationen miterleben. Die Vielfalt in der Darstellung trägt zudem zum Spannungsaufbau bei; der Fortgang der Geschichte bleibt, am Ende eines Kapitels, für den Leser meist offen. 27Vgl. hier und im Folgenden: Funke, C. 2002. 11 I. Theoretische Auseinandersetzung Die verwendete Sprache ist für Kinder des angegebenen Lesealters – von 8 bis 10 Jahren – leicht zu verstehen, da das Vokabular angemessen ist. Als sprachliche Mittel setzt die Autorin häufig Metaphern und Vergleiche ein. Insgesamt zeichnet sich der Schreibstil durch Witz, Ironie und Situationskomik aus. Einzig der Satzbau kann bei den Schülern während des Lesens zu Problemen führen, da viele Sätze aufgrund eingeschobener Nebensätze relativ lang und für ungeübte Leser schwer nachzuvollziehen sind. 3.2 Empathiefähigkeit bei Mädchen und Jungen des Grundschulalters – unter Genderaspekten 3.2.1 Was heißt Empathiefähigkeit im Literaturunterricht? „Wenn Menschen Gefühle ausdrücken, bauen sie Beziehungen zu anderen auf, versuchen diese aufrechtzuerhalten, zu verändern oder abzubrechen.“28 Diese Fähigkeit setzt Erfahrungen und Fertigkeiten voraus, die unter dem Begriff „Emotionale Kompetenz“ zusammengefasst werden. Eine wichtige und sich langsam entwickelnde Teilkompetenz besteht in der Anteilnahme am emotionalen Erleben anderer Personen: Die Fähigkeit zu Empathie.29 Diese ist in der Fachliteratur eng mit dem Begriff „prosoziales Verhalten“ 30 verbunden und liegt vor, wenn Kinder die Gefühle anderer erkennen, darauf emotional reagieren und ähnliche Gefühle selbst erleben. Die Fähigkeit der Empathie hat in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen ihren Sitz im Leben und nimmt bereits in der Schule eine bedeutende Rolle ein.31 Im Literaturunterricht wird sie in den Bereich der ‚Perspektivübernahme’ integriert und nach den Stufen der ‚Substitution’ und ‚Projektion’, als kompetenteste Form der Identifikation mit Figuren aus fiktiven Inhalten angesehen. Grundlage bildet dabei die Wahrnehmung der Fremdheit anderer und deren Gefühlslagen. Man versucht nach- und mitzuempfinden, was ein anderer in seiner Situation denkt und fühlt, das heißt man macht sich ein eigenes Bild vom inneren Zustand der Figur. Die im Literaturunterricht zu vermittelnden Kompetenzen gehen in hohem Maße mit der Kompetenz zur Empathiefähigkeit einher. Gerhard Haas betont in diesem Zusammenhang die Verbindung von Literatur und emotionaler Intelligenz. Demnach vollzieht sich die Entwicklung der Empathie auch in der Begegnung mit fiktionalen Inhalten, Figuren und Geschehnissen der Literatur.32 Bildungsprozesse werden initiiert, die neben Identitätsfindung, Sensibilisierung der Wahrnehmungsfähigkeit und Auseinandersetzung mit Problemen, die Entfaltung von Perspektivübernahme, Fremdverstehen und Empathie beinhalten.33 Diesen Zielen vermag Kinder- und Jugendliteratur, aufgrund ihrer meist fiktionalen Züge, in hohem Maße gerecht zu werden.34 28Petermann, F., Wiedebusch, S. 2003, 32. ebd. nach Saarni (1999), 13. 30Auch „helfendes Verhalten“ genannt. 31 Vgl. 3.2.2 32Vgl. Haas, G. 62005, 36. 33Vgl. Hintz, I. 22005, 13. 34Vgl. Hintz, I. 22005, 15. 29Vgl. 12 I. Theoretische Auseinandersetzung 3.2.2 Empathiefähigkeit bei Mädchen und Jungen – unter Genderaspekten Die Fähigkeit zu Empathie in der Kindheit wird durch verschiedene Komponenten des menschlichen Seins beeinflusst. Neben den kognitiven Leistungen, geht man davon aus, dass das Geschlecht einen wichtigen Faktor darstellt. In diesem Zusammenhang spricht man von dem Begriff „Gender“. Dieser beschreibt das soziale und kulturelle Geschlecht, das sich durch gesellschaftlich geprägte Rollen von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen auszeichnet.35 Emotionale Kompetenz korreliert in hohem Maße mit sozialer Kompetenz. Demnach stellen emotionale Fähigkeiten, zu denen auch Empathie gehört, eine Voraussetzung für die Entwicklung eines angemessenen Sozialverhaltens dar.36 Studien37 zu Folge zeigen Mädchen des Grundschulalters häufiger soziale Verhaltensweisen, die auf Empathiefähigkeit zurückzuführen sind, als Jungen. Bei Jungen spielt das Geschlecht der betroffenen Person eine bedeutende Rolle. Empathie findet bei fremden oder fiktiven Figuren in höherem Maße statt, wenn die Figur dasselbe Geschlecht hat, wie das Kind.38 Dies soll jedoch nicht heißen, dass Empathiefähigkeit als rein weibliche Kompetenz anzusehen ist.39 Jungen und Mädchen legen häufig unterschiedliche Schwerpunkte des Nachempfindens. Mädchen sind in größerem Maße dazu in der Lage, Gefühle, wie Traurigkeit und Angst, zu erkennen und nachzuvollziehen. Die mütterliche Erziehungs- und Sozialisationsweise trägt durch Toleranz und Nachgiebigkeit gegenüber den Töchtern zu einer Entwicklung der Empathiefähigkeit bei. Bei Jungen hingegen korreliert Empathie nur schwach mit Sozialisationsbedingungen. Hier spielen die kognitiven Faktoren eine bedeutendere Rolle, die im Hinblick auf soziales Verstehen gefördert werden müssen.40 Jungen sind auf emotionale Ausdrücke wie Ärger oder Ekel sensibilisiert und nehmen diese Aspekte häufiger bei Jungen als bei Mädchen wahr.41 An dieser Stelle greift nun der ‚Genderaspekt’, der diese Annahmen als von der Gesellschaft konstruierte Stereotype sieht. Im alltäglichen Umgang mit Kindern, kommt es darauf an, einerseits die Unterschiede in der Empathiefähigkeit zu berücksichtigen, andererseits für beide Geschlechter Herausforderungen zu stellen, sich mit Gefühlslagen jeder Art auseinanderzusetzen. Eine geschlechtergerechte Schule ist unbedingt notwendig, damit sich Kinder „[...] als Individuen entfalten können und nicht als das typische Mädchen, der typische Junge gesehen werden.“42 35Vgl. Jantz, O., Brandes, S. 2006, 32ff. Petermann, F., Wiedebusch, S. 2003, 20. 37Hoffman hat in einem Überblick 11 Studien zusammengefasst, in denen Mädchen empathischer reagierten, als Jungen. Vgl. Hoffmann 1977, 712-722. Feshbach fand ebenso heraus, dass die Empathiefähigkeit bei Jungen von der Motivation abhing. Vgl. Feshbach 1982, 315-318. 38Vgl. Petermann, F., Wiedebusch, S. 2003, 35. 39 Für das Grundschulalter gibt es keine eindeutigen Tests oder Fragebögen zur Empathiefähigkeit.. 40Vgl. Feshbach 1982, 315-318. 41Vgl., Petermann, F., Wiedebusch, S. 2003, 47. 42Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 2007, 7. 36Vgl., 13 I. Theoretische Auseinandersetzung 3.2.3 Das Lesetagebuch zu „Emma und der Blaue Dschinn“ im Hinblick auf Empathiefähigkeit und Genderaspekte „Was ist „Lesen“ für Mädchen, was ist „Lesen“ für Buben?“43 Mädchen und Jungen weisen nicht nur unterschiedliche Leseleistungen auf, sie verbinden auch verschiedene Funktionen mit dem Lesen. Während Mädchen dem Lesen, vor allem der erzählenden Literatur, insgesamt positiver gegenüberstehen, ist für Jungen das Lesen oftmals ein ‚MUSS – LESEN’.44 Aus diesen Gründen ist es in der Schule notwendig, sowohl Mädchen als auch Jungen durch eine geeignete Lektürewahl zum Lesen und der Beschäftigung mit dem Gelesenen zu motivieren, indem ihre Interessenlagen für Lernfelder berücksichtigt werden und eine geeignete Zugangsweise gewählt wird. Dieses Anliegen steht im Mittelpunkt der Genderperspektive und soll innerhalb dieser Arbeit im Hinblick auf die Methode des Lesetagebuches zu der Lektüre „Emma und der Blaue Dschinn“ seine Berücksichtigung finden. Das Lesetagebuch eröffnet durch seine vielfältigen Zugangsmöglichkeiten, sowohl Jungen als auch Mädchen Wege zur Auseinandersetzung mit einem Buch. Individualisiertes Lernen wird durch unterschiedliche Aufgabenstellungen verwirklicht. Das Buch „Emma und der Blaue Dschinn“ stellt unterschiedlichen sowohl durch Geschlechtern die Integration als auch Anknüpfungspunkte für Jungen und Mädchen verschiedener durch dar.45 die Figuren Geschichte mit selbst Doch nicht alleine die aufzugreifende Genderthematik spielt innerhalb des Literaturprojektes eine wichtige Rolle. Denn unter deren Berücksichtigung sollen alle Schüler in ihren Möglichkeiten, empathiefähig zu sein, gefördert werden. Dieser Ansatz entspricht einer ‚imanigativ – identifikatorischen Auseinandersetzungsweise’ innerhalb des Lesetagebuches.46 Dabei imaginieren sich die Schüler beobachtend, teilnehmend oder appellativ in das Buchgeschehen hinein. Mit Hilfe ihrer Vorstellungskraft, die dadurch eine natürliche Förderung erfährt, übernehmen sie die Perspektive der Figuren und identifizieren sich mit dem Anderen, dem Fremden. Neben der Wahrnehmungsfähigkeit, werden in diesem Zuge das Fremdverstehen und die Sozialkompetenz gefördert.47 43Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur 2007, 5. Vgl. Birkenbihl, V. F. 