„AUCH IN VERANTWORTUNG FÜR DIE KÜNFTIGEN GENERATIONEN“ „Generationengerechtigkeit“ und Verfassungsrecht Von Stefan Mückl, Freiburg i. Br. I. „Generationengerechtigkeit“ als Frage des (Verfassungs-)Rechts „Generationengerechtigkeit“ ist eines der zentralen Problemfelder unserer Zeit, eine Zukunftsaufgabe ersten Ranges. Von der breiten Öffentlichkeit wenig bis kaum zur Kenntnis genommen, führen Philosophen und Ökonomen seit gut drei Jahrzehnten Debatten um dieses Schlagwort. Mit gehörigem Abstand – an zeitlicher Wahrnehmung wie an Intensität der Durchdringung – haben sich auch Vertreter der Rechtswissenschaft des Themas angenommen1. Indes wird der Diskurs fast durchweg akademisch geführt, in der Praxis von Staat und Verwaltung hat er bisher keine erkennbare Resonanz hervorgerufen. 1. Erste Plausibilität Die Idee der Gerechtigkeit ist – vor aller rechtlichen Erfassung – Fundament geordneten und friedlichen Zusammenlebens der Menschen. Das gilt nicht allein in der Gleichzeitigkeit (intragenerationelle Dimension), sondern gerade auch in der Abfolge der Generationen (intergenerationelle Dimension): Es ist offensichtlich in der Natur des Menschen grundgelegt, daß er seine Nachkommen aufzieht, sie hegt und pflegt, ehe sie zur eigenverantwortlichen Gestaltung ihres Lebens in der Lage sind. Dem korrespondiert auf der Zeitachse die betreuende Sorge des Menschen um seine Vorfahren, die aus Gründen des Alters oder der Gesundheit nicht (mehr) vollständig ihr Dasein zu bewältigen vermögen. Diesen anthropologischen Grundbefund greift die Rechtsordnung auf, wenn sie zwischen verschiedenen Generationen Fürsorge- und Unterhaltspflichten normiert und damit Mechanismen, welche zunächst auf der Ebene von Sippe und Familie, Religion und Moral verortet waren, auf diejenige des Rechts hebt. Die anonyme Gesellschaft der (Post-)Moderne erweitert die Dimension der Problematik um ein Vielfaches: Fürsorge und Unterhalt für Vorfahren wie Nachkommen ist nicht mehr nur Regelungsgegenstand individualrechtlicher Beziehungen, sondern in Gestalt sozialer Sicherungssysteme in erheblichem Maße kollektiviert. Sind aber diese Systeme noch „gerecht“ in dem Sinn, daß die einer Generation abverlangte Belastung ihr zu einem späteren Zeitpunkt in wenigstens ungefährer Äquivalenz wieder zugute kommt? Nicht minder evident stellt sich die Problemlage hinsichtlich der Umwelt dar – seit dem Aufkommen der „Umweltbewegung“ hat das Diktum, wir hätten die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern nur geliehen2, Verbreitung wie Zustimmung erfahren. Freilich ist der Gedanke „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“ nicht in eine bestimmte Richtung, zugunsten einer bestimmten Generation vorgeprägt: Gewiß ist der Schutz zukünftiger Generationen „gerecht“, wenn es um die Sicherstellung ihres menschenwürdigen Lebens in Alter und Krankheit oder um die Erhaltung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen geht. Aber ist es umgekehrt gleichermaßen „gerecht“, daß ihnen über das Institut des Erbrechts der im Vermögen geronnene Lebens- und Arbeitsertrag der gegenwärtigen 1 2 Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Peisl/Mohler (Hrsg.), Die Zeit, 1983, S. 289; ders., Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen, in: FS Zacher, 1998, S. 215; Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983), 489; Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 249 ff., 319 ff. Die Urheberschaft für die Sentenz differiert je nach Präferenz ihres Verwenders: Bildungsbürgerlich wird sie Wilhelm Busch, ökologisch korrekt einer „Lebensweisheit“ der Suquamish-Indianer zugeschrieben. 1 Generation ohne weiteres zufließt?3 Bedeutet „Gerechtigkeit“, daß diese sich für ihre Nachkommen verzehren („Die Kinder sollen es einmal besser haben“), freiwillig auf das ihnen Mögliche an Lebensqualität und technischem Fortschritt verzichten, um nicht „auf Kosten“ der Nachwelt zu leben? 2. (Rechts-)Philosophische Annäherung Gerechtigkeit ist seit jeher einer der herausragenden Gegenstände philosophischer Befassung. Gleich der antiken thematisiert sie auch die zeitgenössische Ethik, der dabei das Verdienst zukommt, den Blick auf eine umfassendere Betrachtung geweitet zu haben. Namentlich die von John Rawls entwickelte „Theorie der Gerechtigkeit“4 wird von nicht wenigen Autoren für ein Postulat der „intergenerationellen Gerechtigkeit“ (bzw.: „Fairneß“) in Anspruch genommen: In einem fiktiven Urzustand seien alle Generationen, die je auf der Erde lebten, vertreten. Müßten sie eine Vereinbarung treffen, wie allen Generationen ein angemessener Gewinn zuzubilligen sei, wüßten aber nicht, welcher Generation sie später angehören würden („Schleier des Nichtwissens“), so wäre das Ergebnis ein allgemeiner Spargrundsatz (saving principle). Jede Generation empfange ihren gerechten Teil von ihren Vorfahren und gebe ihrerseits den Nachfahren den diesen zukommenden gerechten Teil weiter5. Im deutschen Schrifttum haben dabei namentlich Dieter Birnbacher6 und Otfried Höffe7 den Rawls’schen Ansatz aufgegriffen und vertieft: So entnimmt Höffe der Konzeption einer „korrektiven Gerechtigkeit“ die Verpflichtung, „daß jede Generation und jedes Individuum, die sich etwas vom Gemeineigentum nehmen, in anderer Weise etwas zurückgegeben und dabei den Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit beachten“ müßten8. Zu einer vergleichbaren Forderung gelangt Hans Jonas, wenngleich von einem anderen Ausgangspunkt als der Rezeption der Rawls’schen Fairneßtheorie: Er modifiziert deutsches idealistisches Denken, wenn er den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant in die Dimension der Zeit hinein projiziert: „Handle so, daß die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben.“9 Dergestalt grundgelegt, hat das Postulat nach „intergenerationeller Gerechtigkeit“ schon bald auch Aufmerksamkeit und Gefolgschaft juristischer Autoren gefunden10. Wohl erstes Referenzgebiet war das Umweltrecht: In den atmosphärisch durch „Umwelt“- und „AntiAtom-Bewegung“ (vor)geprägten frühen 1980er Jahren wurde der (auch unter der Chiffre „Schutz der Nachwelt“ gefaßte) Gedanke als rechtliche Schranke der friedlichen Nutzung der Kernenergie11 oder des Verbrauchs nicht regenerierbarer Ressourcen12 erwogen. Dem schlossen sich Erörterungen zu umfassenderen Fragestellungen an, vor allem zur rechtlichen 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Diesen Gedanken wirft der alttestamentliche Prophet Kohelet auf: „es kommt vor, daß ein Mensch, dessen Besitz durch Wissen, Können und Erfolg erworben wurde, ihn einem andern, der sich nicht dafür angestrengt hat, als dessen (Erb-)Teil überlassen muß. Auch das ist Windhauch und etwas Schlimmes“ (Koh 2, 21). Rawls, A Theory of Justice, 1971 (deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979). Rawls (FN 4), S. 319 ff. – Kritik: Kleger, Gerechtigkeit zwischen den Generationen, in: Müller-Schmid (Hrsg.), Begründung der Menschenrechte (ARSP-Beiheft Nr. 26), 1986, S. 147 (177 ff.) Birnbacher, Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ und das Problem der Verantwortung zwischen den Generationen, Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), 385; ferner ders., Verantwortung für zukünftige Generationen, 1988; ders. (Hrsg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, 2001. Allgemein Höffe (Hrsg.), Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, 1977. Höffe, Tauschgerechtigkeit und korrektive Gerechtigkeit: Legitimationsmuster für Staatsaufgaben, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 713 (735 f.). Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 36. Skizze zur Wirkungsgeschichte namentlich der Rawls’schen Konzeption bei Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 80 ff. Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Versorgung, 1981, insbes. S. 258 ff.; demgegenüber Wagner/Ziegler/Closs, Risikoaspekte der nuklearen Entsorgung, 1982. Buchholz, Intergenerationelle Gerechtigkeit und erschöpfbare Ressourcen, 1984 (aus ökonomischer Sicht). 2 Erfassung und Behandlung künftiger Generationen13. Durch die Zufuhr weiteren Argumentationspotentials befruchtend wirkte sich jenes Postulat schließlich auf eine Materie aus, die – anders als das „neue“ Terrain des Umweltrechts – seit jeher im Fokus des staatsrechtlichen Interesses stand: Das Recht der Staatsverschuldung. Wohl nicht von ungefähr erfuhr die juristische Diskussion just in jenen Jahren erneute Belebung14. 