1 FDP Baden-Württemberg Schwäbisch Hall, 8. Nov.2003 Der demografische Wandel – Auswirkungen auf unsere zukünftige Gesellschaft Prof. Dr. Ursula Lehr DZFA, Universität Heidelberg Ich möchte unter 6 Aspekten den demografischen Wandel diskutieren und einige Konsequenzen für Individuen und Gesellschaft aufzeigen. II: Der demografische Wandel, das Leben in einer alternden Welt 1) Die Zunahme der Lebenserwartung Um 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung etwa 45 Jahren, heute hat bei uns ein neugeborener Junge eine Lebenserwartung von 74,6 Jahren, ein neugeborenes Mädchen von knapp 82 Jahren. Man kann davon ausgehen, dass sich pro Jahr die Lebenserwartung des Neugeborenen um 3 Monate verlängert, d.h., dass unsere Gesellschaft weiter altern wird. – Der 60jährige hat schon heute noch eine durchschnittliche weitere Lebenserwartung von etwa 23 Jahren. Das heißt: wenn man heute in Rente geht, dann hat man noch mehr als ein Viertel seines Lebens vor sich – bei besserer Gesundheit und höherer Kompetenz, als dies vor Jahrzehnten der Fall war. Aber wir haben nicht nur eine zunehmende Langlebigkeit, sondern auch eine verlängerte Jugendzeit. Man beginnt später mit der Berufstätigkeit, man heiratet später (wenn überhaupt), man zählt in allen politischen Parteien bis 35 Jahre zu den Jugendorganisationen. Also: bis 35 ist man „Jugend“, ab 45 bereits „älterer Arbeitnehmer“ und ab 50 wird man als „zu alt“ betrachtet für einen neuen Job und ab 55 spricht einen die „Seniorenwirtschaft“ an, zählt man zu den Senioren. „Vom BAFÖG in die Rente“ – kann das ein Lebensziel sein? Schon jetzt: die Löcher in den Rentenkassen, den Krankenkassen und Pflegekassen sind nicht nur durch die zunehmende Langlebigkeit und den höheren Anteil alter Menschen bedingt: Sie sind auch Folge der wirtschaftlichen Situation und einer Bildungspolitik, die zu einem verspätetem Berufsbeginn und verfrühtem Berufende führt. Ein ein Jahr früherer Berufsanfang würde 1,3 Beitragspunkte (Westerwelle), ein ein Jahr späteres faktisches Berufende sogar 1,7 Punkte (Rürup) bei der Rentenabgabe sparen. 2) Deutschland wird älter: wir leben in einer alternden Welt. Der Anteil der über 60jährigen in Deutschland betrug um die Jahrhundertwende 5%, heute sind es fast 25% und für das Jahr 2030 rechnet man mit ca. 35- 38% der Bevölkerung, die das 60.Lebensjahr erreicht bzw. überschritten hat. Der Anteil der unter 20jährigen geht mehr und mehr zurück (heute haben wir nur 21% unter 20 Jahren – schon 2030 werden wir doppelt so viele über 60jährige haben wie unter 20jährige, 35:17%). 2 Aber wir haben auch eine Zunahme des Anteils der über 70-,80- 90 und Hundertjährigen, Vor 35 Jahren lebten in Deutschland 265 Hundertjährige; 1994 waren es 4602 (558 Männer und 4004 Frauen); und heute leben bei uns etwa 10.000 Personen „die aus dem vorletzten Jahrhundert“ stammen, 2025 werden es über 44.000 sein, 2050 sogar über 117.000. Hier sei aber jetzt schon festgestellt, dass etwa ein Drittel aller Hundertjährigen noch so kompetent ist, dass es alleine den Alltag meistern kann; ein 2. Drittel ist hilfsbedürftig, kann aber noch außer Haus gehen. Das dritte Drittel ist schwer pflegebedürftig und wünscht zum Teil den Tod herbei. Die Gruppe der Hochbetagten oder Langlebigen, die der über 80jährigen, ist weltweit die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe in den nächsten Jahren. – Doch die übliche Einteilung, von den sog. “jungen Alten“ und ab 80/85 von den „alten Alten“ zu sprechen, ist problematisch. Manch einer ist schon mit 55/60 ein „alter Alter“, andere sind noch mit 90 „junge Alte“. Das „functional age“ ist ausschlaggebend, die Funktionsfähigkeit verschiedener körperlicher und seelischgeistiger Fähigkeiten. Und diese Funktionsfähigkeiten sind keinesfalls an ein chronologisches Alter gebunden, sondern werden von biologischen und sozialen Faktoren, die während eines ganzen Lebens einwirken, mitbestimmt. Hier werden Schulbildung, berufliches Training, Lebensstil und Reaktionen auf Belastungen ausschlaggebend. Einem generellen Defizit-Modell des Alterns ist der Kampf anzusagen; es wurde durch viele Studien widerlegt. Altern muss nicht Abbau und Verlust bedeuten, sondern kann in vielen Bereichen geradezu Gewinn sein, Zunahme von Kompetenzen und Potentialen, und damit eine Chance – für den Einzelnen und die Gesellschaft! Fest steht: Gleichaltrige zeigen oft größere Unterschiede als Menschen, deren Altersunterschied 20 Jahre und mehr beträgt. - Die Forschung hat sehr viel zur neuen Sicht des Alters beigetragen. Sie hat nachgewiesen: je älter wir werden, um so weniger sagt die Anzahl der Jahre etwas aus über Fähigkeiten und Fertigkeiten, über Erlebensund Verhaltensweisen. Alterszustand und Alternsprozesse sind stets das Ergebnis des eigenen Lebenslaufes, ureigenster individueller Erlebnisse und Erfahrungen und der ganz persönlichen spezifischen Art der Auseinandersetzung mit diesen. Sie sind beeinflusst durch viele Facetten der gegenwärtigen Situation, zu denen neben Gesundheit, finanzieller Situation, familiärer Situation auch das Altersbild der Gesellschaft gehört – und das ist bei uns in Deutschland sehr negativ getönt. Die Wirtschaft, die