2005, 80. dazu in 4.3 46Vgl. hier und im Folgenden: Hintz, I. 22005, 258 f.. 47Vgl. 4.3.3 44 45Mehr 14 II. Unterrichtspraxis II. Unterrichtspraxis 4. Unterrichtsplanung 4.1 Analyse der Lernbedingungen 4.1.1 Die Lernausgangslage der Klasse hinsichtlich des Unterrichtsvorhabens Die Schüler der 3. Klasse sind dazu in der Lage, Texte selbstständig zu erlesen, die Inhalte – entsprechend ihrer individuellen Leseleistung – zu erfassen und mit eigenen Worten wiederzugeben. Unterschiede zwischen den Kindern bestehen allerdings in ihrem Lesetempo. Für die meisten Kinder ist das Lesen – auch von unbekannten, schwierigeren Texten – kein Problem mehr. Dies lässt sich – laut Aussage der Klassenlehrerin – einerseits auf die hohe Lesemotivation der Lerngruppe von Anfang an zurückführen; andererseits hat sich der Leselernprozess bereits im ersten Schuljahr durch die Auswahl verschiedener Leseangebote ausgezeichnet. Im zweiten Schuljahr hat das sinnerfassende Lesen einen Hauptaspekt des Deutschunterrichts dargestellt. Das Lesekonzept der Wisperschule sieht das tägliche Lesen als Unterrichtsprinzip des Faches Deutsch vor.48 So wird das flüssige und betonende Lesen von altersgemäßen Texten regelmäßig geübt. Darunter lässt sich neben dem täglichen Erlesen schriftlicher Arbeitsaufträge der Umgang mit kurzen Geschichten, Gedichten und Sachtexten nennen. Ferner haben die Kinder in Klasse zwei die Ganzschriften „Igel zu Besuch“49 und „Der Buchstaben- Fresser“50 eigenständig gelesen und sich mit den jeweiligen Inhalten auseinandergesetzt. Zusätzlich nutzen die Kinder mit großer Begeisterung einmal in der Woche das Angebot der Schulbücherei. Hier werden sie animiert, Bücher nach eigenem Interesse auszuwählen und entsprechend ihres individuellen Tempos zu lesen. Nicht zuletzt lässt sich die Freude und Begeisterung der Lerngruppe rund um das Lesen während des Vorlesens in Frühstückspausen erkennen. Die Methode des Lesetagebuches ist den Schülern noch nicht bekannt. Bisweilen hat sich die Beschäftigung mit dem Inhalt von Gelesenem im Rahmen der gemeinsamen Besprechung im Klassenverband sowie der individuellen Auseinandersetzung an Lernstationen vollzogen. Die Schüler sind jedoch seit Beginn ihrer Schulzeit an eigenständiges und produktives Lernen herangeführt worden, sodass sie innerhalb solcher Arbeitsweisen selbstsicher agieren. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die nötigen Organisationsweisen zur Arbeit mit dem Lesetagebuch bei der gesamten Lerngruppe bekannt sind. In Bezug auf die Empathiefähigkeit der Schüler lässt sich behaupten, dass die Kinder Potential zur Perspektivübernahme besitzen. Dies ist vor allem im Religionsunterricht im Rahmen von biblischen Geschichten immer wieder zu beobachten. Anhand eines Fragebogens zur Empathiefähigkeit ist festzustellen, dass die Schüler Gefühle durch Bilder von realen Personen oder beschriebenen 48Vgl. 49Das Lesekonzept der Wisperschule, 8. Buch wurde im Rahmen des Projekts ‚Lesekönig’ gemeinsam gelesen. Vgl. Bembè, S. 2001. 15 II. Unterrichtspraxis Alltagssituationen ableiten können.51 Jedoch haben viele Kinder Schwierigkeiten, Gründe für das Empfinden Anderer detailliert zu beschreiben. Das heißt der Großteil der Klasse befindet sich auf der ersten Niveaustufe der 52 Empathiefähigkeit. Die Empathiefähigkeit gegenüber fiktiven Charakteren, wie sie im Rahmen des Literaturprojektes gefordert wird, ist der Lerngruppe weniger vertraut und wird aus diesen Gründen vermutlich bei manchen Schülern immer wieder zu Schwierigkeiten führen. Es ist davon auszugehen, dass die Auseinandersetzung auf Niveaustufe drei53 von nur wenigen Schülern erreicht wird. 4.1.2 Die Lernvoraussetzungen der Schüler Na. und La. im Hinblick auf Lesen und Empathiefähigkeit Die Schüler Na. und La. sind beide neun Jahre alt. Die Eltern von Na. sind kroatischer Herkunft. Sie selbst ist in Deutschland zur Welt gekommen und beherrscht die deutsche Sprache akzentfrei. Im schulischen Bereich zeichnet sich Na. durch ein zügiges, leistungsstarkes und teilweise akribisches Lernen aus. Sie weist enorme Stärken im Arbeits- als auch Sozialverhalten auf und ist ein sehr aufgeschlossenes Mädchen. Im Fach Deutsch erbringt sie seit der ersten Klasse sehr gute Leistungen – sowohl im schriftlichen als auch mündlichen Bereich. Na. hat große Freude am Lesen von Büchern und verfügt über eine hohe Lesekompetenzstufe. Die Sinnentnahme von Gelesenem geht bereits über die konkreten Inhalte hinaus, sodass die Schülerin dazu in der Lage ist, abstrakte Schlussfolgerungen zu ziehen. Der Schüler La. zeichnet sich durch hohes Leistungsvermögen in nahezu allen schulischen Lernfeldern aus. Er ist dazu in der Lage, neue Thematiken schnell zu erfassen und umzusetzen. Seine sprachliche Ausdrucksfähigkeit ist auf einem hohen Niveau anzusiedeln und wird vor allem beim Schreiben von Sachtexten oder Fantasiegeschichten deutlich. La. ist ein eifriger und sehr guter Leser. Er erließt fremde Texte nahezu fehlerfrei und beherrscht die sinnstiftende Betonung von Wörtern in äußerst ausgeprägter Form. Im Bereich des Arbeitsverhaltens fällt auf, dass der Schüler dazu neigt, seine Aufgaben möglichst schnell fertig zu stellen, wodurch er an manchen Stellen ungenau arbeitet. Weist man ihn jedoch auf exaktes Arbeiten hin, erledigt er die Aufgaben anforderungsgerecht. Beide Schüler haben den Lesetest54 der zweiten Jahrgangsstufe mit sehr guten Ergebnissen absolviert. Sie zeigen deutliche Stärken im Bereich der Sinnentnahme und Abstraktion von Gelesenem. Weniger vertraut ist den Schülern – genau wie der gesamten Lerngruppe – die Übernahme von Perspektiven anderer Personen. Im Fragebogen zur Empathiefähigkeit ist deutlich geworden, dass sowohl Na. als auch La. dazu in der Lage sind, Gefühle von Personen richtig einzuschätzen. 50„Der Buchstaben- Fresser“ (Maar, P. 2006) war ein offnes Leseprojekt. Vgl. Auswertung des Fragebogens im Anhang des Dokumentes, A4. Übersicht über die Niveaustufen 4.2.3 53Vgl. ebd.. 54Hierbei handelte es sich um den Lesetest des HKMs, zur Überprüfung des strategischen Ziels 1. 51 52Vgl. 16 II. Unterrichtspraxis Jedoch fällt es ihnen noch schwer, Gründe für das Gefühlsleben anderer zu äußern und sprachlich genau zu fassen.55 Auffällig ist hierbei die Zuordnung von Gefühlen zu Mädchen oder Jungen: Während La. die Gefühle „traurig“, „wütend“, „ärgerlich“ und „fröhlich“ beiden Geschlechtern in gleichem Maße zuordnet und lediglich die „Ängstlichkeit“ als überwiegende Eigenschaft von Mädchen manifestiert, weist Na. gewisse Gefühlslagen primär Jungen oder Mädchen zu. So sind ihrer Meinung nach Mädchen vermehrt genervt, fröhlich und wütend, während Jungen durch Ärger dominieren.56 Daran lässt sich erkennen, dass vor allem Na. eine deutliche Trennung der Geschlechter vornimmt. Die Methode des Lesetagebuches ist beiden Kindern fremd, jedoch eröffnet sie durch verschiedene Angebote für Na. und La. Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Das Buch „Emma und der blaue Dschinn“ knüpft durch seine fiktive Handlung an die Interessen beider Schüler an und soll zu einer Identifizierung mit möglicherweise verschiedenen Figuren führen. Die Auswahl, diese beiden Schüler während der Unterrichtseinheit vermehrt in den Blick zu nehmen, begründet sich zum einen in ihrer selbstständigen Arbeitsweise und ihrem vergleichbaren Leistungsvermögen; zum anderen sind sowohl Na. als auch La. dazu in der Lage, sich in eine Thematik tiefgehend einzuarbeiten und nach konkreten Zielen zu handeln. Dies erleichtert ein kompetenzorientiertes Auswerten von Entwicklungsabläufen, was jedoch keinesfalls bedeuten soll, dass leistungsschwächere Schüler – gemessen an ihrem Leistungsstand – geringere Fortschritte im Bereich der Empathiefähigkeit machen können. Dennoch begünstigen vergleichbare Leistungsniveaus, wie sie bei Na. und La. vorliegen, ein verlässliches Arbeiten und machen einen konkreten Vergleich zwischen Mädchen und Jungen erst möglich. Das hier vorliegende Maß an Übereinstimmungen ist bei keinen anderen Mädchen und Jungen der Lerngruppe vorzufinden. 4.2 Didaktische Entscheidungsbegründung 4.2.1 „Lesen ist wie Kino im Kopf“57 – Chancen und Grenzen innerhalb des Unterrichtsvorhabens „Lesen ist wie Kino im Kopf“58 ... Doch wie vermag Literatur in der heutigen Zeit, in der neue Medien innerhalb der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnen, dies zu bewirken? Von grundlegender Wichtigkeit scheint es zu sein, den Schülern einen Zugang zum Lesen und damit auch zur Literatur zu ermöglichen, der zeitgemäß ist. Dabei geht es – neben der Ausbildung von Lesefähigkeit bzw. fertigkeit – vor allem um die Grundlegung einer stabilen Lesemotivation. Damit dieses Ziel in Planung und Durchführung von Literaturunterricht erreicht werden kann, muss ein handlungs- und produktionsorientierter Ansatz, durch den die Schüler eine affektiv-emotionale Zugangsweise zum Text erlangen können, 55 Niveaustufe 2 (4.2.3 ) der Empathiefähigkeit ist also bei beiden Schülern noch nicht erreicht. Fragebögen beider Schüler sind in der Anlage des Dokumentes ersichtlich. H., u. a. 2007, 137. 