agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Inhaltsverzeichnis Editorial Solidarität mit all jenen, die Pflege benötigen Dr. Therese Stutz Steiger............................................................................................3 Schwerpunkt: Die Finanzierung der Pflege Eine Frage des politischen Willens Kurt Seifert..................................................................................................................4 Bei den Pflegekosten zeigt eine Gesellschaft ihre soziale Verantwortung Elsbeth Wandeler........................................................................................................7 Perspektiven und Möglichkeiten der Pflegefinanzierung Dr. Ralph Lewin.........................................................................................................11 Assistenzmodell – Zukunftsmodell für alle Dominique Wunderle.................................................................................................14 Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau Ursula Schaffner.......................................................................................................20 5. IVG-Revision: Offenbar sind alle damit einverstanden, aber… Claude Bauer............................................................................................................26 Italienisches Gesetz gegen Gentests an Embryonen Le Tribun / Monique Rognon.....................................................................................28 Kurznachrichten Ursula Schaffner.......................................................................................................33 Gleichstellung Sehbehinderte Menschen und die Medien Roger Cosandey.......................................................................................................34 Gehörlose und hörbehinderte Menschen und die Medien Stéphane Faustinelli..................................................................................................36 Gebärdensprache an der Matur Ilana Cicurel..............................................................................................................38 1 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Kurzmeldungen Benjamin Adler..........................................................................................................40 Arbeit „Arbeit für Behinderte“ - politische Einleitung an der Delegiertenversammlung vom 24. April 2004 Claude Bauer............................................................................................................41 Kurznachrichten Ursula Schaffner.......................................................................................................44 Bildung und Kultur Kennst du dein Potential? Kompetenzen-Bilanz-Kurse für Menschen mit einer Behinderung Theres Giancotti........................................................................................................45 Behindertenszene Die Selbsthilfe hat Tradition – und Zukunft! Richi Weissen...........................................................................................................48 Online-Immobilienmarkt für rollstuhlgängige Wohnungen...............................................52 Kurznachrichten Benjamin Adler..........................................................................................................53 Medien Auf der Spur kantonaler Unterschiede in der Invalidenversicherung Gelesen von: Bettina Gruber.....................................................................................54 2 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Editorial Solidarität mit all jenen, die Pflege benötigen Krankheit, Alter, Behinderung. All das sind Gründe, wieso ein Mensch nicht (mehr) alles selber machen kann. Dann ist er auf Pflege angewiesen, und diese kostet, zumindest in den meisten Fällen, Geld, oft sogar sehr viel Geld. Glücklich ist, wer in einer solchen Situation auf die Solidarität der Gesellschaft zählen kann. Das heisst, weder auf Almosen angewiesen ist noch an den Rand des finanziellen Ruins gedrängt wird, sondern auf eine Versicherung zurückgreifen kann, die aus dem Risiko des Einzelnen ein gemeinschaftlich getragenes macht. Selbstverständlich sind solche Versicherungslösungen heute leider nicht mehr - der härter gewordene Verteilungskampf hinterlässt auch hier seine deutlichen Spuren. Jüngstes Beispiel dafür ist die Diskussion darüber, wie innerhalb des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) die Finanzierung der Pflege geregelt werden soll. Konkret geht es um die Frage, welchen Anteil der Kosten die Krankenkassen, wie viel die Versicherten selber übernehmen müssen. Die Versicherer streben eine Lösung an, die ungefähr die Hälfte der Kosten den Pflegebedürftigen überbürdet. Die Verbände der Leistungserbringer setzen dem – unter Berufung auf die im KVG eigentlich verankerte, in der Praxis jedoch nie vollzogene Bestimmung, wonach die Versicherungen die ganzen Kosten zu übernehmen haben – ein Modell entgegen, das eine weit sozialverträglichere Lösung des Problems vorsieht. Die Frage nach Solidarität bei den Pflegekosten stellt sich nicht nur beim KVG, sondern auch bei der IV (und teilweise der AHV). Die 4. IVG-Revision hat unsere Forderung nach Wahlfreiheit beim Wohnen nur zur Hälfte erfüllt: Weil das Parlament statt der Versicherungslösung den Weg über die Ergänzungsleistungen gewählt hat, tragen zumindest diejenigen, die viel Assistenz benötigen, die finanziellen Konsequenzen ihrer Behinderung alleine. Bleibt zu hoffen, dass sich dies, nach erfolgreich durchgeführten Pilotprojekten, in einigen Jahren ändert und der Gesetzgeber das während den Verhandlungen zur 4. Revision abgegebene Versprechen einlöst. Damit bin ich bei der Utopie oder vielmehr dem aus meiner Sicht anzustrebenden Zustand angelangt: Unabhängig von der Ursache sollten die Kosten der Pflege nicht denjenigen aufgebürdet werden, die das Pech haben, solche zu benötigen. Noch etwas konkreter: Das Assistenzmodell, das wir hoffentlich in ein paar Jahren bei der IV haben werden, sollte ausgedehnt werden auf alle, die Pflege benötigen, zumindest soweit diese nicht im engeren Sinn medizinisch ist. Letztere könnte weiterhin eine Leistung der obligatorischen Grundversicherung des KVG bleiben. Die verschiedenen Aspekte des Themas Pflegefinanzierung zu beleuchten, hat sich die vorliegende Ausgabe unserer Zeitschrift zur Aufgabe gemacht – und natürlich, der Utopie auf die Sprünge zu helfen. Dr. Therese Stutz Steiger Präsidentin AGILE 3 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Schwerpunkt: Die Finanzierung der Pflege Eine Frage des politischen Willens Von Kurt Seifert1 Das Credo des Sozialministers Pascal Couchepin, wie es kürzlich in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zu lesen war, lautet: Der moderne Staat hat seine Legitimität vor allem daraus gewonnen, dass er zum Sozialstaat wurde. Doch inzwischen sind wir ins Stadium der „sozialen Überbetreuung“ eingetreten, und damit wird die Entwicklung des Einzelnen behindert. Man muss endlich auf die Illusion verzichten, alle Risiken liessen sich durch den Sozialstaat auffangen.2 Couchepin vermittelt ein patriarchal geprägtes Bild des Staates und tut so, als seien die kollektiven Systeme sozialer Sicherheit eine huldvolle Gabe der Herrschenden an das Volk. Solche Geschenke könne man sich heute eben nicht mehr leisten. Der Bundesrat verkennt, dass soziale Errungenschaften das Ergebnis von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind: Ohne die Solidarität, das Zusammenstehen jener, die als Einzelne kaum Einfluss ausüben können, wäre es nie zu verbindlichen gesetzlichen Regelungen im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Behinderung und Alter gekommen. Eine kollektive Absicherung von Risiken, die alle – vor allem aber die gesellschaftlich Schwachen – treffen können, ist in keinem Fall «vom Himmel gefallen», sondern stand stets am Ende mühsamer, manchmal aussichtslos erscheinender Debatten, Kontroversen und Aktionen. AHV und IV: Ein langer Weg Beispielhaft dafür ist die Geschichte der AHV. Bereits 1886 – vor bald 120 Jahren! – hatte der „Grütliverein“, ein Vorläufer der Sozialdemokratischen Partei, Grundsätze für eine Alters- und Invaliditätsversicherung formuliert. Anlässlich der gesetzlichen Verankerung der Kranken- und Unfallversicherung wurde vorgeschlagen, auch die Alters- und Hinterlassenenversicherung in der Bundesverfassung festzuschreiben. Der Bundesrat lehnte dies 1889 ab: Die Einführung einer Versicherung gegen Krankheit und Unfall stelle eine so grosse finanzielle Belastung dar, dass an weitere Vorhaben gar nicht zu denken sei. Eine der Forderungen des Landesstreiks der Gewerkschaften im November 1918 bestand darin, nun endlich eine gesetzliche Alters- und Invalidenversicherung zu schaffen. Es dauerte jedoch noch sieben Jahre, bis die AHV in der Verfassung verankert werden konnte. Ein erstes AHV-Gesetz wurde in der Krisenzeit anfangs der dreissiger Jahre vom männlichen Stimmvolk massiv abgelehnt. Die Kritik am Gesetz kam vor allem von rechts. Erst angesichts der Bedrohung durch den Faschismus rundum in Europa kam es Ende der dreissiger Jahre zu einer Verständigung zwischen Arbeiterschaft und 1 2 Kurt Seifert ist Leiter Sozialpolitische Fragen bei Pro Senectute Schweiz. Pascal Couchepin: Dem Staat eine neue Legitimität geben, in: NZZ, 23. Februar 2004. 4 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Teilen des Bürgertums. Diese Allianz machte einen nationalen Interessenausgleich und damit auch die AHV möglich. Bis die IV Wirklichkeit wurde, dauerte es, vom Landesstreik an gerechnet, sogar 41 Jahre. Zauberwort „Selbstverantwortung“ Die „goldenen Jahre“ des Wirtschaftswachstums schufen die Voraussetzungen für den stetigen Ausbau des schweizerischen Sozialstaats. Die Grenzen dieses Erfolgsmodells wurden in den neunziger Jahren deutlich. Es zeigte sich, dass gerade eine so stark mit der Weltwirtschaft verflochtene Gesellschaft wie die schweizerische von den Folgen der Globalisierung nicht verschont bleibt. Viele Menschen erlebten in diesen Jahren das „Ende der Gemütlichkeit“ (so der Titel eines Buches der Soziologinnen Claudia Honegger und Marianne Rychner aus dem Jahr 1998 über „strukturelles Unglück“ und „mentales Leid“ in der Schweiz). Sie wurden mit Veränderungen konfrontiert, die sie zuvor kaum für möglich gehalten hätten: Verlust der gewohnten Berufstätigkeit, Angst um den eigenen Arbeitsplatz, Austrocknung der Nischen, in denen so genannt Leistungsschwache früher noch einen Platz gefunden hatten, und manches andere mehr. Eine Antwort darauf ist der Versuch, sich auf das persönliche Durchkommen bzw. das der eigenen Familie zu konzentrieren. Die neoliberale Rede von der „Selbstverantwortung“ gibt dieser Haltung eine ideologische Begründung – gemass dem Motto: Wenn jeder zu sich selber schaut, ist allen gedient. Wer so denkt, blendet aus, dass Menschen nicht immer aus eigener Kraft leben können. Es gibt in jedem Leben Zeiten der Schwäche, in denen Menschen auf andere Menschen angewiesen sind. Den Schutzraum dafür schaffen Kollektive: von der Familie bis hin zum Staat. (Inzwischen zeigt sich, doch dies nur am Rande, dass der Nationalstaat für manche Aufgaben zu klein geworden ist und transnationale Institutionen notwendig werden.) Kollektives Risiko … Die Familie alleine kann diese Aufgabe nicht leisten. Sie ist auf den Verbund mit den „grossen Kreisen“ (Zivilgesellschaft und Staat) angewiesen – zum Beispiel bei der Pflege alter Menschen. Pflegebedürftigkeit im Alter ist ein kollektives Risiko, denn sie kann alle treffen! Selbst ein gesund geführtes und sinnerfülltes Leben bietet keinen hinreichenden Schutz dagegen, eines Tages beispielsweise dement zu werden und auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein. Je nach wirtschaftlicher und sozialer Lage wirkt sich Pflegebedürftigkeit allerdings sehr unterschiedlich aus. Wer es sich leisten kann, wird so lange wie möglich zu Hause versorgt – durch Angehörige, bei Männern ist dies meistens die Ehefrau oder eine Tochter, sowie durch professionell tätige Pflegekräfte. Das geht selbstverständlich ins Geld. Der „Beobachter“ hat vor einiger Zeit im Detail ausgerechnet, was Pflegebedürftigkeit für Menschen mit einem grösseren oder kleineren Vermögen bedeuten kann.3 Es droht wohl nicht gerade Verarmung, aber ein 3 „Beobachter“, Nr. 3, 6. Februar 2004. 5 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 während eines ganzen Lebens erspartes Vermögen kann in solchen Fällen schnell einmal dahin schmelzen. Wer kein Vermögen (oder nur ein ganz kleines) besitzt, hat sowieso keine Wahl zwischen verschiedenen Pflegeformen, sondern kommt direkt ins Heim. … und sozialer Ausgleich Kollektive Systeme können – selbstverständlich nur in einem gewissen Rahmen – einen Ausgleich zwischen verschiedenen Lebenslagen schaffen, indem sie einige individuelle Risikofolgen, beispielsweise die sich daraus ergebenden Kosten, minimieren. Die heutige Kostenstruktur der Langzeitpflege zeigt, dass die Ausgleichsmechanismen bislang wenig entwickelt sind: Rund die Hälfte der Kosten wird von den Betroffenen selbst getragen. Von „sozialer Überversorgung“, wie Pascal Couchepin meint, kann im Bereich der Alterspflege wohl kaum die Rede sein. Die Frage ist, ob der politische Wille vorhanden ist, die Finanzierung der Alterspflege neu zu regeln. Dazu bedarf es der Debatte und gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Im Zeitalter der Steuerpakete und Sparprogramme scheint es schwierig zu sein, ein solches heisses Eisen überhaupt anzupacken. Doch die Zeiten, als es um die Einführung der AHV ging, waren auch nicht gerade einfach. Zudem ist unsere Gesellschaft in den vergangenen zwei, drei Generationen wesentlich wohlhabender geworden und könnte es sich durchaus leisten, allen Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, diese Unterstützung auch zu ermöglichen. 6 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Bei den Pflegekosten zeigt eine Gesellschaft ihre soziale Verantwortung Von Elsbeth Wandeler4 Ausgangslage Wer erinnert sich nicht an die Abstimmungsdebatten von 1994, als es darum ging, die obligatorische Krankenversicherung Herrn und Frau Schweizer schmackhaft zu machen. Die Befürworter wurden nicht müde aufzuzeigen, dass nun auch die Pflege und die Spitexleistungen in der obligatorischen Grundversicherung enthalten wären. Das Schreckgespenst einer drohenden Aussteuerung als Folge von Pflegebedürftigkeit würde der Vergangenheit angehören und der Zugang zur ambulanten Pflege für alle finanzierbar. Die Trümpfe stachen, und das Krankenversicherungsgesetz fand an der Urne eine Mehrheit. Heute, 10 Jahre später, weht ein anderer Wind auf dem politischen Parkett. In der Zwischenzeit sind die Gesundheitskosten massiv gestiegen. Dieser Kostensteigerung gilt es Einhalt zu leisten. Ausgeblendet wird dabei die Tatsache, dass die primäre Ursache der Kostenexplosion in der Entwicklung der Spitzenmedizin, der Zunahme der Spezialärzte und den übersetzten Medikamentenpreisen zu suchen ist. Dort aber wirkungsvoll anzusetzen, fällt den Politikern schwer. Allzu gross sind die Eigeninteressen, denn die happigen Gewinne, die sich in diesen Sektoren verdienen lassen, fliessen sehr oft nicht zuletzt in die eigene Tasche. Und so sparen die Verantwortlichen vorzugsweise in jenem Bereich, der nur über eine schwache Lobby verfügt und dessen volkswirtschaftliche Bedeutung ihrer Meinung nach lediglich marginal ist. Doch genau diese Schlussfolgerung gilt es ernsthaft zu hinterfragen. Vom ökonomischen Wert der Pflege Prima Vista ist klar, verglichen mit der Pharmaindustrie oder der Industrie für medizinische Technik ist die Pflegeleistung kein Wirtschaftsfaktor. Pflege ist Handarbeit, d.h. Menschenarbeit und produziert gemäss der landläufigen Meinung primär Kosten, Personalkosten. Wer Pflege aber einfach auf den Kostenfaktor reduziert, blendet die wichtigste Seite aus: ihren Nutzen. Wenn Pflege nämlich nicht oder reduziert stattfindet, entstehen neue Kosten. Drei Beispiele sollen dies illustrieren: In einer in der amerikanischen Ärztezeitschrift veröffentlichten Studie (JAMA 2002; 288: 1987–93) zeigte Linda Aiken, dass parallel zur Anzahl Patientinnen oder Patienten pro Pflegefachperson das Risiko von Komplikationen und die Sterblichkeit der Patienten steigen. Eine bessere Ausbildung des Personals senkt hingegen diese Risiken (Krankenpflege 5/2003: 10-13). Der Schluss liegt nahe, dass Komplikationen 4 Elsbeth Wandeler ist dipl. Pflegefachfrau und Gesundheitsschwester und leitet die Abteilung Berufspolitik beim Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer. 7 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 zu mehr Kosten im Gesundheitswesen