3. Weitgehende politische Abstinenz In auffallendem Kontrast sowohl zu der noch rechtlich unspezifizierten Plausibilität der Thematik wie der dazu international geführten philosophischen Diskussion steht die weitgehende Abstinenz der politischen Klasse: Die praktische Politik hat die Problematik, obgleich ihre immense Bedeutung wie mögliche Sprengkraft auf der Hand liegt, nicht erkennbar aufgegriffen, jedenfalls nicht in wahrnehmbares Handeln in der Substanz überführt. Bei der Einfügung der Staatszielbestimmung „Umweltschutz“ in das Grundgesetz im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Deutschem Bundestag und Bundesrat erschöpften sich die Erwägungen des verfassungsändernden Gesetzgebers in blassen Allgemeinplätzen15. Andere Sachbereiche bieten ein noch weniger erbauliches Bild: Den seit geraumer Zeit (aufgrund der demographischen Lage: unabweisbar) absehbaren Schwierigkeiten der sozialen Sicherungssysteme, zumal der Rentenversicherung, begegnete die verantwortliche politische Seite über weit mehr als ein Jahrzehnt allein mit dem Kalauer „Die Rente ist sicher“. Im Recht der Staatsverschuldung sind etwaige noch verbliebene Schamgrenzen längst gefallen. Ihr Ausmaß berührt noch nicht einmal vorstellbare Dimensionen16. Die Frage, ob ein öffentlicher Haushalt – gleich, welcher Ebene – den (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben entspricht, muß immer häufiger gestellt (und verneint) werden. Wiederholt lag in den vergangenen Jahren die Kreditaufnahme des Bundes über dem grundgesetzlich zugelassenen Richtwert, desgleichen hatten Landesverfassungsgerichte (zumindest teilweise) Landeshaushalte explizit für verfassungswidrig erklärt17. Welchen Stellenwert geltendes Recht für die Politik augenscheinlich noch hat, offenbart mit schonungsloser Deutlichkeit des Gebaren führender Berliner Landespolitiker: Nachdem deren Versuch, vor dem BVerfG Bundesergänzungszuweisungen nach Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG zu erstreiten, im Oktober 2006 gescheitert war18, formulierte der Finanzsenator die Zielsetzung, bis 2011 (!) wieder einen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen – um sich sogleich vom Finanz„experten“ des Koalitionspartners belehren zu lassen, dies sei ein „völlig unsinniges finanzpolitisches Ziel“19. Wer schließlich – um die Problemanzeige zu komplettieren – je gehofft haben sollte, das Gemeinschaftsrecht würde kraft der ohnedies recht großzügigen20 Konvergenzkriterien des (maßgeblich von Deutschland initiierten) Stabilitätspaktes (Art. 104 EGV) gegenüber nationaler Verschuldungspraxis effektive Gegenmaßnahmen ergreifen, 13 14 15 16 17 18 19 20 Saladin/Zenger, Rechte künftiger Generationen, 1988. Anstoß durch Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, 1980; s. aber aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum bereits ein Jahrzehnt zuvor: Shoup, Staatsverschuldung und künftige Generationen, in: Recktenwald (Hrsg.), Finanztheorie, 1969, S. 459. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Deutschem Bundestag und Bundesrat v. 5. November 1993, BT-Drs. 12/6000, S. 67: „Damit wird einmal bestätigt, was für Staatsziele ohnehin gilt: ihr dynamischer, auf die künftige Gestaltung sozialer Lebensverhältnisse zielender Gehalt. Zum anderen wird betont, daß die natürlichen Lebensgrundlagen nicht nur für die lebende Generation, sondern auch für die nachfolgenden Generationen von existentieller Bedeutung sind.“ Näher Badura, Die Talfahrt der öffentlichen Finanzen und die verfassungsrechtlichen Grenzen von Staatsausgaben und Sanierungsmaßnahmen, in: FS Mußgnug, 2005, S. 149 (153 f.). Höfling, Haushaltsverfasssungsrecht als Recht minderer Normativität?, DVBl 2006, 934. BVerfG, ▪. FAZ, Nr. 249 v. 26. Oktober 2006, S. 4 („Streit über den Berliner Haushalt“). Zur Erinnerung: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hielt für Deutschland nur ein öffentliches Defizit von 1,5-2% des BIP (statt 3%, so Art. 104 Abs. 2 EGV i.V.m. Art. 1 des Protokolls Nr. 20) für „dauerhaft tolerabel“, s. Jahresgutachten 1993/94, BT-Drs. 12/6170, Tz. 177. 3 dürfte derartige Illusionen spätestens verloren haben, als die größten Sünder einvernehmlich die selbst gesetzten Regelungen außer Kraft setzten, um deren Anwendung zu ihren Lasten zu verhindern21. Angesichts derartiger Inaktivität der maßgeblichen Teile der politischen Klasse verbleibt als Diskussionsforum der Bereich bürgerschaftlichen Engagements. Hier bemühen sich private „Think Tanks“ um Aufbereitung des Terrains22. Ein erster Funke hat jüngst den politischen Bereich zumindest erreicht: Eine interfraktionelle Initiative von 100 jüngeren Abgeordneten des Bundestages unterbreitete dem Parlament im November 2006 einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Staatszielbestimmung „Generationengerechtigkeit“23. 4. Verortung im Verfassungsrecht? „Generationengerechtigkeit“ ist kein Terminus des geltenden Verfassungsrechts. Auch seine beiden Bestandteile kommen im Verfassungstext nur eher am Rande vor: Den Ausdruck „Generation“ verwendet allein Art. 20a GG, doch auch die für den Rechtsstaat so elementare Idee der Gerechtigkeit findet nur sparsam dosierte Erwähnung (Menschenrechte als Fundament der Gerechtigkeit: Art. 1 Abs. 2 GG; Verpflichtung zur „Gerechtigkeit gegenüber jedermann“ im Amtseid des Bundespräsidenten und der Mitglieder der Bundesregierung: Art. 56, 64 Abs. 2 GG). Damit ist freilich nichts über ihre rechtliche Bedeutung gesagt. Sie steht, ganz im Gegenteil, in keinem Verhältnis zur marginalen textlichen Verankerung24. Ähnliches könnte sich, so die Hypothese, für den Gedanken der „Generationengerechtigkeit“ erweisen. Indes soll schon die Wahl des Themas „von verfassungsrechtlichem Übermut“ zeugen (Udo Steiner)25. Bedarf es aber nicht gerade eines beherzten Zugriffs, selbstredend: normativ verankert und den staatsrechtlichen Grundentscheidungen verpflichtet, um die Diskussionen dieser Zukunftsfrage wissenschaftlich voranzubringen? Erinnert sei nur an eine Dissertation vor knapp 40 Jahren, die es – Vorbehalten im zeitgenössischen Schrifttum zum Trotz26 – unternahm, den Nachweis eines Rechtsprinzips im geltenden Verfassungsrecht zu führen, welches ein Vierteljahrhundert später auch explizit dem Verfassungstext hinzugefügt wurde. Das Prinzip: Subsidiarität27. Der Autor: Josef Isensee28. Drei Regelungszusammenhänge drängen sich für die Fragestellung geradezu auf: Das Recht der Staatsverschuldung, die Staatszielbestimmung „Umweltschutz“ und das geltende System kollektiver sozialer Sicherung. Ihnen ist im folgenden vor der erkenntnisleitenden „Folie“ der Generationengerechtigkeit näher nachzuspüren. Eine zusätzliche Anreicherung sollen im Anschluß daran Blicke auf übergreifende verfassungsrechtliche Prinzipien versuchen. Mehr als erste, zudem auch nur exemplarische, Gedanken können in diesem Rahmen nicht artikuliert werden. Zuvor aber mag sich der nationale Rechtsanwender, der globalen Bedeutsamkeit der Problematik Rechnung tragend, mit Anregungen aus fremden Rechtsordnungen versorgen. 5. Inspiration durch Rechtsvergleichung 21 22 23 24 25 26 27 28 Badura, in: FS Mußgnug (FN 16), S. 149 (154 ff.); Zeitler, Was bleibt vom Stabilitäts- und Wachstumspakt?, in: FS Schmidt, 2006, S. ▪. So etwa die „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen“; s. das von ihr 2003 herausgegebene „Handbuch Generationengerechtigkeit“. BT-Drs. 16/3399; dazu noch unten IV. Isensee, Gerechtigkeit – zeitlose Idee im Verfassungsstaat der Gegenwart, in: Schmidinger (Hrsg.), Gerechtigkeit heute, 2000, S. 253. Steiner, Generationenfolge und Grundgesetz, NZS 2004, 505. Etwa Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, Der Staat 2 (1963), 399. Seit 1992: Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG n.F. Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 1968. 4 Ausländisches wie internationales Recht verhalten sich im wesentlichen in zwei Regelungszusammenhängen zum Schutz künftiger Generationen: Einmal mittels des Kultur(güter)schutzes29, zum anderen im Kontext des Umweltschutzes. Für den ersten Blickwinkel stehen Bestimmungen zum Schutz des „kulturellen Erbes“, wie ihn verschiedene ausländische Rechtsordnungen30 sowie das europäische Gemeinschaftsrecht31 ausgeformt haben. Die Verbindung von Umweltschutz und Generationenverantwortung trat aufgrund internationaler Anstöße verstärkt in das öffentliche und dadurch später auch in das rechtliche Bewußtsein: Die UN-Umweltkonferenz von 1992 in Rio de Janeiro rezipierte in ihrer Abschlußdeklaration32 das in der deutschen Forstwirtschaft (und sodann im Waldrecht) entwickelte Prinzip der Nachhaltigkeit33. Als „sustainable development“ neu etikettiert, entfaltete die politisch zu verstehende Leitvorstellung bemerkenswerte Breitenwirkung in das Recht hinein34 und führte in nicht wenigen Rechtsordnungen35 zur Einführung spezieller verfassungsgesetzlicher Umweltschutzbestimmungen, welche im Regelfall auch einen Bezug auf die künftigen Generationen enthalten. Von ihnen sei exemplarisch die Schweiz herausgegriffen36. In ihrer „nachgeführten“ Bundesverfassung von 199937 formuliert bereits die Präambel das „Bewußtsein der gemeinsamen Errungenschaften und (die) Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“. Die noch allgemeine Wendung wird sodann in einem Staatsziel der „nachhaltigen Entwicklung“ konkretisiert (Art. 2 Abs. 2), welches seinerseits in spezifischen Sachmaterien näher entfaltet wird (Art. 73 ff.). Was aus derartigen Bestimmungen im einzelnen für die Rechtswirklichkeit folgt, bedürfte jeweils genauer und differenzierter Erörterung. Eine denkbare – naturgemäß nicht verallgemeinerbare oder unbesehen übertragbare – Wirkungsweise der Kombination von Umweltschutz und „Generationengerechtigkeit“ illustriert eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Philippinen: Minderjährige, vertreten durch ihre Eltern, begehrten von den philippinischen Umweltbehörden unter Berufung auf das in der Verfassung verankerte „Recht auf eine gesunde Umwelt“ die Rücknahme langfristiger Genehmigungen zur Abholzung des Tropenwaldes. Das Gericht folgte der klägerischen Argumentation, erstreckte die Rechtsposition auch auf die künftigen Generationen und entnahm ihr die Pflicht einer jeden Generation, für ihre Nachkommen „Rhythmus und Harmonie der Natur als Grundlagen für eine ungestörte und gesunde Umwelt zu erhalten“38. II. Spezifikationen von „Generationengerechtigkeit“ im geltenden Verfassungsrecht 1. Staatsschuldenrecht: Art. 115 GG 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Dazu jüngst K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005. Dazu („immanente Generationenschutzklauseln“) Häberle, in: FS Zacher (FN 1), S. 215 (219 f.). Art. 151 Abs. 1 EGV („Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“). Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung im Umweltvölkerrecht nach der Rio-Konferenz 1992, 1997. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 190; Kloepfer, Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20a GG, DVBl 1996, 73 (78) – jew. m.w.Nachw. Dazu Streinz, Auswirkungen des Rechts auf „Sustainable Development“ – Stütze oder Hemmschuh?, Die Verwaltung 31 (1998), 449. Gleiches gilt für das supranationale Recht: S. Präambel (8. Erwägungsgrund) sowie Art. 2 (1. Spiegelstrich) des EUV sowie die Querschnittsklausel des Art. 6 EGV – jeweils Betonung der „Nachhaltigkeit“. Nachw. weiterer Bestimmungen bei Appel (FN 10), S. 295, Fn. 243. Häberle, Die „total“ revidierte Bundesverfassung der Schweiz von 1999/2000, in: FS Maurer, 2001, S. 935. Miners Oposa v. Secretary of the Department of Environment and Natural Resources, ILM (= International Legal Materials) 33 (1994), 173; dazu Appel (FN 10), S. 82; Streinz, Die Verwaltung 31 (1998), 449 (468). 5 Josef Isensee hat die Staatsverschuldung als „Opium des Staatshaushalts“ bezeichnet 39 und ihre generationenübergreifende Wirkungsweise präzise beschrieben: Sie hebe die Synchronisierung von Steuereinnahmen und Staatsausgaben in derselben Periode auf. Weiter: „Die Lasten verlagern sich auf spätere Generationen, die mit ihrem Steueraufkommen für Zins und Tilgung haften. Diese aber sind wehrlos. Sie können sich nicht politisch artikulieren und sie werden nicht parlamentarisch repräsentiert.“40. Seit Anbeginn der modernen Verfassungsstaatlichkeit wird das Institut der Staatsverschuldung ganz überwiegend ablehnend beurteilt41: Adam Smith galt sie als Zukunftsbelastung42, was Thomas Jefferson ähnlich sah – er wollte jeder Generation nur die Aufnahme von Schulden in einem Umfang erlauben, den sie zu ihren Lebzeiten würde zurückzahlen können43. Die vernichtende Einschätzung Jacob Burckhardts44 begann Ende des 19. Jahrhunderts einer Apologetik der Staatsverschuldung zu weichen45. Speziell in den 1930er Jahren propagierte eine einflußreiche Theorie der Nationalökonomie einen „aktiven Staat“, namentlich die Schriften des Briten John Maynard Keynes wurden als wirtschaftswissenschaftliche Rechtfertigung einer aktiven staatlicher Schuldenpolitik verstanden46. Obgleich dagegen schon bald Widerspruch angemeldet wurde47, entfaltete der Keynesianismus eine immense Breitenwirkung in Politik wie Recht der westlichen Welt. Selbst Teile des deutschen Grundgesetzes beruhen, so der in den Materialien zum Ausdruck kommende Wille des historischen Gesetzgebers, auf jener Theorie48: Staatsverschuldung – euphemistisch: „Einnahmen aus Krediten“ – ist ein vom Grundgesetz, insoweit der deutschen Verfassungstradition entsprechend49, ausdrücklich zugelassenes Instrument der Haushaltspolitik. Im Streit stand nicht das Instrument als solches, sondern einzig Notwendigkeit und Umfang seiner rechtlichen Einhegung. Hatte das Grundgesetz in seiner Ursprungsfassung (Art. 115 S. 1 a.F.) noch die einschränkenden Kautelen von Art. 87 WRV übernommen („außerordentlicher Bedarf“, „nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken“, „nur auf Grund eines Bundesgesetzes“), nahm der verfassungsändernde Gesetzgeber in der Haushaltsreform 1969 einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel vor50: Der „traditionelle objektgebundene Deckungsgrundsatz (sollte) durch eine moderne situationsgebundene Betrachtungsweise abgelöst“ werden51. Anknüpfungspunkt dafür ist das in dem neu gefaßten 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive, in: FS Friauf, 1996, S. 705 (708). Ebd., S. 705 (706). Überblick über das wirtschaftswissenschaftliche Schrifttum und die daraus gezogenen staatsrechtlichen Folgerungen bei Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 161 ff. Smith, Der Wohlstand der Nationen, V. Buch, 3. Kapitel, S. 781 (798 f.). Brief von Thomas Jefferson an James Madison aus Paris vom 6. September 1789, deutsche Übersetzung bei Rein (Hrsg.), Die drei großen Amerikaner Hamilton, Jefferson, Washington, 1923, S. 138. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, S. 133, waren Schulden „das große jammervolle Hauptridikule des XIX. Jahrhunderts“. Weiter: „Schon diese Art, das Vermögen der künftigen Generationen vorweg zu verschleudern, beweist einen herzlosen Hochmut als wesentlichen Charakterzug.“ Etwa L. von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl. 1871, S. 666: „Ein Staat ohne Staatsschuld thut entweder zu wenig für seine Zukunft oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ Hauptwerk: The General Theory of Employment, Interest and Money, 1936 (deutsch: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 2000). – Indes: Die gemeinhin mit dem Terminus „Keynesianismus“ assoziierten Inhalte finden sich im Werk selbst nicht – weder das Schlagwort des „deficit spending“ noch das Postulat einer antizyklischen Nachfragepolitik. Vgl. zu diesem Aspekt auch Rudolf Wendt/Michael Elicker, Staatsverschuldung und intertemporäre Lastengerechtigkeit, DVBl 2001, 497 (503). Pointiert vor allem James Buchanan, Public Principles of Public Debt, 1958; in Deutschland maßgeblich: Gandenberger, Theorie der öffentlichen Verschuldung, in: Andel (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Band III, 3. Aufl. 1981, S. 6. BVerfGE 79, 311 (331 f.) – solche außerrechtlichen Bezüge weder hinterfragend noch in Zweifel ziehend. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 1271 ff. 20. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 12. Mai 1969, BGBl. I S. 357. So die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. V/3040, Tz. 61, 132. 6 Art. 115 Abs. 1 S. 2 HS 1 GG normierte Kredit-Investitions-Junktim, welches die Höhe der Kreditaufnahme durch die im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen begrenzt. Gleichwohl läßt hier die Verfassung eine Ausnahme zu, nämlich „zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ (HS 2). Diese bereits 1967 in Art. 109 Abs. 2 GG in das Grundgesetz aufgenommene52, (angeblich) den Keynesianismus konstitutionalisierende Formel53 beherrscht indes, so das BVerfG, generell das Regime der staatlichen Kreditaufnahme54. In seiner grundlegenden Entscheidung zum Staatsschuldenrecht – Josef Isensee hatte sie als Prozeßbevollmächtigter der Antragsteller mitinitiiert – entnahm das BVerfG Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG bekanntlich die Unterscheidung zwischen einer „Normallage“ und einer „Störungslage“55: In ersterer unterliegt eine Kreditaufnahme der doppelten Einschränkung (1.) der Erfordernisse des zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Gebotenen und (2.) der Obergrenze der Investitionssumme. In der „Störungslage“ darf von dieser zweiten Voraussetzung ausnahmsweise abgewichen werden, um die erstgenannte (wieder) zu erreichen. Hier stellt das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ also tatbestandliche Voraussetzung einer zulässigen Abweichung wie ihr (einzig) legitimes Ziel dar; die erhöhte Verschuldung darf nicht allein durch eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts veranlaßt sein, jene muß diese vielmehr final abwehren wollen56. Für beides – Vorliegen einer Störungslage wie Eignung der Verschuldung zu ihrer Abwehr – gesteht das BVerfG dem Haushaltsgesetzgeber einerseits einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, erlegt ihm andererseits eine Darlegungslast auf, die es selbst im Streitfall auf Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit zu überprüfen beansprucht57. Die ratio des den Aspekt der „Generationengerechtigkeit“ zentral betreffenden KreditInvestitions-Junktims hat das BVerfG knapp, aber treffend erfaßt: „Der haushaltswirtschaftliche Vorgriff auf zukünftige Einnahmen soll jedenfalls dadurch begrenzt werden, daß der Kredit nur im Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter in Anspruch genommen werden darf.