58ebd.. 56Die 57Daugs, 17 II. Unterrichtspraxis ermöglicht werden. Diesem Anspruch scheint das Lesetagebuch durch seine vielfältigen, produktionsorientierten Aufgabenstellungen in hohem Maße gerecht zu werden. Sowohl die subjektive Beteiligung der Kinder – als auch die Entfaltung ihrer inneren Vorstellungskraft stellen wichtige Voraussetzungen für die Förderung der Lesemotivation dar.59 Auf diese Weise ist das Lesetagebuch „[...] eine geeignete Methode, um bei Schülerinnen und Schülern die Auseinandersetzung mit dem Gelesenen anzuregen und zu unterstützen.“60 Doch neben den positiven Funktionen im Rahmen des Unterrichts, können das Lesen und die Arbeit mit dem Lesetagebuch Einfluss auf den gesellschaftlichen Bereich nehmen. In der heutigen Zeit lässt sich immer wieder beobachten, dass Menschen zwar die Möglichkeit haben, ihren Mitmenschen in schwierigen Situationen zu helfen, doch halten sie sich oftmals – als passive Zuschauer – im Hintergrund des Geschehens. Dieses Verhalten lässt sich unter anderem auf mangelndes Einfühlungsvermögen zurückführen. Kinder sollten deshalb frühzeitig die Möglichkeit haben, sich in unterschiedlichen Situationen – fröhliche, ängstliche, traurige – in andere hineinzuversetzen und diese Erfahrungen in der Realität auf ganz natürlicher Basis umzusetzen. Der Schwerpunkt des Unterrichtsvorhabens liegt deshalb auf der Einfühlung in die Charaktere des Buches „Emma und der Blaue Dschinn“, sowie der Einschätzung und Begründung von Denkweisen und Gefühlen derselben. Dabei muss von Anfang an klar sein, dass es Kinder geben wird, denen diese Art der Auseinandersetzung schwer fällt und dass an manchen Stellen des Lesetagebuches nur Ansätze von Empathiefähigkeit zu erkennen sind. Doch gerade diese Erkenntnis macht eine Förderung, wie sie hier angestrebt wird, aus. Im Rahmen der geplanten Auseinandersetzungsweise sollen sowohl Jungen als auch Mädchen in ihren Möglichkeiten zur Perspektivübernahme gefördert werden, indem sie einerseits Gefühle und Denkweisen individuell einschätzen und andererseits Entscheidungen für ihr Handeln begründen. Grenzen hierbei liegen in der Bereitschaft der Kinder, in die Gefühlswelt der Figuren einzutauchen. Besondere Schwierigkeiten können aufkommen, wenn ein Kind keinerlei Interesse an dem Inhalt des Buches bzw. dem Leben der Figuren zeigt. Diesem Aspekt soll durch die ausgewählte Lektüre „Emma und der Blaue Dschinn“ entgegengewirkt werden. Die Geschichte eröffnet den Kindern, durch ihre fantastische Handlung, ein Hineintauchen in eine reizvolle Welt, die sowohl positive als auch negative Einstellungen vermittelt. Realitätsnahe Elemente (alles, was die Welt von Emma betrifft) stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zu märchenhaften Zügen (alles, was die Welt des Blauen Dschinns betrifft), was dazu führt, dass die Schüler einen Wechsel zwischen den Welten nachvollziehen und somit immer einen Bezug zur Realität haben. In vielen Situationen ist es Emma, die durch ihre mutige und eher burschikose Art nicht nur Mädchen zur Identifikation einlädt, und häufig auch Karîm, der als Märchenfigur eigentlich Stärke und Macht ausstrahlen sollte, durch 59Vgl. 60Vgl. Haas, G. 62005, 46f . Hintz, I. 22005,93. 18 II. Unterrichtspraxis seine missliche Lage jedoch eher menschliche Charakterzüge trägt und aus diesen Gründen ebenfalls der Identifikation dient. Auf der anderen Seite ist es interessant, welche Kinder den Gelben Dschinn Sahim für eine mögliche Perspektivübernahme bevorzugen und welche Gründe dabei mitspielen. Insgesamt möchte ich den Kindern Anregungen geben, in eine Geschichte hineinzutauchen und dabei grundlegende – bewusste, wie auch unbewusste – Erfahrungen über die Gefühlswelt verschiedener Charaktere mitzunehmen. 4.2.2 Didaktische Reduktion Die Aufgabenstellungen sind im Rahmen des Unterrichtsarrangements so konzipiert, dass sie auf die konkrete Schwerpunktsetzung ausgerichtet sind. Im Mittelpunkt steht der Einsatz des Lesetagebuches zu der Ganzschrift „Emma und der Blaue Dschinn“. Es ist so strukturiert, dass zu den festgelegten Leseabschnitten jeweils zwei Angebote zur Auswahl stehen. Entweder die Schüler haben die Möglichkeit, sich mit unterschiedlichen Figuren zu befassen oder zwischen verschiedenen Formen der Bearbeitung zu wählen. An einigen Stellen sind beide Varianten möglich. Dabei ist es wichtig, dass Aufgaben existieren, die Jungen und Mädchen ansprechen. Die Reduktion auf zwei Angebote soll gewährleisten, dass sich die Schüler von den zur Verfügung gestellten Angeboten einen genauen Überblick verschaffen können, bevor sie eine Entscheidung treffen. Zudem ist der Fokus meist auf die Hauptfiguren Emma, Karîm und Sahim gerichtet, um eine intensive und prozessorientierte Auseinandersetzung zu fördern. Die Schüler sollen sich im Laufe der Einheit bewusst werden, welche dieser drei Figuren sie am meisten fasziniert hat und dafür konkrete Gründe aufzeigen. Nur durch eine mehrfache Identifizierung und Beobachtung einer Figur ist es möglich, dass die Kinder das Gefühlsleben durchschauen und in Beziehung zu ihrem eigenen Leben setzen. Die Leseabschnitte sind unterschiedlich lang und so ausgewählt, dass sich Möglichkeiten im Rahmen der Empathiefähigkeit ergeben. An expliziten Stellen ist es daher sinnvoll, bereits nach wenigen Sätzen eine Unterbrechung zu machen, um sich auf eine Sache intensiv einlassen zu können, ohne durch das weitere Geschehen abgelenkt zu werden. 4.2.3 Kompetenzziele des Unterrichtsvorhabens Das vorliegende Unterrichtsvorhaben strebt folgende Kompetenzen an: Die Schüler erfassen den Inhalt des Buches „Emma und der Blaue Dschinn“, setzen sich mit den Figuren des Buches anhand eines Lesetagebuches intensiv auseinander und erweitern ihre Fähigkeit, empathisch zu urteilen und zu handeln, indem sie vorgegebene Leseabschnitte vermehrt selbstständig und sinnerfassend lesen, ausgewählte Aufgabenstellungen zu den jeweiligen Abschnitten bearbeiten, ihre Auswahl für ein gewähltes Angebot mündlich begründen, im Rahmen der „Interviewrunden“ mit anderen Schülern empathisches Verhalten aufzeigen und ihre Arbeit mit dem Lesetagebuch schriftlich reflektieren. Die Aufgabenformen des 19 II. Unterrichtspraxis Lesetagebuches sind so konzipiert, dass sie unterschiedliche Niveaustufen im Bereich des sinnerfassenden Lesens und der Empathiefähigkeit herausfordern.61 Die Niveaus Empathiefähigkeit62 der 63 Lesekompetenzstufen hängen mit den allgemeinen zusammen und werden in der folgenden Tabelle kurz dargestellt: Niv. 1 2 3 Lesekompetenz64 Wortebene: Die S. entnehmen Informationen aus einem Text und geben diese wieder. Satzebene: Die S. entwickeln ein allgemeines Verständnis des Textes und interpretieren textbezogen. Textebene: Die S. reflektieren und bewerten über den Inhalt des Textes und stellen Transferleistungen her. Empathiefähigkeit Die S. stellen aus dem Text entnommene Gefühle, Gedanken und Einstellungen auf verschiedene und individuelle Art und Weise dar. Die S. leiten anhand von beschriebenen Situatio-nen im Text Gefühle, Gedanken und Einstellungen von Figuren ab und sind dazu in der Lage, Gründe für das Gefühlsleben zu nennen und eine beratende Funktion einzunehmen. Die S. sind dazu in der Lage, über Gefühle, Gedanken und Einstellungen von Figuren zu reflektieren und einen Transfer auf ihre eigene Person zu leisten bzw. allgemeingültige Schlüsse zu ziehen. Die einzelnen Niveaustufen unterliegen keiner chronologischen Abfolge (von niedrig zu hoch), sondern variieren im Laufe der Bearbeitung bzw. werden mehr oder weniger stark herausgefordert. Dies ergibt sich zum einen aus den jeweiligen Leseabschnitten, die von den Kindern unterschiedliche und individuelle empathische Reaktionen begünstigen, und zum anderen aus der Tatsache, dass niedrigere Niveaustufen keinen Rückschritt bedeuten, sondern auf das höhere Niveau hinführen können. Im Laufe der Einheit wird die Entwicklung der Empathiefähigkeit anhand eines Lernbegleitbogens analysiert.65 Die Kompetenzentwicklung wird bei den Schülern individuell ausfallen und bei einzelnen Kindern auch nur anfänglich stattfinden. Dennoch sollen alle Schüler hinsichtlich des ‚kompetenzorientierten Unterrichts’ einen Lernzuwachs erfahren. Dieser Lernzuwachs wird anhand der Weiterentwicklung des bereits vorhandenen Wissens und an der Nutzung der erworbenen Kompetenzen in anderen Kontexten zu erkennen sein.66 Die individuelle Kompetenzerweiterung wird zum einen im Deutschunterricht zu beobachten sein, wenn es speziell um die Perspektivübernahme geht; zum anderen werden reale Ereignisse, die es im Schulalltag täglich gibt, Einblicke in den Fortschritt der Schüler bieten. Es ist davon auszugehen, dass die Schüler zu den verschiedenen Aufgaben unter-schiedliche Teilkompetenzen erreichen werden. Dies ist durchaus legitim, da es darauf hindeutet, dass die höchste Kompetenzstufe noch nicht erreicht ist und weiter gefördert werden muss. 61Vgl. Übersicht über die Unterrichtseinheit im Anhang des Dokumentes, A2. Niveaustufen sind von mir in Anlehnung an die Lesekompetenzstufen konzipiert worden. 