führen. Allerdings profitieren einzelne Branchen der Wirtschaft indirekt von diesem zusätzlichen Bedarf an Medikamenten und medizinisch-technischen Einrichtungen. Studien belegen, dass durch die Arbeit der pflegenden Angehörigen in der Schweiz ein volkswirtschaftlicher Gewinn von jährlich 12 Milliarden Franken erwirtschaftet wird. Es ist die professionelle Pflege, die diesen pflegenden Angehörigen die notwendige Unterstützung und Begleitung bietet, die es ihnen ermöglicht, diese Leistung auch in Zukunft zu erbringen. Es ist die Pflege, die einen Patienten und seine Angehörigen nach einer Querschnittslähmung, einer Bein- oder Armamputation anleitet, berät, begleitet und unterstützt, damit dieser trotz seiner Behinderung seinen Alltag selbständig gestalten kann und er im Arbeitsprozess integriert bleiben kann. Diese Beispiele zeigen, dass die Pflege sehr wohl einen ökonomischen Wert aufweist. Es ist also falsch, diese lediglich als Kostenfaktor für das Gesundheitssystem zu sehen. Diese Tatsache gilt es zu respektieren, bevor man sich mit der Frage der Finanzierung dieser Leistungen auseinander setzt. Damit wird aber auch deutlich, dass in einer so komplexen Frage keine Schnellschüsse getroffen werden dürfen. Streitpunkt Pflegekosten! Die Problematik der Pflegefinanzierung liegt in der Finanzierung der Langzeitpflege. Die bis heute gültigen Rahmentarife decken die Pflegekosten in Pflegeheimen und der Spitex nicht vollständig ab. Bereits heute bezahlen pflegebedürftige Menschen im Pflegeheim bis zu 50 % an die Pflegekosten. Mit der Verordnung über die Kostenermittlung und Leistungserfassung, die anfangs 2003 in Kraft gesetzt wurde, sind die Krankenversicherer verpflichtet, die vollen Pflegekosten zu übernehmen. Das hat diese auf den Plan gerufen. Sie prognostizieren eine Zunahme der Pflegekosten von bis zu 1,2 Milliarden Franken pro Jahr, was angeblich zu einem Prämienschub von 10% führen würde. Die Krankenversicherer stellen sich nun auf den Standpunkt, sie hätten nur sogenannte medizinisch indizierte Pflegeleistungen, nicht aber altersbedingte Pflege oder Betreuung zu bezahlen. Die Politiker argumentieren, dass mit einer solchen Prämiensteigerung der soziale Ausgleich zwischen der jungen und älteren Bevölkerung auf unzumutbare Weise strapaziert würde. Sie blenden bei dieser Argumentation geflissentlich aus, dass das Kernproblem der sozialen Ausgestaltung der Prämien im System der unsozialen Kopfprämien liegt. Um sich aus dieser für sie ungemütlichen Lage zu befreien, beantragten die Krankenversicherer und Kantone im Rahmen der 2. KVG Revision, die Beiträge an die Pflege seien auf dem heutigen Stand einzufrieren und die ungedeckten Pflegekosten von durchschnittlich rund 50 Prozent von den Patienten zu tragen. Dieses Ansinnen hat den Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer SBK, den Spitexverband Schweiz und das Forum für stationäre Alterseinrichtungen auf den Plan gerufen. Sie haben sich mit aller Vehemenz gegen ein solches Vorgehen zur Wehr 8 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 gesetzt, so dass sich das Parlament darauf beschränkte, vom Bundesrat eine separate Botschaft zur Pflegefinanzierung bis Ende 2004 zu verlangen. Die Pflege - wer soll was bezahlen? Wenn aus politischen Überlegungen von einer Vollkostendeckung durch die Krankenversicherung abgewichen wird, so kann bei der Frage, welche Kostenträger wann zum Tragen kommen und ab wann die Patienten sich an der Finanzierung ihrer Pflege beteiligen müssen, nicht von einer Abgrenzung zwischen Grund- und Behandlungspflege, wie sie in der Krankenpflege-Leistungsverordnung KLV Art. 7 angelegt ist, ausgegangen werden. Eben so wenig taugt die Unterscheidung zwischen medizinisch indizierter Pflege und altersbedingter Pflege, denn jede Pflegeleistung basiert auf einer medizinischen Indikation, und Alter ist keine Krankheit. Alter ist ein Lebensabschnitt, den sehr viele Menschen heute noch bei guter Gesundheit erleben dürfen. Ebenso muss bei Menschen, die als Folge eines Geburtsgebrechens oder einer Behinderung auf Pflege angewiesen sind, die Finanzierung der Pflege sichergestellt werden. Um der Situation pflegebedürftiger Menschen gerecht zu werden, braucht es klare, auf Konsens basierende Definitionen von Akut- und Langzeitpflege sowie der Übergangspflege, die zu keiner Diskriminierung führen. Alternatives Modell Die Verbände vertreten grundsätzlich die Haltung, dass der Vollzug des KVG die einfachste und patientenfreundlichste Form der Pflegefinanzierung ist. Sie sind jedoch zu einer konstruktiven Diskussion bereit und haben deshalb zu Handen des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) ein alternatives Modell zur Pflegefinanzierung erarbeitet, das von folgenden Rahmenbedingungen ausgeht: 1. Die Finanzierung der Pflege basiert auf einem Vollkostenmodell. 2. Der Anteil der Krankenversicherer an den Vollkosten der Langzeitpflege ist prozentual zu fixieren und zwar oberhalb des heutigen Kostendeckungsgrades von ca. 50%. Die Kostenbeteiligung der Patientinnen und Patienten beträgt höchstens 20% und muss sozial abgefedert sein, d.h. eine Finanzierungslücke ist aus Mitteln der öffentlichen Hand zu decken. 3. Alle übrigen Arten der Pflege (Akutpflege, insbesondere auch nach einer Spitalentlassung, rehabilitative Pflege, Übergangspflege, Langzeitpflege für Personen, welche kein Anrecht auf Ergänzungsleistungen haben wie zum Beispiel onkologische Patienten oder psychiatrisch Kranke etc.) müssen uneingeschränkt durch die Krankenversicherer im Rahmen der Grundversicherung finanziert werden. 4. Die übrigen Sozialversicherungen und insbesondere die Ergänzungsleistungen müssen so angepasst werden, dass der Beitrag an die Langzeitpflege für wirtschaftlich schwächere Pflegebedürftige keine unzumutbare Belastung darstellt. 5. Eine Neuregelung der Finanzierung der Langzeitpflege im unter Punkt 2 erwähnten Sinn muss gleichzeitig mit den Massnahmen der sozialen Abfederung im Sinne von Punkt 4 in Kraft gesetzt werden. 9 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Schlussfolgerungen Die Grundsätze für eine zukünftige Lösung sind klar: Die Finanzierung der Pflege muss sichergestellt werden, unabhängig davon, wo Pflege erbracht wird. Bei der Finanzierung darf nicht zwischen Behandlungs- oder Grundpflege unterschieden werden, Pflege ist ein Ganzes. Die Finanzierung darf keine falschen Anreize in der Versorgung der Patienten setzen. Pflegebedürftigkeit darf kein soziales Risiko werden. Nur eine Lösung, die von diesen Grundsätzen ausgeht, wird einer sozialen Gesundheitsversorgung gerecht und garantiert die Pflege als Grundleistung. Welche Kostenträger wann zum Einsatz kommen, wird die Politik entscheiden. Zu hoffen bleibt, dass nicht einmal mehr die pflegebedürftigen, alten und behinderten Menschen den Preis für den wirtschaftlichen Fortschritt der Schweiz zu bezahlen haben und sich die Schere zwischen arm und reich, gesund und krank, weiter öffnet. 10 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Perspektiven und Möglichkeiten der Pflegefinanzierung Von Dr. Ralph Lewin5 Heutige Finanzierung der Pflegekosten6 Wer soll die Kosten der Pflegeheime und der spitalexternen Pflege (Spitex) bezahlen? Diese Frage wird heute intensiv diskutiert und an ihr scheiden sich die politischen Geister. Die Pflegebedürftigen finanzieren die von ihnen beanspruchten Pflegeleistungen über Beiträge der Sozialversicherungen (v.a. Krankenversicherung) eigene Mittel und bedarfsabhängige Beiträge der öffentlichen Hand (Ergänzungsleistungen und in einigen Kantonen Sozialhilfe). Bereits im Jahr 2000 beliefen sich die gesamten Kosten im Bereich Spitex und Pflegeheime (inkl. Hotellerie, Administration) auf über sechs Milliarden Franken. Das Pflegerisiko bei Betagten wird heute als Lebensrisiko anerkannt, dessen Abdeckung die finanziellen Kapazitäten der betroffenen Personen häufig übersteigt und eine kollektive Lösung erfordert. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber bei der Einführung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) festgelegt, dass die Krankenversicherung im Pflegeheim grundsätzlich die gleichen Kosten zu übernehmen hat wie bei ambulanter Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause. Dabei wird die Leistungspflicht auf Ärztinnen und Ärzte selber sowie auf Personen beschränkt, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes/einer Ärztin Leistungen erbringen. Die Idee einer eigentlichen Pflegeversicherung wurde indessen verworfen. Man ging bei Einführung des KVG davon aus, dass die Kosten der Pflege, welche von den Krankenversicherern zu übernehmen sind, bei etwa 800 Millionen Franken liegen würden. Fakt ist, dass dieser Betrag bei weitem überschritten wurde und schon im Jahr 2000 bei geschätzten 1,3 Milliarden Franken lag. Die bisherige Rechtslage führt dazu, dass bei der Übernahme der Kosten für die Pflegeleistungen eine Finanzierungslücke besteht. Für diese ungedeckten Kosten müssen die Betroffenen mit dem Renteneinkommen und dem Verzehr des Vermögens selbst aufkommen. Gemäss geltendem KVG müssen diejenigen Pflegekosten, welche durch Ärzte und Ärztinnen bzw. auf ihre Anordnung oder in ihrem Auftrag erbracht werden und auf der Kostenrechnung der Pflegeheime transparent ausgewiesen sind, durch die Krankenversicherung abgedeckt werden. Schon nur eine volle Finanzierung dieser Pflegekosten würde jedoch die obligatorische Grundversicherung und damit das Kopfprämiensystem mit jährlich über einer Milliarde Franken zusätzlich belasten und könnte damit zu einem Prämienschub von gegen 10 Prozent führen. Zusammen mit dem zunehmenden Bedarf aufgrund des steigenden Altersdurchschnitts der Be5 Regierungsrat, Vorsteher des Wirtschafts- und Sozialdepartements Basel-Stadt, Verwaltungsratspräsident der Öffentlichen Krankenkasse Basel (ÖKK) 6 Unter Pflegekosten werden im Folgenden die krankheitsbedingten ambulanten (Spitex) und stationären (Pflegeheime) Pflegekosten bei betagten Menschen verstanden. 11 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 völkerung würde die zu erwartende Kostensteigerung durch den medizintechnischen Fortschritt den im KVG verankerten Gedanken der Solidarität zwischen den Generationen über Gebühr belasten und wäre aufgrund der Kopfprämien unsozial. Aus diesen Gründen will der Bundesrat die Pflegetarife auf dem Niveau von 2003 einfrieren und ein neues System für die Pflegefinanzierung ausarbeiten. Abgrenzungsprobleme und Anreize In der Umsetzung der heutigen KVG-Bestimmungen zur Pflegefinanzierung hat sich auch gezeigt, dass eine befriedigende analytische Ausscheidung der Pflegekosten nicht oder nur sehr bedingt möglich ist. Insbesondere ist die Abgrenzung zwischen der medizinischen Behandlungs- und Grundpflege im Verhältnis zu den sozialen Betreuungsleistungen unklar und auch fast nicht zu machen. Die vom Bund erlassene Verordnung über die Kostenermittlung und Leistungserfassung (VKL) vermag dieses Problem auch nicht ausreichend zu lösen. Die Abgrenzungsprobleme können zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten und damit zu einer Rechtsunsicherheit führen. Nach meiner Meinung sollte das Gewicht nicht auf den Versuch einer möglichst genauen Abgrenzung gelegt werden. Ich sehe mehr Erfolg in der Bestimmung eines festen Schlüssels, nach welchem der durch die Allgemeinheit zu erbringende Beitrag an die Pflegekosten normativ festgelegt wird. Dabei darf die Anreizproblematik nicht vergessen werden: Die ambulanten Pflegeleistungen (Spitex) sollen aus Sicht der Pflegebedürftigen nicht teurer erscheinen als der Aufenthalt im Pflegeheim. Denn dies würde dazu führen, dass eine zusätzliche Nachfrage nach Pflegeheimplätzen entstehen würde. Dass die Erhöhung des kollektiven Finanzierungsanteils der Pflegeheimleistungen auch zu einer Reduktion der privaten Betreuungs- und Pflegeleistungen (Verwandte, Bekannte) für die Betagten führt, muss ebenfalls verhindert werden. Beides würde die Gesamtkosten über das notwendige Ausmass erhöhen. Daher sollten Spitex-Leistungen mindestens im gleichen Ausmass wie die stationären Pflegeleistungen aus allgemeinen Mitteln finanziert werden. Künftige Finanzierung der Pflegeleistungen Heute werden die Pflegebedürftigen finanziell teilweise stark belastet. Finanzierungsprobleme bestehen insbesondere bei schwer pflegebedürftigen Menschen in Heimen, bei Personen, die kein Anrecht auf Ergänzungsleistungen zu AHV/IV haben und bei Pflegebedürftigen mit Partnern. Insbesondere bei mehrjährigen Pflegeheimaufenthalten müssen die Betroffenen einen erheblichen Teil ihrer Ersparnisse für die Bezahlung der Pflegeleistungen aufbrauchen. Dies wird in zunehmendem Mass als ungerecht empfunden. Durch die kollektive Abdeckung eines grösseren Anteils des Risikos der Pflegebedürftigkeit könnte diese Situation entschärft werden, was unweigerlich zur Frage führt, welche gesellschaftliche Solidarität dafür herangezogen werden soll. Eine weitere Belastung der intergenerativen Solidarität zwischen „alt“ und „jung“ ist in 12 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Anbetracht der bestehenden Aufgaben (Altersvorsorge, Krankenversicherung) und angesichts fehlenden Nachwuchses aufgrund des Geburtenrückgangs für diese Aufgabe nicht geeignet. Vielmehr soll das Pflegerisiko gleichmässiger innerhalb der betroffenen Generation verteilt werden. Weil diese Generation durch den Ausbau der Altersvorsorge finanziell besser gestellt ist, besteht Raum für einen solchen Ausgleich. Aufgrund des Wirtschaftswachstums in der Nachkriegszeit konnten sich hier auch insgesamt grosse Vermögenswerte bilden. Nach meiner Meinung ist die Einführung einer eidgenössischen Erbschafts- und Schenkungssteuer ein sinnvolles Instrument zur Mitfinanzierung des Pflegerisikos. Unter dem Druck des Standortwettbewerbs haben in den vergangenen Jahren viele Kantone diese Steuer (zumindest für die direkten Nachkommen) abgeschafft. Angesichts der knappen Finanzlage der öffentlichen Haushalte ist eine Wiedereinführung auf Bundesebene von verschiedener Seite ins Gespräch gebracht worden. Im Rekordjahr 1999 flossen aus Erbschaften und Schenkungen über 1,5 Milliarden Franken in die Kassen von Kantonen und Gemeinden. Die Verwendung des Aufkommens einer solchen Steuer zur Mitfinanzierung der Pflegekosten würde für einen gerechten Ausgleich zwischen Familien sorgen, die vom Pflegerisiko betroffen sind und denjenigen, die keinen Pflegeheimaufenthalt zu finanzieren hatten. Ich bin überzeugt, dass eine Erbschafts- und Schenkungssteuer mit dieser klaren Zweckbindung auf mehr Akzeptanz stösst, als wenn ihre Erträgnisse für die allgemeine Staatskasse vereinnahmt würden. 13 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Assistenzmodell – Zukunftsmodell für alle Eine umfassende Antwort für Langzeitpflege und -unterstützung Von Dominique Wunderle7 Heute sehen sich ein Kind, ein Heranwachsender, ein junger Erwachsener, ein Erwachsener oder eine ältere Person, die mit einer Behinderung leben müssen, mit einem äusserst komplexen System der Langzeitpflege konfrontiert. Mehrere Sozialversicherungen überschneiden, ergänzen und koordinieren sich untereinander, um die Finanzierung und Organisation der Unterstützung sicherzustellen. Bei den genannten Versicherungen handelt es sich um die Krankenversicherung (KVG), die Invalidenversicherung (IVG) und die Ergänzungsleistungen (EL). Je nach Einkommen, Zivilstand, Wohnort und Alter der betroffenen Person kann die Finanzierung der Langzeitpflege stark variieren. Die folgende Definition ermöglicht es, die Art und Weise dieser Pflege besser einzugrenzen: Bei der Langzeitpflege (Phase 2) geht es um Patientinnen und Patienten, deren Pflegebedürftigkeit länger als 365 Tage dauert, das Rehabilitationspotential ausgeschöpft ist und neben der Krankenversicherung andere Sozialversicherungen ebenfalls Leistungen bezahlen (IV, EL, Hilflosenentschädigung).8 Für alle Personen, auf welche diese Definition zutrifft – unabhängig davon, ob sie unter die IV oder die AHV fallen – , geht es darum, eine befriedigende Antwort hinsichtlich der Langzeitpflege zu finden, ohne dass die Energie mit zahllosen administrativen Eingaben bei den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung verpufft werden muss. Unterschiedliche und gemeinsame Punkte zwischen den Bezügern von Langzeitpflege im IV- resp. im AHV-Alter IVG/AHVG, Hilflosenentschädigung (HE) Gemeinsame Grundlage für die Definition der Hilflosenentschädigung in der IV und der AHV ist der Artikel 9 des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG): „Als hilflos gilt eine Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf.“9 Die Leistungen der beiden Versicherungen unterscheiden sich allerdings, wie untenstehende Tabelle zeigt: 7 Dominique Wunderle ist Koordinatorin bei Cap-Contact. Finanzierung der Pflege – Gemeinsame Standpunkte der Leistungserbringer. Hrsg.: Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK); Spitex Verband Schweiz; Forum stationäre Altersarbeit Schweiz, vertreten durch CURAVIVA – Verband Heime und Institutionen Schweiz und H+ Die Spitäler der Schweiz, Bern/Zürich, 6. April 2004, S. 21f. 9 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000. 8 14 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Hilflosigkeitsgrad Bezüger AHV Bezüger IV zu Hause oder in in einer Institution zu Hause einer sozialmediziniseit Einführung der 4. schen Institution IVG-Revision Leicht nicht vorhanden CHF 211.–/ Monat CHF 422.–/ Monat mittel CHF 528.–/ Monat CHF 528.–/ Monat CHF 1’055.–/ Monat schwer CHF 844.–/ Monat CHF 844.–/ Monat CHF 1’688.–/ Monat Falls die betreffende Person eine Hilflosenentschädigung von der IV bezog, wird der Betrag bei Erreichen des AHV-Alters von der AHV ausgerichtet. Mit der Einführung der 4. IVG-Revision wurde eine starke Unterscheidung zwischen den Bedürfnissen von Personen im IV- und Personen im AHV-Alter, die Langzeitpflege benötigen, vorgenommen. Effektiv entspricht es einer wichtigen Forderung von Personen im IV-Alter, dass anerkannt wird, dass sich ihre Bedürfnisse im Vergleich zu jenen von AHV-Bezügern stark unterscheiden können. Die Tatsache, dass man sich in der Schweiz dazu entschlossen hat, Behinderung als „vorzeitige Alterung“ zu behandeln, hat dazu geführt, dass das IVG sozusagen dem AHVG abgekupfert wurde. Diese Sichtweise wird von anderen Ländern nicht geteilt. So gibt es Modelle, welche die Behinderung eher einer Krankheit gleichstellen und deshalb die Invalidenversicherung an die Krankenkasse koppeln. Aus dem oben beschriebenen Entschluss heraus ergeben sich für Behinderte zwischen null und dem Pensionierungsalter eine Anzahl Schwierigkeiten, darunter auch die Bedürfnisse im Zusammenhang mit Langzeitpflege. Während bei der Aufzählung der im Wesentlichen übereinstimmenden Grundbedürfnisse von Personen im AHV-/IV-Alter Einigkeit herrscht (sich anziehen/ausziehen; aufstehen/sich setzen/zu Bett gehen; essen; Körperpflege; Körperbedürfnisse befriedigen; sich deplazieren), beanspruchen Personen im IV-Alter für sich auch andere, darüber hinausgehende Gebiete wie Freizeitgestaltung, schulische Integration, berufliche Integration sowie die Möglichkeit, als Kind oder Jugendlicher oder als behinderte Mutter weiterhin zu Hause leben zu können. Gegenwärtig ist die von der IV oder der AHV ausbezahlte Hilflosenentschädigung zu niedrig angesetzt, um ambulante Dienste zu Hause abgelten zu können. Obligatorische Krankenversicherung (KVG) Die Grundversicherung sieht eine Kostenübernahme für 60 Stunden pro Quartal vor10 (d.h. ca. eine Stunde Pflege pro Tag) für Personen, die auf Langzeitpflege angewiesen sind. Bei Leistungen, die darüber hinausgehen, überprüft der Krankenversicherer die jeweilige Situation. In der Praxis lässt sich feststellen, dass Krankenversicherer auf eine entsprechende Intervention von Spitex hin die Kosten für maximal 2 Stunden Pflege pro Tag übernehmen, und zwar unabhängig davon, ob man sich im IV- oder im AHV-Alter 10 Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV), Artikel 8, Absatz 3: “Die Bedarfsabklärung erfolgt aufgrund einheitlicher Kriterien. Ihr Ergebnis wird auf einem Formular festgehalten. Dort ist insbesondere der voraussichtliche Zeitbedarf anzugeben. Die Tarifpartner sorgen für die einheitliche Ausgestaltung des Formulars“. 15 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 befindet. Unter dem KVG ist die Zeitlimite für Langzeitpflege rasch einmal erreicht – eine unangenehme Situation für Personen mit einer schweren oder mittleren Hilflosigkeit. Ergänzungsleistungen (EL) Die dritte Sozialversicherung, die im Bereich Langzeitpflege berücksichtigt werden muss, ist die EL-Versicherung. Im Gegensatz zur Hilflosenentschädigung von IV resp. AHV oder der Krankengrundversicherung ist der Bezug von EL-Leistungen abhängig vom Einkommen und Vermögen der IV- oder AHV-Rentenbezüger. Das Parlament hat im Rahmen der 4. IVG-Revision die Beträge für EL in Bezug auf die Vergütung von Krankheits- und Behindertenkosten für Personen im IV-Alter angepasst (geregelt in der sogenannten ELVK). Seit dem 1. Januar 2004 gilt folgende Regelung: „Für zu Hause wohnende Personen mit einem Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der IV oder der Unfallversicherung erhöht sich der Betrag auf 90’000 Franken bei schwerer – resp. 60’000 Franken bei mittelschwerer – Hilflosigkeit, soweit die Kosten für Pflege und Betreuung durch die Hilflosenentschädigung nicht gedeckt sind. Unter gewissen Bedingungen können auch die Kosten für direkt angestelltes Pflegepersonal berücksichtigt werden.“ 11 AHV-RentnerInnen haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Vergütung solcher Kosten. Trotz der mit der 4. IVG-Revision vorgenommenen Korrektur bleibt ein grösseres Problem ungelöst: Zahlreiche Behinderte mit IV-Leistungen können keine Ergänzungsleistungen beziehen. Der Grund kann darin liegen, dass die behinderte Person selber oder ihr erwerbstätiger Ehegatte / ihre erwerbstätige Ehegattin ein zu hohes Einkommen ausweist und folglich kein Anrecht auf EL hat. Das bedeutet, dass Personen, die weiter zu Hause wohnen wollen, sich entweder scheiden lassen oder aber weniger arbeiten müssen, um in den Genuss der EL kommen zu können. Im Januar 2003 bezogen 25'566 Personen zwischen 18 und 65 Jahren eine Hilflosenentschädigung der IV (davon 10'035 mit leichter, 8'914 mit mittlerer und 6'617 mit schwerer Hilflosigkeit). Es wäre nun interessant zu wissen, wieviele der 15'531 Bezüger mit mittlerer oder schwerer Hilflosigkeit Anrecht auf Ergänzungsleistungen haben. In der Praxis stellen wir fest, dass viele dieser Bezüger kein Anrecht auf EL haben und dass die Einführung der ELKV die Probleme im Zusammenhang mit der Langzeitpflege für minderjährige / erwachsene behinderte Personen mit niedriger Hilflosigkeit oder für Personen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung nicht zu lösen vermag. Aktuelle Organisation der Dienstleistungen in der Langzeitpflege – welche Auswirkungen sind zu beobachten? Heute berücksichtigt das traditionelle institutionelle Modell die Autonomie- oder Individualisationsbedürfnisse, welche die grosse Mehrzahl behinderter Menschen ausdrückt, nicht in ausreichendem Mass. Diese Feststellung gilt sowohl für das Modell intra muros (in einer Institution) wie auch für das Modell extra muros (über die Spitex). Das Umfeld der Behinderten übernimmt auf freiwilliger Basis zahlreiche Arbeitsstunden in der Langzeitpflege und -unterstützung. Falls dieses Umfeld nicht besteht, bedeutet dies für die betroffene Person im IV- und AHV-Alter den Umzug in eine 11 Merkblatt 5.01 – Stand am 1. Januar 2004, Ergänzungsleistungen zur AHV und IV. 16 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 sozialmedizinische Einrichtung oder Institution mit entsprechender Struktur. Die Kosten für Langzeitpflege in dieser spezialisierten Struktur werden von mehreren Sozialversicherungen übernommen. In Bezug auf die Spitex werden Behinderte mit drei Problembereichen konfrontiert : die Spitex ist nicht in der Lage, die Unterstützungsbedürfnisse von Personen mit einer mittleren oder schweren Behinderung abzudecken; die Spitex ist nicht in der Lage, die Bedürfnisse nach sozialer und beruflicher Integration abzudecken; die Spitex folgt bei der Organisation der inneren Logik der Dienstleistung, die angeboten wird, und nicht den Vorstellungen der Behinderten. Das ist mit bestimmten Nachteilen verbunden: Die Unterstützungsperson, die beim Duschen hilft, kann nicht auch noch ein Müsli machen. Die Haushalthilfe putzt keine Fenster etc. In Bezug auf das Leben in einer spezialisierten Institution können folgende Probleme auftreten: der Aufenthalt in der Institution erfolgt nicht aus freien Stücken; es kann sein, dass Sie von Ihrer Familie getrennt werden; Sie können Ihre Unterstützungsperson(en) nicht auswählen; das Personal betrachtet Sie nicht als „Herr im Haus“; die Organisation folgt den institutionellen Realitäten und nicht den Vorstellungen der Behinderten. Die Fachstelle Assistenz Schweiz (FAssiS) hat sich in Zusammenarbeit mit weiteren Behindertenorganisationen daran gemacht, ein Modell zu entwickeln und in die Diskussion zu bringen. Es sieht einerseits das Recht und die finanziellen Mittel vor, damit der Lebensort selbst gewählt werden kann, wenn man auf Langzeitpflege und unterstützung von unbestimmter Dauer angewiesen ist. Andererseits soll damit die Anzahl der Versicherungen, welche die Kosten für Langzeitpflege übernehmen, auf eine reduziert werden. Unterstützungsmodell FAssiS - Eine Versicherung für Langezeitpflege und unterstützung12 Dieses Modell basiert auf dem Grundsatz, dass Behinderte autonom leben und ihren Lebensort frei wählen wollen. Die Grundidee ist, dass die behinderte Person, welche zu Hause lebt und auf Langzeitpflege und -unterstützung angewiesen ist, in der Lage sein muss, eine Hilfsperson für jene Arbeiten und Aufgaben anzustellen, welche sie selbst ausführen würde, wenn sie nicht mit einer Behinderung leben müsste. 13 Das Unterstützungsmodell verfolgt folgende Ziele: 12 Siehe dazu auch agile Nr. 1/2004 Dieses Konzept stammt ursprünglich von Personal Assistant Services (PASS) aus den Vereinigten Staaten. 13 17 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Die Finanzierungsmodalitäten der Langzeitpflege und -unterstützung sollen vereinfacht werden. Es soll nur noch eine Sozialversicherung geben, welche Langzeitpflege und -unterstützung für Personen abdeckt, die bei der Bewältigung des Alltags auf die Unterstützung von Dritten angewiesen sind. Der zur Verfügung gestellte Beitrag (Unterstützungsbudget) soll anhand der Anzahl Pflege- und Unterstützungsstunden berechnet werden, welche die betroffene Person braucht, um autonom zu Hause leben zu können. Die Behinderten werden zu Arbeitgebern, welche ihr Privatpersonal anstellen. Die behinderte Person soll an 365 Tagen im Jahr und rund um die Uhr auf Unterstützung zurückgreifen können. Die Hilflosenentschädigung, die sehr stark auf Körperbehinderungen fokussiert ist, soll ersetzt werden. Minderjährige/erwachsene Personen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung, Sehbehinderte oder Taubblinde sollen die Möglichkeit haben, zu Hause zu leben. Die soziale Integration soll schon im Kindsalter gefördert werden. Autonomie soll erlernt werden, indem die Eltern sukzessive durch Privatpersonal abgelöst werden. Kinder sollen die Möglichkeit haben, die öffentlichen Schulen zu besuchen (dank der Anstellung einer Schulunterstützungsperson). Anschliessend soll die berufliche Integration in den freien Arbeitsmarkt gefördert werden. Wie soll ein derartiges Modell künftig funktionieren? Falls der Bundesrat im Juni 2004 das Pilotprojekt FAssiS genehmigt, werden vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2007 rund 1000 Personen, die eine HE von der IV beziehen, Vor- und Nachteile eines Unterstützungsbudgets prüfen können, mit dem Langzeitpflege und -unterstützung finanziert werden kann. Das Budget ersetzt die HE der IV, die EL und die Krankenkasse. Die behinderte Person hat nur noch einen Partner, der für die Finanzierung seiner Unterstützungs- und Pflegebedürfnisse zuständig ist. Die Auswertung der mikro- und der makroökonomischen Ebene der drei Pilot-Jahre sollte die wissenschaftlichen Grundlagen liefern, anhand derer die spätere Einführung einer entsprechenden Pflegeversicherung geprüft werden kann. Sämtliche Überlegungen, die in Bezug auf IV-Bezügerinnen und -Bezüger gemacht werden, können dazu dienen, eine koordinierte und einheitliche Finanzierung und Organisation der Langzeitpflege zu konzipieren, unabhängig vom Alter und von der Art der Behinderung. Das Dokument „Finanzierung der Pflege – Gemeinsame Standpunkte der Leistungserbringer“14 bringt es auf den Punkt: „Das neue Finanzierungssystem der Pflege muss (…) jegliche Diskriminierung pflegebedürftiger Menschen verhindern und die Anreize so setzen, dass Pflege dort stattfindet, wo sie den Bedürfnissen und dem Bedarf der Patienten gerecht werden kann und eine optimierte Nutzung der Ressourcen ermöglicht“. Gemäss Daten aus anderen Ländern, die ein Unterstützungsmodell eingeführt haben, können im Vergleich zum alten System bis zu 30% der Kosten eingespart werden, ohne 14 Siehe oben, Fussnote 2, Seite 16. 18 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 dabei das institutionelle System zu gefährden. Die Analyse des Unterstützungsmodells muss auch die Integration von Personen im AHV-Alter umfassen. Es ist zu wünschen, dass eine griffige Lösung gefunden wird, damit Personen, die im Alltag auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind, ihr Leben selbstbestimmt führen können. Übersetzung: [Scrive] – Rolf Hubler 19 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau Von Ursula Schaffner Abschaffung von Alten, Behinderten und Kranken statt die Verwirklichung der verfassungsmässig festgelegten Sozialziele? Beim Sichten der Buchstaben- und Worterzeugnisse im Bereich Sozialpolitik in den vergangenen Wochen kam mehr und mehr der Eindruck auf, das einfachste Rezept zur Sanierung der Sozialwerke sei die Abschaffung der Menschen, welche die ihnen zustehenden Leistungen (zu Recht) beziehen. Der Diskurs wird mehr und mehr beherrscht von einer Terminologie, die nur noch von Missbrauch und von Zahlen spricht. Die Lebensrealitäten der einzelnen Menschen, seien sie nun IV-RentnerInnen, AHVBezügerInnen oder PatientInnen, die Leistungen des KVG beanspruchen, sind mit einigen Ausnahmen fast völlig aus dem Blickfeld verschwunden. Die Verzahnung der einzelnen Sozialversicherungsbereiche ist komplex. Meist wird allerdings eindimensional argumentiert. Beispielsweise wird von der Notwendigkeit gesprochen, die Rentenzunahme bei der IV einzudämmen, gleichzeitig wird aber die Erhöhung des AHV-Rentenalters gefordert. Die Auswirkungen der Erhöhung des Rentenalters bei der AHV auf die IV wird allerdings tunlichst verschwiegen. Interessant auch, wie vehement die Reintegration von Behinderten in die Arbeitswelt gefordert wird. Die andere Seite, jene der Arbeitgeber, wird häufig ausgeblendet; von ihnen wird beispielsweise nicht mit der selben Vehemenz ein sorgfältigerer Umgang mit erkrankten Menschen oder die Einstellung von Menschen mit Leistungseinschränkungen gefordert. Die anstehenden Probleme und Fragestellungen sind tatsächlich komplex und können einen beim Versuch, den Überblick zu gewinnen, an den Rand der Verzweiflung treiben. Dennoch versuchen wir, hier Fäden zu entwirren und sie als Teil des ganzen Musters zu benennen – damit wir unseren Beitrag im Hinblick auf die Verwirklichung der in der Bundesverfassung verankerten Sozialziele leisten können. AHV – eine vergoldete Abstimmung? Zum Thema 11. AHV-Revision wurde in den vergangenen Wochen und Monaten sehr viel gesagt, geschrieben und diskutiert. Die Abstimmung liegt hinter uns, vertiefte Analysen der Ergebnisse sowie die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen stehen bevor. Sie werden sicher Auswirkungen auf die weitere Debatte rund um die Verwendung der Goldreserven und die Gewinne der Nationalbank haben. Im Vorfeld der AHV- und MWSt-Vorlagen wurde nur wenig über den Zusammenhang zwischen der weiteren Finanzierung der AHV und der Verwendung des überschüssigen Nationalbankengoldes und -geldes berichtet. In der Sommersession wird im Nationalrat wahrscheinlich über den Antrag der nationalrätlichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK NR) debattiert, was mit den überschüssigen Goldreserven sowie mit den jährlich anfallenden Gewinnen der Nationalbank geschehen soll. 20 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Von den 1300 Tonnen überschüssigen Goldreserven im Wert von ca. 20 Mia. Franken ist bereits ein grosser Teil verkauft worden. Nach dem Willen des Bundesrates soll der Bestand während 30 Jahren in einem Fonds angelegt und nur die jährlichen Erträge von 300 – 500 Mio. Franken sollen verteilt werden. Zur Zeit werden die Erträge nach dem Verteilschlüssel 2/3 für die Kantone, 1/3 für den Bund verteilt. Mit der Ablehnung der 11. AHV-Revision am 15./16. Mai 2004 steht nun das zur Mit-Finanzierung der AHV vorgesehene Drittel nicht mehr zur Verfügung und es muss darüber entschieden werden, wie die Erträge verteilt werden. Die WAK NR beantragt, einen Verteilschlüssel von 1/3 Kantone zu 2/3 AHV festzulegen. Gleich sieht die Ausgangslage bei der Verteilung der ordentlichen Gewinne der Nationalbank aus: der Bundesrat sieht hier ebenfalls einen Verteilschlüssel von 2/3 zu Gunsten der Kantone und 1/3 zu Gunsten des Bundes vor, während die WAK die Gelder je zur Hälfte den Kantonen und der AHV zuhalten will. Solange keine Lösung gefunden ist, wird weiterhin der Status quo gelten. Demnach fliessen gemäss Bundesverfassung mindestens 2/3 des Reingewinns der Nationalbank an die Kantone und ein Drittel an den Bund. Vernehmlassung zur 5. IV-Revision in herbstlicher Sicht Bevor der (definitive) Entwurf zur 5. IV-Revision in die Vernehmlassung geschickt wird, darf man gespannt sein, welche Ratschläge, Bereitschaftserklärungen, Forderungen und Massnahmenkataloge zur Abbremsung der weiteren Zunahme von neuen IVRenten-BezügerInnen noch veröffentlicht werden. Zum jetzigen Zeitpunkt (Redaktionsschluss dieser agile-Nummer) kann davon ausgegangen werden, dass das (ordentliche) Vernehmlassungsverfahren im Herbst eröffnet werden wird. Hauptziel der 5. IV-Revision soll eine zehnprozentige Verminderung der Neurenten pro Jahr sein. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen wirkungsvolle Früherkennungssysteme eingerichtet und während den ersten zwei bis vier Jahre Taggelder statt Renten ausbezahlt werden. Voraussetzung für eine ordentliche Rente soll zudem neu eine 5jährige Beitragszahlung sein (bisher 1 Jahr). Die vorgeschlagenen Massnahmen werden zunächst allerdings höhere Kosten verursachen und müssen unter anderem mit der Erhöhung des IV-Beitragsatzes von heute 1,4% auf 1,5% finanziert werden. Der Bundesrat rechnet ab ca. 2025 mit grösseren Einsparungen. Die Ende April präsentierten Vorschläge sind interessant. Ebenso interessant ist, dass die Arbeitgeber nirgends in die Pflicht genommen werden und/oder dass keine auf sie ausgerichtete Anreizsysteme darin zu finden sind. Neueste Studien belegen, dass nur 8% der Betriebe Behinderte beschäftigen, und verschiedene Statistiken zeigten und zeigen auf, wie viele Personen in den vergangenen Jahren entlassen wurden. Wiederum andere Untersuchungen belegen, dass die Chancen für eine Reintegration in den (primären) Arbeitsmarkt nach viermonatiger Absenz von einem Arbeitsplatz rapide abnehmen. Noch vor der Reintegration müssten deshalb Anstrengungen unternommen 21 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 werden, welche eine Desintegration von Menschen aus der Arbeitswelt verhindern helfen. Auch dafür müssen die Arbeitgeber sensibilisiert und verpflichtet werden. Dass angesichts der zunehmenden psychischen Krankheiten Aufklärung und Sensibilisierung auf diesem Gebiet Not tut, zeigt eine Studie über psychische Störungen. Demnach leidet jeder zweite Schweizer, jede zweite Schweizerin einmal im Leben an einer solchen Störung. Da diese Leiden nach wie vor mit starken Tabus behaftet sind, nimmt nur ein kleiner Teil der Betroffenen professionelle Hilfe in Anspruch, und dies erst noch häufig zu spät. Erst recht müssen diese Ergebnisse alarmieren, wenn wir wissen, dass bei den neuen IV-RentnerInnen psychische Krankheiten als Ursache prominent vertreten sind und diese Tendenz steigend ist. Nun noch ein Wort zu den während den vergangenen Wochen geführten Debatten rund um die IV-RentnerInnen. Wer die Diskussionen aufmerksam verfolgte, bekam den Eindruck, dass eigentlich kaum jemand rechtmässig eine IV-Rente bezieht. Offen oder unterschwellig wird der Eindruck vermittelt, die meisten IV-Renten-BezügerInnen seien sogenannte Scheininvalide oder Simulanten. Nicht gefragt werden die Betroffenen allerdings, weshalb sie ihren Arbeitsplatz verloren haben oder ob sie überhaupt je die Chance hatten, angestellt zu werden. Ebensowenig war ihre Meinung zu den Revisionsvorschlägen gefragt, welche Herr Couchepin am 28. April 2004 vor versammelter Presse vorstellte. Von Interesse sind da offenbar ausschliesslich die Einschätzungen von Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgebern, nicht aber von Betroffenen und ihren Organisationen. Auswirkungen von Sparmassnahmen Vermehrt berichten die Medien über die Auswirkungen der laufenden Sparmassnahmen bei Bund, Kantonen und Gemeinden. So hat dieses Jahr z.B. der Wagerenhof in Uster, eine Institution für geistig behinderte Menschen, im Jahr seines 100 jährigen Jubiläums aufgrund der Subventionskürzungen des Bundes (rund 5 Mio. Franken pro Jahr) die Löhne der Angestellten drastisch kürzen müssen. Die Stiftung Dammweg in Biel, ebenfalls eine Institution für geistig behinderte Menschen, muss die Angebote für ihre PensionärInnen kürzen und möglicherweise in Zukunft Stellen abbauen (über natürliche Abgänge den Stellenplan bereinigen, wie dies in der modernen Managementsprache heisst). Dies bedeutet beispielsweise, dass Freizeitangebote am Abend und an den Wochenenden stark eingeschränkt oder sogar gestrichen werden müssen. Demnächst müssen die BewohnerInnen des Selbsthilfe-Wohnprojekts Mooshuus in Mosseedorf im Kanton Bern Ergänzungsleistungen beantragen, da ihnen die bisherigen kantonalen Subventionen halbiert und die Bundessubventionen auf dem Stand von 2000 eingefroren wurden. Die Gemeinde Pfäffikon/ZH hat im laufenden Jahr eine Kürzung ihrer bisher an die EL der AHV/IV geleisteten Zuschüsse um ein Drittel vorgenommen. Winterthur will seine Zuschüsse auf 2005 um die Hälfte kürzen. Was dies für die betroffenen Menschen bedeutet, wird sich nicht vor den Augen der grossen Öffentlichkeit, sondern still und leise hinter verschlossenen Türen abspielen. 22 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Schön, dass in der seit 1. Januar 2000 geltenden Bundesverfassung Sozialziele aufgenommen wurden, weniger schön, dass ihre Verwirklichung in der Praxis mehr und mehr hintertrieben wird. BVG - Nachwehen zum Pensionskassen-Debakel der späten 90er Jahre Im Nachgang zu den teilweise gravierenden Pensionskassen-Sanierungsfällen von Ende der 90er Jahre und der sogenannten Rentenklau-Debatte kamen aus dem BVGBereich im ersten Quartal dieses Jahres diverse Themen auf die politische Bühne. In der Frühjahrssession wurde in den eidgenössischen Räten über die Berechnungsformel des Mindestzinssatzes debattiert. Vorläufig wird der Zinssatz jährlich durch den Bundesrat festgelegt, für 2004 liegt er bei 2,25%. Die eidgenössische BVG-Kommission hat vorgeschlagen, einen festen Berechnungssatz einzuführen, statt die zur Zeit geltenden unverbindlichen, nicht berechenbaren und nicht überprüfbaren Kriterien beizubehalten. Davon hat der Bundesrat jedoch nichts wissen wollen. Auf 1. April 2004 wurden eine erste Teilrevision des BVG sowie zwei Verordnungen in Kraft gesetzt, welche ebenfalls im Nachgang zum Pensionskassen-Debakel erarbeitet wurden. Die Teilrevision enthält insbesondere neue Bestimmungen, welche die Transparenz in der Rechnungslegung verbessern sollen. So müssen Lebensversicherer in Zukunft ihre Geschäfte im Pensionskassenbereich rechnerisch von anderen Geschäftsbereichen abgrenzen und Spar-, Risiko- und Verwaltungskosten separat ausweisen. In einer Verordnung wurde festgelegt, mit welcher Mindestquote die Versicherten an den Überschüssen beteiligt werden müssen. Um die Definition dieser Mindestquote und um deren grundsätzlichen Sinn streiten sich Experten der Versicherer und der Linken/Gewerkschaften. Soll sie 90% des Brutto- oder des Netto-Ertrages betragen? Reichen die neuen Bestimmungen für eine transparente Rechnungslegung aus, damit der Wettbewerb spielt und somit der Markt – sprich die Versicherten – bestimmt, welches die beste Überschussbeteiligung ist? Angesichts der hochtechnischen und komplexen Materie darf daran gezweifelt werden, dass die/der BVG-Versicherte von der Strasse in der Lage ist, sich ein fundiertes Bild über die Sachlage zu machen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Zudem spielt im Bereich berufliche Vorsorge überhaupt kein Markt. Dies zeigte die Debatte rund um die Revision des Gesetzes über die Versicherungsaufsicht (VAG). Dort wird nämlich geregelt, wer von der Aufsicht über das Bundesamt für Privatversicherer ausgenommen wird. Diesem Amt unterstehen beispielsweise die grossen Lebensversicherer, welche prominent im Pensionskassengeschäft tätig sind. Neu hätten alternative Anbieter, das heisst autonome Sammelstiftungen, dem revidierten VAG unterstellt werden sollen. Diese kleinen Kassen könnten als reale Alternative die berufliche Vorsorge für Kleinbetriebe anbieten, unabhängig von grossen Versicherungskonzernen und notabene zu andern Bedingungen als eben die kartellartig den Markt beherrschenden Grossen. In der VAG-Vorlage, die dem Nationalrat in der Frühlingssession unterbreitet wurde, war der entsprechende neue Artikel jedoch herausgekippt worden. Noch ist offen, wie die nun zwischen Stände- und 23 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Nationalrat bestehende Differenz bereinigt wird. Vorerst tagt eine weitere Expertengruppe, welche klären soll, welchen Rechtsstatus autonome Sammelstiftungen eigentlich haben. Die skandalösen Finanzstrategien mit den entsprechenden Sanierungsfällen als Folge haben inzwischen bei einigen Pensionskassen zu Korrekturen ihrer GeldanlageStrategien geführt. Die wieder etwas vorsichtigere Gangart lässt sich den im April 2004 vom Bundesamt für Statistik für das Jahr 2002 veröffentlichten Pensionskassen-Zahlen entnehmen. Schliesslich noch ein kleiner, aber nicht uninteressanter Hinweis auf eine kürzlich veröffentlichte Nationalfondsstudie. Sie hat aufgezeigt, dass Pensionskassengelder bei Scheidungen nur in 50% der Fälle geteilt werden. In 90% der Fälle, in denen die Gelder der zweiten Säule nicht geteilt werden, profitieren die Männer. Obwohl das Gesetz die Teilung dieser Gelder bei Scheidung zwingend vorsieht, meinen sehr viele Rechtsvertreter und Richter, der Vorsorgeausgleich könne in der Scheidungskonvention ausgehandelt werden. Um dem Gesetz und damit den Frauen vermehrt zu ihrem Recht zu verhelfen, werden zur Zeit entsprechende politische Vorstösse vorbereitet. Antwort von BR Couchepin i.S. Diskriminierung behinderter Versicherter in der zweiten Säule In der letzten Nummer von agile berichtete Irène Häberle über die Diskussionen im Parlament anlässlich der 1. BVG-Revision und deren Folgen. Im Februar 2004 wandte sich Frau Häberle mit dem selben Anliegen direkt an BR Couchepin mit dem Ersuchen, die diskriminierenden Bestimmungen im BVG (insbesondere Art. 23) nochmals zu prüfen. Im März ging bei Frau Häberle das Antwortschreiben von Herrn Couchepin ein. Darin geht der EDI-Vorsteher weder auf die Verschlechterung der Rechtsansprüche von behinderten Menschen ein, die durch die BVG-Revision entstanden ist, noch wird das neu in Kraft getretene Gleichstellungsgesetz für Behinderte erwähnt. Dagegen hält Herr Couchepin fest, die langjährige Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes habe keinen Widerspruch zu den verfassungsmässig garantierten Rechten erwähnt. Hingegen müssten die Pensionskassen ihre Versicherten inskünftig besser informieren, insbesondere über ihre Leistungsansprüche. Neuer KVG-Staffetten-Lauf Ein Neuanlauf für die Revision des KVG wird in zwei Etappen vorgenommen. Im April wurde die erste Runde zunächst mit einem vielstimmigen Protestkonzert der Kantone eingeläutet, weil sich diese nicht mit 120 weiteren Organisationen versammeln und vernehmen lassen wollten. Die zweite Etappe soll noch im Herbst 2004 in Angriff genommen werden. Das erste Revisionspaket enthält vier von einander unabhängige Botschaften und soll im Herbst 2004 auf den Tischen der ParlamentarierInnen liegen. So soll der bis Juli 2005 geltende Zulassungsstop für Ärzte neu durch die Vertragsfreiheit zwischen Kassen 24 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 und Ärzten im ambulanten Bereich abgelöst werden. Weiter sollen die Prämienverbilligungen für Haushalte mit geringem Einkommen verbessert werden. Dafür soll der Betrag von heute 2 Mia. Franken 2005 um 200 Millionen Franken und danach jedes Jahr um weitere 3 Prozent erhöht werden. Bei der Kostenbeteiligung durch die Versicherten wird eine Erhöhung des Selbstbehaltes von 10 auf 20 Prozent vorgeschlagen mit einer Beibehaltung der Obergrenze von Fr. 700.--. Die höchste wählbare Jahresfranchise soll neu Fr. 2500.-- betragen. Schliesslich werden Massnahmen im Bereich Pflegefinanzierung, Risikoausgleich und Spitalfinanzierung vorgeschlagen. Die PatientInnen werden einmal mehr kräftig zur Kasse gebeten, während zum Beispiel von der Verschreibung von Generika statt von Originalpräparaten keine Rede ist. Offensichtlich will sich Herr Couchepin nicht mit den grossen Pharmamultis anlegen. Sterilisation – einst und heute In der Frühjahrssession hat sich der Nationalrat gegen den Bundesrat durchgesetzt, den im 20. Jahrhundert zwangssterilisierten Menschen, vor allem Frauen aus der Unterschicht, eine Genugtuung zukommen zu lassen. Sie ist allerdings mehr als eine symbolische Geste zu verstehen, wurde sie doch auf lediglich Fr. 5000.-- festgesetzt. Der Ständerat muss über das Geschäft noch befinden. Im Nationalrat unbestritten war auch das Sterilisationsgesetz, welches vor allem die rund 50'000 Menschen in der Schweiz mit einer geistigen Behinderung betrifft. Eine Sterilisation soll nur in Ausnahmefällen, unter strengen Voraussetzungen und wenn sie im Interesse der betroffenen Person liegt, durchgeführt werden dürfen. Strittig war die Frage, ob eine Sterilisation unter 18 Jahren zulässig sein soll. Insieme lehnt einen solchen Eingriff unter 18 Jahren strikt ab. 25 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 5. IVG-Revision: Offenbar sind alle damit einverstanden, aber …15 Von Claude Bauer Mitte März hat die Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe (DOK) ein Dokument mit dem Titel „Die Zunahme der IV-Rentner – Analyse und Gegenstrategien aus der Sicht der Behindertenorganisationen“ veröffentlicht.16 Auf einem knappen Dutzend Seiten begründet die DOK in verständlicher und ausgesprochen klarer Art und Weise, weshalb die Zunahme der IV-Renten gebremst werden muss und wo die Gründe für diese Zunahme liegen. Daran anschliessend werden alternative Strategien entwickelt. Im Zentrum stehen dabei in erster Linie die Förderung der Integration und die Verbesserung der medizinischen Abklärung. Ich hatte ursprünglich vor, die positiven Aspekte in diesem Dokument und die Forderungen, die daraus abgeleitet werden, herauszustreichen. Doch am 28. April präsentierte der Bundesrat zusammen mit dem Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) seine Lösungsansätze17. Sie zielen in dieselbe Richtung. Dieselbe Richtung, nur… Eine Analyse des DOK-Dokuments lohnt sich immer noch, allerdings soll zwischendurch ein vergleichender Blick auf die Vorschläge des Bundesrates geworfen werden. Dabei soll die Gegenüberstellung nicht zu weit getrieben werden: Wir werden noch genügend Möglichkeiten haben, auf das Thema zurückzukommen, besonders diesen Herbst, wenn das Vernehmlassungsverfahren anläuft. Das DOK-Dokument nimmt sich die Zeit, die Gründe für die Zunahme der IV-Renten eingehend zu untersuchen. Es sei z.B. daran erinnert, dass der Zeitpunkt des Eintritts der Frauen in das Rentenalter laufend verändert wird, und zwar nicht etwa auf Grund einer freien Willensäusserung. Nein, das Rentenalter wird derart nach oben geschraubt (vgl. die glücklicherweise abgelehnte 11. AHV-Revision), dass die Zahl der IV-Renten, über die man sich bei anderer Gelegenheit beklagt, noch weiter ansteigt… Die DOK sieht in den Veränderungen des Arbeitsmarkts den Hauptgrund für die Erhöhung der Anzahl Renten. Sie ist der Meinung, dieser Faktor sei über die Gesetzgebung zur IV kaum zu beeinflussen. Wer die Aktivitäten von AGILE verfolgt, weiss, dass wir den verbleibenden Spielraum nutzen und mittels Sensibilisierungs-Kampagnen versuchen, die Arbeitgeber dazu zu bringen, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Es wird kaum jemanden erstaunen, dass der Bundesrat nur halbherzig zugesteht, dass es neben einem aktiveren Engagement der IV-Stellen, Menschen mit einer Behinderung zu plazieren oder weiter zu beschäftigen, auch Anstrengungen von seiten der Arbeitgeber braucht. In Behindertenkreisen werden leider nicht ohne Grund gewisse Befürchtungen geäussert: Wer die allgemeine Stossrichtung der aktuellen Politik kennt, kann mit grosser Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass die staatliche Unterstützung von Siehe auch den Artikel „Sozialpolitische Rundschau“ in dieser Nummer. Besagtes Dokument kann bei den AGILE-Sekretariaten bestellt werden. 17 Diese können ebenfalls bei den Sekretariaten von AGILE bestellt oder unter der Internet-Adresse www.bsv.admin.ch/iv/aktuell/d/index.htm heruntergeladen werden („Neuigkeiten“ mit Datum 28. April 2004). 