93 11. Sauerstoff (II) und Oxide Die Beschreibung der Bindungsverhältnisse im Disauerstoff O2 (Doppelbindung) und des diradikalischen Charakters dieses Moleküls erlaubt die MO-Theorie. Das Einfüllen der Elektronen in die MOs erfolgt nach den für den Aufbau der Elektronenhüllen der Atome geltenden Aufbau-Regeln. Die beiden letzten der insgesamt vierzehn Elektronen gehen danach mit gleichem Spin (parallelem Spin) in die zweifach entarteten *-MOs (Diradikalcharakter, Spinmultiplizität M = 2S + 1 [S = s + s = ½ + ½ = 1] M = 2 1 +1 = 3 → Triplettsauerstoff 3O2). Die Bindungsordnung errechnet sich gemäß ½ (Zahl der bindenden – Zahl der antibindenden Elektronen) zu 2. MO-Schema O2 AO(O) MO(O2) *p Energie *p 2p x z *p z p b p AO(O) Diradikalischer Charakter y 2p b b p x * 2s 2s y -Molekülorbitale Knotenfläche in der Kernverbindungsachse 2s b 2s * 1s 1s -Molekülorbitale rotationssymmetrisch um Kernverbindungsachse 1s b 1s Bindungsordnung (BO) 1 (10-6) = 2 2 Beim Singulett-Sauerstoff 1O2 handelt es sich um kurzlebige, energiereiche Zustände des O2Moleküls, bei denen die beiden *-Elektronen antiparallelen Spin besitzen. 94 Elektronenanordnungen und Energieniveaus von Singulett- und Triplett-Sauerstoff: * 2. angeregter Zustand (Lebensdauer < 10-9 s) Singulett-Sauerstoff 1O2 155 kJ/mol * 1. angeregter Zustand (Lebensdauer < 10-4 s) 92 kJ/mol * Grundzustand Triplett-Sauerstoff 3O2 Singulett-Sauerstoff ist diamagnetisch. Er ist reaktionsfähiger als Triplett-Sauerstoff, ein wirkungsvolles Oxidationsmittel und er wird besonders in der organischen Chemie für selektive Oxidationen benutzt. Er kann photochemisch oder chemisch erzeugt werden. Chemisch entsteht er z. B. durch Abspaltung von O2 aus Verbindungen, die Peroxogruppen enthalten. Versuch: Umsetzung von H2O2 mit ClO+ ClOH O O H - Cl O O H schnell - OH 1 O2 - HCl Die freiwerdende Energie bei der Umwandlung von 1O2 in 3O2 wird als Lichtenergie abgegeben. Man beobachtet ein rotes Leuchten. Aus zwei 1O2-Molekülen entstehen durch Elektronenaustausch ohne Spinumkehr zwei 3O2-Moleküle. O2 (↑↓) + 1 O2 (↑↓) 1 3 O2 (↑↑) + O2 (↓↓) 3 H = -184 kJ/mol Dabei wird eine Lichtquant mit der Wellenlänge = 633 (orangerot) abgestrahlt. 95 Der grüne Blattfarbstoff Chlorophyll liefert bei der Photosynthese Sauerstoff im elektronischen Grundzustand, Triplettsauerstoff. Zugleich wirkt das Chlorophyll als Photosensibilisator, der einen Übergang vom Triplettzustand in den ersten angeregten Singulettzustand bewirkt. Dieser Singulettsauerstoff aber vermag Chlorophyll oxidativ zu zerstören. Die Zellen der Pflanzen enthalten daher auch das gelbrote -Carotin, das als Quencher den gebildeten Singulettsauerstoff permanent wieder deaktiviert. Im Herbst stellen die grünen Pflanzen jedoch ihre -Carotin-Synthese ein, so dass nun das Blattgrün oxidativ zerstört wird. Die sonst vom Chlorophyll überdeckten anderen Blattpigmente wie Carotinoide und Xanthophylle treten nun zu Tage und bewirken die prächtige Färbung des herbstlichen Laubes. Das MO-Schema auf S. 93 zeigt, dass man Elektronen entfernen oder hinzufügen kann. Man kommt so zu den folgenden Teilchen. O2+ O2 O2O22- Bezeichnung Bindungsordnung O-O-Abstand [pm] Beispiele Dioxigenyl Dioxigen Hyperoxid Peroxid 2,5 2,0 1,5 1,0 112 121 133 149 O2[PtF6] RbO2 Na2O2, H2O2 Fügt man mehr als drei Elektronen ein, so kommt es zum Bruch der O-O-Bindung; man erhält Oxide mit dem Ion O2- (z. B. Li2O). Wasserstoffperoxid (H2O2) Vorkommen H2O2 wird in Oberflächenwasser, Grundwasser oder in der Atmosphäre unter Einwirkung von Licht und/oder katalytisch wirkenden Substanzen wie Mineralien oder Metallen aus Sauerstoff über radikalische Reaktionsmechanismen gebildet. Die natürliche Konzentration von H2O2 in Meerwasser liegt zwischen 0,5 und 14µg/l, in Süßwasser zwischen 1-30 µg/l. In der Luft variieren die Werte in einem Bereich von 0,1-1 ppb. Alle aerob lebenden Zellen, von photosynthetisierenden Pflanzen zu sauerstoffatmenden Lebewesen enthalten H2O2, das kontinuierlich im Stoffwechselprozess aus Sauerstoff gebildet wird. Da es in höheren Konzentrationen aber als Zellgift wirkt, hat die Natur Schutzmechanismen in Form von H2O2-zersetzenden Enzymen (Katalasen) entwickelt, die eine Spaltung in Wasser und Sauerstoff bewirken. Die menschliche Atemluft enthält 300-1000 µg/H2O2/m3. Auch organische Peroxide kommen in der Natur vor. Beispiele sind Ascaridol, Quinghaosu und das Prostagladinperoxid (s. Abb.). Als Kuriosität sei noch angemerkt, dass der Bombardierkäfer in einer Art Blase im Hinterleib H2O2 in einer Konzentration von bis zu 28,5 % erzeugen kann, um damit seine Feinde abzuwehren. 