“58 Deutlicher formulieren in jüngerer Vergangenheit einige Landesverfassungsgerichte für das jeweilige (insoweit dem Grundgesetz nachgebildete) Landesverfassungsrecht59: Das Junktim bezwecke den „Schutz künftiger Generationen vor unbeschränkter Vorwälzung staatlicher Lasten“ sowie eine „gerechte Lastenverteilung zwischen der heutigen und künftigen Generation“60. Der Gesetzgeber habe 52 53 54 55 56 57 58 59 60 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 8. Juni 1967, BGBl I S. 581. Was darunter zu verstehen ist, sagt das Grundgesetz weder hier noch an anderer Stelle (Art. 109 Abs. 2 sowie Art. 104a Abs. 4 a.F. [entspricht nach der „Föderalismusreform I“ Art. 104b Abs. 1 Nr. 1]). Der verfassungsändernde Gesetzgeber erblickte – mit späterer Billigung des BVerfG (BVerfGE 79, 311 [338]) – in der zeitgleich beschlossenen Bestimmung des § 1 S. 2 des „Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S. 582 – StWG) eine authentische Interpretation: Gleichzeitige Erreichung der vier Zielsetzungen Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum („magisches Viereck“). – Kritisch zur Konzeption Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 491: „normative Schärfe gering“. BVerfGE 79, 311 (331 ff.). BVerfGE 79, 311 (334). BVerfGE 79, 311 (335, 339). BVerfGE 79, 311 (343 ff.). – Rezeption dieser Anforderungen für das Landesverfassungsrecht: NdsStGH, NVwZ 1998, 1288 (1290); BerlVerfGH, DVBl 2004, 308 (311); VerfGH NW, NVwZ 2004, 217 (219); LVerfG MV, DVBl 2005, 1578 (1579); ebenso HessStGH, Urt. v. 12.12.2005 – P.St. 1899 –, UA S. 53 f. BVerfGE 79, 311 (334). Überblick zum Landesverfassungsrecht bei Höfling (FN 41), S. 406 ff. VerfGH NW, NVwZ 2004, 217 (218 f.), zu Art. 83 S. 2 LV NW. 7 „zu beachten, daß die über die Investitionen hinausgehende kreditfinanzierte Haushaltspolitik eine Haushaltsführung auf Kosten kommender Generationen ist“ sei61. Die Steuerungskraft der Vorgaben des Art. 115 GG in der ihm vom BVerfG gegebenen Lesart für die politische Praxis hat sich in den über drei Jahrzehnten ihrer Geltung als außerordentlich gering erwiesen62: Obwohl seitdem der Bundeshaushalt mehrfach das KreditInvestitions-Junktim gem. Art. 115 Abs. 1 S. 2 HS 1 nicht eingehalten hatte, und die Voraussetzungen der Ausnahme nach HS 2 jedenfalls nicht immer zweifelsfrei gegeben waren, hat das BVerfG noch kein Haushaltsgesetz beanstandet63. Demgegenüber vermochten die Landesverfassungsgerichte wenigstens einige (wenige) Male den gröbsten Auswüchsen Einhalt zu gebieten64. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Für den Investitionsbegriff des Art. 115 Abs. 1 S. 2 HS 1 GG fehlt unverändert eine der ratio legis entsprechende Konkretisierung; den Gesetzgebungsauftrag des Art. 115 Abs. 1 S. 3 GG hat der Gesetzgeber allenfalls in formeller Hinsicht erfüllt, indem er auf das Monitum des BVerfG65 hin die bisherige Staatspraxis kurzerhand in die BHO bzw. das HGrG überführte66. Die dort anzutreffenden Umschreibungen wird man im Wortsinn schwerlich als Definitionen ansehen können, sie sind wenig trennscharf und teilweise überdies in sich widersprüchlich67. Zum zweiten hat das vom BVerfG entwickelte Modell eines Zusammenspiels von gesetzgeberischem Einschätzungsund Beurteilungsspielraum und korrespondierender Darlegungslast mit nachgeschalteter Nachvollziehbarkeits- und Vertretbarkeitskontrolle den Praxistest ersichtlich nicht bestanden68. Auf der Ebene der Rechtsanwendung kommt drittens die (vom Wortlaut des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG wohl gedeckte) Praxis des asymmetrischer Haushaltsvollzug hin: Der Haushaltsplan berechtigt zwar zu Tätigung der veranschlagten Ausgaben, verpflichtet indes nicht dazu. Dementsprechend werden in Vollzug des Haushaltsplans wohl die Kreditbewilligungen voll ausgeschöpft, aber nicht in diejenigen für Investitionen69. Viertens schließlich gelten gem. Art. 115 Abs. 2 GG die Einschränkungen des Abs. 1 nicht für die (in Anbetracht ihres Negativsaldos irreführenderweise so bezeichneten) Sonder„vermögen“ des 61 62 63 64 65 66 67 68 69 LVerfG MV, Urt. v. 7.7.2005 – LVerfG 7/05 –, UA S. ▪ (nur Abdruck des Leitsatzes: DVBl 2005, 1597), zu Art. 65 Abs. 2 LV MV. Zurückhaltend Isensee, in: FS Friauf (FN 39), S. 705 (707): „heikel ist die praktische Wirksamkeit der verfassungsrechtlichen Direktiven“, sowie Badura, in: FS Mußgnug (FN 16), S. 149 (161): diese hätten sich „nicht als nachhaltig wirksam erwiesen“; deutlicher F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: FS Vogel, 2000, S. 241 (242), Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG habe sämtliche seiner Ziele „verfehlt“; Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, 2001, S. 445: „Art. 115 I 2 GG wird i.V. mit Art. 109 II GG weder seiner konjunkturpolitischen Stabilisierungsfunktion noch seiner staatsschuldenrechtlichen Begrenzungsfunktion gerecht“. Im bisher einzigen Verfahren (BVerfGE 79, 311) überstieg die Nettokreditaufnahme die Investitionssumme um knapp 1,9 Milliarden DM (im Haushaltsplan 2006 betrug die veranschlagte Deckungslücke 15,1 Milliarden € [s. BT-Drs. 16/1465], also das 15fache). – Aktuell ist beim BVerfG ein Normenkontrollantrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP gegen das Haushaltsgesetz 2004 anhängig (1 BvF 1/04). VerfGH NW, NVwZ 2004, 217 (Verfassungswidrigkeit der Bildung kreditfinanzierter Rücklagen zur Deckung des Finanzbedarfs in künftigen Haushaltsjahren); NdsStGH, NVwZ 1998, 1288 (Einbeziehung nicht berücksichtigungsfähiger Posten in die Investitionssumme); sowohl die letztgenannte Entscheidung wie auch LVerfG MV (FN 61), UA S. ▪, sanktionierten zudem die Verletzung der gesetzgeberischen Darstellungslast. BVerfGE 79, 311 (355). 1990 wurde § 13 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 BHO sowie § 10 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 HGrG um die Aufzählung der Ausgaben, die gemäß den Gruppen 7 und 8 des Gruppierungsplans, einer Verwaltungsvorschrift, als Ausgaben für Investitionen gelten ergänzt. – Sehr kritisch dazu Höfling, DVBl 2006, 934 (936): „Affront“. Dazu m. Beisp. Gröpl (FN 62), S. 447 f.; ferner Kritik bei Puhl (FN 53), 1996, S. 487 ff. Pointiert Höfling, DVBl 2006, 934 (935): „Geschichte der permanenten Mißachtung des Verfassungsrechts“. Isensee, in: FS Friauf (FN 39), S. 705 (721 ff.); ferner Gröpl (FN 62), S. 449 ff. ( Bewertung „contra constitutionem“, S. 451); ders., Zur verfassungsrechtlichen Problematik globaler Minderausgaben, 2005, S. 48 ff. 8 Bundes 70, die von der Verfassung ermöglichte Freistellung „von den ohnehin laxen Kreditbegrenzungsregeln“ des Abs. 1 wird von der Staatspraxis rege in Anspruch genommen71. Die Bemühungen, für diesen Bereich gleichwohl materiell-rechtliche Grenzen zu entwickeln72, haben bisher keine erkennbare Wirksamkeit in der Rechtswirklichkeit entfaltet. Daß in Anbetracht der unverändert ansteigenden Staatsschuld und der weitgehenden Wirkungslosigkeit der sie begrenzenden Normen dringender Änderungsbedarf besteht, dürfte mittlerweile als gesichert gelten73. Denkbare Mechanismen, die einzeln oder in der Zusammenschau der Problematik Herr werden könnten, sind in der intensiven, seit Beginn der 1980er Jahre geführten wissenschaftlichen Diskussion74 wiederholt vorgeschlagen worden, so ein Nettoneuverschuldungsverbot75 (wie es der Sache nach mittlerweile die Schweiz kennt76), eine Neufassung des Kredit-Investitions-Junktims in Art. 115 Abs. 1 S. 2 HS 1 GG (im Sinne eines Gleichlaufs von Schuldendienst und Nutzungsdauer der Investitionsgüter im Rahmen von Objektfinanzierungen)77 sowie die Streichung von Art. 115 Abs. 2 GG als „offenes Tor für die milliardenschwere ‚Flucht aus dem Budget‘“78. Sind diese Herausforderungen, wiewohl (längst) bekannt, schwierig genug, wären sie doch nur zu einer teilweisen Lösung des Problems imstande: Damit wäre allein dem Fortschreiten der Staatsschuld79 beizukommen. Indes geht es – auch – um eine Aufgabe von erheblich größerer Dimension: Den Abbau der in den vergangenen Jahrzehnten bereits angehäuften Staatsschuld. Allein darin läge, selbst unter den Prämisse des sofortigen Unterlassens weiterer Verschuldung wie eines konstanten Wirtschaftswachstums, ein Projekt für Generationen. Diese Dimension indes wird nur zögerlich erkannt, geschweige denn ihre Lösung in Angriff genommen. Dafür aber ist es höchste Zeit, soll nicht die Option des Staatsbankrotts nur ein fachliterarisches Stilmittel bleiben80. Auf diesem Terrain läge also wahrhaft Potential für eine zukunftsweisende Verfassungsänderung – ob die politische Klasse in der nun anhebenden „Föderalismusreform II“ dazu die Kraft findet81? 2. Umweltschutz: Art. 20a GG 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 Eingehend Puhl (FN 53), S. 84 ff. (Bestandsaufnahme), 475 ff. (Verschuldung). Gröpl (FN 62), S. 455. Eingehend Puhl (FN 53), S. 501 ff. (zu Art. 115 Abs. 2 GG), 513 ff. (zu Art. 109 Abs. 2 GG). Aus jüngster Zeit Wieland, Staatsverschuldung als Herausforderung für die Finanzverfassung, JZ 2006, 751. Püttner (FN 14); insbes. P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung im demokratischen Rechtsstaat, in: Papier (Hrsg.), Grenzen der öffentlichen Verschuldung, 1983, S. 1; ders., Grenzen der Staatsverschuldung in einem demokratischen Rechtsstaat, in: von Arnim/Littmann (Hrsg.), Finanzpolitik im Umbruch, 1984, S. 271. F. Kirchhof, in: FS Vogel (FN 62), S. 241 (249); Sympathien auch bei Gröpl (FN 62), S. 460; hinsichtlich der politischen Realisierbarkeit skeptisch Wieland, JZ 2006, 751 (754). – Interpretatorische Versuche, schon dem geltenden Verfassungsrecht ein Verschuldungsverbot zu entnehmen, lassen sich hingegen nicht begründen, dazu Isensee, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Sein, JZ 2005, 971 (974) m.w.Nachw. Art. 126 Abs. 1 BV lautet: „Der Bund hält seine Ausgaben und Einnahmen auf Dauer im Gleichgewicht.