15 16 26 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Behinderten, wie sie in der Bundesverfassung vorgesehen ist18, stark gefährdet ist und der „Notwendigkeit“ von Sparanstrengungen zum Opfer fallen wird. Auch wenn ausnahmslos alle mit dem Grundsatz „Wiedereingliederung vor Rente“ einverstanden sind – was übrigens einem langgehegten und auch geäusserten Wunsch von AGILE entspricht – und der Bundesrat sich dahingehend geäussert hat, er wolle diesem Grundsatz endlich Nachachtung verschaffen, so heisst das noch lange nicht, dass deswegen das Paradies auf Erden ausgebrochen wäre: Erklärtes und vorrangiges Ziel ist es nämlich, auf lange Sicht Einsparungen vornehmen zu können. Das bewirkt nicht notwendigerweise eine Verbesserung der Lebensumstände von Menschen mit einer Behinderung. Seien wir aber nicht zu heikel in bezug auf die Mittel, wenn dadurch der Zweck geheiligt wird. Es ist nachvollziehbar, dass die medizinischen Dienste der IV-Stellen besser in der Lage sind, die Arbeitsfähigkeit behinderter Personen abzuklären, als behandelnde Ärzte. Dies umso mehr als vorgesehen ist, die für die IV-Stellen tätigen Ärzte im versicherungsmedizinischen Bereich (Abklärung der Arbeitsfähigkeit) weiterzubilden. Man muss aber auch die Ängste jener verstehen, welche eine Rente beantragen, denn die Ärzte der regionalen ärztlichen Dienste werden eher darauf bedacht sein, Sparmöglichkeiten auszuschöpfen, als jenen Personen zu helfen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Die Rolle eines IV-Mediziners wird möglicherweise eher die eines Polizisten als die eines „Anwalts“ für Arbeitssuchende mit einer Behinderung sein. Zu oft hört man gegenwärtig von Rentenanträgen, die abgewiesen werden. Der negative Bescheid stützt sich dabei auf Vergleiche zwischen Arbeitsfähigkeit und fiktiven Stellen, was wiederum dazu führt, dass die Arbeitsfähigkeit so hoch eingeschätzt wird, dass keine Rente (nicht einmal eine Teilrente) mehr gesprochen werden kann. Wer ist in der Lage, derartige Einschätzungen in Frage zu stellen, welche, man muss es in aller Deutlichkeit sagen, einseitig vorgenommen werden? Hinzu kommt, dass ausgerechnet in diesem Moment die Rekursmöglichkeiten eingeschränkt werden, sei es durch die Einführung von Gebühren für das Verfahren oder durch andere Mittel. Wir können nur hoffen, dass wir nicht richtig liegen mit unseren Befürchtungen und dass der Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ bald umgesetzt wird, und zwar unter guten Voraussetzungen für alle Personen, die sich nicht aus Jux an die IV wenden, sondern weil sie auf die Unterstützung angewiesen sind und weil sie schlicht und ergreifend ein Recht darauf haben. Übersetzung: [Scrive] – Rolf Hubler 18 « Der Bund trifft Massnahmen für eine ausreichende Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge. » 27 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Italienisches Gesetz gegen Gentests an Embryonen Der nachfolgende Text wurde „Le Tribun“ entnommen, der Zeitschrift des Internationalen Netzwerks für Menschenrechte und Behinderte/International Disability and Human Rights Network, Dezember 2003/Januar 2004. Le Tribun stützt sich seinerseits auf einen am 12. Dezember 2003 in „The Scientist“ erschienen Artikel. Mit diesem Gesetz soll Italiens Ruf als «Wilder Westen der medizinisch unterstützten Fortpflanzung» korrigiert werden. Der Senat hat dem 18 Artikel umfassenden, umstrittenen Gesetz zur künstlichen Befruchtung zugestimmt, welches das Gebiet der Reproduktionstechnologie regeln soll. Vorgesehen sind eine Reihe von Beschränkungen im bioethischen Bereich, welche die Rechte «aller an der assistierten Fortpflanzung beteiligten Personen, einschliesslich des ungeborenen Kindes» betreffen. Embryonen werden unantastbar: Das Gesetz verbietet jegliche Tests an Embryonen zu Versuchs- oder Forschungszwecken (z.B. Klonen). Auch das Einfrieren oder Vernichten von Embryonen oder die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur Vermeidung von Erbkrankheiten werden untersagt. Nino Guglielmino, Leiter des medizinischen Zentrums von Hera und Spezialist für Präimplantationsdiagnostik, bezeichnete das Gesetz als «Irrsinn», da es die Ärzte zwingen wird, «Embryonen mit Missbildungen einzupflanzen». Laut Giulio Andreotti, Senator auf Lebenszeit, könnte die neue Regelung das italienische Abtreibungsgesetz von 1978 in Frage stellen. «Dieses Gesetz anerkennt, dass ein Embryo ein Lebewesen ist und die Rechte des ungeborenen Kindes gewahrt werden müssen», äusserte er sich gegenüber Journalisten. «Ich verstehe deshalb nicht, weshalb man Embryonen bis zum Alter von vier Monaten vernichten dürfte». Auf diesem Gebiet tätige Wissenschaftler weltweit verurteilten das neue Gesetz. Verschiedene erklärten, dass es die Reproduktionswissenschaft auf das Niveau des letzten Jahrhunderts zurückwirft [und sie offensichtlich um ihr Brot bringt ... (Anmerkung von Le Tribun)]. Nach Auffassung zahlreicher Behindertenvertreter wurde jedoch ein Schritt in die richtige Richtung getan. Denn das Gesetz setzt den diskriminierenden Praktiken der Vernichtung von Embryonen ein Ende, die während der In-vitro-Befruchtung Missbildungen erlitten und befreit die Eltern vom ungerechtfertigten Druck, missgebildete Föten abzutreiben. Als Reaktion auf den oben stehenden Artikel haben wir von Monique Rognon, früheres Vorstandsmitglied von AGILE und Juristin, folgende Ausführungen erhalten: In der Tat zeigt sich bei bestimmten Paaren bei der Geburt eines ersten, kranken Kindes, dass in der Familie eine Erbkrankheit vorkommt. In der zweiten oder dritten 28 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Schwangerschaft wird dann eine ungünstige pränatale Diagnose festgestellt und die Schwangerschaft abgebrochen. Durch eine In-vitro-Befruchtung bei solchen – nicht sterilen – Paaren ist es möglich, das Erbgut mehrerer Embryonen zu untersuchen und nur jenen Embryo in den Uterus der Mutter einzusetzen, der nicht von einer genetischen Krankheit betroffen ist. Die Behandlung entspricht einer gewöhnlichen In-vitro-Befruchtung, die durch eine Diagnosephase ergänzt wird. Bei der PID wird eine ausserhalb des Mutterleibs entwickelte Embryozelle zur Genanalyse entnommen. Zeigt die Analyse, dass der Embryo nicht von der Krankheit betroffen ist, wird er in den Uterus der Mutter eingepflanzt. Alles andere wird der Natur überlassen. Im gegenteiligen Fall findet kein Embryotransfer statt. Die Liste der feststellbaren Krankheiten ist kurz und die Zahl der möglichen Fälle limitiert. Das Verbot der PID könnte dazu führen, dass die Zahl der therapeutischen Abtreibungen steigt, da die betreffenden Krankheiten noch im zweiten Schwangerschaftsdrittel erkannt werden können. Die dabei zur Anwendung gelangende Pränataldiagnostik, die in vielen Ländern mit Hilfe der Amniozentese bereits sehr häufig durchgeführt wird, weist allerdings zwei grosse Nachteile auf: Die Amniozentese beinhaltet das zwar geringe, aber reale Risiko, ein gesundes Kind zu verlieren. Und: Bestätigt sich das Vorliegen einer dieser Erbkrankheiten, gibt es für die Eltern, die ein gesundes Kind in die Welt setzen möchten, keinen anderen Ausweg als den therapeutischen Schwangerschaftsabbruch – dies scheint die Abgeordneten nicht zu stören, welche die PID aus Respekt für den menschlichen Embryo verbieten wollen ... Für Professor René Frydman (Gynäkologe und Geburtshelfer, ehemaliges Mitglied des nationalen Beratungsausschusses zu ethischen Fragen in Frankreich sowie Autor des im Verlag Odile Jacob erschienenen Buchs „Dieu, la médecine et l’embryon“) ist die PID nicht mehr und nicht weniger als eine weiterentwickelte Form der Pränataldiagnostik. In seinen Worten: „Egal, wie alt der Embryo ist oder ob es sich um eine In-vitro-Befruchtung oder eine Invivo-Fertilisation handelt – die therapeutische Indikation bleibt sich gleich. Natürlich ist der Entscheid gegen die Implantation eines Embryos leichter zu fällen als jener für eine Abtreibung. Die PID weist aber genau für die besonders stark betroffenen Paare, für die das Risiko eines kranken Kindes 25 bis 50% beträgt und die eine Abtreibung nicht in Betracht ziehen, beträchtliche Vorteile auf. Wenn mich eine Frau, die ein nachteiliges Gen in sich trägt und bereits mehrere therapeutische Schwangerschaftsabbrüche hinter sich hat, aufsucht und mir erzählt, dass sie sich zwar ein Kind wünscht, sich aber nicht in der Lage fühlt, noch einmal all die Hoffnungen und die Leiden einer Abtreibung durchzumachen, ist es dann ethisch vertretbar, ihr zu antworten: ‚Die PID-Technik existiert zwar, aber ich darf sie nicht anwenden, weil das Gesetz sie verbietet. Zeugen Sie einfach weiter Kinder, eines Tages werden Sie schon ein gesundes Kind zur Welt bringen?‘ Das scheint mir unmenschlich.“ Ich selbst teile die Meinung von Professor Frydman, wonach es den Status des Embryos nicht gibt: ein Embryo ist weder Sache noch Person, sondern ein Zwischenwesen. Er existiert auf Grund der Tatsache, dass er in die Zukunft projiziert 29 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 wird. Einige Embryonen leben zwar, haben aber keine Zukunft, weil sie von ihren Erzeugern nicht erwünscht sind; andere haben sich kaum gebildet und sind äusserst real, weil sich ihre Eltern so nach einem Kind sehnten. Seit langem setzen sich die Association de la Suisse Romande et Italienne contre les Myopathies (ASRIM) und die Schweizerische Stiftung für die Erforschung der Muskelkrankheiten (FSRMM) für die Forschung – als Hoffnungsquelle für viele Kranke – sowie für die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik ein. Das vor kurzem verabschiedete italienische Gesetz stellt einen schweren Eingriff in die Fortpflanzungsfreiheit des Einzelnen oder von Paaren dar. Ein solcher Eingriff lässt sich nicht rechtfertigen, indem das Gespenst der Eugenik heraufbeschworen wird. Die rhetorische Verwendung des Begriffs der Eugenik ist in der Tat unklar und missverständlich. Dass Missbräuche wie die Realisierung bestimmter Wunschvorstellungen der Eltern in der Person des eigenen Kindes (ein arisches Kind, blonde Haare, blaue Augen usw.) zu verurteilen sind, ist allgemein unbestritten. Hingegen ist das Ziel, die Zeugung von Kindern mit schweren Erkrankungen zu verhindern, mit Sicherheit legitim und sogar ganz einfach ethisch. Die Beweggründe von Eltern, welche die Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen, dürfen nicht durch die Unterstellung herabgesetzt werden, sie hätten die in der heutigen Gesellschaft vorherrschenden Kriterien von Erfolg und Perfektion auf naive Weise verinnerlicht. Die pränatale Gendiagnostik will Leid verhindern, moralisches und physisches Leid, welches von den Gegnern der genetischen Beratung sorgfältig verschwiegen wird – Leid der Geschwister und einer ganzen Familie. Den Gedanken der Psychologin Frau Zemp kann ich mich nicht anschliessen: Sie ruft Frauen, Männer, das medizinische Personal usw. zu einem Boykott der Pränataldiagnostik auf. Ferner schlägt sie unabhängig von der pränatalen Diagnose einen vollen Versicherungsanspruch für Behinderte vor, da die Abtreibung behinderten Lebens zur gesellschaftlichen Diskriminierung von Behinderten beitrage. Die Missbildung eines Fötus dürfe der Abtreibung nicht den Weg ebnen. Man könnte fast auf den Gedanken kommen, dass es für Aiha Zemp schlimmer ist, ein behindertes Kind abzutreiben als ein gesundes … Wie sich hier zeigt, beruht die Ablehnung der Pränataldiagnostik auch auf der Auffassung, dass eine Diagnostik, welche die Vermeidung der Geburt eines kranken und/oder behinderten Kindes ermöglicht, gleichzeitig die Diskriminierungen gegenüber Kranken oder Behinderten rechtfertigen würde. Dieses Argument ist offensichtlich unlogisch und zudem verletzend gegenüber der grossen Zahl von Eltern, welche nach der Geburt eines betroffenen Kindes die Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen, ohne dass dies sie daran hindert, ihr erstgeborenes krankes oder behindertes Kind zu lieben und ihm die bestmögliche Pflege zukommen zu lassen. Zwischen der Bereitstellung der Mittel, um die Geburt eines von einer schweren Krankheit betroffenen Kindes zu verhindern, und der Verpflichtung, kranken und behinderten Menschen die beste Pflege und die besten Chancen für die Integration in die Gesellschaft zu bieten, besteht kein Widerspruch. Von den öffentlichen Gesundheitsprogrammen zur Prävention bestimmter Erbkrankheiten funktionieren jene am besten, welche beide dieser Zielsetzungen gleichzeitig erfüllen. 30 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Wie sieht die Situation in der Schweiz aus? Der Nationalrat und Arzt Felix Gutzwiller (FDP) hat vor kurzem die Debatte über die PID wieder angestossen, die in der Schweiz aus Furcht vor der Eugenik bisher verboten war. In der jüngsten Session der eidgenössischen Räte im März 2004 hat der freisinnige Abgeordnete eine parlamentarische Initiative zur Präimplantationsdiagnostik eingereicht. Diese verlangt die Legalisierung einer Methode, bei der die genetischen Merkmale eines durch In-vitro-Fertilisation gezeugten Embryos untersucht werden, bevor dieser in die Gebärmutter eingesetzt wird. Erlaubt wäre dies, wenn ein hohes Risiko besteht, dass der Embryo von einer schweren Erbkrankheit betroffen ist. Dies ist der jüngste von zahlreichen Versuchen, das im Fortpflanzungsmedizingesetz verankerte Verbot aufzuheben. Alle bisherigen Vorstösse waren erfolglos. Jetzt scheint sich allerdings etwas zu ändern, obwohl für das Referendum gegen das Gesetz über die Stammzellenforschung – ein verwandtes Thema – 85'000 Unterschriften gesammelt wurden. Ein Novum ist, dass die Initiative von Felix Gutzwiller auch von SP- und SVPParlamentarierInnen unterzeichnet wurde (die bisher in diesem Bereich sehr konservative Positionen vertraten). Berühmt ist die Geschichte des kleinen Valentin in Frankreich. Seine Mutter konnte ihn nur dank einer In-vitro-Selektion von Embryonen gesund zur Welt bringen. Zuvor hatte sie drei Totgeburten erlitten, wobei die Kinder allesamt eine lebensbedrohende Genmutation aufwiesen. In Europa ist die PID unter anderem in Frankreich und Spanien unter sehr strengen Bedingungen erlaubt. Die Schweiz hingegen bildet zusammen mit Deutschland, Irland und Österreich das ablehnende Lager. „Die Zumutung für die Frau bleibt aber bestehen: Sie wird unter Umständen später in der Schwangerschaft mit einem Entscheid konfrontiert, den sie früher schon hätte treffen können“, schreibt Felix Gutzwiller. Schlussfolgerung Laut dem Senator auf Lebenszeit Giulio Andreotti, könnte das neue italienische Gesetz, welches den Embryo für unantastbar erklärt, das Abtreibungsgesetz von 1978 in Frage stellen... Und würde damit den Weg für eine Zwei-Klassen-Medizin wieder öffnen, wie man sie in den 60er-Jahren kannte, als wohlhabende Italienerinnen zum Schwangerschaftsabbruch in die Schweiz reisten. Für die vermögenden Frauen ist dies kein Problem, aber für die Mütter kinderreicher Familien mit finanziellen Schwierigkeiten sieht die Sache anders aus! Mit Schrecken erinnere ich mich an jenen Abtreibungsprozess, bei dem die Hauptangeschuldigte ihrer Freundin mit einer Stricknadel zu einer Abtreibung verhelfen wollte und diese daran starb ... Die grundlegende ethische Problematik der Gendiagnostik (Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik) bezieht sich auf die individuelle Freiheit. Diese Freiheit weist verschiedene Dimensionen auf, die miteinander in einem Spannungsverhältnis stehen können, weil gleichzeitig drei Grundsätze beachtet werden müssen: 1. Recht der Paare und der Frauen, die Methoden der Gendiagnostik in Anspruch zu nehmen, welche ihnen die Erfüllung ihres legitimen Wunsches nach einem gesunden Kind erlauben. 