großen Konzerne und alle Parteien preisen eine „Verjüngung“, einen „Generationswechsel“ – der „große Bellheim“ wird bestenfalls bewundert, gehandelt wird nicht danach. Doch schließlich ist das Altern einer Gesellschaft ist aber neben der zunehmenden Langlebigkeit auch durch die abnehmenden Geburtenzahlen bedingt, was sich auch auf Wirtschaft und Handwerk auswirken dürfte. Selbst so kinderfreundliche Länder wie Spanien und Italien, neuerdings auch Griechenland, konstatieren ein Sinken der Geburtenrate. Deutschland liegt unter dem Durchschnitt der EU, und es ist nicht anzunehmen, dass es hier – trotz familienpolitischer Leistungen – zu Veränderungen kommen wird. Damit man mich nicht falsch versteht: familienpolitische Leistungen sind notwendig und könnten sogar noch verbessert werden – aber sie sind kein Instrument einer Bevölkerungspolitik. Ein JA zum Kind erreicht man bei der jungen Generation eher durch eine Gewährleistung der Kinderbetreuung, durch bessere Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, als durch 3 300 oder auch 600.00 EURO! – Eine bessere Kinderbetreuung ist notwendig! hier sind auch die Betriebe gefordert! Aber wir sollten die Forderung nach Kindergärten nicht nur unter dem Aspekt der Entlastung der Mütter sehen, sondern: Kinder brauchen Kinder! Bestimmte Verhaltensweisen lernt das zweijährige Kind nur von Kindern und nicht von noch so geschulten Eltern (Geben und Nehmen!) Die Gründe des Geburtenrückgangs sind vielseitig und liegen - einmal in den seit den 60er Jahren gegebenen besseren Möglichkeiten der Familienplanung („Pille“), - in dem Verlust des „instrumentellen“ Faktors (Kind als Arbeitskraft, als persönliche Alterssicherung, als „Stammhalter“ bzw. Namensträger) - in der einseitigen öffentlichen Diskussion „Kind als Kostenfaktor“, bei der verschwiegen wird, dass Kinder auch Freude machen und eine enorme Bereicherung des Lebens sind; dass im Grunde genommen diejenigen „arm“ sind, die keine Kinder haben – auch wenn sie sich jetzt vielleicht mehr leisten können; - Einer der Gründe des Geburtenrückgangs liegt aber auch in der verlängerten Jugendzeit, in der sich manchmal bis in das vierte Lebensjahrzehnt hinein ziehenden Berufsausbildung; in der in ein immer höheres Lebensalter hinausgeschobenen Heirat (auch mitbedingt durch die gesellschaftliche Akzeptanz enger partnerschaftlicher Beziehungen ohne Trauschein); - Ein weiterer Punkt: Während in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts die Frau solange im Elternhaus lebte, bis geheiratet wurde (und sie so zur Anpassung an die Lebensgewohnheiten anderer gezwungen war), nach der Heirat sehr schnell Kinder kamen, die wiederum eine Anpassung verlangten, geht sie heute mit 18,20 Jahren aus dem Haus und lebt selbständig, allein. Ein solches mehrjähriges Alleinwohnen führt zu einer verstärkten Ausbildung der Individualität; es bilden sich Eigenheiten und Gewohnheiten, eine Zeit in der oft ein ganz individueller eigener Lebensstil kreiert wird, der dann schon eine Anpassung an einen Partner, erst recht aber an Kinder, sehr erschwert. (Von hier aus gesehen ist auch kein Sinken der Scheidungsraten in Zukunft zu erwarten). 3. Das Verhältnis zwischen den Generationen hat sich verändert. a) Zunächst einmal unter quantitativen Aspekten: Kamen vor 100 Jahren auf einen über 75jährigen noch 79 jüngere Personen, so sind es heute nur noch 12,4. Und man hat berechnet, dass im Jahre 2040 ein über-75jähriger nur noch 6,2 Personen gegenüberstehen wird, die jünger als 75 Jahre sind, 2050 sogar nur noch 5.5. Wenn wir diese Entwicklung vor Augen haben, dann ist auch die Gesellschaft, die Kommune, - aber auch die Wirtschaft und Industrie gefordert. Dann haben wir einmal z.B. Konzepte der Stadtentwicklung zu überdenken - von der Verkehrsführung bis hin zu Sportstätten und Sportmöglichkeiten für Ältere; neben Kinderspielplätzen brauchen wir Sport- und Freizeitmöglichkeiten für Ältere; Warmbadetage in Schwimmbädern werden immer notwendiger. Wir müssen und Gedanken über die Erreichbarkeit von Schwimmbädern, Sportstätten, Arztpraxen und Einkaufsmöglichkeiten machen. Dabei gilt: manch ein Älterer ist durchaus noch fähig, sicher Auto zu fahren – auch wenn ihm das Zu- Fuß- Gehen größere Schwierigkeiten be- 4 reitet. Hier spielt sowohl der Öffentliche Nahverkehr als auch die Parkplatzfrage eine ganz große Rolle; Garagen ohne mühsames Treppensteigen sind sowohl für Ältere als auch für Kinderwägen notwendig! – Manch einer geht nicht in die Innenstädte einkaufen, weil dieses Problem nicht gelöst ist. Das Einkaufsverhalten richtet sich ganz stark nach dem Parkplatz in der Nähe. Wir haben aber auch über den entsprechenden Ausbau von Beschäftigungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten (und hier Ältere in die Programmgestaltung mit einzubeziehen) nachzudenken;- ein Umdenken im Freizeitbereich, aber auch im Gesundheitsbereich (Hausarztbesuche) wird erforderlich; Wohnungsplanung (Wohnungsausstattung) und Wohnumfeld sollte auf die veränderte Bevölkerungsstruktur und deren Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Warum können von vorne herein WCs nicht in Sitzhöhe sein, warum können nicht Badewannen von