“ Gröpl (FN 62), S. 461 f. m. Formulierungsvorschlag in Fn. 124. Gröpl (FN 62), S. 462; in der Tendenz ebenso Wieland, JZ 2006, 751 (755): „Rückführung der Nebenhaushalte in den Staatshaushalt“. Für die kommunale Ebene werden mittlerweile die Probleme in gleicher Weise erkannt und diskutiert, s. Pünder, Haushaltsrecht im Umbruch, 2003, S. 62 f., 309 ff.; Reinhardt, Neue kommunale Finanzierungsmodelle und Zukunftsgerechtigkeit, 2005. Püttner (FN 14), S. 11; Höfling, DVBl 2006, 934 (935). Ihrem Einsetzungsbeschluß nach scheint aber auch sie in den eingefahrenen Bahnen zu verbleiben. Die „offene Themensammlung“ führt bisher nur auf: „Entwicklung materieller Kriterien zulässiger Verschuldung (Einführung von Verschuldungsgrenzen und „Schuldenbremsen“), Änderung von Art. 115 und Art. 109 GG zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen“ (Anlage zum Antrag zu BT-Drs. 16/3885 v. 14. Dezember 2006). 9 Seit 1994, zehn Jahre nach der ersten landesverfassungsrechtlichen Gewährleistung82, enthält das Grundgesetz die Verpflichtung des Staates, „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“ zu schützen. In der Tat kommen in dieser Vorschrift „grundlegende Fragen für den modernen Verfassungsstaat“ zum Ausdruck 83, die sich auf die Formel der Divergenz von Kurzzeitlegitimation der Entscheidungsträger und der Langzeitwirkung der von diesen getroffenen Entscheidungen bringen läßt84. Im Bereich der natürlichen Lebensgrundlagen („Umwelt“) drohen Folgen von gänzlich anderer Qualität als im Fall der Staatsverschuldung: Diese könnte, wenn auch mühsam und überaus langfristig, von den folgenden Generation grundsätzlich abgetragen, rechtlich auch „mit einem Federstrich“ vom Staat „bereinigt“ werden85. Übermäßige Nutzungen sowie Schädigungen der Umwelt hingegen sind in vielen Fällen irreversibel, sie nehmen den künftigen Generationen im Wortsinn die tatsächlichen Grundlagen des Lebens. Somit erklärt sich ohne weiteres, daß die Einfügung des Art. 20a GG als Bekräftigung des Gedankens verfassungsgesetzlicher „Generationengerechtigkeit“ verstanden worden ist86. Die Einsichtigkeit und Eingängigkeit der Grundüberlegung kontrastiert freilich mit der Schwierigkeit ihrer (verfassung)rechtlichen Regelung. Ein zentrales Problem liegt im Tatsächlichen: Der Schutz der Umwelt setzt notwendigerweise eine Gefährdungslage voraus. Ob eine solche gegeben ist, wird nicht stets zweifelsfrei zu ermitteln sein: Ihre Annahme hängt vielfach von Prognosen und Wahrscheinlichkeiten, Fortschreibungen und Hochrechnungen der gegenwärtigen Verhältnisse ab. Derartige Modellrechnungen und Projektionen müssen aber nicht zwangsläufig eintreffen, zumal auch (modell)externe wie (noch) nicht absehbare Faktoren zu einem gänzlich anderem als dem prognostizierten Szenario führen können. Das führt zu der grundsätzlichen Frage, auf welcher Tatsachenbasis staatlichen Entscheidungen, Maßnahmen oder Unterlassungspflichten getroffen und legitimiert werden können. Welchen Sicherheitsgrad muß diese Basis aufweisen: Bedarf es gesicherter Erkenntnisse (was das Risiko einschließen kann, zu lange zuwarten zu müssen) oder genügen plausible, wahrscheinliche, mit an Sicherheit grenzende wahrscheinliche Prognosen? Sicher nicht ausreichen können bloße Befürchtungen und Schreckensvisionen. Die rechte Zuordnung befördert aber mitunter erst die Dimension der Zeit: Liest man mit dem Abstand von über zwei Jahrzehnte auch wissenschaftlich ausgerichtete Abhandlungen gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie, offenbart sich ein heute weder in der Sache noch in der Tonlage nachvollziehbarer Alarmismus („Plutoniumstaat“, „atomare Gesellschaft“)87. Die seinerzeitigen Erkenntnisse und Prognosen haben sich jedenfalls so nicht erhärtet, und der seitherige Fortschritt der Sicherungstechnologie rechtfertigt zumindest auch eine gegenteilige Einschätzung – ganz abgesehen davon, daß die damalige Diskussion andere ökologische Gefährdungslagen (Erwärmung der Erdatmosphäre infolge des Gebrauchs fossiler Energieträger) nicht zu berücksichtigen vermochte, welche für den Gesamtkomplex von zentraler Bedeutung sind. Unabhängig von den Ungewißheiten im Tatsächlichen stellt sich als zweites Kernproblem die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen: Eine irreversible Umweltbeeinträchtigung einmal 82 83 84 85 86 87 1984 erhielt Art. 141 Abs. 1 der bayerischen Verfassung den Wortlaut: „Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlage ist, auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen, der besonderer Fürsorge jedes einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft anvertraut.“ So mit Recht Kloepfer, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 20a (Stand: April 2005) Rn. 76. Ebd., Rn. 78; vgl. auch Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 119, sowie Henseler, AöR 108 (1983), 489 (490). Zum Staatsbankrott Nachw. FN 80; weitere Optionen bei Püttner (FN 14), S. 23 ff.: Abwertung, Inflation. Badura, in: FS Mußgnug (FN 16), S. 149 (151); Calliess (FN 84), S. 123. Etwa Jungk, Der Atom-Staat – Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, 1977; Hallerbach (Hrsg.), Die atomare Gesellschaft, 1978; auch Hofmann (FN 11), S. 354 ff., untersuchte „Gefahren für den Rechtsstaat“ durch die Wiederaufarbeitungstechnik; ferner die Nachw. bei Henseler, AöR 108 (1983), 489 (495, Fn. 27). 10 unterstellt, welche rechtlichen Folgen ergeben sich daraus – eine Unterlassungspflicht, eine Kompensationspflicht, eine bloße Berücksichtigungs- und Abwägungspflicht? Auch bedürfte der Klärung, wie komplexe Zusammenhänge zunächst getrennt und dann in der Konfliktlösung einander zugeordnet werden sollten. Angewandt auf das Beispiel der Nutzung der Kernenergie: Unbestreitbar sind mit ihr erhebliche Risiken verbunden. Gleiches gilt nach gegenwärtigem Wissens- wie Bewußtseinsstand unter dem Gesichtspunkt der Irreversibilität auch für die Nutzung fossiler Energieträger (globale Erwärmung, Abschmelzen der Polarkappen, Überschwemmungen etc.). Ist nun die Prämisse, daß das gegenwärtige Niveau an Lebensstandard – und damit korrespondierend: der Energieverbrauch – nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, welches ist nun die aus dem Gedanken „der“ Generationengerechtigkeit zu ziehende Schlußfolgerung? Die Pflicht, die Nutzung der Kernenergie zu unterlassen oder das Gebot, die Nutzung fossiler Energieträger zu drosseln? Oder müßte doch beim Energieverbrauch angesetzt werden (was sogleich die Folgefrage nach der Durchsetzbarkeit entsprechender Maßnahmen im freiheitlichen Rechtsstaat aufwerfen würde)? Alle dieser Optionen wären denkbar. Ein rechtlicher Vorzug einer von ihnen wird sich indes kaum ausmachen lassen. Die Entscheidung derartiger komplexer Problemlagen ist originäre Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe, der Versuch; allein eine Option für rechtlich zulässig oder gar geboten auszuweisen, bloße Überhöhung eigener politischen Überzeugung. Nicht von ungefähr fällt es der Verfassungsinterpretation schwer, der Wendung „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“ rechtlich Greifbares zu entnehmen. Verbreitet wird sie mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit (im Sinn und im Geist der Rio-Deklaration)88 in eins gesetzt89. Dieses wiederum hat die Wissenschaft in verschiedenen Einzelausprägungen konkretisiert, die plausibel wie praktikabel sind, indes (nur) allgemeine Leitlinien darstellen. Sie können Berücksichtigung und Abwägung verlangen, nicht aber alleinige Geltung: Nachhaltige Bewirtschaftung erneuerbarer Ressourcen, sparsamer Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen90. Die einfachgesetzliche Lage formt – teilweise schon vor Einfügung des Art. 20a in das Grundgesetz – die Konkretisierungen näher aus, sei es als Pflicht zur nachhaltigen Pflege und Bewirtschaftung91, sei es als Gedanke zu treffender Vorsorge92. Indes gibt schon die Verfassung in ihrem Wortlaut zu erkennen („auch“), daß der Schutz künftiger Generationen nicht die alleinige Stoßrichtung der Staatszielbestimmung Umweltschutz ist – ihre Belange verdienen Berücksichtigung gegenüber denjenigen der jetzt Lebenden, sind ihnen materiell aber gleichgeordnet. Gleiches gilt – selbstverständlich – für die Staatszielbestimmung als solche, welche anderen Verfassungsrechtsgütern nicht vorgeht, sondern gleichgestellt ist93. Der Ertrag des Gedankens der „Generationengerechtigkeit“ fällt damit sub specie Art. 20a GG nicht eben üppig aus: Den Staat trifft eine objektiv-rechtlich begründete Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen. Sie besteht auch gegenüber den künftigen Generationen und aktualisiert sich in der Sache in bestimmten Leitlinien. Im Verhältnis zu anderen Verfassungsrechtsgütern ist sie gleichrangig; in prozeduraler Hinsicht werden ihr bestimmte institutionelle und verfahrensmäßige Vorkehrungen entnommen94. Zu bedenken bleibt 88 89 90 91 92 93 94 Oben Text nach FN 32. Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 20a Rn. 32; Bernsdorff, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, 2002, Art. 20a Rn. 26; Appel (FN 10), S. 296; Calliess (FN 84), S. 121 f. Murswiek, ebd., Rn. 37 f.; ähnlich Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2006, Art. 20a Rn. 39 f. §§ 1 BNatSchG, 1 Nr. 1 BWaldG, 1 S. 1 BBodSchG, 1a Abs. 1 S. 2 WHG; ferner §§ 1 Abs. 5 BauGB, 1 Abs. 2 ROG. §§ 5 Abs. 1 Nr. 2 BImschG, 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG. Auf diese nach dem Grundsatz der „Einheit der Verfassung“ zwingende Deduktion (s. nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rn. 20, 71) machte die Gemeinsame Verfassungskommission gleichwohl eigens aufmerksam (BT-Drs. 12/6000, S. 67). Kloepfer (FN 83), Art. 20a Rn. 79; Calliess (FN 84), S. 122. 11 freilich, daß schon vor der Verfassungsergänzung 1994 die Existenz einer Staatsaufgabe „Umweltschutz“ unbestritten war95; ob also die Konstitutionalisierung jenseits der symbolischen Ebene inhaltliche auch materiell-rechtliche Fortschritte erbracht hat, bedürfte jeweils eingehender Untersuchung. Was endlich die Wendung „Verantwortung für die künftigen Generationen“ angeht, thematisiert sie einen wichtigen und zutreffenden Gedanken. Freilich bleibt offen, ob diese „Verantwortung“ ethisch oder rechtlich akzentuiert sein soll 96. Gerade dann aber muß der Jurist, bei aller Sympathie in der Sache, jedenfalls die Sorge artikulieren, daß die Verfassung den Bürger der Gegenwart überfordere, indem sie das ursprünglich ethisch ausgerichtete Postulat der „Zukunftsverantwortung“ zu verrechtlichen suche97. 3. Rentenversicherung als System kollektiver sozialer Sicherung Seit exakt einem halben Jahrhundert beruht das System der (gesetzlichen) Rentenversicherung in Deutschland auf dem Gedanken des „Generationenvertrags“. Nach ihrem „Vater“, dem seinerzeit in Bonn lehrenden Ökonomen Wilfrid Schreiber, könne ihre Konzeption als „Solidar-Vertrag zwischen jeweils zwei Generationen bezeichnet werden“: „Die jeweiligen Arbeitstätigen sorgen dafür, daß die jeweils Alten ihre Renteneinkommen haben, und erwerben damit das Anrecht, in ihrem eigenen Alter von den dann Arbeitstätigen mitversorgt zu werden.“98 Ganz vollständig gestaltet sich das Bild indes erst, wenn auch der Zusammenhang zur nachwachsenden Generation hergestellt wird: Von den drei Personengruppen – die noch nicht Erwerbsfähigen, die Erwerbsfähigen (in Wirklichkeit: die Erwerbstätigen) und die nicht mehr Erwerbsfähigen – hat die mittlere Generation eine doppelte Last zu schultern. An die noch nicht erwerbstätige Generation erbringt sie Unterhaltsleistungen, gewissermaßen zur Vorsorge ihres eigenen Unterhalts, wenn sie selbst aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein wird. Gegenüber der nicht mehr erwerbstätigen Generation finanziert sie Rentenleistungen, die als Abgeltung derjenigen Leistungen begriffen werden können, die sie selbst in Zeiten eigener Erwerbsunfähigkeit erhalten hat. Die Konstruktion der „Drei-Generationen-Gerechtigkeit“99 hat die Evidenz des gesunden Menschenverstands für sich. Bereits Johann Peter Hebel formuliert sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seiner Geschichte vom braven Landmann: „Ein Fürst traf auf einem Spazierritt einen fleißigen und frohen Landmann an dem Ackergeschäft an und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein. Nach einigen Fragen erfuhr er, daß der Acker nicht sein Eigentum sei, sondern daß er als Tagelöhner täglich um 15 Kreuzer arbeite. Der Fürst … verwunderte sich darüber. Aber der brave Mann im Zwilchrock erwiderte ihm: ‚Es wäre mir übel gefehlt, wenn ich so viel brauchte. Mir muß ein Dritteil davon genügen; mit einem Dritteil zahle ich meine Schulden ab, und den übrigen Dritteil lege ich auf Kapitalien an.‘ Das war dem guten Fürsten ein neues Rätsel. Aber der fröhliche Landmann fuhr fort und sagte: ‚Ich teile meinen Verdienst mit meinen alten Eltern, die nicht mehr arbeiten können, und mit meinen Kindern, die es erst lernen müssen; jenen vergelte ich die Liebe, die sie mir in meiner Kindheit erwiesen haben, und von diesen hoffe ich, daß sie mich einst in meinem müden Alter auch nicht verlassen werden.‘“100 Unverändert folgt das geltende System der Rentenversicherung diesem Muster in seinem grundsätzlichen Ansatz, apostrophiert als „Prinzip der intergenerationellen Solidarität“101. Seit den Zeiten Hebels wie Schreibers haben sich die Rahmenumstände freilich fundamental 95 96 97 98 99 100 101 Rauschning/Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), 167, 211. Zu Recht aufgeworfene Frage bei Calliess (FN 84), S. 118. Schulze-Fielitz (FN 90), Art. 20a Rn. 35. Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 29 (sog. „Schreiber-Plan“). Einflußreich aus Sicht der kirchlichen Soziallehre von Nell-Breuning, Soziale Sicherheit?, 1979. Hebel, Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes (1811), in: ders., Werke, 1960, S. 12. Skizze und Wertung: Schlußbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, BT-Drs. 14/8800, S. 37. 12 geändert, wobei in erster Linie der dramatische Wandel der demographischen Gegebenheiten verantwortlich zeichnet: Seit Jahrzehnten gehen die Geburtenzahlen zurück, umgekehrt steigt die Lebenserwartung102. Die tatsächliche Konsequenz – immer weniger Beitragszahler müssen immer länger für immer mehr Beitragsempfänger aufkommen – stellt zwangsläufig die Frage nach den rechtlichen Handlungsoptionen: Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge (also: Belastung der „mittleren“ Generation)? Senkung der Rentenleistungen (also: Belastung der „alten“ Generation)? Oder aber Vermehrung des Bundeszuschusses103 (damit: Erhöhung der Staatsschuld, also Belastung der „künftigen“ Generation)? Was von alledem ist „gerecht“? Sicher ist nur: Der Staat steht vor einem „sozialund fiskalpolitische(n) Dilemma“104. Dieses aufzulösen, ist primär Aufgabe der und Herausforderung für die Politik. Das geltende Sozialversicherungssystem als solches ist nicht verfassungsgeboten105, dem Gesetzgeber kommt gerade hier – unter Beachtung der allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben – ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu. Indes dürfte Konsens darüber bestehen, daß das gegenwärtige System in dieser Form nicht aufrechtzuerhalten ist. Ob dafür eine systemimmanente Reform ausreichend ist, oder ob es eines grundlegenden Systemwechsels bedürfte, wird in der Wissenschaft überaus kontrovers diskutiert106, was hier nicht weiter zu vertiefen ist. Zu skizzieren bleibt, ob und inwiefern das Verfassungsrecht Änderungen des überkommenen Systems der „Rentenreform 1957“107 fordert, zuläßt oder hindert. Bekanntlich beruht es auf den beiden zentralen Prinzipien des Umlageverfahrens (statt des in der privaten Versicherungswirtschaft gängigen Kapitaldeckungsverfahrens)108 sowie der „dynamischen Rente“ (Proportionalität zum durchschnittlichen Arbeitseinkommen der aktuell Erwerbstätigen)109. Jedenfalls in zweifacher Hinsicht ist der verfassungsrechtliche Boden schon beackert, wenngleich noch nicht endgültig bestellt. Ein dritter Punkt birgt Potential für weiterreichende Diskussionen. Zum einen ist in der Rechtsprechung des BVerfG wie im Schrifttum geklärt, daß rentenversicherungsrechtliche Positionen – (aktuelle) Renten(ansprüche) sowie Rentenanwartschaften – dem Schutz des Eigentumsgrundrechts (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) unterfallen110. Einzelheiten sind dabei unverändert streitig, zumal das BVerfG dem Gesetzgeber bei seiner Aufgabe, „die Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherungen im Interesse aller zu erhalten“ eine „weite Gestaltungsfreiheit“ zugebilligt hat111. Mit zunehmender Dringlichkeit stellt sich gleichwohl die Frage, ob ein (Zwangs-)System, das in absehbarer Zeit den heute Erwerbstätigen höhere Beiträge abverlangt, als sie später als eigene Rentenleistungen erhalten werden („NegativRendite“) verfassungskonform ist112. 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 Datenbestand ebd., S. 15 ff. Siehe § 213 SGB VI. Zutreffend Köbl, „Generationengerechtigkeit“ – Überforderung von Politik und Recht?, in: FS Söllner, 2000, S. 523 (525). BVerfGE 39, 302 (314 f.). Umfangr.Nachw. bei Köbl, in: FS Söllner (FN 104), S. 523 (525, Fn. 10). Monographisch Löckenhoff, Die Sozialpolitiklehre Wilfrid Schreibers zur Gesetzlichen Rentenversicherung und Vermögensbildung, 1990; Habisch, Sozialpolitik als Gesellschaftsordnungspolitik, 1999. Schreiber (FN 98), S. 20 f. Schreiber (FN 98), S. 43. Grdl. BVerfGE 53, 257 (289 ff.), seitdem st. Rspr.; aus der Literatur statt aller Wenner, Rentenniveau und Grundgesetz, in: FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 627. BVerfGE 53, 257 (293). Problematisiert insbes. von Papier, Alterssicherung und Eigentumsschutz, in: FS Leisner, 1999, S. 721 (741); ders., Verfassungsrecht und Rentenversicherungsrecht, DRV 2001, 351. 