96 1) Natürlich vorkommende organische Peroxide O 2) Bombardierkäfer COOH O OOH Prostaglandinperoxid H3C H3C O O O CH3 O O Quinghaosu O O CH3 H3C CH3 Ascaridol H2O2 ist eine sirupöse, fast farblose, in dicker Schicht bläuliche Flüssigkeit (Sdp. 150°C, Smp –0,4°C). Im Handel kommt eine 30%-ige Lösung (Perhydrol). H2O2 hat die Konstitutionsformel H O O H. Die O–O-Bindung ist schwach. H2O2 ist daher eine metastabile Verbindung. Es zeigt ein starkes Bestreben, unter großer Wärmeentwicklung in Wasser und Sauerstoff zu zerfallen. 2H2O2 2H2O + O2 H = - 196,2 kJ/mol Bei Zimmertemperatur ist die Zerfallgeschwindigkeit allerdings unmessbar klein, so dass H2O2 sowohl in reinem wie in gelöstem Zustande praktisch beständig (metastabil) ist. Durch Katalysatoren (Schwermetallionen, Fe3+, Cu2+, MnO2; Pt, alkalisch reagierende Stoffe) wird die Zersetzungsgeschwindigkeit des Wasserstoffperoxids stark erhöht. Da es bei Lagerung, Transport und Handhabung von H2O2 zu Kontamination mit Zersetzungskatalysatoren kommen kann, werden geringe Mengen (ca. 100-1000 ppm) an Stabilisatoren zugesetzt. Stabilisatoren sind z. B. Chelatbildner (Phosphate), die Metallionen komplexieren und somit die Zersetzungsreaktion hemmen. 97 Struktur des H2O2-Moleküls: Die vier Atome des H2O2-Moleküls bilden eine verdrillte Kette. Durch die Verdrillung wird die Abstoßung der freien Elektronenpaare der Sauerstoffatome verringert. Die noch vorhandene Abstoßung ist die Ursache für die geringe Bindungsenergie der O–O-Bindung. Die charakteristische Eigenschaft des Wasserstoffperoxids ist seine oxidierende Wirkung. Weniger ausgeprägt ist die reduzierende Wirkung, die nur gegenüber ausgesprochenen Oxidationsmitteln auftritt. Versuche: a) als Oxidationsmittel Nachweis durch Iod-Stärke Reaktion (blau) b) als Reduktionsmittel +VII 2MnO4- -I +II + + 5H2O2 + 6H violett 0 2+ Mn farblos + 5O2 + 8H2O Glimmspanprobe Nachweis: Mit Titanylsulfat entsteht unter Gelbfärbung Peroxotitanylsulfat TiO(SO4) + H2O2 + H2SO4 TiO2(HSO4)2 + H2O gelb Darstellung im Labor: H2O2 ist eine schwache Säure, deren Salze die Peroxide, schon durch Wasser praktisch vollständig zu Wasserstoffperoxid und Metallhydroxid hydrolysiert werden. BaO2 + H2SO4 Bariumperoxid BaSO4 + H2O2 98 Großtechnische Herstellung nach dem Anthrachinon-Autoxidationsprozess (AO-Verfahren): Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O2) sind die beiden Ausgangsstoffe bei der großtechnischen Herstellung von H2O2 nach dem AO-Verfahren. Als O2-Quelle verwendet man Luft. H2 fällt als Nebenprodukt bei verschiedenen chemischen Prozessen oder bei der Erdölraffination an bzw. wird gezielt vor Ort aus Erdgas in einer Spaltgasanlage erzeugt. Das Verfahren geht aus von alkylierten Hydrochinonen, die durch Sauerstoff zu den entsprechenden Chinonen oxidiert werden. Dabei wird quantitativ Wasserstoffperoxid gebildet. Das Chinon kann mit Wasserstoff und einem Katlaysator (z. B. Palladiummohr) wieder in das Edukt überführt werden. Neben dem eigentlichen Reaktionsträger braucht man ein geeignetes Lösungsmittelsystem, um die Reaktanten homogen in Lösung zu halten. Herstellung von Wasserstoffperoxid OH O R R + O2; - H2O2 + H2 (Pd) OH 2-Alkyl-anthrahydrochinon O 2-Alkyl-anthrachinon 99 Verwendung: Ein Großteil des H2O2 wird für die Herstellung von Perboraten und Persalzen und für organischchemische Synthesen eingesetzt. Fast 70 % finden wegen der Oxidationswirkung Verwendung in den Bereichen Bleichen und Umwelt. Das stärkste Verbrauchswachstum gab es in den letzten 20 Jahren in der Papier- und Zellstoffindustrie, wo chlorhaltige Bleichchemikalien (Chlor, Chlordioxid) sukzessive durch H2O2 ersetzt werden. Im Hinblick auf den Umweltschutz ist H2O2 ein ideales Oxidationsmittel, da es keine belastenden Nebenprodukte bildet. Überschüssiges H2O2 zerfällt schnell in Wasser und Sauerstoff.