vorne herein einen Zusatzgriff haben? Weit mehr als bisher üblich haben sich Wirtschaft und Industrie auf das älterwerdende und strukturveränderte Land einzustellen; - das reicht von der notwendigen größeren Auswahl von 1-Personen-Rationen im Supermarkt bis hin zu einem kreativen Ausbau von Dienstleistungsangeboten, zu denen dann auch die Bedienung an der Tankstelle oder ein verstärkter Hol- und Bring-Dienst gehört. Das schließt aber auch sonstige vielseitige Veränderungen mit ein, die man unter dem Begriff der „Ökogerontologie“ und der „Gerontotechnik“ zusammenfasst (einfacher bedienende Fahrkartenautomaten, Lichtschalter, Armaturen, Telefontasten, Schraubverschlüsse bei Putzmitteln und Medikamenten, einfacher zu bedienende Videogeräte usw.) – Und: was ließe sich an unseren Autos alles benutzerfreundlicher gestalten! – Geronto- Ökologie, - altersgerechte Umweltgestaltung, ist ein relativ junger Forschungszweig. Wer dabei nur an barrierefreie Behördeneingänge denkt, denkt viel zu kurz. - Schauen Sie sich zum Beispiel in Gemäldeausstellungen einmal die Informationen zu den einzelnen Bildern an: ¨Minitafeln“, an die man ganz nahe herangehen muss, um etwas entziffern zu können. – Das gilt übrigens auch bei den Platzreservierungen in der Bundesbahn. Von kleiner, unleserlicher Beschriftung sind Senioren in erster Linie betroffen, wenngleich Sehbehinderungen ja bekanntlich auch bei Jüngeren vorkommen sollen. Und: haben unsere Auto- Konstrukteure schon realisiert, dass immer mehr ältere Menschen Auto fahren werden? Eine neuere Studie zeigt, dass sich bei den Seniorinnen der Anteil der Führerscheinbesitzer und Autofahrer von 2000 bis 2020 um 25% erhöhen wird, bei den Senioren um 10%. Was ließ sich hier alles verbessern, um das Ein- und Aussteigen zu erleichtern, um einfacher an den Haltegurt heranzukommen, um die Sitze leichter verstellbar zu machen? Und was die Elektronik angeht: manchmal wäre weniger mehr! - Das quantitative Verhältnis der Altersgruppen in unserem Land hat sich verändert, aber auch unter qualitativen Aspekten ist der demografische Wandel und das Verhältnis zwischen den Generationen zu diskutieren. b) Hier sei zunächst der Rückgang der 3- und 2-Generationen-Haushalte und der Anstieg der Ein-Generationen bzw. Ein-Personen-Haushalte erwähnt. Nur 1,1% von allen 34 Millionen Haushalten in der Bundesrepublik sind 3-GenerationenHaushalte. Rund 37% aller Haushalte in Deutschland sind heute 1-PersonenHaushalte (im Jahr 1900 waren es nicht einmal 5%!) – Diese zunehmende Singula- 5 risierung und Individualisierung sollte aber keineswegs mit Einsamkeit gleichgesetzt werden. Sie hat aber Konsequenzen sowohl in bezug auf die Kinderbetreuung als auch auf etwaige notwendig werdende Hilfs- und Pflegeleistungen im Alter. Und in der Gruppe der über 75jährigen leben zwei von drei Frauen in einem EinPersonen-Haushalt. Wer trägt da die Mineralwasserkästen hoch, wer schraubt da die neue Glühbirne in die Deckenbeleuchtung ein? Deswegen kann man nicht den Handwerker, den Elektriker rufen, - aber auch nicht den Pflegedienst der Sozialstation! Und wie ist es mit der täglichen Zeitungszustellung, wenn leicht Gehbehinderte die Tageszeitung abbestellen müssen, weil sie sich das Treppensteigen höchstens 1 mal am Tag zumuten können, aber dann die vor die Tür gelegte Zeitung weg ist? – Wir brauchen zumindest größere Briefkästen! – und mehr Nachbarschaftshilfe. Ein ganz großes Problem bei Ein-Personen- Haushalten: die Paketzustellung (seien es Versandhaus- oder Internet-Bestellungen). Alleinwohnende sind nicht immer zuhause und können dann kilometerweit fahren (oder gehen! und tragen!) zur nächsten Poststation. Es ist auch keiner da, der einmal schnell den Brief zum nächsten Briefkasten trägt (für manchen Älteren eine Riesenbelastung!). Post und Bahn haben keineswegs den demografischen Wandel berücksichtigt! Ein ähnliches Problem ist aber auch gegeben, wenn der Handwerker keine genaue Uhrzeit angeben kann oder diese Uhrzeit nicht einhalten kann! Da hatte man es bei MehrpersonenHaushalten leichter. c) Zum anderen aber haben wir gleichzeitig einen Trend zur 4 (bzw.5)Generationen- Familie, die allerdings nicht im gleichen Haushalt leben. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts kannte ein Kind bestenfalls 2 seiner Großeltern. Heute leben im allgemeinen noch alle 4 Großeltern, oft sogar noch 2 Urgroßeltern. – Rund 20% der über 60jährigen haben Urenkel; aber ebenso viele haben noch einen lebenden Elternteil. Die Großeltern- Generation sind die „sandwich-generation“, die oft sowohl für Kinder- und Kindeskinder aufkommen als auch noch für die alten Eltern sorgen. Die viel gepriesene Familienpflege sieht heute oft so aus, dass die Großmutter die Urgroßmutter pflegt. – Großeltern sind heutzutage weit öfter die „Gebenden“ als die „Nehmenden“.. Heute wissen wir, dass dem öffentlichen Leistungsstrom von den Jüngeren zu den Älteren im Rahmen der Sozialversicherung ein privater Leistungsstrom von den Älteren zu den Jüngeren gegenübersteht...Es gibt also starke Solidaritätsbeziehungen, die das Konfliktpotential zwischen den Generationen verringern“ (KOHLI et al. 1996). Wir haben die „multilokale Mehrgenerationenfamilie“, oder – nach BENGTSON: die „Bohnenstangenfamilie“, in der Schwestern und Brüder, Cousins und Cousinen, Schwägerinnen und Schwäger fehlen. Andererseits braucht der Mensch aber Kontakt zu seiner Generation – den muss er sich heutzutage außerhalb der Familie suchen. 