63 Vgl. 2.1 64Vgl. Hessisches Kultusministerium 2005, 55. 65Vgl. Lernbegleitbogen im Anhang des Dokumentes, A3. 66Vgl. Praxis Deutsch 203/2007, 13. 62Diese 20 II. Unterrichtspraxis 4.2.4 Bezug zum Rahmenplan Grundschule und den Bildungsstandards des Faches Deutsch Der Umgang mit literarischen Texten im Deutschunterricht ist als eines der zentralen Elemente im Rahmenplan Grundschule Bildungsstandards für das Fach Deutsch verankert. Hessen 67 und den Dabei müssen die Lesefunktionen fokussiert werden, die Lesen erst sinnvoll machen.68 Kinder erfahren, dass Lesen eine Auseinandersetzung mit der Welt ermöglicht. Sie setzen sich identifizierend und abgrenzend mit literarischen Figuren auseinander und entwickeln in diesem Zusammenhang lebendige Vorstellungen über das Gelesene.69 Die ausgewählte Literatur muss mit den Interessen und Anliegen der Kinder abgestimmt werden, soll beiden Geschlechtern Identifikationsmöglichkeiten bieten und ihre Lust am Lesen hervorrufen.70 Die Ziele im Bereich „Lesen und mit Literatur umgehen“ liegen unter anderem in der kreativen Auseinandersetzung mit Literatur, wie sie durch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren ermöglicht wird. Als ein solches findet das Lesetagebuch innerhalb des Rahmenplans Grundschule seine Legitimation. Hier wird auf die Gefahr einer ‚verschulten’ Bearbeitung von Literatur, durch die deren Eigenwert für die Kinder verlorengeht, hingewiesen. Es wird der Anspruch auf einen kreativen Umgang mit Literatur erhoben.71 Der Schwerpunkt der ‚Empathiefähigkeit’ lässt sich unter den allgemeinen Erfahrungsbereichen innerhalb der Grundschule ebenso finden, wie im Handlungsbereich „Lesen und mit Literatur umgehen.“72 Die vielfältigen sozialen Erfahrungen von Kindern verlangen eine Begleitung des Sozialisations- und Individuationsprozesses in der Schule. Diese hat die Aufgabe, die Identitätsbildung der Kinder zu fördern und zu begleiten. Kinder gewinnen Sinnvorstellungen, indem sie sich mit Personen identifizieren und sich mit Werten aus verschiedenen Perspektiven auseinandersetzen.73 Sie erkennen, dass in der Literatur Erfahrungen, Gefühle, Wünsche und Ängste, wie auch Tabus und Verdrängungen, in Sprache gefasst sind und damit für sie selbst bearbeitbar werden. Kinder haben die Möglichkeit, während der Beschäftigung mit literarischen Texten, Sensibilität Beziehungen zu für Gefühle und Gedanken zeigen.74 67Vgl. hier und im Folgenden: Hessisches Kultusministerium 1995, 106. 2.1 69Vgl. Beschlüsse der Kultusministerkonferenz 2005, 9, 11. 70Vgl. 3.2.3 71 Vgl. Hessisches Kultusministerium 1995, 107. 72Vgl. ebd. 19 und 107. 73Vgl. Hessisches Kultusministerium 1995, 107. 74Vgl. Beschlüsse der Kultusministerkonferenz 2005, 12. 68Vgl. 21 zwischenmenschlicher II. Unterrichtspraxis 4.3 Methodische Überlegungen zum Aufbau der Unterrichtseinheit Die geplante Unterrichtseinheit erstreckt sich über einen zeitlichen Rahmen von circa drei Wochen.75 Die grundlegenden methodischen Elemente der Thematik stellen zum einen das Buch „Emma und der Blaue Dschinn“ und das Lesetagebuch dar; zum anderen wird eine methodische Vorgehensweise innerhalb des Unterrichts angestrebt, die selbstständiges Lernen der Schüler fördert und zu sozialen Kontakten innerhalb der Lerngruppe anregt. Das Buch „Emma und der Blaue Dschinn“ wird für jeden Schüler zur Verfügung gestellt. Dadurch ist gewährleistet, dass die Kinder in ihren unterschiedlichen Lesegeschwindigkeiten keinerlei Einschränkungen erfahren und auch die Möglichkeit haben, das Buch mit nach Hause zu nehmen. Zu Beginn der Unterrichtseinheit überwiegen gemeinsame Lesezeiten, die die Schüler an den Umgang mit der Lektüre gewöhnen sollen und die Übergänge zwischen Lesen und Lesetagebucharbeit transparent machen. Zusätzlich ist es möglich, die Sprache der fiktiven Geschichte zu besprechen und Schwierigkeiten zu analysieren. Im weiteren Verlauf werden die Kinder vermehrt dazu angehalten selbstständig, das heißt in den so genannten ‚stillen Lesezeiten’, den im Lesetagebuch an gegebenen Abschnitt zu lesen und daraufhin eine Aufgabe zu bearbeiten. Bei allen Leseabschnitten haben die Schüler die Wahl, sich zwischen zwei Angeboten zu entscheiden. Damit werden die verschiedenen Bearbeitungsweisen der Kinder berücksichtigt. Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, Schwerpunkte auf verschiedene Figuren des Buches zu legen und sich mit diesen intensiv zu beschäftigen. Während sich die Lerngruppe mit den Inhalten des Buches auseinandersetzt, ist es mir möglich, mit leseschwachen Schülern bestimmte Passagen laut zu lesen bzw. beobachtend und beratend tätig zu werden. Die Beobachtung wird dabei auf die Gründe der Schüler für die Auswahl der Angebote fokussiert. Bereits zu diesem Zeitpunkt möchte ich die Unterschiede innerhalb der Bearbeitung von Mädchen und Jungen durch entsprechendes Nachfragen ergründen. Dabei werden die beiden hier ausgewählten Schüler vermehrt berücksichtigt, ohne die individuellen Arbeitsweisen der gesamten Lerngruppe aus dem Auge zu verlieren. Ziel ist es, aus den genannten Gründen einen möglichst großen Anteil der Lesetagebucharbeit während der Schulzeit erfolgen zu lassen. Das vorbereitende Lesen und das Zusammenfassen wichtiger Kapitel, werden sich auf die Arbeit nach der Schule ausrichten und sollen somit das intensive Verständnis des Gelesenen unterstützen. Parallel zu der Lektüre und der Lesetagebucharbeit finden zwei weitere Arbeitsangebote statt: Das Interview und die Schreibwerkstatt. Das Interview stellt eine weitere Form der Schulung zur Empathiefähigkeit dar. Zu bestimmten Leseabschnitten treffen sich ausgewählte Kinder in Kleingruppen in der 75Vgl. Übersicht über die Unterrichtseinheit im Anhang des Dokumentes, A2. 22 II. Unterrichtspraxis ‚Interviewecke’ und nehmen die Rolle bestimmter Figuren des Buches bzw. eines Interviewers ein. Zunächst werden die Fragen an eine oder mehrere Figuren vorbereitet, später sollen die Kinder selbst Fragen entwickeln und diese im Gespräch erörtern. Ziel ist es dabei, für mich in mündlicher Form und auf spontane Art und Weise Informationen über die Empathiefähigkeit der Kinder zu erhalten. Die Kleingruppen werden bewusst zusammengesetzt, sodass immer Mädchen und Jungen beteiligt sind. Interessant ist zunächst die Wahl einer Rolle und die Begründung der jeweiligen Entscheidung. Außerdem wird die zunehmend selbstständige Gesprächsführung der Lerngruppe gefördert. Einigen Kindern wird diese Form der Rollenübernahme Schwierigkeiten bereiten, da sie sich gehemmt fühlen werden, aus der Sicht einer Figur zu sprechen. Dennoch sollen diese Schüler, gestärkt durch ihre Mitschüler, an den Interviews teilnehmen, um somit im besten Fall eine neue Art des sich Öffnens zu entdecken. Die Schreibwerksatt stellt ein offenes Lernangebot – das vornehmlich die Funktion einer inneren Differenzierung einnimmt – dar. Die Schüler wählen aus den Schreibangeboten – ‚Kochrezept’‚ ‚Zeitungsbericht’, ‚Figurenbeschreibung’ und ‚Reizwortgeschichte’ – nach ihren eigenen Interessen aus. Die Angebote sollen eine weitere Beschäftigung mit den Inhalten des Buches fördern und stellen Formen des ‚kreativen Schreibens’ dar. Die Endprodukte werden in einem ‚Geschichtenordner’ gesammelt und am Ende der Einheit präsentiert. Vermutlich werden die leistungsstarken Schüler dieses Angebot vermehrt in Anspruch nehmen, doch soll es auch Zeiten geben, in denen allen Schülern diese Möglichkeit offensteht. Im Laufe der Unterrichtseinheit wird es durch das selbstbestimmte Vorgehen zu heterogenen Arbeitsschwerpunkten kommen. Doch soll nicht darauf verzichtet werden, wichtige Passagen mit der gesamten Lerngruppe zu besprechen, auch wenn diese für einige Schüler bereits eine Zeit lang zurückliegen. Denn gerade in diesem Austausch erhalten alle Kinder – leistungsstarke und leistungsschwache – Anregungen für ihre Weiterarbeit. 