31 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 2. Recht der Paare und der Frauen, keinen autoritären Zwängen zu unterliegen (seien sie positiver oder negativer Art) in Bezug auf ihre Entscheidung - ein Kind auf die Welt zu bringen oder nicht - die Pränataldiagnostik in Anspruch zu nehmen oder nicht - eine Schwangerschaft abhängig vom Ergebnis eines eventuellen Tests fortzusetzen oder nicht 3. Recht der an Erbkrankheiten leidenden Menschen, wie gewöhnliche Kranke behandelt zu werden Wie die übrigen Kranken müssen sie von den Errungenschaften einer leistungsfähigen Medizin profitieren können, die ihnen dank der Genetik erlaubt, ihrem schweren Schicksal zu entgehen – heute durch die pränatale Gendiagnostik und morgen vielleicht durch Heilmassnahmen wie die Gentherapie. Die Prävention und Behandlung von Erbkrankheiten ist in erster Linie eine Frage der Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten, der potenziellen oder aktuellen Eltern und der Pflegenden. Die genetischen Krankheiten sind ebenso wie alle anderen Krankheiten auch eine Frage der öffentlichen Gesundheit. Nur weil eine Krankheit genetisch bedingt ist, dürfen mit ihr verbundene Fragen der öffentlichen Gesundheit nicht ausser Acht gelassen werden. Eine Verringerung der Häufigkeit von Erbkrankheiten zu wünschen ist nicht weniger legitim als einen Rückgang der Infektionskrankheiten anzustreben. Flächendeckende genetische Untersuchungen einer Bevölkerung sind demnach rechtmässig, wenn sie mit den notwendigen wissenschaftlichen Voraussetzungen (Pilotstudien) und unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen durchgeführt werden. Das Recht, solche Untersuchungen durchzuführen, ist mit der gesellschaftlichen Verpflichtung verbunden zu verhindern, dass Menschen auf Grund bestimmter genetischer Faktoren diskriminiert werden, insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen oder Versicherungen. Die Kranken dürfen nicht für Faktoren (Gene) bestraft werden, für die sie in keiner Weise verantwortlich sind. Die individuellen Freiheiten führen zu bestimmten sozialethischen Anforderungen im Bereich der Nichtdiskriminierung von Kranken, Behinderten und Paaren. Quellen: - Prof. René Frydman, Gynäkologe und Geburtshelfer - Prof. Alex Mauron, Professor für Bioethik, Genf - Aiha Zemp, Psychologin CeBeef Schweiz - Dr. Felix Gutzwiller, Nationalrat, Zürich - Scarlet Huissoud (Express) - Denis Masmejan (Le Temps) Übersetzung: Susanne Alpiger 32 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Kurznachrichten Pilotprojekte Hilflosenentschädigung US / In agile 1/2004 wurde das namhaft von FAssiS entwickelte Pilotprojekt „Assistenzbudget“ vorgestellt. Inzwischen haben der IV-Ausschuss sowie die AHV/IVKommission sämtliche sieben beim BSV eingereichten Pilotprojekte beraten. Das gemeinsam von FAssiS, AGILE, FTIA und Cap Contact eingereichte Projekt wurde sehr gut aufgenommen. Nun geht der (vertrauliche) Antrag der Kommission in die Ämterkonsultation. An einer der letzten Sitzungen vor den Sommerferien ca. Mitte Juni wird der Bundesrat voraussichtlich darüber entscheiden, welches Projekt/welche Projekte realisiert werden soll/sollen. Pilot-Start soll der 1. Januar 2005 sein. 33 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Gleichstellung Sehbehinderte Menschen und die Medien Von Roger Cosandey19 In der letzten Session hat der Nationalrat den Entwurf des neuen Radio- und Fernsehgesetzes behandelt. Insbesondere hat er mit 112 gegen 66 Stimmen den Vorschlag von Pascale Bruderer (SP), Vorstandsmitglied von AGILE, angenommen, in dem verlangt wird, dass das Fernsehen die speziellen Bedürfnisse von sinnesbehinderten Personen berücksichtigt. Sehbehinderte Menschen nutzen das Radio- und Fernsehangebot regelmässig, um sich über die neuesten Ereignisse auf dem Laufenden zu halten oder sich ganz einfach zu unterhalten. Auch wenn wir heute dank der Informatik Zugang zu zahlreichen gedruckten Zeitungen haben, so sind wir dennoch nur beim Radiohören allen anderen gleichgestellt. Mit dem Radio allein können jedoch nicht all unsere Informationsbedürfnisse abgedeckt werden. So hören sich zum Beispiel Sportinteressierte kaum mehr Reportagen von grossen Wettkämpfen am Radio an. Das ist eigentlich auch normal, denn das Publikum will heute Bilder empfangen. Wir wählen daher das Fernsehen, obwohl uns bewusst ist, dass wir zum Teil frustriert sein werden, weil uns Einzelheiten entgehen. Gewisse Journalistinnen und Journalisten kommentieren noch heute insbesondere Sportanlässe wie im Radio, andere jedoch begnügen sich mit ein paar Hinweisen, mit denen der Ablauf der Ereignisse nicht mitverfolgt werden kann. Wenn eine Ansagerin das Abendprogramm liest, werden die Sendezeiten im Hintergrund eingeblendet und nicht mehr gesagt. Und gewisse Kanäle zeigen bei den Wettervorhersagen kommentarlos Karten. Es handelt sich nicht um tragische Nachteile, doch ärgert man sich schliesslich darüber, wenn sie sich ständig wiederholen. Vielen blinden oder sehbehinderten Menschen macht es Spass, ins Kino zu gehen oder sich einen Film am Fernsehen "anzuschauen". Gewisse Sendungen kann man leicht mitverfolgen, da sie zahlreiche Dialoge enthalten, andere jedoch sind schwerer verständlich und erfordern zusätzliche Erklärungen. Seit mehreren Jahren gibt es ein Verfahren, das "Audiodeskription" genannt wird und mit dem es möglich ist, auf einem zweiten Kanal des Empfängers einen vorher aufgenommenen Kommentar zum Film zu hören. Die Ausstrahlung solcher Filme ist jedoch höchst selten; nur der deutschfranzösische Kanal Arte macht von dieser Möglichkeit regelmässig Gebrauch. Die Sehbehinderten-Organisationen müssen versuchen, die SRG davon zu überzeugen, dieses System von Zeit zu Zeit anzuwenden. Zudem muss erreicht werden, dass neben den Bildern, die zweifelsohne das charakteristische Merkmal des Fernsehens sind, alle anderen wichtigen Informationen auch mündlich übertragen werden. Denn man darf nicht vergessen, dass infolge der längeren Lebenserwartung ein wachsender Teil des Fernsehpublikums sehbehindert ist. 19 Roger Cosandey vertritt die Interessen der Mitglieder des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands SBV in der Westschweiz und ist Vizepräsident von AGILE. 34 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Im Ständerat wird der Gesetzesentwurf noch behandelt werden. Wir hoffen, dass die Erwähnung der spezifischen Bedürfnisse von sinnesbehinderten Menschen nicht gestrichen wird. Ein einfacher Satz in einem Gesetzestext kann unsere volle Teilnahme am Gesellschaftsleben stark beeinflussen. Übersetzung: Helen Glaser 35 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Gehörlose und hörbehinderte Menschen und die Medien Von Stéphane Faustinelli20 Das Fernsehen, das mehr oder weniger von der gesamten Bevölkerung genutzt wird, ist zu einem Medium geworden, an dem kein Weg vorbeiführt. Es stellt einen Service Public im Sinne des Gesetzes dar. Dennoch sind auf den nationalen Kanälen nur 5 bis 7 % der Sendungen untertitelt, was etwa 2500 Stunden pro Jahr entspricht. In seiner kürzlichen Debatte über die Revision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen hat der Nationalrat Art. 7 Abs. 4 verabschiedet: "Fernsehveranstalter mit nationalem oder sprachregionalem Programmangebot müssen einen angemessenen Anteil der Sendungen in einer für hör- und sehbehinderte Menschen geeigneten Weise aufbereiten." Die Annahme dieser Bestimmung freut uns. Bleibt nur noch abzuwarten, was "ein angemessener Anteil" bedeutet; zahlen müssen die Gehörlosen und Hörbehinderten nämlich nicht nur "einen angemessen Teil", sondern die ganze Gebühr, d. h. den gleichen Betrag, der auch vom hörenden Fernsehpublikum erhoben wird. Dazu muss man wissen, dass in anderen Ländern, wie in den Vereinigten Staaten, Grossbritannien oder Kanada viel strengere Anforderungen gelten, damit das Recht von Gehörlosen und Hörbehinderten auf Zugang zu Informationen möglichst gewahrt wird. Der Anteil an untertitelten Sendungen kann bis zu 80 % erreichen. In der Schweiz hat die Teletext-Kommission (der ich angehöre) vom Bundesamt für Kommunikation verlangt, die Anzahl Stunden mit Untertiteln pro Jahr von gegenwärtig 2500 auf 7500 zu erhöhen. Diese Erhöhung sollte eigentlich bereits 2004 in Angriff genommen werden, doch wurde bis anhin nichts in diese Richtung unternommen. Es ist uns durchaus bewusst, dass nicht schon morgen alle Sendungen mit Untertiteln versehen sein können. Doch fordern wir eine kontinuierliche Erhöhung der Stunden mit Untertiteln, denn bis in zehn Jahren soll der Anteil 80 % des ausgestrahlten Programms betragen. Wir verlangen, dass dieses Ziel bei der nächsten Revision in die Verordnung aufgenommen wird. Der Vorschlag von Nationalrätin Pascale Bruderer, einen Artikel 26 Abs. 2bis einzufügen, in dem verlangt wird, dass die Gehörlosen berücksichtigt und insbesondere Sendungen in Gebärdensprache ausgestrahlt werden, wurde mit 112 Stimmen gutgeheissen. Darüber freuen wir uns, denn durch den Einsatz der Gebärdensprache am Fernsehen wird die soziale Integration der Gehörlosen gefördert. Diese neue Bestimmung ist übrigens ganz im Sinne des Postulats, welches das Parlament schon vor 10 Jahren einstimmig angenommen hat. "Le Conseil fédéral est invité à reconnaître la 20 Stéphane Faustinelli ist Direktor der Fédération suisse des sourds – Région romande, FSS – RR. 36 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 langue des signes pour l’intégration des sourds et malentendants et à l’encourager dans l’éducation, la formation, la recherche et la communication, à côté du langage parlé."21 Informationen und Übersetzungen in Gebärdensprache sind für uns zweifelsohne die besten Chancen zur Integration. Denn seit ihrer Emanzipation in den 80er-Jahren und dank der Anwesenheit von Personen, die in die Gebärdensprache übersetzen, engagieren sich die Gehörlosen nicht nur in den Gehörlosen-Organisationen, sondern auch in der Gesellschaft allgemein. Die Revision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen wurde im Nationalrat eben behandelt. Im Sommer kommt sie vor den Ständerat. Danach gilt es, ihre Umsetzung in Form einer Verordnung festzulegen. Wir hoffen fest, dass das erneuerte Gesetz der gehörlosen und hörbehinderten Bevölkerung in unserem Land Vorteile bringen wird. Übersetzung: Helen Glaser 21 In etwa: Der Bundesrat wird aufgefordert, die Gebärdensprache für die Integration der gehörlosen und hörbehinderten Menschen anzuerkennen und sie in den Bereichen Erziehung, Bildung, Forschung und Kommunikation neben der gesprochenen Sprache zu fördern. 37 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Gebärdensprache als der Maturfach Von Ilana Cicurel Der französische Senat hat der Gebärdensprache soeben den Status einer vollwertigen Sprache verliehen. Tatsächlich ein Trumpf für Gehörlose? Die Gebärdensprache ist im Aufwind. Während den Regionalwahlen werden die Grünen im Limousin von einem Mitglied vertreten, das sich in Gebärdensprache ausdrückt. Die Stadtverwaltung von Toulouse hat sich ein Visio-Übersetzungssystem angeschafft, das von Web-sourds entwickelt wurde; die Stadt Paris wird noch vor Ablauf dieses Jahres nachziehen und das System in einer ihrer Stadtverwaltungen austesten. Das System ermöglicht es den Stadtangestellten dank Gebärdensprache-Übersetzern, die simultan übersetzen, mit Gehörlosen zu kommunizieren. Technisch geschieht das über zwei Minikameras und einen dazwischengeschalteten Bildschirm. Spektakulärste Neuerung ist allerdings die Anerkennung der Gebärdensprache als vollwertige Sprache, die der Senat am 1. März per Änderungsantrag einstimmig gutgeheissen hat. Die Anerkennung erfolgte im Rahmen der ersten Lesung zum Entwurf eines Behindertengesetzes. Wenn die Nationalversammlung die Anerkennung ebenfalls bestätigt, kann die Gebärdensprache an Gymnasien unterrichtet und als „lebende“ Sprache an der Matur gewählt werden. „Diese Anerkennung macht nur Sinn, wenn sie den Gehörlosen die Welt der Hörenden öffnet“, meint Senator Nicolas About, der den Änderungsantrag eingebracht hat. Er setzt darauf, dass das Gesetz junge Menschen dazu bringt, Übersetzer zu werden. In Tat und Wahrheit geht es insbesondere darum, im Erziehungswesen Budgets zur Verfügung zu stellen und Lehrerstellen zu schaffen. „Neben der symbolischen Geste in Richtung einer Bevölkerungsgruppe, die unter Einsamkeit und Ausschliessung leidet, wird es diese Anerkennung auch erlauben, die bis anhin von einem gewissen Amateurismus geprägte Ausbildung von Gebärdensprache-Lehrerinnen und -Lehrern zu professionalisieren“, fügt Annick Devaux aus dem Büro der Staatssekretärin für Behinderte an. Bis zur Aufhebung des Verbots durch das Fabius-Gesetz 1991 war es während einem Jahrhundert untersagt, die Zeichensprache an Schulen zu unterrichten – der Gebärdensprache wurde nachgesagt, sie schliesse Gehörlose in einem Ghetto ein. „Vergessen wir nicht: Die Gebärdensprache, die von ca. einem Viertel der 400'000 bis 500'000 schwer Hörbehinderten und Gehörlosen praktiziert wird, ist nur eine Wahl unter vielen“, erinnert die Gehörlosenspezialistin Dr. Monique Busquet. Für Maxime Louineau, Mathematiklehrer und selber von Gehörlosigkeit betroffen, begünstigt die gesprochene Sprache die soziale und berufliche Integration. „Ich habe noch kaum je ein Kind getroffen, dass zuerst die Gebärdensprache erlernt hat und dann das gesprochene Französisch gut beherrscht hätte“, versichert er. Monique Busquet befürchtet, dass die „höheren Weihen“, die der Gebärdensprache mit der Anerkennung als vollwertige Sprache zuteil wurden, dazu führen könnten, dass eine „Gehörlosen-Kultur“ gefordert wird. Und das wäre in einem Moment, in dem die Behandlung der Gehörlosigkeit so erfolgversprechend verläuft, eine paradoxe Einengung der Identität. 38 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Quelle : L'EXPRESS (Frankreich), 15.3.2004 Übersetzung: [Scrive] – Rolf Hubler 39 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Kurznachrichten BA / Der Gleichstellungsrat, der die DOK-Fachstelle Gleichstellung strategisch führt und operativ berät, hat die ersten beiden Sitzungen abgehalten. An der ersten, konstituierenden ist eine Koordinationsgruppe bestellt worden, die den Rat im ersten Jahr anstelle eines Präsidiums leitet. Ihr gehören an: Lorenzo Giacolini als politischer Koordinator, Susanna Schibler als Sitzungsleiterin / Moderatorin und Benjamin Adler als Sekretär. Seit der zweiten Sitzung, die Anfang Mai stattgefunden hat, ist der Rat daran, die Strategie für die Fachstelle zu entwickeln. 40 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Arbeit „Arbeit für Behinderte“ - politische Einleitung an der Delegiertenversammlung vom 24. April 2004 Von Claude Bauer Nach der Aktionswoche „Arbeit für Behinderte“ fährt AGILE auf dem eingeschlagenen Weg fort. Die Diskussionen zur Sozialpolitik, welche an der Delegiertenversammlung regelmässig geführt werden, liefen dieses Jahr unter dem Thema „Deshalb stellen wir Behinderte ein! Integration statt Ausgrenzung von Behinderten in der Arbeitswelt“. AGILE engagiert sich schon seit einiger Zeit in dieser Sache und konnte deshalb, wie unschwer zu erraten ist, zahlreiche nützliche Informationen sammeln. So haben wir beispielsweise festgestellt, dass neben den KMU (Kleinere und Mittlere Unternehmen), die – wie in der Presse regelmässig zu lesen ist – den Grossteil der Arbeitsplätze für Behinderte zur Verfügung stellen, auch Grossunternehmen interessante ArbeitsmarktLösungen anbieten. Nicht selten kommt es vor, dass Grossunternehmen umfassend abklären und sehr gut überlegen, wie man Arbeitnehmer, die während einer Anstellung von einer Behinderung betroffen werden, weiter beschäftigen kann und inwieweit das Unternehmen als Arbeitgeber soziale Verantwortung zu übernehmen hat. AGILE hat deshalb ein Podium organisiert, an dem die Leiterin des Fachdienstes Eingliederung der IV-Stelle Zürich sowie Personen, die für die Human-ResourcesAbteilungen der drei „Big Players“ SwissRe, Rivella und Migros-Aare (Bern) tätig sind, teilnahmen. Die Diskussion wurde von Pascale Bruderer, Nationalrätin und Mitglied des AGILE-Vorstandes, moderiert. Ziel des Anlasses: eine Situation zu verbessern, die noch sehr zu wünschen übrig lässt. Der gegenseitige Gedankenaustausch sollte dazu neue Ideen und Lösungsansätze aufzeigen. Es kann nicht unsere Absicht sein, hier einzelne Unternehmen mit Lob zu überhäufen oder andere zu tadeln. Viele Unternehmen tun mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, ihr Bestes. Wir beschränken uns hier darauf, ein paar Beispiele anzuführen. Es ist ermutigend, wenn ein grosses Unternehmen wie SwissRe sagt, dass es Personen ohne Unterscheidung nach behindert / nicht behindert anstellt, sofern sie dazu in der Lage sind, die entsprechende Arbeit auszuführen. Das geht so weit, dass die Vertreterin von SwissRe ausserstande ist, die Anzahl behinderter Personen in ihrem Unternehmen exakt anzugeben („das sind alles Angestellte, nicht Behinderte"). Auf eine bestimmte Art und Weise ist das die ideale Haltung. Man müsste allerdings noch wissen, ob dabei die Rede ist von hochqualifizierten Angestellten (z.B. einem Ingenieur mit einer Körperbehinderung) oder von Personen ohne spezielle Qualifikationen oder von Personen mit einer Behinderung, die das Unternehmen nicht ohne Weiteres integrieren kann. Kürzlich habe ich von einem Unternehmen gehört, das eine Person suchte, die den Tag damit zubringt, industrielle Fertigungsteile zu entgraten. Es stellte sich heraus, dass die einzige Person, die dazu bereit war, diese repetitive und nicht unbedingt ausnehmend spannende Arbeit zu 41 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 übernehmen, geistig behindert war und so eine stabile Stelle resp. Nische fand, die ihr das Gefühl vermittelte, nützlich zu sein und anerkannt zu werden. Kommen wir nun aber auf die Delegiertenversammlung zurück. SwissRe hat eine stark sozial gefärbte Anlaufstelle geschaffen, deren Auftrag darin besteht, Personen zu unterstützen, die bei ihrer Arbeit mit Schwierigkeiten konfrontiert sind. Es kann sich bei diesen Personen um Menschen mit einer Behinderung handeln, die