4. Vom 3-Generationen-Vertrag zum 5-Generationen-Vertrag: Generationenkonflikt oder Generationensolidarität? Der 3-Generationen-Vertrag ist schon heute zu einem 5-Generationen-Vertrag geworden. Er wurde bekanntlich Ende letzten Jahrhunderts ins Leben gerufen und besagt, dass diejenigen, die im Erwerbsleben stehen, durch ihre Steuern und Beiträ- 6 ge für jene aufzukommen haben, die noch nicht ins Erwerbsleben eingetreten sind und für jene, die bereits aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind. Damals lag das durchschnittliche Eintrittsalter in das Berufsleben zwischen 15 und 16 Jahren : Berufsschule gab es (leider) noch nicht; eine weiterführende Bildung oder gar ein Studium konnten sich nur wenige leisten, - Frauen schon gar nicht. Das Schuleintrittsalter lag bei 5 Jahren und die Volksschulzeit betrug 8 Jahre. So hatte man mit 15 Jahren bereits (wenn auch wenig) verdient und seine Beiträge abgeführt, hatte von 15/16 Jahren an in die Rentenkassen einbezahlt. – Die Altersgrenze wurde unter Bismarck auf 70 Jahre festgelegt, - ein Alter, das damals die meisten Menschen gar nicht erreichten (die durchschnittliche Lebenserwartung betrug um die Jahrhundertwende bei uns ganze 45 Jahre!). Erst 1916 wurde die Altersgrenze reduziert, auf 65 Jahre festgelegt. Das heißt also, dass die 15-70jährigen für jene aufzukommen hatten, die noch nicht 15 waren und für die über 70jährigen – und das waren um 1900 2% der Gesamtbevölkerung. Dieser Generationenvertrag funktionierte lange Zeit. Doch wie sieht es heute aus? Wir haben ein durchschnittliches BerufsEingangsalter – allerdings nach Abschluss der Berufsschule- bei 25 Jahren. Immer mehr junge Menschen kommen in den Genuss einer weiterführenden Bildung, was sehr zu begrüßen ist. Dass das durchschnittliche Alter, in dem man seinen ersten Universitätsabschluss macht, Magister oder Diplom, allerdings erst bei 28 Jahren liegt, ist weniger erfreulich. Und das Berufende liegt in der Realität heute bei 59/60 Jahren, begünstigt durch Vorruhestand, Frühverrentung, Sozialpläne und Altersteilzeit (ein Begriff, der vielfach ein Etikettenschwindel ist, denn es handelt sich nicht um eine Teilzeitbeschäftigung, die aus vielen psychologischen Gründen für den älteren Arbeitnehmer zu begrüßen wäre, sondern um eine vorzeitige Ausgliederung). Tatsache ist, dass die Gruppe der im Erwerbsleben Stehenden – d.h. die 2559/60 Jährigen– für die aufzukommen haben, die noch nicht im Berufsleben stehen (und das sind manchmal 2 Generationen, denn mancher 30jährige Student hat sein Kind im Kindergarten) und vor allem für die große Gruppe jener Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Und das sind nicht – wie vor 100 Jahren – 2% der Bevölkerung, sondern über 25%, ebenso 2 Generationen. Mutter und Tochter, Vater und Sohn im Rentenalter, das ist heute keine Seltenheit. Dass dann die Generation der im Erwerbsleben Stehenden über zu hohe Abgaben stöhnt, ist verständlich. Die zunehmende Langlebigkeit muss berücksichtigt werden, der Einbau eines demografischen Faktors in die Rentenberechnung wird notwendig. Hätte Schröder diesen 1998 nicht rückgängig gemacht (und durch dieses Wahlversprechen die Wahl gewonnen), dann hätten wir heute nicht diese Löcher in den Rentenkassen.. Doch die Entwicklung vom 3- zum 5-Generationen-Vertrag ist nicht nur demografisch bedingt, sondern durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation mitbestimmt. Und vor allem: Auch hier fällt neben der zunehmenden Langlebigkeit auch die verlängerte Jugendzeit stark ins Gewicht. Das Aufbegehren mancher „junger Wilder“, die als 33 jährige weder im Berufsleben Fuß gefasst haben noch eine Familie gegründet haben, die über den durch sie selbst mit verursachten demografischen Wandel stöhnen, die heute aber den Generationenvertrag kündigen wollen, scheint mir nicht ganz gerechtfertigt. Zunächst einmal ist hier zu bedenken, dass viele der heutigen Rentner – oft gegen ihren Wunsch - vorzeitig aus dem Berufsleben ausgestiegen sind, um den Jungen einen Arbeitsplatz zu sichern. Das ist auch gut so. Nur, dann dürfen diese 7 Jungen nicht kommen, und den Rentnern diese „Rentenlast“ und „Alterslast“ vorwerfen und über erhöhte Einzahlungen in die Rentenkassen klagen. Außerdem ist zu bedenken, dass viele der heutigen Rentner ein 45jähriges Berufsleben hinter sich haben – was die jungen Aufbegehrer nie erreichen werden. Viele der heutigen Rentner kannten noch die 60-Stunden-Woche, bestimmt aber die 48-und 45-Stunden-Woche. Der Samstag war für sie ein voller Arbeitstag – und der Urlaub betrug 12 Tage im Jahr, Samstage mit eingerechnet.