23 II. Unterrichtspraxis 5. Durchführung des Unterrichtsvorhabens anhand ausgewerteter Beobachtungen und schriftlicher Arbeiten der Schüler Na. und La. 5.1 Na. 5.1.1 Allgemeines zur Vorgehensweise Na. zeigt sich seit Beginn des Unterrichtsprojektes sehr interessiert und bereichert die gemeinsamen Phasen durch kreative Anregungen und ein hohes Engagement für das Lesen. Die Schülerin liest äußerst zügig, achtet jedoch auch auf deutliches und betonendes Vorlesen. Bei der gemeinsamen Wiederholung von Textpassagen ist sie jederzeit dazu in der Lage, Inhalte präzise wiederzugeben und stellt somit vor allem für wahrnehmungsschwache Kinder eine große Stütze dar. Die Neueinführung des Lesetagebuches hat Na. keinerlei Ängste ausgelöst, sondern sie alleine durch den Teiltitel „Tagebuch“ begeistert. Selbstständige Organisation und Strukturierung ihrer Arbeitsweise bereiten der Schülerin keinerlei Schwierigkeiten und sie legt viel Wert darauf, ihr Lesetagebuch ordentlich zu gestalten. So nutzt Na. verbleibende Minuten, um Vorder- und Rückseite des Lesetagebuches auszugestalten. An Interviews versucht die Schülerin möglichst häufig teilzunehmen und zeigt sich in Bezug auf die Übernahme einer Funktion sehr kooperativ und flexibel. Bereits während des ersten Interviews, in dem sie zunächst die Rolle der Interviewerin inne gehabt hat, bemerkt sie die Probleme ihrer Mitschülerin, sich in die Lage Emmas hineinzuversetzen und wechselt spontan die Position. Hier argumentiert sie sicher und offen, auch wenn gerade die Kamera läuft. Hat Na. die Wahl, entscheidet sie sich für die Figur Emmas oder Karîms. In der Schreibwerksatt beschäftigt sich Na. hauptsächlich mit den Angeboten des ‚Kochrezeptschreibens’ oder der ‚Figurenbeschreibung’. Während selbstständiger Arbeitsphasen berät sich die Schülerin gelegentlich mit ihrer Sitznachbarin und bespricht mit ihr Gemeinsamkeiten oder Unterschiede in der Bearbeitungsweise. Na. ist während der Vorstellung von Arbeitsergebnissen im Plenum sehr aufgeweckt und kommentiert Arbeiten ihrer Mitschüler. Sie möchte möglichst oft ihre Ergebnisse präsentieren und zeigt sich bedrückt, wenn sie nicht die Möglichkeit dazu erhält. Insgesamt zeichnet sich die Schülerin während des gesamten Unterrichtsprojektes durch sehr zielstrebiges und selbstsicheres Arbeiten aus. 5.1.2 Bearbeitungsweise 5.1.2.1 Auswahl der Angebote im Lesetagebuch Na. wählt ein ihren Interessen entsprechendes Angebot im Lesetagbuch sehr zügig aus und beginnt unmittelbar nach ihrer Entscheidung mit der Ausführung ihrer Ideen. Anhand der bearbeiteten Aufgaben und nach eigener Aussage lässt sich feststellen, dass sich die Schülerin bewusst für eine im Angebot enthaltende Figur entscheidet und es vermeidet, mehrperspektivisch zu schreiben. Sie schreibt sehr ausführlich und genau, wodurch nahezu alle bearbeiteten Seiten sowohl 24 II. Unterrichtspraxis quantitativ als auch qualitativ gefüllt sind. Ein Schaubild über die vier häufigsten Bearbeitungsarten (verschiedene Beschreibungen/ Fortsetzungsgeschichten etc., Monologe/ Denkanlässe, Bildbeschreibungen/ Bildergeschichten sowie Dialoge/ Telefongespräche) ist im Anhang der Arbeit dargestellt.76 Hieraus geht hervor, dass Na. Angebote bevorzugt, die ein ausführliches Schreiben beinhalten. Aufgaben, die sich durch knappe Aussagen oder Skizzierungen kennzeichnen, sind bei der Schülerin weniger beliebt. 5.1.2.2 Figurenwahl Die Figurenwahl erfolgt bei der Schülerin Na. bewusst und zieht sich durch das gesamte Bearbeitungsspektrum. Na. kategorisiert von Beginn an zwischen „gut“ und „böse“ und wählt dementsprechende Figuren aus: Emma und Karîm als Verkörperung des Guten und Sahim als Träger der Bosheit. Der Schwerpunkt ihrer Bearbeitung liegt auf Emma und Karîm.77 Am Ende fällt es Na. nach eigener Aussage schwer, sich für eine der beiden Figuren als ‚Lieblingsfigur’ zu entscheiden. Die Wahl fällt letztlich auf Karîm, der im Laufe der Geschichte eine besonders positive Wandlung erfahren hat. Na. schätzt an ihm seine nette Art, seine Hilfsbereitschaft, seine blaue Farbe und nicht zuletzt seine Zauberkraft, die es vermag, jegliche Wunschträume zu erfüllen.78 Jedoch sieht Na. auch in der Figur Emma Parallelen zu ihrer eigenen Person: Emma schenkt Menschen Mut, Vertrauen und Hoffnung. Dies versucht die Schülerin anderen Kindern weiterzugeben. 5.1.3 Analyse von Textausschnitten hinsichtlich Empathiefähigkeit Im Folgenden möchte ich anhand von Textausschnitten die Entwicklung von Na. im Bereich der Empathiefähigkeit untersuchen.79 Zu Beginn der Arbeit mit dem Lesetagebuch ist es Na. bereits möglich, die Gefühle und Einstellungen der Protagonisten richtig zu erfassen und in eigenen Worten wiederzugeben. So beschreibt die Schülerin Emmas Gefühlslage während des Öffnens der Flaschenpost als „nachdenklich“, „ängstlich“, „aufgeregt“ und „überrascht“.80 Auffallend ist jedoch in den ersten Teilen des Lesetagebuches, das Na. aus einer gewissen Distanz Gefühle und Ansichten beschreibt und selbst erst beginnt in das Abenteuer bzw. in die Charaktere einzutauchen. Dies wird zum Beispiel anhand des folgenden Ausschnittes deutlich: Karîm: „Ich hatte einen Plan und ein bisschen Mut!“ Emma: „Und weißt du noch welchen Plan?“ Karîm: Emma, Emma, das weiß ich nicht mehr.“ 81 Zum Zeitpunkt der ‚Ankunft in Barakasch’ findet bei der Schülerin eine tiefer gehende Arbeitsweise statt. Hier schafft es Na., die Rückkehr aus der Sicht des Blauen Dschinns anschaulich und unter Berücksichtigung 76Vgl. Schaubild 1 im Anhang des Dokumentes, A5. Schaubild 2 im Anhang des Dokumentes, A5. 78 Vgl. „Meine Lieblingsfigur – Steckbrief“ im LTB, 33. 79Vgl. Schaubild 5 im Anhang des Dokumentes, A6. 80LTB (Na.), 6. 81Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A9: 1. 77Vgl. 25 II. Unterrichtspraxis dessen Gefühle nachzuvollziehen und mit Begründungen zu belegen.82 Diese Art der Empathiefähigkeit ist bereits auf einem höheren Niveau anzusiedeln, als die anfängliche Beschreibung von Ansichten. „Ich bin so froooooh, dass ich aus meiner Flasche draußen bin aber ich bin auch wegen meinem Nasenring traurig. Ich gebe nicht auf, denn es liegt alles auf mir ab.“83 Na. erkennt bereits an dieser Stelle, dass Karîm nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Land Barakasch kämpfen will.84 Er übernimmt Verantwortung für die Menschen, die unter Sahim leiden. Dieses Hineintauchen in die Situation einer Figur erreicht bei Na. seinen Höhepunkt, als Emma in einen Käfig eingesperrt ist. Die Schülerin beschreibt in Form eines Monologs die verzweifelte Lage Emmas. Gefühle der Angst, des Alleinseins und des Flehens werden immer wieder durch ein Stück Hoffnung getragen.85 Hier wird dem Leser klar, dass die Schülerin die rein beobachtende Ebene verlassen hat und nun selbst das Abenteuer miterlebt: „Und da versetzt man sich in eine Figur, wie Emma. Sie ist in einem Käfig eingesperrt auf einmal sehen wir uns in einem Käfig.“86 Doch nicht nur die bereits beschriebenen Gefühle werden von Na. intensiv nachvollzogen. Den Zorn und Ärger Karîms über den Diebstahl des Nasenrings legt die Schülerin anhand von eigens formulierten Bezeichnungen, wie „Du senfgelber Kahlkopf“87 ebenfalls anschaulich dar. Am Ende des Lesetagebuches überträgt Na. die Bedeutung des Geschenkes Karîms an Emma auf ihre eigene Person, indem sie die Besonderheit der Geste zum Ausdruck bringt und ihre persönliche Einstellung nach der Abreise aus Barakasch formuliert.88 Sie hat es geschafft, sich in hohem Maße in ihre ausgewählten Charaktere hineinzuversetzen und deren Erfahrungen auf sich selbst zu projizieren. Auffällig ist hierbei jedoch ihre intensive Anteilnahme und Parteieinnahme für jene Figuren, die das Gute verkörpern, anderen Menschen helfen und gegen das Böse kämpfen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Schülerin gerade bei diesen Charakteren einen deutlichen Entwicklungssprung in ihrer Empathiefähigkeit gemacht hat. Leider ist aufgrund der gezielten Auswahl dieser Figuren nicht möglich festzustellen, ob ähnliche Fortschritte bei vollkommen anderen Charakteren zu beobachten sind. 5.2 La. 5.2.1 Allgemeines zur Vorgehensweise La. nimmt mit großer Beteiligung und Anstrengungsbereitschaft am Unterrichtsprojekt teil und bringt sich vor allem in gemeinsamen Unterrichtsphasen durch kreative Ideen ein. Während der stillen Lesephasen ist er meist als „Erster“ fertig und teilt dies mit. Das laute Vorlesen macht dem Schüler äußerst viel Freude und stellt durch korrekte Betonung und angemessenes Lesetempo eine besondere 82Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A9: 2, 3. aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A9: 2. 