im Unternehmen bereits arbeiten oder aber auf der Suche nach einer Stelle in diesem Unternehmen sind. Für eine grosse Firma, die ihr soziales Engagement verstärken will, zweifellos eine hervorragende Investition. In einem auf Verkauf spezialisierten Unternehmen wie der Migros müssen zwei Realitäten berücksichtigt werden: zum einen die hard facts, d.h. die Konkurrenz; die Notwendigkeit, wettbewerbsfähig zu bleiben; die finanziellen Vorgaben, welche dazu „zwingen“, einen behinderten Mitarbeiter durch eine Maschine zu ersetzen (gemeinhin wird in diesem Zusammenhang von „Automatisierung“ gesprochen). Zum andern gibt es aber auch die soft facts: Die mögliche Zurückweisung einer andersartigen Person durch jene, auf die man nie und nimmer verzichten kann und die immer die Könige sind: die Kunden. (Und Hand aufs Herz: Wenn wir in den Spiegel schauen, so müssen wir zugeben, dass wir auch nicht immer tolerant sind mit einer etwas langsamen Verkäuferin oder einem etwas langsamen Verkäufer.) Es bleiben aber noch immer genügend Möglichkeiten; aufs Ganze gesehen werden diese Möglichkeiten doch ausgeschöpft, um behinderte Arbeitnehmer einzustellen oder deren Arbeitsstelle zu erhalten. Auch wenn dieses Engagement mit Aufwand verbunden ist (eventuelle Zusatzkosten oder die Unzufriedenheit eines Kunden, der ein wenig länger warten muss), so sind damit doch auch Vorteile verknüpft: Ein sozial vorbildliches Engagement, das modellhaften Charakter aufweist, oder ein besonderes Arbeitsklima, das sich durch Toleranz und Verständnis auszeichnet. Die Migros ist zudem mit weiteren Unternehmen aktiv an einem Rotationssystem beteiligt, um in diesem Bereich neue Erfahrungen zu sammeln. Die Idee sei zwar gut, meinte der Vertreter der Migros, es hapere allerdings bei der Umsetzung. Rivella ist noch ein veritables Familienunternehmen. Zwar existiert kein offizielles Modell zur Integration von behinderten Arbeitnehmern. Nichtsdestotrotz ist das Unternehmen für entsprechende Anliegen offen. Es trägt ebenfalls zur beruflichen Integration bei, indem es Mandate an eine Institution für Sehbehinderte vergibt: Das Unternehmen sieht darin eine soziale und ethische Verpflichtung. Es ist interessant zu erfahren, dass die Meinungen zu einer eventuellen Einführung eines Quotensystems geteilt sind, selbst bei den Arbeitgebern! Die Vertreterin der IV-Stelle scheint auf der Linie der Veränderungen zu liegen, die sich mit der 5. IV-Revision abzeichnen: Sie ist der Meinung, ein Arbeitgeber habe gute Gründe, sich an die IV-Stelle zu wenden, wenn einer seiner Angestellten für wiederholte Abwesenheiten regelmässig ärztliche Zeugnisse beibringe oder wenn dessen Leistungen nachliessen. Gegenwärtig kann ohne Zustimmung des Arbeitnehmers nichts unternommen werden, aber die interinstitutionelle Zusammenarbeit, die in die Wege geleitet wurde, ist ein Schritt in Richtung einer aktiveren Unterstützung beim Erhalt der Arbeitsstelle oder bei der beruflichen Wiedereingliederung. Die Begleitung des 42 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Unternehmens und seines Angestellten ist ebenfalls Bestandteil der Arbeit, welche die IV-Stellen leisten müssen. Die Vertreterin von Rivella hat, en passant und möglicherweise ohne sich dessen bewusst zu sein, Wasser auf die Mühlen von AGILE geschüttet: sie erwähnte, dass die IV-Stellen mit demselben Problem konfrontiert seien wie ihr Unternehmen: Es handle sich dabei um ein Marketing-Problem. Es ist höchste Zeit, dass Behinderte als Arbeitskräfte dargestellt werden und nicht als lästige Bittsteller und dass die Arbeitgeber über die Dienstleistungen der IV-Stellen informiert werden: Damit kann die Schwelle für ein Engagement gesenkt werden. Genau das tut AGILE, indem es Arbeit für Behinderte fordert und Unternehmer bittet, mit den IV-Stellen Kontakt aufzunehmen. Übersetzung: [Scrive] – Rolf Hubler 43 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Kurznachrichten US / In der letzten Nummer von agile haben wir darauf hingewiesen, dass die Sensibilisierungskampagne „Arbeit für Behinderte“ in den kommenden Jahren weitergeführt werden soll. Barbara Marti und Ursula Schaffner haben inzwischen Auswertungsgespräche mit Partnerinnen und Partnern der letzten Aktionswoche geführt. Den Gesprächspartnern wurde zudem ein Grobkonzept für eine nächste Aktionsphase zur Begutachtung vorgelegt. Die Rückmeldungen zur letzten Aktionswoche sowie die Reaktionen auf das neue Konzept waren sehr unterschiedlich. Aufgrund dieser Äusserungen und nach den Begegnungen mit Arbeitgebern und einer IVEingliederungsfachfrau an der AGILE-Delegiertenversammlung vom 24. April 2004 (siehe den entsprechenden Bericht in dieser Nummer) kommen wir zu folgenden Schlüssen: - Die Fortführung der Sensibilisierungskampagne ist absolut notwendig. - Die Arbeitgeber müssen von unserer Seite offensiver und selbstbewusster angegangen und angesprochen werden. - Die Botschaft einer Kampagne muss einfach und klar erkennbar sein. - Das Zielpublikum – Grossbetriebe und/oder KMU – muss klar bestimmt sein. An einem eintägigen Workshop anfangs Juni 2004 werden die definitiven Weichen für die nächste Kampagne gestellt. An diesem Entwicklungs-Tag werden das AGILE-Team, eine Marketingfachfrau, ein Werbefachmann sowie wenn möglich jemand von einer IVStelle teilnehmen. 44 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Bildung und Kultur Kennst du dein Potential? “Kompetenzen-Bilanz-Kurse für Menschen mit einer Behinderung” - ein Projekt der Behindertenselbsthilfe unter der Leitung von AGILE Von Theres Giancotti Die eigenen Stärken kennen, den Platz in der Gesellschaft finden, sich selbstbewusst für eine Stelle bewerben, Träume realisieren – wer möchte das nicht? Für 27 Teilnehmende, die unsere Kurse „Kennst du dein Potential?“ besucht haben, wurde das ein Stück Wirklichkeit. In der heutigen Zeit fällt es besonders schwer, eine Arbeitsstelle oder eine sinnvolle Tätigkeit zu finden. Das gilt besonders für Menschen, die durch eine Behinderung beeinträchtigt sind. Überall - auch in unseren Köpfen - steht das im Vordergrund, was nicht mehr geht: die Einschränkungen, der Mangel. Im Kurs „Kennst du dein Potential?“ gehen wir einen anderen Weg. Wir untersuchen, welche Fähigkeiten und Stärken wir im Verlauf unseres Lebens erworben und entwickelt haben. Denn mit jeder Erfahrung, und ganz besonders in einem Leben mit einer Behinderung – lernen wir dazu. Wir meistern schwierige Situationen und erwerben wichtige Kompetenzen. Wenn uns jemand fragt, was wir können, denken wir oft nur daran, was wir in der Schule und in einer Ausbildung gelernt haben und mit einem Zeugnis oder Diplom nachweisen können. Dabei vergessen wir oft, wie viel wir in unserem Alltagsleben, in der ehrenamtlichen Tätigkeit, in der Familie und mit Freunden gelernt haben. Dabei kommt es in schwierigen Situationen nicht nur auf unser Wissen an, sondern es geht vielmehr darum, im richtigen Zeitpunkt Wissen und Erfahrung zu verbinden und entsprechend zu handeln. In sechs Schritten zur Kompetenzen-Bilanz Bei Kursbeginn stimmen wir uns zunächst auf die Gruppe ein und erfahren mehr über die Inhalte. Der nächste Schritt führt in unsere Vergangenheit: Wir erstellen unser Lebenspanorama und betrachten die einzelnen Etappen und die Aufgaben, die wir in diesen Zeitabschnitten erfüllt haben. Das zeigt schon die grosse Fülle an Erfahrungen, die uns meist nicht bewusst war. Anschliessend nehmen wir die einzelnen Tätigkeiten und Aktivitäten unter die Lupe und untersuchen, welche Fähigkeiten wir dabei eingesetzt oder entwickelt haben. Diese werden im 4. Schritt zusammengetragen und gewichtet. Wie gut kann ich was? Wie selbständig habe ich gehandelt? Wie verhielt ich mich in ähnlichen Situationen? Oder unter veränderten Bedingungen? Kann ich meine Erfahrungen an andere weiter vermitteln? Der 5. Schritt besteht in der Synthese der Fähigkeiten und Kompetenzen. Fähigkeiten, die immer wieder aufgetaucht sind, werden zu Kernkompetenzen zusammengefasst. Im letzten Schritt entwerfen wir dann ein konkretes Projekt für die nähere und die weitere Zukunft und erarbeiten einen 45 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Aktionsplan für die Realisation. Zwei bis drei Monate nach Kursende treffen wir uns wieder und lassen diese Umsetzungsphase Revue passieren. Die bisherigen Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer bestätigen, dass es sehr wohltuend ist, die eigenen Stärken herauszufiltern, den reichen Erfahrungsschatz zu erkennen und zu sehen, wie viele Lebenssituationen man schon erfolgreich gemeistert hat. Das stärkt das Selbstwertgefühl. Bei der Auswertung bemerkte eine körperbehinderte Kursteilnehmerin, die in ihrer Mobilität stark eingeschränkt ist: “Mir war gar nicht bewusst, wie reich mein Leben ist! Vorher habe ich mich noch nie so intensiv und mit so viel Freude damit auseinandergesetzt.“ Einem Teilnehmer half der Kurs, seine Möglichkeiten realistischer einzuschätzen und mit Unterstützung der Invalidenversicherung einen Ausbildungsplatz zu finden, der seinen Fähigkeiten entsprach. Andere haben am Schluss beschlossen, in Zukunft mehr in ihrem Hobby oder in ehrenamtlichen Tätigkeiten Erfüllung zu suchen, statt sich nur auf das Berufsleben zu fokussieren. Ein stärkeres Selbstwertgefühl bedeutet manchmal auch, es sich wert zu sein, zur eigenen Gesundheit Sorge zu tragen. So beschloss einer der Teilnehmer, nach 40 Jahren intensivstem Rauchen von einem Tag auf den andern damit aufzuhören, weil er sich nicht noch mehr schaden wollte. Eine Teilnehmerin wird in Zukunft für sich Diät kochen, auch wenn sie beruflich als Köchin für die Gäste andere Speisen zubereiten muss. Die Auswirkungen eines Kursbesuches sind vielfältig, unvorhersehbar und bei jedem anders. Besonders wertvoll ist die Unterstützung in der Gruppe, die gegenseitige Begleitung im Prozess, die Erkenntnis, dass andere oft mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, sich z.B. immer abwerten, perfekt sein müssen usw. Spezielle Kurse für Menschen mit einer Behinderung – warum? Das bestehende Arbeitsinstrument von EFFE22 und die Arbeitsweise müssen an die speziellen Bedürfnisse der verschiedenen Zielgruppen angepasst werden, z.B.: Arbeitsunterlagen in Grossschrift, Braille und auf Diskette erstellen Anpassung an die Möglichkeiten von Lernbehinderten. Sprachliche Anpassung an den Wortschatz von gehörlosen Menschen Das Kompetenzen-Portfolio wird in einer kleinen Lerngruppe in Form eines Kurses erstellt, der bei uns 11 Halbtage umfasst – das ist länger, als die Kursdauer für nicht behinderte Menschen. Im Moment sind wir daran, das Konzept und die Unterlagen den Bedürfnissen und Möglichkeiten von Menschen mit einer (leichteren) geistigen Behinderung anzupassen. Ein Pilotkurs findet seit Februar in Delémont statt. Mit dem Projekt „Kompetenzen-Bilanzen für Menschen mit einer Behinderung“ ermöglicht AGILE die Anpassung dieses bewährten Ausbildungskonzeptes und die Schulung von Kursleitenden, so dass es möglichst vielen Menschen mit einer 22 EFFE: Espace de femmes pour la formation et l’emploi, rue Sessler 7, 2502 Bienne 46 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Behinderung zugänglich ist. Das Projekt wird von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt. Nächste Kurse Nach den Sommerferien beginnen zwei neue Kurse, je einer in deutscher und einer in französischer Sprache. Beide werden von Procap ausgeschrieben. Die entsprechenden Kursprogramme können bei Procap oder AGILE bezogen werden und sind auch auf den Internetseiten beider Organisationen zu finden. Ein weiterer Pilotkurs für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist ab September in Bern geplant. Informationen dazu sind bei den Kursleiterinnen erhältlich: Theres Giancotti, Bildungsverantwortliche AGILE Catherine Corbaz, responsable de formation Procap Literaturangaben zum Thema: effe, "Kompetenzen Portfolio - von der Biografie zum Projekt", h.e.p. verlag ag, Bern, 2001, ISBN 3-905905-15-9 (Kann auch direkt bei EFFE bestellt werden, [email protected] ) Arbeitsordner „Portfolio der Kompetenzen“, herausgegeben von der ARRA (Association romande pour la reconnaissance des acquis), Bezug für Ordner auf deutsch: Berner Konferenz für Erwachsenenbildung, Postfach 60, 3000 Bern 26. Hans Furrer, "Ressourcen - Kompetenzen – Performanz, Kompetenzmanagement für Fachleute der Erwachsenenbildung", Aus der Praxis für die Praxis Nr. 23, aeb Luzern u. Zürich, 2001 Gesellschaft CH-Q, Schweiz. Qualifikationsprogramm zur Berufslaufbahn "Schweizerisches Qualifikationsbuch, Portfolio für Jugendliche und Erwachsene zur Weiterentwicklung in Bildung und Beruf, Arbeitsanleitung, Nachweise, Notizen" Werd Verlag AG, Zürich, 2., erweiterte Auflage 2000 47 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Behindertenszene Die Selbsthilfe hat Tradition – und Zukunft! Von Richi Weissen23 Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm aus dem Jahre 1900 definiert Selbsthilfe so: "Die Hilfe, die man sich selber leistet, ist besonders eigenmächtig. Sie ist die Umgehung der Obrigkeit oder im Widerspruch zu dieser." Im Brockhaus Konversationslexikon heisst es, "Selbsthilfe ist im geordneten Staatswesen im allgemeinen nicht gestattet." Für mich ist Selbsthilfe alles, was ich mir selber Gutes tue. So gesehen ist sie zuerst einmal nur Egoismus. Erst durch Solidarität wird Selbsthilfe zu dem, was wir uns heute darunter vorstellen. Ein Merkmal der solidarischen Selbsthilfe liegt in der Gegenseitigkeit: Hilfe als Tauschmittel gegen Hilfe. Die Selbsthilfe war immer wieder Ausgangspunkt von sozialen Bewegungen. Es haben sich immer wieder Menschen zusammengeschlossen, um ihre Lebenssituation zu verbessern: So sind politische Parteien, Gewerkschaften, so ist letztendlich auch die Schweiz 1291 auf dem Rütli entstanden. Auf dem Rütli haben sich ein paar Männer getroffen, um sich gegen den Vogt Gessler zu wehren, und sind wir doch ehrlich, heute müssen wir Behinderten uns auch wieder gegen eine Art Vögte wehren. Die Vögte heissen heute etwa Blocher, Merz, Couchepin und Konsorten. Die Selbsthilfebewegung hat also eine grosse Tradition. Das Revolutionäre daran ist der Zusammenschluss aufgrund eines persönlichen Schicksals wie Behinderung oder Krankheit. Behinderung war früher weit mehr als heute mit Tabus behaftet und sicher kein Thema, das grosse öffentliche Akzeptanz fand. Das zeigt auch die Entwicklung der Selbsthilfebewegung in der Schweiz. Nach der Gründung eines Gehörlosenvereins 1894 dauerte es 17 Jahre bis zur Gründung des Schweizerischen Blindenverbandes und weitere 19, bis 1930 der Schweizerische Invalidenverband entstanden ist. Grosse Veränderungen Die Selbsthilfeorganisationen der blinden und sehbehinderten Menschen haben sich in den vergangenen Jahren sehr stark verändert. Zu den ursprünglichen Selbsthilfegruppen sind immer mehr professionelle Dienste dazugekommen. Spezialisierte Fachstellen und Beratungsstellen wurden auf- und ausgebaut, und neben den ehrenamtlich tätigen Mitgliedern sind immer mehr bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu gekommen; die meisten von ihnen sind selber nicht sehbehindert. Die Entwicklung hat also dazu geführt, dass das Dienstleistungsangebot beträchtlich ausgebaut wurde - was von den Mitgliedern geschätzt wird. Gleichzeitig kommt aber auch immer häufiger die Frage auf, was das noch mit Selbsthilfe zu tun hat und ob unsere Organisationen nicht zu reinen Dienstleistungsunternehmen und die Mitglieder zu reinen Konsumentinnen und Konsumente geworden sind. Hinter dieser Frage verbirgt sich die Sorge darüber, die ursprünglichen Ideale und Zielsetzungen der Selbsthilfe und damit ihre eigentliche Aufgabe und Funktion seien verloren gegangen. 