(ab 1957 dann 14 Tage im Jahr) Außerdem sollte man bedenken, dass die heutigen Rentner für ihre Berufsausbildung – und zwar auch für die Lehre – noch selbst zahlen mussten; an ein AZUBI- Gehalt oder BAFÖG war nicht zu denken. Vielfach mussten sie auch noch ganz für die Berufsausbildung ihrer Kinder zahlen. Sie haben mehr Kinder großgezogen als die heutige jüngere Generation - und das in Kriegs- und Nachkriegszeiten, in denen es weder Erziehungsgeld bzw. Kindergeld noch Erziehungsurlaub gab. – Weiterhin sollte wenigstens erwähnt werden, dass die Staatsausgaben im Bereich der Bildung, von denen ja hauptsächlich jüngere Generationen profitieren, enorm gestiegen sind. Das ist notwendig und unbedingt zu begrüßen, sollte aber bei einer Diskussion der „Generationengerechtigkeit“, bei einer Analyse der Chancen und Herausforderungen der Generationen nicht vergessen werden. Dieser 3-Generationen- Vertrag gilt auch im Gesundheitsbereich: während des Erwerbslebens, in jungen und mittleren Lebensjahren, zahlt man mehr in die „Gesundheitskassen“ ein als man an Leistungen herausbekommt und im Alter zahlt man im allgemeinen weniger ein und benötigt und erhält größere Leistungen. Dass die Kassen jetzt Probleme haben, liegt auch an dem verspäteten Berufsanfang und dem verfrühten Berufende und der hohen Zahl der Arbeitslosen; es liegt aber auch am medizinischen und medizin-technischen Fortschritt, von dem allerdings alle Jahrgänge profitieren. Der Mensch ist nun einmal die letzten zwei Jahre vor seinem Tod am „teuersten“, besonders, wenn er zwischen 20 und 40 Jahren stirbt. Die über 85jährigen verursachen kurz vor ihrem Tod weniger Kosten als die jüngeren; teuere Intensivmedizin kommt da seltener zum Einsatz. – Ein neues Hüftgelenk ist aber keine Intensivmedizin! Die misslichen Äußerungen von dem jungen Missfelder müssen wir mit Nachdruck zurückweisen. Keine Behandlung darf sich nach der Anzahl der Lebensjahre richten. Die generelle Fragwürdigkeit von Altersgrenzen haben viele Studien nachgewiesen; allein die Anzahl der Jahre darf nie ein Kriterium sein für Entscheidungen. Am schlimmsten war Mißfelder’s Bemerkung: „...früher gingen Alte auch auf Krücken“! Dem kann man nur entgegnen: früher starb man schon als Kind weg, wenn man krank war (die Säuglings- und Kindersterblichkeit war viel höher), früher ist man „ein Leben lang“ gestorben – wie die Sterbekurven zu „Krückenzeiten“ nachweisen; früher gab es auch keine Zahn- und Kieferkorrekturen bei Jugendlichen. – Aber auch: früher konnte man nicht „umsonst“ zur Schule gehen; früher musste man für das Studium große Summen hinlegen, musste auch für seine handwerkliche Ausbildung bezahlen. Zu „Krückenzeit“ war es undenkbar, dass Jugendliche und junge Erwachsene ein eigenes Auto hatten, dass sie sich große Ferienreisen leisten konnten, anspruchsvolle eigene Wohnungen hatten. Früher wohnte man in seinem Alter noch im Elternhaus, bestenfalls in einem kleinen Zimmerchen in „Untermiete“ bei einer gestrengen Wirtin, die darüber wachte, dass keinerlei Besucher kamen! Und schließlich: „Früher“ ging man statt in Diskos in Luftschutzbunker; „früher“ opferte man als 23jähriger sein Leben an der Front oder man geriet in Gefangenschaft oder man lag im Lazarett. „Früher“ hat man zu Kindern JA gesagt, auch wenn 8 man hungern musste, keinerlei Zukunftsaussichten hatte, in schlechten zerbombten Wohnungen hauste, die man nicht heizen konnte. Früher hatte man den Mut, eine Familie zu gründen, auch wenn die Zeiten noch hoffnungsloser waren als heute. Die Menschen zu „Krückenzeiten“ waren nicht für den demografischen Wandel verantwortlich; sie hatten 3, 4 und manchmal mehr Kinder. Bei einem echten Vergleich mit „früher“, den Herr Missfelder nahe legt, würde sich zeigen, dass die heute viel zitierte „Generationengerechtigkeit“ ganz anders zu sehen ist als von den jungen Wilden heute interpretiert. Doch wir sollten den Generationenkonflikt nicht weiter schüren. Nur gemeinsam können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern. Jüngere, Mittelalterliche und Ältere haben zugleich Gebende und Nehmende zu sein. Wir sollten nicht länger fragen „Ist das Alter noch zu bezahlen“ oder „Ist unsere heutige anspruchsvolle Jugend noch zu bezahlen?“, sondern wir sollten gemeinsam Verantwortung für uns und die Gesellschaft übernehmen. Wir brauchen den Dialog zwischen den Generationen und nicht einen Macht- und Verteilungskampf. Wir brauchen gemeinsames Tun, nicht gegenseitige Vorwürfe und Beschimpfungen; wir brauchen gegenseitiges Verständnis. Wir brauchen die Möglichkeit, dass Junge von den Alten lernen, aber auch, dass Alte von den Jungen lernen. 5. Altern muss nicht Armut bedeuten. Es ist ungerecht, Ältere in unserer Gesellschaft nur als Kostenfaktor zu sehen. Wir haben (noch) eine sehr wohlhabende Rentnergeneration – was nicht heißt, dass eine kleine Gruppe – vor allem von Frauen über 75/80 Jahre – gibt, die sehr zu rechnen hat. Der Anteil der Rentner unter allen Sozialhilfe- Empfängern ist auf 6% zurückgegangen. Nur 2% der Rentner ist heute auf Sozialhilfe-Leistungen angewiesen – und dies sind vielfach jene, die in Heimen untergebracht sind und dort die sog. „Hotel-Kosten“ (eine makabre Bezeichnung!) bezahlen müssen, für die die Pflegeversicherung nicht einspringt. Insgesamt ist festzustellen: die Kaufkraft der heutigen Rentner ist groß. Das Eigenheim bzw. die Eigentumswohnung ist meist abbezahlt; die Kinder sind aus dem Haus; es muss nicht mehr so gespart werden. Auch die Wohnsituation der Senioren ist insgesamt gesehen recht günstig, Das frei verfügbare Haushaltseinkommen der über 50jährigen ist höher als das der unter 50-jährigen (KRIEB u. REIDL, 2001, S.40). Ältere sind eine kaufkräftige Gruppe. Schätzungen zufolge verfügen die über 60-jährigen monatlich über 5 bis 7,5 Milliarden Euro Kaufkraft.. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ermittelte in 2000 ein Vermögen von 1065 Milliarden Euro . Rentner sind ein Wirtschaftsfaktor – und das nicht nur im Hinblick auf Kukident, Sehhilfen, Hörgeräte, Treppenlifte, Gehhilfen, Rollstühle, Pflegleistungen und Pflegebetten. Manches Reiseunternehmen könnte schließen, wenn es die Senioren nicht gäbe – und manche Senioren wären durchaus bereit, mehr auszugeben, wenn das entsprechende Angebot da wäre. SCHMÄHL(1999) wendet sich mit recht dagegen, Ältere einseitig als „ökonomische Belastung“ zu sehen und begründet dies u.a.: 9 1. Gerade sehr viele Ältere haben sowohl Vermögen als auch eine positive Sparquote, bilden also Vermögen – und beteiligen sich damit am Prozess der Wertschöpfung 2. Auch Arbeit, die nicht als Erwerbsarbeit ausgeführt wird (Kinderbetreuung, Pflege, Ehrenamt) ist eine ökonomische Aktivität. Man bedenke, was gerade die Älteren an Pflegeleistungen erbringen - und dann sollen ausgerechnet sie einen erhöhten Betrag in die Pflegeversicherung bezahlen! – Das ist keine Generationengerechtigkeit!) 3. Ältere sind eine starke Konsumenten-Gruppe; 4. Ältere sind auch Steuerzahler und damit beteiligen sie sich nicht unerheblich an der Finanzierung von Staatsausgaben 5. Intrafamiliäre Transfers vorwiegend von den Älteren zu den Jüngeren 6. Altern muss nicht Hinfälligkeit und Pflegebedürftigkeit bedeuten. Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit alter Menschen wird oft überschätzt. Die INFASStudie, die 26.000 Haushalte erfasste, hat gezeigt: Pflegebedürftigkeit fällt eigentlich erst in der Gruppe der über 85jährigen ins Gewicht und betrifft dort rund 23% der Männer und 28% der Frauen. Das heißt aber, dass noch rund 70 von 100 Hochbetagten in der Lage sind, allein kompetent ihren Alltag zu meistern. – Bei Hochschätzungen im Hinblick auf den Anteil der Pflegebedürftigen von morgen, wenn ja weit mehr über 85jährige in unserer Gesellschaft leben werden, sollte man vorsichtig sein: schon die Älteren von heute sind in einem höheren Alter viel gesünder und kompetenter als es unsere Eltern und Großeltern im gleichen Alter waren. – sofern sie dieses überhaupt erreicht hatten - und dieser Trend wird sich fortsetzen. SVANBORG, der Sozialmediziner aus Göteborg, hat z.B. festgestellt, dass die 70jährigen des Jahres 1983 (Geburtsjahrgang 1912/13) „10 Jahre jünger und gesünder“ waren als die 70jährigen des Jahres 1973 (Geburtsjahrgang 1902/03) (SVANBORG 1985, SVANBORG et al.1982). – Eine Studie der DUKE-Universität stellte fest: „Senioren bleiben länger gesund“. Die Krankheitsanfälligkeit von Menschen über 65 nimmt deutlich ab. Gerade die typischen Alterserkrankungen gingen in ihrer Häufigkeit rapide zurück. Der Trend könne bedeuten, dass die zunehmende Überalterung der Bevölkerung besonders der Industrienationen keine so gravierenden finanziellen Lasten für die öffentlichen Kassen mit sich bringe, wie sie heute bereits befürchtet werden. In den USA schlägt sich das Phänomen bereits in messbaren Werten nieder: Dort lag 1994 die Zahl der über 65jährigen Hilfs- und Pflegebedürftigen bereits um eine Million unter der, die man 1982 prognostiziert hatte. (Manton et al.1997). - . Hierzu haben Fortschritte der Medizin in Diagnose und Therapie, der Medizintechnik, der Pharmakologie und auch der gesundheitsbewusstere Lebensstil beigetragen. Im Bereich der Prävention, der Vorbeugung, muss allerdings weit mehr getan werden! Doch, auch wenn wir den Anteil der Pflegebedürftigen von morgen und übermorgen nicht überschätzen sollten, müssen wir feststellen: die Thematik der Pflegebedürftigkeit in einer alternden Gesellschaft wird weiterhin eine Herausforderung bleiben. Werden heute noch 70-80% der Pflegebedürftigen in der Familie gepflegt (nicht immer in einer optimalen Form), so müssen wir und dennoch deutlich sagen: Familienpflege hat ihre Grenzen: 10 - angesichts des immer höheren Alters der Pflegebedürftigen und damit auch der pflegenden Angehörigen. Hier bedeutet Pflege oft Überforderung, die im Extremfall zur Altenmisshandlung führen kann. - angesichts des fehlenden Töchterpotentials, der geringen Kinderzahl, so dass sich kaum mehrere Geschwister die Pflege teilen können; - angesichts der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen bzw. der Töchter - angesichts der heutzutage geforderten Mobilität, der unterschiedlichen Wohnorte von Eltern und erwachsenen Kindern: - und schließlich angesichts der steigenden Scheidungsrate. Ob man auch den nicht angetrauten Partner entsprechend pflegen wird, wissen wir nicht; aber die Ex-Schwiegermutter wird man wohl kaum pflegen. Das Fazit: Wir brauchen einen Ausbau der ambulanten Pflege und werden auch in Zukunft auf institutionelle Einrichtungen nicht verzichten können. Wir brauchen außerdem eine Qualitätssicherung der Pflege, - auch der Pflege