84 Vgl. Lernbegleitbogen im Anhang des Dokumentes, A3. 85Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A9: 4. 86LTB (Na.), 39. 87LTB (Na.), 26. 83Auszüge 26 II. Unterrichtspraxis Leistung dar. Der Schüler fasst einzelne Kapitel knapp, aber genau zusammen und bereichert den erarbeitenden Unterricht, z.B. durch zusätzliche Sachinformationen zur aktuellen Thematik. Während der Arbeit mit dem Lesetagebuch kommt es vor allem anfangs zu Nachfragen bezüglich der Bearbeitungsweise. La. benötigt eine zusätzliche Absicherung, bevor er mit einem Angebot beginnt. Nach und nach verschiebt sich diese Erkundigung, indem er gemeinsam mit Mitschülern über eine Aufgabe spricht. Häufig findet man ihn während selbstständigen Arbeitsphasen in einem gesonderten Raum, in dem er es vorzieht, mit einer Kleingruppe – meist – Jungen über eine Thematik des Lesetagebuches zu kommunizieren. La.` zügiges Arbeiten führt dazu, dass er häufig mit den Aufgaben der Schreibwerkstatt arbeitet. Hier richtet sich sein Interesse vornehmlich auf die Angebote des ‚Zeitungsberichtes’ und der ‚Reizwortgeschichte’. Auch für die Teilnahme an einem Interview zeigt sich La. jederzeit bereit, wobei er gerne einen Freund in der Gruppe hat. Bei der Rollenverteilung hat er genaue Vorstellungen, übernimmt gerne die Funktion des Interviewers oder einer der beiden Dschinns.89 La. präsentiert seine Arbeiten im Plenum sicher und gerne. Bei der Kommentierung anderer Schülerarbeiten hält er sich eher zurück und wartet ab, bis er an der Reihe ist. Kommen von Seiten der Mitschüler im Hinblick auf seine Arbeit Anregungen zum Tragen, versucht er sie argumentativ abzuwerten. Insgesamt macht sich bei dem Schüler während des gesamten Unterrichtsprojektes ein hohes Maß an Leistungsbereitschaft kenntlich, welche oftmals mit extremer Schnelligkeit gepaart ist. Gegenüber dem Rest der Lerngruppe zeigt sich La. sehr hilfsbereit und lässt sich während selbstständiger Arbeitsphasen gerne als Experte für leistungsschwächere Schüler einsetzen. 5.2.2 Bearbeitungsweise 5.2.2.1 Auswahl der Angebote im Lesetagebuch La. wählt die Angebote im Lesetagebuch hauptsächlich nach Art der Aufgabenstellung aus. Er zieht Angebote, die monologisches oder dialogisches Schreiben fordern, dem „reinen“ Geschichtenschreiben vor. Dieses Vorgehen lässt sich bei nahezu allen wählbaren Angeboten feststellen. Zudem fällt es dem Schüler nach eigener Aussage schwer, zu expliziten Ausschnitten des Buches Bilder zu zeichnen. Dennoch stellt er sich diesen ‚Problemen’, indem er sowohl bei einer Bildergeschichte als auch bei einem Comic zentrale Textaussagen zeichnerisch darstellt90. Schreibarten, wie das Briefe- oder Tagebuchschreiben, versucht der Schüler, wenn möglich, zu umgehen. Er stellt Gedankengänge und Einstellungen von Figuren knapp, aber dennoch deutlich dar.91 Die Ausgestaltung der Angebote im Lesetagebuch lässt sich – vor allem im Vergleich zu der Schülerin 88 Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A9: 5. DVD Interviews und Befragungen der Kinder in der Anlage des Dokumentes. 5.2.3 91Vgl. Schaubild 3 im Anhang des Dokumentes, A5. 89Vgl. 90Vgl. 27 II. Unterrichtspraxis Na. – als puristisch bezeichnen. Ausschmückungen entfallen zu Gunsten von zusätzlichen Informationen über einen bestimmten Sachverhalt der Geschichte.92 5.2.2.2 Figurenwahl Die Wahl der Figuren erfährt bei dem Schüler La. im Laufe der Bearbeitung eine Veränderung. Alle drei Hauptfiguren werden von ihm in gleichem Maße gewählt.93 Zunächst zieht der Schüler es vor, die Figur des ‚mächtigen’ Sahim in den Mittelpunkt seiner Bearbeitung zu stellen. Dieser verkörpert für ihn nach eigener Aussage Stärke und Überlegenheit. Mit Fortgang der Geschichte wird deutlich, dass Emma ein Mädchen repräsentiert, welches mutig ist und sich für andere einsetzt. So wird auch diese Figur, im Hinblick auf die absolute Hingabe für einen Freund, von dem Schüler fokussiert. Letztendlich ist es jedoch Karîm, der den Schüler am meisten beeindruckt hat, da er am Ende der Geschichte Herrscher über ein Land ist. Dies wird auch daran erkenntlich, dass der Schüler seine herausragende Größe explizit als besonderes Merkmal des Blauen Dschinns benennt, die er am Anfang der Geschichte noch nicht hatte. La. beeindruckt seine „Abenteuerlust, seine Hilfsbereitschaft und seine Zauberkraft“.94 Anhand dieser Skizzierung wird deutlich, dass sich der Schüler bewusst für die starken und überlegenen Figuren der Geschichte entscheidet. Durch diese Art der Bewunderung und Faszination ist es dem Schüler möglich, in ein durch ‚Macht’ gekennzeichnetes Leben einzutauchen. Von der Figur Sahim hat der Schüler nach eigener Aussage gelernt, dass man „erst nachdenken, dann handeln“ sollte.95 5.2.3 Analyse von Textausschnitten hinsichtlich Empathiefähigkeit Zu Beginn der Arbeit mit dem Lesetagebuch gibt La. aus dem Inhalt der Geschichte entnommene Informationen genau wieder und ergänzt sie durch eigenes Wissen.96 Auffällig ist hierbei, dass sich der Schüler häufig den im Lesetagebuch enthaltenen Tipps bedient und diese so in seine Texte einbaut, dass eine deutliche Struktur in der Arbeitsweise zu erkennen ist.97 Bereits nach kurzer Zeit wandelt sich dieses reine Beschreiben von Sachverhalten auf der Basis vorgegebener Informationen in ein eigenständiges Hineinversetzen in bestimmte Figuren. Der Schüler ist dazu in der Lage, die Ängste und Sorgen der Mutter Emmas nach Erhalt des Abschiedbriefes zu erfassen. „Ich mache mir Sorgen um Emma und Tristan. Vielleicht kommt sie nie wieder zurück.“98 Im Folgenden wird deutlich, dass sich La. in nahezu alle Charaktere der Geschichte hineinversetzen und aus deren Sicht ein Ereignis anschaulich und konkret beschreiben kann. Jedoch richtet sich sein Augenmerk oftmals mehr auf die Einstellungen und 92Vgl. 5.2.3 Schaubild 4 im Anhang des Dokumentes, A5. 94LTB (La.), 33. 95‚Abschlussfragebogen La.’ in Auszüge aus den Lesetagebüchern und Fragebögen der Schüler in der Anlage des Dokumentes. 96Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A9: 6. 97Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A10: 1. 98LTB (La.), 12. 93Vgl. 28 II. Unterrichtspraxis Denkweisen von Figuren, als um deren Gefühlslagen.99 Dies bedeutet aber nicht, dass der Schüler sie nicht erkennt, sondern, dass er das konkrete Denken in den Vordergrund seiner Beschreibungen rückt. Auf diese Art und Weise findet sein ‚Eintauchen’ in das Geschehen statt. „Dadurch bin ich mittendrin in dem Abenteuer. Ich träume von meiner eigenen Welt.“100 Nach eigener Aussage haben gerade Denk- und Sprechblasen es ihm möglich gemacht, das Ereignis mitzuerleben. Hieran wird wiederum deutlich, dass sich La. weniger intensiv mit einer Figur identifiziert, sondern das Abenteuer als Ganzes sieht, in das er in Form von bestimmten Bearbeitungsweisen besser eintauchen kann. An einzelnen Stellen wird dennoch deutlich, dass der Schüler die Gefühlslagen von Figuren der Situation entsprechend adäquat erfasst. In geringerem Maße und deshalb auf niedrigerem Niveau als es bei Na. der Fall ist, werden Gründe für Empfindungen genannt. La. schafft es jedoch häufig, die Stimmungen in einzelnen Situationen einzufangen und dem Leser zu veranschaulichen – ohne die konkreten Gefühle zu nennen. Damit eröffnet er dem Leser –vermutlich unabsichtlich – die Chance, empathisch zu reagieren. Im letzten Teil des Lesetagebuches macht La. einen deutlichen Entwicklungssprung. Sowohl die Bedeutung des Sieges Karîms als auch das besondere Geschenk an Emma hat er auf sprachlich hohem Niveau dargestellt. Er projiziert intensiv die Bedeutung des Geschenkes auf seine eigene Person und umschreibt seine eigenen Pläne mit einem kleinen Dschinn sehr anschaulich. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Schüler auf einem mittleren Niveau der Empathiefähigkeit einsteigt, dieses eine längere Zeit beibehält und zum Ende hin – vor allem in Bezug auf den Übertrag zu seiner eigenen Person enorm steigert. Zudem handelt La. nicht nur an bestimmten Figuren empathisch, sondern nimmt mehrere Charaktere in Augenschein. 99Vgl. Lernbegleitbogen, A3 und Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. im Anhang des Dokumentes, A10: 8, 9. (La.), 39. 