23 Richi Weissen ist Präsident der Regionalgruppe Zürich des Schweizerischen Blindenbundes und arbeitet auf der Geschäftsstelle Zürich im Bereich Mitgliederdienste. Der Artikel stellt die leicht gekürzte Fassung eines Referats dar, das er am 13.03.2004 in Zürich gehalten hat. 48 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Das sind Diskussionen, denen sich die Organisationen dringend stellen müssen. Ein weiterer Grund, weshalb die Selbsthilfe gefordert ist, ihr Selbstverständnis und ihre künftige Ausrichtung zu klären, steht im Zusammenhang mit dem neuen Beitragssystem der IV. Die IV macht die Gewährung von Beiträgen künftig vermehrt davon abhängig, wie überzeugend die Organisationen die Notwendigkeit und die Wirksamkeit ihrer Leistungen dokumentieren können. Ausserdem verlangt die IV von den Organisationen, dass sie ihr Leistungsangebot unter einander abstimmen und gegenseitig verbindliche Absprachen treffen. Um die Verhandlungen mit der IV erfolgreich zu führen, ist es wichtig, dass die Selbsthilfe ihre Position und ihre Verhandlungsstrategie neu festlegt. Das Ziel muss sein, dem Selbsthilfeaspekt wieder vermehrt Geltung zu verschaffen und das Potential der Selbsthilfe besser zu nutzen. Es geht dabei auch um die Frage, welche Aufgaben und Leistungen die Selbsthilfe selber übernehmen, welche sie zusammen mit anderen ausführen und welche sie gegebenenfalls delegieren will. Die Grundsätze der Selbsthilfe Im Einzelnen kennzeichnen folgende Elemente die Grundwerte und Grundsätze der Selbsthilfe: Wahrung der Integrität: Trotz Behinderung sind wir behinderte Menschen vollwertige Individuen mit unantastbarer Menschenwürde und mit Anspruch auf alle Menschenrechte, und wir setzen uns zur Wehr gegen jede Form von Verletzung unserer Integrität. Selbstbestimmung: Trotz Abhängigkeit von Hilfe fordern wir die Respektierung unserer Autonomie, und wir setzen uns zur Wehr gegen jede Form von Fremdbestimmung und Bevormundung. Selbstverantwortung / Eigeninitiative: Es liegt primär an uns behinderten Menschen, uns für unsere Bedürfnisse und Belange einzusetzen, die Initiative selber zu ergreifen, anstatt die Hände in den Schoss zu legen und abzuwarten, bis andere etwas tun. Selbstvertretung: Wir Betroffenen vertreten unsere Anliegen wenn immer möglich selber und lassen uns nicht bevormunden. Wenn es um behinderungsspezifische Fragen geht, sind wir die Experten. An allen Entscheiden, welche uns betreffen, wollen wir beteiligt sein. Die Interessenwahrnehmung und Interessenvertretung erfolgt durch Betroffene. Selbsthilfe lässt sich nicht delegieren. Vorrang der Betroffenen: Im Rahmen der Selbsthilfe haben die Betroffenen bei allen Funktionen, die nicht zwingend von Nichtbetroffenen besetzt werden müssen, gegenüber nicht behinderten Personen den Vorrang. Bedürfnisorientierung: Im Zentrum stehen die Bedürfnisse der Betroffenen und nicht diejenigen der Institutionen: Wir plädieren für einen Perspektivenwechsel, weg von der institutionalisierten Wohlfahrt, hin zur Bedürfnisorientierung an den Betroffenen. Vorrang der Integration vor der Segregation: Integrative Lösungen werden überall da, wo dies sinnvoll ist, Sonderlösungen vorgezogen. 49 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Solidarität unter den Betroffenen: Der Zusammenhalt unter den Betroffenen ist ein wichtiger Quell für Trost, Kraft und Zuversicht. Beratung von Betroffenen durch Betroffene: Der Erfahrungsaustausch unter den Betroffenen ist eine wichtige Voraussetzung für Tipps und Anregungen zur Bewältigung von behinderungsspezifischen Problemsituationen in den verschiedensten Lebensbereichen. Das Handlungssubjekt der Selbsthilfe ist immer der Betroffene. Verlautbarungen der Selbsthilfeorganisationen sind stets Willenskundgebungen der Betroffenen. Sie sind das Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses und legitimiert durch den gemeinsamen Willen und basisdemokratische Entscheide der Betroffenen. Zusammenfassend lässt sich über die Bedeutung der Basisgruppen, Milizorgane und Kommissionen folgendes sagen: Die Hauptakteure der Selbsthilfe sind die Mitglieder. Selbsthilfe bedingt den meinungs- und willensbildenden Austausch unter den Mitgliedern. Die Politik der Selbsthilfe wird formuliert und bestimmt von den Mitgliedern. Die Umsetzung erfolgt so weit wie möglich durch die Mitglieder. Alle Mitglieder müssen in den Prozess aktiv einbezogen werden. Basisgruppen, Vorstände, Arbeitsgruppen und Kommissionen sind die eigentlichen Werkstätten der Selbsthilfe und als solches unverzichtbar für eine lebendige Selbsthilfe. Zur Bedeutung der direkten Betroffenheit Für die Betroffenen ist die Behinderung nicht etwas Abstraktes, das bloss intellektuell erfasst oder emotional nachvollzogen werden kann, sondern etwas unmittelbar selber Erlebtes. Die Behinderung gehört untrennbar zur eigenen Person und ist nicht das Problem von anderen, von dem man zwar mehr oder weniger berührt oder an dem man, aus welchen Gründen auch immer, interessiert ist. Die Behinderung ist etwas Dauerndes, Bleibendes und kann nicht nach dem Feierabend beiseite gelegt werden. Behinderte Personen erleben Ungleichbehandlungen und Ausgrenzungen aufgrund ihrer Behinderung viel stärker als Nichtbehinderte. Es trifft sie persönlich. In der Auseinandersetzung mit der Behinderung stecken auch grosse Chancen: Die Betroffenen können in einer Selbsthilfeorganisation viel darüber lernen, wie sie Schwierigkeiten überwinden und die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal nutzen können. Und dieses Wissen und diese Erfahrung können sie unter einander weitergeben. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Betroffenheit aus folgenden Gründen ein Kernelement der Selbsthilfe darstellt: Weil die Betroffenheit motiviert: Die Betroffenen haben ein persönliches Interesse, sich für wirksame Lösungen einzusetzen; sie können davon unmittelbar selber profitieren. Weil die Betroffenen reich an behinderungsspezifischen Erfahrungen sind: Sie wissen, wie sich die Behinderung in den verschiedenen Lebenssituationen auswirkt, wo der Schuh drückt, und sie haben gelernt, damit umzugehen. Weil Betroffene glaubwürdig sind: 50 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Sie wissen, wovon sie reden. Weil sie Expertinnen und Experten sind: Sie können am besten beurteilen, was taugt und was nicht, was ihnen nützt und weiterhilft, weil sie es am eigenen Leib erfahren. Weil Betroffenheit verbindet: Die Betroffenen machen alle gleiche oder ähnliche Erfahrungen. Die Erfahrungen unter einander auszutauschen tut gut und macht Mut. Weil Einheit stärkt: Wenn der gemeinsame Wille da ist, lässt sich auch etwas bewegen. 51 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Online-Immobilienmarkt für rollstuhlgängige Wohnungen Procap / BA Menschen mit Handicap sind auf hindernisfreie Wohnungen und Häuser angewiesen. Zugänge ohne Schwellen, behindertengerechte Badezimmer und Küchen sind nur einige der Voraussetzungen, auf die Rollstuhlfahrer angewiesen sind. Noch immer sind – vor allem bei älteren Liegenschaften – behindertengerechte Ausbauten nicht selbstverständlich. Entsprechend aufwändig gestaltet sich die Suche nach einem geeigneten Objekt. Hilfe bietet ab sofort der neue Online-Immobilienmarkt auf www.procap-wohnen.ch. Die Datenbank listet exklusiv Wohnungen und Häuser für Menschen mit Handicap auf. Aktuell sind über 700 Objekte enthalten, die als «rollstuhlgängig» gekennzeichnet sind. Diese verteilen sich auf alle Regionen der Schweiz. Die neue Dienstleistung ist für Wohnungssuchende kostenlos. Als Basis dient der schweizweit grösste Immobilienmarkt, der im Immobilienportal von homegate.ch integriert ist. Das Angebot wird kontinuierlich ausgebaut. Objektanbieter werden aktiv aufgefordert, bei der Erfassung der Inserate rollstuhlgängige Wohnungen zu kennzeichnen und zu melden. Immobilienbesitzer können ihre Objekte direkt auf den Websites der beiden Partner online inserieren. Für die Präsentation stehen verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung. Auf www.procap-wohnen.ch ist ein Katalog integriert, der auflistet, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit eine Immobilie als rollstuhlgängig bezeichnet werden darf. 52 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Kurznachrichten BA / AGILE hat seit kurzem zwei neue Mitarbeitende. Beide sind mehr oder weniger alte Bekannte in der Behindertenszene: Simone Leuenberger und Urs Schnyder. Simone Leuenberger (Jg. 75) ist bei uns mit einem 20%-Pensum als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt. Die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit liegen zur Zeit bei: Pilotprojekt Assistenzbudget und Kampagne Arbeit für Behinderte. Daneben unterrichtet sie weiterhin Betriebswirtschaftslehre und Rechnungswesen an einer Mittelschule in Thun. Urs Schnyder (Jg. 67) betreut neu unsere Website. Er ist gelernter Typograph und hat sich zum Webdesigner weiterbilden lassen. Neben der Tätigkeit als AGILE-Webmaster arbeitet er bei Procap als Sachbearbeiter in der Wohnungsvermittlung. 53 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Medien Auf der Spur kantonaler Unterschiede in der Invalidenversicherung Für Sie gelesen von Bettina Gruber Haberditz Im Rahmen des NPF 45 (Nationales Forschungsprogramm 45 – Probleme des Sozialstaats) erstellten Jürg Guggisberg, Marianne Schär Moser und Stefan Spycher eine empirische Untersuchung zu kantonalen Unterschieden in der Invalidenversicherung. Der Schlussbericht dieser Forschungsarbeit liegt nun in gekürzter und vereinfachter Form als Buch für ein breiteres Publikum vor. Anhand statistischer Daten gingen die AutorInnen hauptsächlich der Frage nach, aufgrund welcher Faktoren sich kantonale Unterschiede der Rentenquoten erklären lassen. Die Rentenquote gibt den Anteil jener Personen an der Bevölkerung im aktiven Alter wider, die eine IV-Rente beziehen. Da die Invalidenversicherung in einem nationalen Gesetz geregelt ist, erstaunt es auf den ersten Blick, dass die Rentenquoten verschiedener Kantone so stark variieren. Zur Illustration seien hier die Quoten des Jahres 2000 der beiden Kantone mit den Extremwerten erwähnt24: Nidwalden hatte eine Rentenquote von 3,1 Prozentpunkten, Basel-Stadt eine solche von 7,6. Faktoren zur Erklärung der kantonalen Unterschiede Auf der Suche nach den Gründen für diese starken Unterschiede führten die AutorInnen verschiedene Faktoren an, die diese zumindest teilweise erklären. Folgende Faktoren erwiesen sich dabei als aussagekräftig:25 24 25 Die Altersstruktur der Bevölkerung: je mehr ältere Personen (zwischen 60 und Pensionsalter) in einem Kanton leben, desto mehr RentenbezügerInnen sind zu erwarten. Erwerbslosigkeit: je mehr Erwerbslose ein Kanton aufweist, desto höher liegt die Rentenquote. Finanzkraft der Kantone: je finanzstärker ein Kanton ist, desto niedriger fällt die Rentenquote aus. Urbanität und medizinischer Versorgungsgrad: Dieser Faktor beinhaltet mehrere Indikatoren, die zu einem Faktor zusammengefasst wurden, erwähnt seien z.B. ÄrztInnendichte, Zentrumsversorgung im stationären Bereich, Urbanitätsgrad, d.h. Anteil der Bevölkerung in urbanisierten Zonen, Anteil AusländerInnen. Je höher dieser Faktor ist, desto höher die zu erwartende Rentenquote. Unterschiedliche Erwartungen der Bevölkerung an den Staat in der Sozialpolitik. Dieser Faktor setzt sich aus drei Indikatoren zusammen: Staatsquote, Sozialkapital (dabei handelt es sich um die Vernetzung in Verwandtschaft und Nachbarschaft und Teilnahme an Veranstaltungen), Anteil der deutsch sprechenden Bevölkerung. Je höher Sozialkapital und der Anteil Deutschsprachiger sind, desto kleiner die Vgl. S.23f. Vlg. S. 38ff. 54 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Rentenquote. Je höher die Erwartungen der Bevölkerung an den Sozialstaat ist, desto höher die Rentenquote. Mit diesen fünf Faktoren liessen sich die kantonalen Unterschiede der Rentenquote zu 2/3 erklären, wobei die ersten vier Faktoren 1/3 der Unterschiede vorhersagbar machten, der Faktor „unterschiedliche Erwartungen an den Staat in der Sozialpolitik das zweite Drittel der Unterschiede erklärte. Ein Drittel der Unterschiede liess sich mit dem verwendeten Modell nicht erklären. Bei den Faktoren eins bis vier handelt es sich um solche, die als IV-stellenextern bezeichnet werden. Die Erwartungen an den Sozialstaat können sich sowohl IVstellenextern wie –intern auswirken. Die restlichen, nicht vorhersagbaren Unterschiede in den Rentenquoten könnten also bis zu maximal 1/3 IV-stellenintern begründbar sein. Handlungsspielräume der IV-Stellen Um diesem dritten Drittel auf die Spur zu kommen, ist die zentrale Frage, wo sich Handlungsspielräume der IV-Stellen ausmachen lassen. Dazu wandten die Autoren sich ausgewählten IV-Stellen zu, befragten Behindertenorganisationen – darunter auch AGILE – und kontaktierten betroffene Antragstellende. Die Innensicht auf die IV-Stellen ergab mindestens vier Arten von Handlungs- und Ermessensspielräumen:26 Handlungs- und Ermessensspielräume inhaltlicher Art, wobei die Gewichtung verschiedener Elemente zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Hierzu gehören die Unterscheidung in invaliditätsfremde und invaliditätsbedingte Faktoren, die auf die medizinische und wirtschaftliche Situation einwirken, die Beurteilung der Restarbeitsfähigkeit, ebenso die Beurteilung, was eine zumutbare bzw. gleichwertige Tätigkeit und was eine einfache und zweckmässige berufliche Massnahme ist sowie die Beurteilung, wie ein ausgeglichenen Arbeitsmarkt aussieht, oder der Einkommensvergleich zwischen Validen- und Invalideneinkommen. Spielräume im Ablauf und der Steuerung des Abklärungsverfahrens. Hier spielt eine Rolle, ob und welche Gutachten beispielsweise zu welchem Zeitpunkt eingeholt werden. Verfahrenstechnische Unterschiede, je nachdem welche Datenquellen zur Berechnung eines Invaliditätseinkommens beigezogen werden. Unterschiedliche strategische Ausrichtungen der IV-Stellen. Die Schwerpunktsetzung einer IV-Stelle bei der Vereinheitlichung der ärztlichen Gutachten im Abklärungsverfahren oder die Schwerpunktsetzung in der Vernetzung mit externen Akteuren zur beruflichen Eingliederung ergibt eine unterschiedliche Gewichtung der den IV-Stellen vom Bund übertragenen Aufgaben. Aus der Sicht von Fach- und Selbsthilfeorganisationen Die Stellungnahmen der Behindertenorganisationen liefern eine Aussensicht auf die IVStellen. Sie messen den IV-Stellen eine zentrale Rolle im Invalidisierungsprozess bei. Dabei kritisieren sie die oft lange Verfahrensdauer, die teilweise ungenügende Kundenorientierung, die sich beispielsweise in der Form der Kommunikation mit den 26 Vgl. S.69f. 55 agile – Behinderung und Politik, 02 / 04 Antragstellenden manifestiert; sie beobachten eine unterschiedliche Nutzung vorhandener Spielräume in den Verfahren. Die Position der Ärzte wird ebenfalls thematisiert. Einige Befragte kritisieren eine Tendenz hin zu einer immer stärkeren Gewichtung medizinischer Fakten im Abklärungsprozess. Zur Sprache kommt auch die Position der Wirtschaft, denn die befragten Behindertenorganisationen wollen am Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ festhalten. Sie stellen allerdings bei vielen Betrieben eine sinkende Bereitschaft zur Eingliederung Behinderter fest, sogar eine Tendenz zur Ausgliederung leistungsschwächerer MitarbeiterInnen, für welche früher öfter betriebsinterne Lösungen gesucht und gefunden wurden. In diesem Zusammenhang bemängeln die Behindertenorganisationen, dass viele IV-Stellen ihren Auftrag zur beruflichen (Wieder)Eingliederung Behinderter noch zu wenig stark wahrnehmen.Schliesslich wird auch die Haltung der Bevölkerung thematisiert. Dabei wird ein Informationsdefizit bezüglich der Aufgaben und Leistungen der IV ausgemacht – IV-Leistung gleich Rente -, und diese Wahrnehmung der IV wirkt sich auch auf potentielle AntragstellerInnen aus. Die Perspektive von Antragstellenden Aus der Sicht von Antragstellenden wird ebenfalls die Verfahrensdauer bemängelt. In ihren Stellungnahmen wird die Bedeutung der Ärzte unterstrichen, auch dahingehend, dass die Ärzte durch ihre Aussagen den Antragstellenden gegenüber deren Erwartungen an die IV stark prägen. Viele Betroffene haben lange gewartet, bis sie einen Antrag überhaupt stellten, oft bis die finanzielle Situation einen solchen Schritt unausweichlich machte. Und nach einem positiven Entscheid bleibt die Tatsache, eine IV-Rente zu beziehen, für viele schambehaftet und ein Tabuthema, über welches nur im allerengsten Kreis gesprochen wird. Fazit Soweit ein kurzer Überblick über den Inhalt des vorliegenden Buches. Dabei habe ich Einzelheiten über statistische Methoden und Verfahren übergangen und Ihrer Lektüre überlassen. Auch wenn sie an einigen Stellen eher technisch daherkommt, ist diese rund 170-seitige Zusammenfassung der ausführlichen Forschungsarbeit gut lesbar.27 Die vorliegende Arbeit geht einer interessanten Frage nach. Die AutorInnen sind sich in Übereinstimmung mit den Behindertenorganisationen allerdings bewusst, dass es sich dabei wohl nicht um jene Fragestellung handelt, die zur Zeit ganz oben auf der Aktualitätenliste steht. Mehr beschäftigt uns momentan sicher der Umstand, dass die Rentenquoten in den letzten Jahren in fast allen Kantonen stark angestiegen sind. Somit ist auch zu vermuten, dass das Reduzieren kantonaler Unterschiede, obwohl dies wünschenswert wäre, auf der Prioritätenliste der IV-Stellen und der Behindertenorganisationen wohl kaum an prominenter Stelle rangiert. Die Angaben zum Buch: Jürg Guggisberg / Marianne Schär Moser / Stefan Spycher, Auf der Spur kantonaler Unterschiede in der Invalidenversicherung. Eine empirische Untersuchung Verlag Rüegger 2004. Preis: 36.- Fr. 27 Wer sich für den Integraltext der Forschungsarbeit interessiert, kann ihn unter www.buerobass.ch/download herunterladen. 56