durch Angehörige. Altenmisshandlungen sind sehr subtil und manchmal schwer nachweisbar, kommen aber doch vor, - oft als Folge einer Überforderung der pflegenden Familienangehörigen . III. Langlebigkeit verpflichtet! Doch es gilt zunächst einmal, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten, – und das ist eine Herausforderung für jeden einzelnen und die Gesellschaft. Dazu gehört ein entsprechender Lebensstil: sportliche Aktivität, geistige und soziale Aktivität, richtige Ernährung, Hygiene, Vorsorge- Untersuchungen etc. Der einzelne sollte gesundheitsbewusster leben – aber die Gesellschaft, die Kommunen, sollte Möglichkeiten dazu bereitstellen, die zu körperlichem, geistigem und sozialem Training motivieren. Die Notwendigkeit einer umfassenden Prävention (die schon beim Schulsport beginnt!) sollte weit stärker als bisher erkannt werden und entsprechende Förderung erfahren. Schließlich sollte man Aspekten einer „Geronto-Ökologie“, einer entsprechenden Umweltgestaltung (vom Wohnbereich bis zur Stadtplanung) stärkere Beachtung schenken Weiterhin sind Möglichkeiten fachgerechter geriatrischer Rehabilitation auszubauen, um im Krankheitsfall möglichst bald verlorene Kompetenzen wieder zurückzugewinnen. „Altwerden bei psychophysischem Wohlbefinden“, das ist die Devise unserer Zeit. Nicht „Forever young“ sollte das Ziel sein, sondern „kompetent alt sein bei Wohlbefinden“. Hier ist eine Korrektur des Altersbildes vonnöten. Altsein muss eben nicht bedeuten, abgebaut, klapprig, hinfällig zu sein. Wir brauchen keine „Anti -age- Bewegung“, sondern setzen uns für ein gesundes, kompetentes Altern ein. Wir sagen JA zum Älterwerden, wollen aber für voll genommen werden und wenden uns gegen jede Abwertung des Alterns. Da ist noch viel zu tun! Die Abwertung des Alters wird besonders deutlich in der Berufswelt. Wirtschaft und Industrie werden sich überlegen müssen, wie weit sie auf das Expertenwissen der erfahrenen älteren Mitarbeiter verzichten können. Untersuchungen haben doch sehr eindeutig gezeigt: ein lebenslanges Training vorausgesetzt, gilt in vielen Berufen: gerade mit zunehmendem Alter gewinnt man einen größeren Überblick, wächst die Fähigkeit zur Zusammenschau, neigt man dazu, mehrere Einflussgrößen 11 gleichzeitig zu überschauen und adäquat einzuordnen, neigt man zum vorsichtigen Abwägen, zur Besonnenheit und trifft dann klare, wohlüberlegte Entscheidungen. Wir brauchen die Älteren in der Politik, in der Wirtschaft, in der Verwaltung . Freilich, wir brauchen auch die Ideen der Jüngeren, ihre Dynamik, ihren Schwung, ihr Drängen nach Veränderung , - aber wir brauchen auch den Rat der Erfahrenen, die sorgsam zwischen gegebenen Möglichkeiten und Grenzen abwägen. Wir brauchen das Miteinander der Generationen! Die angeblich mangelnde „Innovationsfähigkeit“ älterer Arbeitnehmer ist durch keine Studie belegt! Kreativität, Mut zum Experimentieren, Erfindungsgabe, Innovation, braucht aber eine gewisse Sicherheit, die allerdings durch das derzeit weitverbreitete negative Image älterer Arbeitnehmer nun einmal nicht gegeben ist. „Rente mit 60“ – eine verhängnisvolle Diskussion, die mit zu einem generellen negativen Altersbild beiträgt. Jenseits der „Altersgrenze“ zählt man nun einmal zu den „Alten“, ist irgendwie abgemeldet, zur Seite geschoben – und das, wenn man noch ein Drittel seines Lebens vor sich hat. Viele Menschen werden auf diese Weise frühzeitig zu einer Problemgruppe gemacht. „Rente mit 67“ wird auch nicht allen gerecht. Wir brauchen Flexibilität, d.h., die Möglichkeit, früher aufzuhören, aber auch länger im Beruf weiterzuarbeiten. Derjenige, der mit 16/ 18 Jahren seine Berufstätigkeit beginnt, sollte nach 45jähriger Tätigkeit ohne Rentenabschlag aufhören können – wenn er will. Aber warum sollte derjenige, der nach einem Studium erst mit 30 ins Berufsleben einsteigt, nicht bis 70 weiterarbeiten? Und wir brauchen mehr Flexibilität in der Arbeitsgestaltung. Wir sollten über eine Entzerrung der Lebensarbeitszeit nachdenken. Der Mensch muss ja nicht mehr arbeiten, aber zu anderen Zeiten – und dann auch in ein höheres Alter hinein. In den enddreißiger, vierziger Jahren, wenn eigentlich familiäre Aufgaben Männer und Frauen stärker beanspruchen, wenn Weiterbildung, Sport- und Freizeittätigkeit eigentlich nötig wären (auch im Hinblick auf ein gesundes Altwerden), sind die meisten Menschen ganz massiv ins Berufsleben eingespannt. Hier wären „sabaticals“, die übrigens schon 1972 von dem Engländer HEARNSHAW gefordert wurden, zum „Auftanken“ notwendig. Diese „Auszeit“ sollte – dem Rat von vor 30 Jahren entsprechend – sowohl zur Weiterbildung als auch zur Entwicklung und Pflege von eigenen Interessen und Hobbys genutzt werden. - Später, im „höheren Mittelalter“, wenn die familiären Aufgaben weniger werden, ist für viele Menschen eine Berufstätigkeit, die weder überfordert noch unterfordert, ein Gewinn, oft der Lebenssinn. Und hier brauchen wir eine richtig verstandene „Altersteilzeit“ mit weit mehr Flexibilität als bei und derzeit möglich. Vor allem aber ist bei uns eine „Altersteilzeit“, die 2 ½ Jahre volle Arbeitszeit bedeutet und dafür ein 2 ½ jähriges früheres Ausscheiden aus dem Beruf