100LTB 29 Auswertung III. 6. Auswertung Feststellung des Kompetenzzuwachses – Reflexion und Ausblick Im Rahmen dieses Kapitels soll die Eignung des Lesetagebuches im ‚offenen Deutschunterricht’ zur Förderung der Empathiefähigkeit bei der gesamten Lerngruppe sowie unter Genderaspekten beurteilt und mit einem Ausblick auf die Weiterarbeit erfasst werden. Die Nutzung der zur Verfügung gestellten Angebote spielt dabei ebenso eine bedeutende Rolle wie der Aspekt der Identifizierung mit Protagonisten der ausgewählten Lektüre. Daneben ist die Selbsteinschätzung der Schüler über gemachte Erfahrungen und Lernanlässe ein wichtiger Bestandteil der Auswertung und soll hier keinesfalls vernachlässigt werden. Im Rahmen der Einheit haben sich alle Schüler mit hoher Motivation am Unterrichtsgeschehen beteiligt. Hier ist zum einen die – bereits festgestellte – enorme Lesebegeisterung der Lerngruppe erkennbar gewesen; zum anderen ihr hohes Potential an selbstständigen Arbeitsweisen.101 Mit großer Spannung und Motivation haben die Schüler das Lesetagebuch als ihr persönliches Werk angesehen. Neben dem Wechsel zwischen Lesen und Tagebucharbeit, der bereits nach kurzer Zeit automatisch stattgefunden hat, sind sie dazu bewegt gewesen, nicht nur zu erfahren, wie die Geschichte weitergeht sondern auch in welcher Art und Weise sie selbst in das Geschehen eintreten dürfen. Daran ist zu erkennen, dass das Lesetagebuch eine geeignete Methode ist, um die Lesebegeisterung zu steigern und gleichzeitig eine intensive und individuelle Beschäftigung mit dem Inhalt des Gelesenen zu fördern.102 Zusätzlich hat die Lektüre „Emma und der Blaue Dschinn“ durch ihre Vielfalt an Charakteren einen wichtigen Beitrag geleistet, dass sich Mädchen und Jungen der Lerngruppe auf das Geschehen eingelassen haben.103 Der Aspekt, dass die Figuren Emma, Karîm und Sahim in den Großteil der Angebote des Lesetagebuches integriert gewesen sind, hat sich auf die Vertrautheit der Kinder im Umgang mit den Aufgabenstellungen positiv ausgewirkt.104 Während der gesamten Unterrichtseinheit hat ein sehr angenehmes Lernklima geherrscht und kooperative Lernformen konnten immer wieder ihre Anwendung finden.105 Das zu Beginn der Einheit enger geführte Leseprojekt hat sich im Laufe der Zeit zu einem – weitestgehend durch die Schüler – selbstständig strukturierten Vorgehen entwickelt. Gemäß der Ansprüche an einen ‚offenen Literaturunterricht’ haben die Kinder an bestimmten Stellen der Unterrichtseinheit entsprechend ihres Lesetempos und Leistungsvermögens eigenverantwortlich gearbeitet.106 An dieser Stelle ist anzumerken, dass im Bereich des Differenzierungsangebotes Alternativen denkbar sind: Die ‚Schreibwerkstatt’ hat insgesamt eine geringere 101Vgl. 4.1.1 4.2.1 103 Vgl. ebd.. 104Dieses Anliegen ist in 4.2.2 näher beschrieben. 105Diese sind unter anderem während der Interviewphasen zum Tragen gekommen. Vgl. 4.3 106Vgl. 2.2.3 102Vgl. 30 Auswertung Resonanz erfahren als erwartet. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Schüler die Möglichkeit vorgezogen haben, ihre eigenen Ideen im Lesetagebuch einzubringen.107 In Anbetracht dessen erscheint es – vor allem bei einer Erstbegegnung mit dem Lesetagebuch – sinnvoll, weitere Differenzierungsangebote innerhalb desselben anzubieten. Die Vorgehensweise im Rahmen der Lesetagebucharbeit hat verschiedene Formen der Auseinandersetzung hervorgebracht: Während sich vor allem die Jungen der Klasse nach eigener Aussage eher daran orientiert haben, welches Angebot sie mehr reizt, hat sich der Großteil der Mädchen von Anfang an für bestimmte Figuren des Buches entschieden.108 Trotz dieser unterschiedlichen Auswahlkriterien lässt sich feststellen, dass die Vorlieben für bestimmte Angebote in großen Teilen identisch sind.109 Entgegen meiner bisherigen Annahme neigen Jungen mehr als Mädchen dazu, anhand von Bildern eine Situation oder Einstellung zu verdeutlichen. Die Mädchen der Klasse haben offensichtlich eine Sympathie für monologisches Schreiben, wie es bereits bei der Schülerin Na. analysiert worden ist.110 Diese Aspekte lassen sich unter anderem darauf zurückführen, dass Mädchen und Jungen die Figuren des Buches unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Während sich der Großteil der Mädchen von Beginn an auf die Seite der Figuren Emma und Karîm als Verkörperung des Guten gestellt haben, lassen sich bei den Jungen im Laufe der Zeit Veränderungen feststellen:111 Zu Beginn ist es Sahim, der Größe und Stärke zeigt, was von den Jungen der Klasse bewundert wird. Hier sehen sie noch nicht das Schlechte dieser Figur, sondern seine absolute Macht. Allmählich ändert sich diese Einstellung, hinsichtlich einer Neigung zu dem mutigen Mädchen Emma. Letztendlich ist es der siegreiche Karîm als neuer Herrscher über ein Land, der die Sympathie der Jungen erhält. Die Mädchen setzen sich demnach von Beginn an sehr intensiv mit zwei der Hauptfiguren auseinander, lernen sie vermutlich intensiver kennen, da sie immerzu die Möglichkeit nutzen, aus deren Sicht ausführlich zu schreiben. Die Jungen konzentrieren sich auf den Kern einer Situation, weniger auf spezielle Figuren und bringen Einstellungen oftmals durch Skizzen oder Schlagworte zum Ausdruck. Somit lässt sich in Bezug auf den Genderaspekt sagen, dass Unterschiede hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunktsetzung existieren, die jedoch nur geringe Auswirkungen auf die Angebotswahl haben.112 Demnach eigenen sich die zur Verfügung gestellten Aufgabenformen sowohl für die Schwerpunktsetzung der Jungen als auch der Mädchen der Klasse.113 Interessant ist auch das Verhalten der Kinder während der so genannten ‚Interviewphasen’ gewesen. Diese sind mit großem Eifer angenommen und auf meist hohem Niveau durchgeführt worden. Entgegen der 107Vgl. „Meine eigenen Ideen“, LTB 37, 38. Auswertung des Fragebogens II im Anhang des Dokumentes, A10. 109 Vgl. Schaubilder 9, 9a und 9b im Anhang des Dokumentes, A8. 110Vgl. 5.1.2.1 111Vgl. Schaubilder 9, 9a und 9b im Anhang des Dokumentes, A8. 112Vgl. Schaubilder 8, 8a und 8b im Anhang des Dokumentes, A7. 108Vgl. 31 Auswertung Annahme, dass schüchterne Schüler mit dieser Form der Rollenübernahme Probleme haben könnten, haben sich alle Kinder sehr selbstbewusst präsentiert.114 Auf diese Art und Weise ist es möglich gewesen, die mündliche Ausdrucksfähigkeit im Hinblick auf Gefühle und Denkweisen zu schulen und spontane Reaktionen der Kinder herauszufordern.115 Zur allgemeinen Arbeitsweise der Lerngruppe lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Kinder sehr selbstsicher agiert haben. Dieser Aspekt hat sich zum einen anhand der eigenständigen und überzeugten Auswahl der Angebote im Lesetagebuch abgezeichnet; zum anderen ist es in Form des beurteilenden Schreibens der Kinder über ihren individuellen Lernfortschritt am Ende der Einheit erkenntlich geworden.116 Interessant wäre im Hinblick auf das Reflexionsvermögen der Kinder der Einsatz von ‚Selbsteinschätzungsbögen’ während der Unterrichtseinheit gewesen, um Aufschlüsse über die individuellen Lernwege zu erhalten. Dennoch ist es mein Anliegen gewesen, während dieses Unterrichtsprojektes die mündliche Reflexionsfähigkeit der Schüler auszubauen und den Fokus ihrer schriftlichen Arbeit auf das Lesetagebuch auszurichten. Obgleich die beschriebenen Ergebnisse einen bedeutenden Stellenwert zu den verschiedenen Entwicklungsbereichen der Schüler geleistet haben, soll nun die Effektivität des Unterrichtsarrangements – allem voran das Lesetagebuch – im Hinblick auf die Förderung der Empathiefähigkeit von Mädchen und Jungen festgestellt werden. Die Lerngruppe hat vielfältige Möglichkeiten der Identifizierung und Perspektivübernahme wahrgenommen. Anfangs ist es vielen Schülern schwer gefallen, die Gedanken oder Einstellungen von Figuren einzunehmen. Dies hat sich unter anderem daran gezeigt, dass Situationen angemessen beschrieben, jedoch nur in Einzelfällen Begründungen für Verhaltensweisen oder Gefühlslagen genannt worden sind.117 Die meisten Schüler haben also auf der ersten Niveaustufe der Empathiefähigkeit gehandelt und sich noch sehr nahe an Textstellen und sprachlichen Formulierungen orientiert.118 Doch im Laufe der Zeit und mit zunehmender Vertrautheit zu den Figuren der Geschichte hat sich abgezeichnet, dass die Schüler in die Geschichte eintauchen und somit auch dazu in der Lage sind, Leerstellen des Geschehens durch eigene Ansichten zu füllen. 119 Hierbei ist deutlich geworden, dass die Mädchen der Klasse relativ schnell auf die Gefühlsebene der Protagonisten übergegangen sind, während die Jungen häufig dazu geneigt haben, Gedanken auf sachlicher Ebene zum Ausdruck zu bringen. Mädchen haben sich vor allem in Situationen der Angst, Trauer, aber auch Begeisterung und des Glücks in die Lage der Figuren hineinversetzen können. 