13 Zweitens hat das BVerfG wiederholt die zentrale Funktionsvoraussetzung des Umlageverfahrens in Erinnerung gerufen („die als Generationenvertrag ausgestaltete Rentenversicherung läßt sich ohne die nachrückende Generation nicht aufrechterhalten“113) und daraus rechtliche Folgerungen für die in diesem Kontext gebotene Förderung der Familie gezogen. Beachtung verdient, daß der (ursprüngliche) „Schreiber-Plan“ zur Honorierung der familiären Leistung der Kindererziehung eine zusätzliche „Kindheits- und Jugendrente“ vorgesehen hatte114, welche seinerzeit aus politischen Gründen und allzu burschikos („Kinder kriegen die Leute immer“) aus dem Konzept entfernt wurde115. Den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) hat das BVerfG zumindest über Art. 3 Abs. 1 GG wirksam werden lassen, als es im Pflegeversicherungsurteil einen gleich hohen Beitrag für Versicherungspflichtige mit Kindern und solche ohne Kinder für verfassungswidrig erklärt hat116. Der an den Gesetzgeber gerichtete Prüfauftrag, die Übertragung dieser Grundsätze auch für andere Zweige der Sozialversicherung in Erwägung zu ziehen117, blieb indes praktisch folgenlos118. Schließlich ist das System der Rentenversicherung auch, künftig wohl vermehrt, am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG sowie dieser Norm entlehnten Topoi (wie etwa dem der Systemgerechtigkeit119) auszurichten. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat das BVerfG den Gleichheitssatz vor allem zur Begründung eines effektiven Schutzes der Familie herangezogen120, was ebenso gut (wenn nicht überzeugender) über eine direkte Anwendung von Art. 6 Abs. 1 GG erreichbar gewesen wäre121. Seine Bedeutung wird insbesondere bei – wie auch immer konzipierten – Systemänderungen liegen. In diesem Rahmen wird zu erwägen sein, dem Gesichtspunkt der intergenerationellen Gerechtigkeit einen größeren Raum als bisher einzuräumen122: „Gleichheit in der Zeit“ ist als rechtlicher Maßstab überwiegend nicht anerkannt, die Zeit ist nach der Wendung Günter Dürigs „eine offene Flanke des Gleichheitssatzes“123. Einen weiter auszulotenden124 Anhalt für verfassungsgeforderte 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 BVerfGE 87, 1 (37); ebenso BVerfGE 103, 242 (264): „Die heutigen Beitragszahler der erwerbsfähigen Generation vertrauen im Umlageverfahren darauf, daß in der Zukunft in ausreichendem Umfang neue Beitragsschuldner vorhanden sind“. Schreiber (FN 98), postulierte sie ausdrücklich als „bewußtes Element der Bevölkerungspolitik“ (S. 35), um dezidiert fortzufahren: „Wer kinderlos oder kinderarm ins Rentenalter geht, und … für gleiche Beitragsleistungen gleiche Rente verlangt und erhält, zehrt im Grunde parasitär an der Mehrleistung der Kinderreichen, die seine Minderleistung kompensiert haben.“ (S. 37). Zugleich betonte Schreiber, es gehe nicht darum, einen Ehelosen „für seine ‚Ehelosigkeit‘ zu bestrafen – eine sittliche Wertung seines Verhaltens ist nicht Sache dieser Abhandlung … Es wird ja keine Gesinnung belohnt oder bestraft, es werden nur Folgerungen aus objektiven wirtschaftlichen Tatsachen gezogen. Ob einer ehelos bleiben will und wieviel Kinder er haben will, sei eine eigene, höchst individuelle Entscheidung, in die ihm kein Staat dreinreden soll.“ (S. 37 f.). Journalistische Fundamentalkritik: Steingart, Deutschland. Der Abstieg eines Superstars, 2004, S. 186 ff. BVerfGE 103, 242 (263 ff.); erläuternd Steiner, NZS 2004, 505 (506 ff.). BVerfGE 103, 242 (270). Die Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ (FN 101), S. 168, vermerkte freilich kühl, „eine Generation, die deutlich weniger Kinder hat als frühere Generationen … hat sich allerdings in gewissem Sinn bereits selbst durch ihre geringere Fertilität vom herkömmlichen Generationenvertrag verabschiedet.“ – Aber: Ist das (nur) die Schuld „der Generation“? Hat nicht (auch) eine wenig familienfördernde Politik jahrzehntelang entsprechende Verhaltensweisen befördert oder jedenfalls nicht rechtzeitig gegengesteuert? Grdl. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985. BVerfGE 87, 1 (35 ff.); 103, 242 (263 ff.). Offenlegung des Motivs bei Steiner, NZS 2004, 505 (507): Bestreben nach „wertfreier“ Anlage des Urteils. Auch die Zurückhaltung in der dogmatischen Begründung hat die Entscheidungen des BVerfG nicht davor gefeit, unter Ideologieverdacht gestellt zu werden: Welti, Rechtliche Aspekte von Generationengerechtigkeit, KJ 2004, 255 (263 ff.). Problemskizze: Haverkate (FN 1), S. 320 ff. Dürig, in: Maunz/ders. (Hrsg.), GG, Art. 3 I Rn. 210 ff. Dazu bereits mit beachtenswerten Argumenten Hebeler, Generationengerechtigkeit als verfassungsrechtliches Gebot in der sozialen Rentenversicherung, 2001. 14 Elemente von Generationenausgleich bzw. -gerechtigkeit könnte etwa die Berücksichtigung demographischer Faktoren im (einfachen) Rentenrecht darstellen125. Unabhängig davon werfen die bereits eingeleiteten konzeptionellen Änderungen des Rentensystems komplexe Fragen der intragenerationellen Gerechtigkeit auf: Nimmt man den Wandel der Rente von einem Lohnersatz- zu einem Teilsicherungsmodell als gegeben an126, muß dann nicht den Staat Gewähr dafür leisten, daß sich künftige Rentnergenerationen tatsächlich ergänzend absichern (zumal da nicht wenige Versicherungspflichtige auf die Aussage seiner maßgeblichen Repräsentanten von der „sicheren Rente“127 vertraut haben werden)?128 Muß aber nicht auch künftig für die Rentenzahlungen aus Gründen der Systemgerechtigkeit ein Abstandsgebot zum Sozialhilfeniveau gelten?129 III. Verankerung in übergreifenden Prinzipien? Erbringt die Suche nach expliziten wie impliziten Ausprägungen von „Generationengerechtigkeit“ im positiven Verfassungsrecht quantitativ wie qualitativ begrenzten Ertrag, läßt sich der Grundsatz möglicherweise in übergreifenden Verfassungsrechtssätzen verorten. An derartigen Versuchen hat es in der Vergangenheit nicht gefehlt, Erfolg war keinem beschieden. Das betrifft zum einen das Demokratieprinzip, dem verschiedene Autoren der 1980er Jahre rechtliche Grenzen für „irreversible“ Entscheidungen der Mehrheit entnehmen wollten130. Eine derartige Sicht greift einen zutreffend erkanntes Strukturproblem auf, um daraus freilich unzutreffende Schlußfolgerungen zu ziehen: In der Tat ist es eine crux der modernen Demokratie, daß (relativ) kurzzeitig legitimierte Entscheidungsträger (auch) Entscheidungen zu treffen haben, welche sich erst in wesentlich längeren Zeiträumen auswirken. Hinzu kommt, daß diese Entscheidungsträger, um ihre Wiederwahl besorgt, dazu neigen, kurzfristige Interessen der gegenwärtigen Bürger zu bedienen, für deren Lasten dann die künftigen Bürger aufzukommen haben. Mit dieser Unvollkommenheit muß die Demokratie (wie jedes Menschenwerk) indes leben. Dafür, daß das grundgesetzliche Demokratieprinzip eine Einschränkung für „weitreichende“, „irreversible“ Entscheidungen enthielte, fehlt nicht nur jeder Anhalt131, sondern auch inhaltliche Legitimation: Sie führt einmal mehr zur „Urfrage der Staatsrechtslehre“132 – quis iudicabit? Wer befindet über die Irreversibilität einer Maßnahme, wer über ihre Unzumutbarkeit für die künftigen Generationen? Zu Recht wurde 125 126 127 128 129 130 131 132 Bekanntlich wurde – wenngleich spät – durch das Rentenreformgesetz 1999 (v. 16. Dezember 1997, BGBl. I S. 2998) ein derartiger Faktor eingeführt, um nach dem Regierungswechsel 1998 sogleich wieder kassiert zu werden (Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte v. 19. Dezember 1998, BGBl. I S. 3843). Zur Lohnersatzfunktion der Rente noch BVerfGE 48, 346 (358 f.); Papier, in: FS Leisner (FN 112), S. 721 (732 ff.), der Absicht des historischen Rentengesetzgebers der 1950er Jahre folgend, den Rentner „aus der Nähe des Fürsorgeempfängers in die Nachbarschaft des Lohnempfängers“ zu rücken (BT-Drs. II/2437, S. 57 f.). – Seit 2004 ist die gesetzliche Rentenversicherung – neben der betrieblichen und der privaten Vorsorge – nur noch eine von drei Säulen der Alterssicherung (Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung v. 21. Juli 2004, BGBl. I S. 1791). Dazu Depenheuer, Wie sicher ist verfassungsrechtlich die Rente?, AöR 120 (1995), 417. Gegenwärtig schafft der Staat hinsichtlich der privaten Vorsorge lediglich Anreize in Form von Zulagen und Steuerfreibeträgen („Riester-Rente“, s. das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens v. 26. Juni 2001, BGBl. I. S. 1310, sowie §§ 10a, 79 ff. EStG). – Denkbare Alternative wäre eine private Zusatzversicherungspflicht nach dem Vorbild der Kfz-Versicherung; ablehnend Sodan, Verfassungsrechtliche Determinanten der gesetzlichen Rentenversicherung, NZS 2005, 561 (564). Dafür Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 240 ff., 248 ff.; Wenner, in: FS 50 Jahre BSG (FN 110), S. 627 (639 ff.); Sodan, NZS 2005, 561 (564). Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, 1984, S. 292; Saladin/Zenger (FN 13), S. 99; ähnlich für das Staatsschuldenrecht Püttner (FN 14), S. 11. Statt aller Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 55. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, 1980, S. ▪. 15 jener Position entgegengehalten, sie offenbare sowohl ein antiquiertes Verständnis von den Aufgaben eines modernen Staates wie ein einseitiges und verabsolutierendes Verständnis des Demokratieprinzips im Verfassungsgefüge133. Das BVerfG hat sie in einem Satz verworfen134. Gleichfalls ohne nennenswerte Gefolgschaft blieb der Ansatz, künftigen Generationen als Grundrechtsträger anzusehen und ihnen im Wege gewillkürter Prozeßstandschaft die Geltendmachung ihrer „Rechte“ zu ermöglichen135. Speziell in Deutschland besteht für ein derartiges Konstrukt um so weniger ein Bedürfnis, als die eingeführten Figuren der Grundrechtsdogmatik – Schutzpflicht, erweiterter „Eingriffs“-Begriff – in den beschworenen Extremfällen in der Lage sein werden, „generationengerechte“ Ergebnisse zu erzielen 136. Auffällig ist aber ein Mangel an Konsistenz des Gedankens, der Zweifel an seinem praktischen Wirksamwerden aufwirft: Seit Jahrzehnten hat es die Rechtsordnung trotz zweier Entscheidungen des BVerfG nicht vermocht, das elementare Grundrecht einer bestimmten Gruppe künftiger Generationen wirksam zu schützen – der ungeborenen Kinder137. Daß die Grundrechte einen solchen Schutz dann aber ferneren Generationen gewähren könnten, ist nicht recht einsichtig. IV. Stärkere Verankerung durch Verfassungsänderung? Trifft es zu, daß es sich beim Thema „Generationengerechtigkeit“ um eine Zukunftsaufgabe handelt, und ist weiter richtig, daß das geltende Verfassungsrecht dieser Bedeutung nicht voll entspricht, könnte dies die Stunde von Verfassungsänderungen sein. Systematisiert man die dazu unterbreiteten Vorschläge, so lassen sich drei Ansätze bilden: ein subjektivbürgerschaftlicher, ein objektiv-institutioneller sowie ein strukturbezogener. Seit Beginn der 1990er Jahre werden – nicht nur, aber auch durch den Gedanken der „Generationengerechtigkeit“ motiviert – Änderungen des aktiven Wahlrechts vorgeschlagen. Von Instituten wie einem Familien-138 oder gar einem Kinderwahlrecht139 versprechen sich Befürworter eine verstärkte Berücksichtigung der Belange dieser Gruppen im politischen Prozeß. Indes steht die Eignung beider Instrumente für die Zielsetzung der „Generationengerechtigkeit“ dahin (von den nicht unerheblichen sonstigen verfassungsrechtlichen Problemen nicht zu handeln): Auch Familien und Kinder sind nicht davor gefeit, primär ihre eigenen Belange zu verfolgen – ihre Prädestination zu Sachwaltern künftiger Generationen ist bloße Annahme. Der objektiv-institutionelle Ansatz will die Sache der „Generationengerechtigkeit“ Expertengremien anvertrauen140. Wie bereits zuvor im Ausland141, bestehen mittlerweile diverse Gutachtergremien und Beiräte142, deren Kreation eine Frage der Zweckmäßigkeit sein 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 Henseler, AöR 108 (1983), 489 (499). BVerfGE 79, 311 (340 f.). Diskussionsstand in Deutschland bei Appel (FN 10), S. ▪ ff. Auch Autoren, welche „Generationengerechtigkeit“ aus den Grundrechten ableiten, rekurrieren letztlich auf die Schutzpflichtdimension, so etwa Hofmann (FN 11), S. 266 ff., 280 ff.; Haverkate (FN 1), S. 251 f. Konsequent und scharfsichtig Haverkate, ebd., S. 252, der in das von ihm geforderte „virtuelle Gegenseitigkeitsverhältnis“ zwischen heute Lebenden und künftigen Generationen „erst recht“ das werdende menschliche Leben (bezeichnet als „konkrete Zukunft bereits in der Gegenwart“) einbeziehen möchte. Post, Erfahrungen mit dem Familienwahlrecht als Bestandteil des Allgemeinen Wahlrechts, ZRP 1996, 377; Schroeder, Familienwahlrecht und Grundgesetz, JZ 2003, 917; Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demokratische Wandel. Brauchen wir ein Familienwahlrecht?, Der Staat 44 (2005), 43. Hattenhauer, Über das Minderjährigenwahlrecht, JZ 1996, 9; M. Breuer, Kinderwahlrecht vor dem BVerfG, NVwZ 2002, 43; Oebbecke, Das Wahlrecht von Geburt an, JZ 2004, 987. Statt aller Kloepfer (FN 83), Art. 20a Rn. 79, mit der Benennung denkbarer Mechanismen. Tremmel, Institutionelle Verankerung der Rechte nachrückender Generationen, ZRP 2004, 44 (45 ff.). So hat der Bundestag 2004 einen „Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung“ eingerichtet (Einzelheiten: BT-Drs. 15/2441). 16 kann (Gewinnung unabhängigen Sachverstands). Ob die Belange der „Generationengerechtigkeit“ einem eigenen Ministerium anvertraut werden, ist eine von der Regierung kraft ihrer Organisationsgewalt zu treffende Entscheidung143. Ein unter dem Aspekt der Autorität und Legitimation des Parlaments äußerst problematischer Vorschlag ging dahin, auf der Ebene des Verfassungsrechts zusätzliche Gremien mit Beteiligungsrechten im Gesetzgebungsverfahren („Ökologischer Rat“) vorzusehen144. Als strukturbezogen stellt sich schließlich die erwähnte Gesetzesinitiative zur Einführung einer Staatszielbestimmung „Generationengerechtigkeit“ dar145. Demnach soll der Staat allgemein (Art. 20b GG) wie im Haushaltsrecht (Art. 109 Abs. 2 GG) verpflichtet werden, das „Prinzip der Nachhaltigkeit“ sowie die „Interessen der künftigen Generationen“ zu schützen bzw. ihnen „Rechnung zu tragen“. Schon länger wurden indes im Schrifttum skeptische Stimmen laut, was in der Sache – jenseits erhöhter Bewußtseinsbildung – mit der verfassungsgesetzlichen Nobilitierung der Belange „Nachhaltigkeit“ oder „Generationengerechtigkeit“ gewonnen wäre146. Ob auch sie dem Verdikt von Josef Isensee unterfallen werden, bloße „symbolische Verfassungsgesetzgebung darzustellen147, mag die anstehende Diskussion erweisen. V. „Generationengerechtigkeit“ als Staatszweck Ist der Gedanke der „Generationengerechtigkeit“ im positiven Verfassungsrecht nur in einzelnen Ausprägungen verankert und lassen sich gegen weitere Textbezüge zumindest Einwände formulieren, besagt dies nichts über dessen rechtliche Relevanz im demokratischen Verfassungsstaat. Auch er ist diesem Anliegen wesenhaft verpflichtet, kann sich ihm nicht entziehen und hat ihn um seiner selbst willen immer wieder neu zu aktualisieren. „Generationengerechtigkeit“, verstanden als Zuordnungs- und Ausgleichsverhältnis von früherer, heutiger und künftiger Generation, ist eine Funktionsbedingung des Staates über die zeitgebundenen Verhältnisse hinweg: So, wie die heutige Generation rechtlich wie tatsächlich auf den Leistungen der Vorverfahren aufbaut, hat auch sie ihren Nachkommen ein Erbe zu hinterlassen, das ihnen ein Leben zu den Bedingungen jener Werte ermöglicht, welche die Verfassung selbst als unabänderlich festschreibt (Art. 79 Abs. 3 GG). Dieser Zusammenhang ist so fundamental, daß er einer ausdrücklichen Festschreibung im Verfassungstext nicht notwendigerweise bedarf (wiewohl es dafür verfassungsgeschichtliche Belege gibt148) – er ergibt sich aus dem Sinn und der Funktion des Staates als umfassender Verband der ihm angehörenden Glieder. Ihn haben zu unterschiedlichen Zeiten so unterschiedliche Gelehrte betont wie Georg Jellinek („Das Gemeininteresse … geht hinaus über das Interesse der momentan den Staat bildenden Menschen, es umfaßt ebenso das Interesse der noch ungeborenen Generationen, es erstreckt sich in die fernste Zukunft.“149) und Horst Ehmke (es sei „Sinn der Verfassung, auch den kommenden Generationen ein freies politisches Leben zu 143 144 145 146 147 148 149 Seit 2005 besteht in Nordrhein-Westfalen ein „Ministerium für Generationen, Familien, Frauen und Integration“. – Freilich haben derartige Ressortzuschnitte ihre Nachhaltigkeit noch zu erweisen: Der 1995 in Frankreich errichtete Geschäftsbereich „für Solidarität zwischen den Generationen“ (lobend Häberle, in: FS Zacher [FN 1], S. 215 [216]) besteht nicht mehr, unverändert aber einer „für Weltkriegsveteranen“. So im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission (FN 15) der Abg. Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Kommissionsdrucksache Nr. 48 zu BT-Drs. 12/6000. – Der Entwurf war wörtlich identisch mit einem (von Ullmann mitinitiierten) Verfassungsentwurf eines „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“, s. Guggenberger/Preuß/Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, 1991. Nachw. FN 23. Appel (FN 10), S. 298; Steiner, NZS 2004, 505 (508 f.). Isensee, Vom Stil der Verfassung, 1999, S. 33 ff. Den Gedanken einer rechtlich verstandenen Verantwortung für die Nachwelt formulieren erstmals die Verfassungsurkunden der nordamerikanischen Einzelstaaten des späten 18. Jahrhunderts, Nachw. bei Sommermann (FN 33), S. 187 f. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 68 f. (JS: KK 40/8). 17 gewährleisten“150), nicht zuletzt aber Josef Isensee selbst: „Solidarität gilt nicht nur in der Gleichzeitigkeit, sie gilt über die Zeiten hinweg. Staat ist Einheit in der Zeit.“ 151 150 151 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 128 ff., 137. Isensee, Stichwort „Staat“, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon V, 7. Aufl. 1989, Sp. 133 (138); ähnlich ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 82: Der Staat ist dauerhafte Schicksalsgemeinschaft, „Bündnis der Generationen über die Zeiten hinweg“. 18