120 Jungen sind in höherem Maße dazu in der Lage gewesen, spannende Situationen 113Vgl. ebd.. 4.3 115Vgl. ebd.. 116Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern und Fragebögen der Schüler in der Anlage des Dokumentes. 117 Vgl. 4.1.1 118Vgl. 4.2.3 119Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern und Fragebögen in der Anlage des Dokumentes. 120Vgl. 3.2.2 114Vgl. 32 Auswertung und den Willen nach Macht zu verdeutlichen und sich auf diese Art und Weise in Figuren hineinzuversetzen. Dennoch lassen sich bei beiden Geschlechtern im Laufe der Arbeit mit dem Lesetagebuch Steigerungen erkennen. Bereits mit der ‚Ankunft in Barakasch’ (S. 13/14)121 erreichen einige Schüler die mittlere Niveaustufe Erschließung 122 beinhaltet. von der Empathiefähigkeit, welche Begründungszusammenhänge unter für anderem die Verhaltensweisen Spätestens mit der ‚Gefangennahme Emmas und Tristans durch den Gelben Dschinn’ (S. 19/20 ff.), ist der Großteil der Lerngruppe dazu in der Lage, aus einer beschriebenen Situation heraus empathische Schlussfolgerungen zu ziehen. Darüber hinaus können am Ende der Unterrichtseinheit viele Schüler den Inhalt der Geschichte auf ihre eigene Person transferieren.123 So hat sich aus einer anfänglich beschreibenden Haltung und sich daraus ableitenden Schwierigkeiten, die ‚Ich- Perspektive’ einzunehmen, eine intensive Auseinandersetzung mit den Schicksalen der Figuren entwickelt.124 Besonders deutlich ist dies bei einem Schüler geworden, der ein Gefühl Emmas beschreibt und plötzlich – in einem fließenden Übergang und scheinbar unbewusst – die Perspektive des Mädchens einnimmt.125 Diese Art der ‚Verschmelzung’ zeichnet die Intensität der Arbeit ab. Auf hohem Niveau wird am Ende der Einheit die Bedeutung des ‚Geschenkes Karîms an Emma’ reflektiert und als ausgesprochene Besonderheit hervorgehoben. Weiterhin haben viele Schüler in beeindruckender Weise formuliert, was sie aus der Geschichte oder von einzelnen Figuren gelernt haben.126 Sie sind auf die Bedeutung von Freundschaft und Hilfsbereitschaft hin sensibilisiert worden und haben immer wieder herausgestellt, wie wichtig diese sind, vor allem in Situationen der Angst und Not. Die Schüler haben aus den Ereignissen – die sich an Emma, Karîm und anderen Beteiligten vollzogen haben, gelernt, dass man in jeder Situation – und scheint sie noch so ausweglos – die Hoffnung nicht verlieren darf, denn „wenn man irgendetwas wirklich erreichen will und niemals wirklich aufgibt, dann bekommt man Hilfe, wie Karîm.“127 Nicht zuletzt hat die Ergründung des Satzes „Lesen ist wie Kino im Kopf“128 und dessen Zusammenhang mit dem Lesetagebuch deutlich gemacht, dass die Kinder ihre Möglichkeiten zur Empathiefähigkeit ausgeweitet haben.129 Eine Schülerin fasst dies folgendermaßen zusammen: „Lesen ist wie Kino im Kopf heißt, dass man sich in die Figur reinversetzt und das fühlt, was sie auch fühlt zum Beispiel traurig sein, fröhlich sein und alles miterlebt und fühlt. Dieser Satz hat mit dem Lesetagebuch zu tun, weil man dann so zu sagen die Figur ist.“130 Ein Junge bringt es auf diese Weise zum Ausdruck: „Man versetzt sich in eine Figur hinein. Man hat im Kopf 121Vgl. hier und im Folgenden: Schaubild 6 im Anhang des Dokumentes, A6. Schaubild 7 im Anhang des Dokumentes, A6. 123Vgl. 4.2.3 124Die Entwicklungsverläufe der Empathiefähigkeit sind aus den Lernbegleitbögen der Schüler abgeleitet und in Schaubild 6 zusammengestellt: Vgl. Schaubild 6 im Anhang des Dokumentes, A6. 125Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern und Fragebögen (Tom) in der Anlage des Dokumentes. 126 Vgl. Auswertung des Abschlussfragebogens im Anhang des Dokumentes, A10. 127Timo, 9 Jahre. 128Vgl. Lesetagebuch in der Anlage des Dokumentes. 129Vgl. Auszüge aus den Lesetagebüchern und Fragebögen in der Anlage des Dokumentes. 122Vgl. 33 Auswertung Bilder. Man ist wie die Figur. Man ist beim Lesen wie im Kino, dann kommt man raus und es spielt sich alles noch einmal ab und dann schreibt man es ins LTB.“131 Diese exemplarischen Aussagen machen deutlich, dass das Lesetagebuch sowohl für Mädchen als auch Jungen Möglichkeiten eröffnet hat, in die Gefühlswelt der Figuren einzutauchen und individuelle Erfahrungen für sich selbst mitzunehmen. Obgleich nur bei einigen Schülern die höchste – hier festgelegte – Empathiestufe erreicht worden ist, so hat es dazu bewegt, sich in die Situationen von fiktiven und realen Figuren auf verschiedene Weise hineinzuversetzen und dennoch Spielräume in der Schwerpunktsetzung jedes Schülers eingeräumt. Die Konzipierung der Niveaustufen und die weitestgehend vorstrukturierten Aufgabenformen haben sich im Hinblick auf die erreichten Ziele der Schüler als angemessen erwiesen. Diese erste Begegnung sollte den Kindern ein Stück weit Sicherheit in ihrem Urteilen und Handeln bieten. Bezüglich der Weiterarbeit muss es zu einem Ausbau der Niveaustufen kommen, der sich durch ein höheres Maß an Differenziertheit auszeichnet. Zusätzlich zu dieser Vorgehensweise sind vor allem für leistungsstarke Schüler offenere Aufgabenstellungen sinnvoll, um eigenständiges Lernen weiter voranzubringen. Zusätzlich dazu ist es möglich, eine Unterrichtseinheit, die Situationen des alltäglichen Lebens in den Fokus der Beschäftigung rückt, im Rahmen des Religionsunterrichtes einzusetzen. Die Entwicklung der Empathiefähigkeit ist mit Abschluss der Unterrichtseinheit keinesfalls abgeschlossen. Doch kann auf diese intensive Phase der Übernahme von Perspektiven in vielen Bereichen des Schulalltages zurückgeschaut werden, um den Kindern bewusst zu machen, wie wichtig es ist, das Innere unserer Mitmenschen wahrzunehmen und dementsprechend zu handeln. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Lesetagebuch im Rahmen des Literaturprojekts „Emma und der Blaue Dschinn“ bei den Schülern der Klasse 3a besondere Ergebnisse hervorgebracht hat. Sicherlich ist es nicht möglich gewesen, alle Bereiche der Empathiefähigkeit zu erkunden, doch scheint es äußerst wertvoll, Aspekte, die den Kindern aus ihrem Alltag bekannt sind, intensiv zu behandeln, um aus unbewussten Situationen, bewusstes Handeln hervorzurufen. Dem eingangs beschriebenen Anspruch, die Kinder anzuregen, „Gefühle, Denkweisen und Einstellungen anderer nachzuvollziehen und darüber eigenständig zu reflektieren [...]“132 ist durch vielfältige und individuelle Erfahrungen der Mädchen und Jungen in hohem Maße Rechnung getragen. Die Arbeit mit dem Lesetagebuch hat die Kinder dazu animiert, über eine intensive Lektürearbeit hinaus, ihre persönlichen Erfahrungen und Ängste aufzuarbeiten.133 Ob es um Trauer, Angst, Verzweiflung oder auch Glück und Zufriedenheit gegangen ist, in jedem Fall haben die Schüler erfahren, dass Gefühle jederzeit wandelbar sind und 9 Jahre, über den Satz : „Lesen ist wie Kino im Kopf“ und dessen Zusammenhang mit dem Lesetagebuch. Felix, 8 Jahre, über den Satz „Lesen ist wie Kino im Kopf“ und dessen Zusammenhang mit dem Lesetagebuch. 1. 133„Ich hab dieses Gefühl gehabt, wenn ich mich prügle. Dann krieg ich selbst vor mir Angst.“ Selim, 9 Jahre, über das Gefühl des Bereuens. 130Justine, 131 132Siehe 34 Auswertung wie wichtig es in allen Lebenslagen ist, Hoffnung zu haben; im besten Falle an der Seite eines guten Freundes. 35 Literaturverzeichnis 7. Literaturverzeichnis Abraham, Ulf u. a., Kompetenzorientiert unterrichten. 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Spinner .......................A1 Übersicht über die Unterrichtseinheit ........................................A2 Lernbegleitbogen zur Unterrichtseinheit ...................................A3 Auswertung des Fragebogens, zur Erhebung der Lernausgangslage .................................................................A4 Schaubilder zur Auswertung der Unterrichtseinheit ...........A5-A8 Angebots- und Figurenwahl durch Na. und La. ............................................................................A5 Entwicklung der Empathiefähigkeit bei Na. und La. sowie bei der gesamten Lerngruppe, Niveaustufen .....................A6 Durchschnittliche Angebotswahl der gesamten Lerngruppe .........A7 Durchschnittliche Figurenwahl der gesamten Lerngruppe, Übersicht über die Lieblingsfiguren ...............................................A8 Auszüge aus den Lesetagebüchern von Na. und La. ...................................................................A9, A10 Auswertung des Abschlussfragebogens .................................A10