ermöglicht, ein Etikettenschwindel! Die Altersteilzeit wurde Ende der siebziger Jahre in skandinavischen Ländern, Kanada und den USA eingeführt, um dem älteren Arbeitnehmer ein allmähliches Ausgleiten aus dem Beruf zu ermöglichen, da die plötzliche Veränderung von einem 8- Stunden- Tag auf einen NullStunden Tag oft Umstellungsprobleme mit sich bringt. Unsere derzeit oft praktizierte Altersteilzeit nutzt nicht dem Einzelnen, - höchstens vielleicht dem Betrieb. Und: warum kann man heute bei der Altersteilzeit nur zwischen voller und 50% Berufstätigkeit wählen? Warum kann man sich nicht für 30, 25, 15 oder 10 Wochenstunden entscheiden? Schließlich haben andere Länder bereits seit Ende der siebziger Jahre gute Erfahrungen mit „partial retirement" oder – wie in den USA- mit dem SEPR-Plan (selective early partial retirement plan) gemacht. 12 Der bekannte amerikanische Gerontologie BUTLER hat nachgewiesen, dass Gesundheit und Produktivität eng zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen: so wirkt sich nicht nur eine schlechte Gesundheit negativ auf die Produktivität aus, sondern fehlende Produktivität beeinflusst auch den Gesundheitszustand negativ. (BUTLER, 1985). Wir neigen oft dazu, Arbeit nur als Fluch zu begreifen und glauben, der Menschheit Gutes zu tun, wenn wir sie von dieser Last befreien. Dass die Berufstätigkeit auch als Segen erlebt werden kann – und das auch im Alter – das vergessen wir gerne. Der Mensch arbeitet nicht nur des Geldverdienens wegen. Für viele bedeutet die Arbeit die Möglichkeit, produktiv zu sein, eigene Leistung zu zeigen und sich daran zu erfreuen; für viele Menschen bedeutet sie die Möglichkeit zu Sozialkontakten; für viele bedeutet die Berufstätigkeit vielfältige Anregung und auch Rhythmisierung des Tages- und Wochenablaufs. Für alle aber bedeutet die Berufstätigkeit eine Herausforderung zur körperlichen Aktivität, zur geistigen Aktivität und zur sozialen Aktivität – und ist damit ein ganz wichtiger Trainingsfaktor dieser Fähigkeiten. Werden diese Aktivitäten nicht gefordert und damit nicht trainiert, dann stellt sich eher ein Altersabbau ein. Freilich, es kommt auf das rechte Maß an. Überforderung schadet, Unterforderung aber auch. Der „abgebaute“ ältere Mensch hat nicht nur einen Verlust an Lebensqualität, er fällt auch eher seiner Familie, den jüngeren Generationen, der Gesellschaft zur Last. Ein möglichst „gesundes Altwerden“ zu erreichen sollte im Interesse von uns allen liegen. Eine Berufstätigkeit – in Maßen ausgeführt – ist durchaus als Geroprophylaxe zu sehen. Dies gilt freilich nicht für alle Berufe, aber doch für viele. Dieser Gedanke wird nicht auf allgemeine Zustimmung stoßen. Freilich, wir brauchen Arbeitsplätze für die jüngere Generation, - aber ist eine vorgezogene Rente wirklich der einzige Weg? Wenn man feststellt, dass von 7 freigemachten Arbeitsplätzen nur ein einziger von einem jüngeren Arbeitnehmer wieder besetzt wird, dann muss man das bezweifeln. Als Psychologin und Gerontologin sehe ich die Thematik stärker aus der Situation des älter werdenden Menschen und möchte die etwas provozierende Frage stellen: Können wir den Menschen ab 59/6o (das heutige Rentenzugangsalter) dazu bestimmen (oder auch nur dazu „verführen“), auf Entwicklungschancen zu verzichten? Können wir ihm diese Möglichkeiten einer Geroprophylaxe, eines Trainings und damit eines Erhalts der Fähigkeiten vorenthalten? Freilich, viele wünschen sich das Ende der Berufstätigkeit herbei – und das ist für bestimmte Tätigkeiten auch verständlich und sollte ermöglicht werden. Doch manche andere würden gerne weiterarbeiten – und es wird ihnen verboten, oft mit dem Hinweis einer generellen mit zunehmendem Alter stärker werdenden Einbuße der Leistungsfähigkeit. Diese ist keinesfalls belegt, alle Untersuchungen sprechen dagegen.– Man kann nicht von einem generellen Leistungsabbau in einem höheren Alter ausgehen, sondern muss sich der äußerst starken interindividuellen Unterschiede bewusst sein. Schlussbemerkung Der demografische Wandel ist eine Herausforderung für jeden einzelnen und die Gesellschaft. Es gilt einmal, die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft we- 13 nigstens ein klein wenig abzubremsen durch eine Steigerung der Geburtenrate. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist hierzu der einzige Weg. Sodann müssen wir an die Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen appellieren, alles zu tun, um möglichst „gesund“ und „kompetent“ zu altern. Prävention ist hier gefordert, sowohl im gesundheitlichen Bereich, ( gesundheitsbewussterer Lebensstil, körperlichen, seelisch-geistige und sozialen Aktivität, Wahrnehmen von Vorsorge-Untersuchungen etc.) – als auch Prävention, Vorsorge im Hinblick auf die Wohnsituation im Alter und nicht zuletzt auf die finanzielle Absicherung. Die Gesellschaft aber muss – neben einer Korrektur des negativen Altersbildes, die dringend geboten ist, - diesen Präventionsgedanken fördern und Möglichkeiten bereitstellen. Eine moderne Seniorenpolitik muss mehr sein als eine Politik für Rente. 1. gilt es , Kompetenzen zu entwickeln, zu erhalten und zu fördern. Hier sind Kompetenzen zum bürgerschaftlichen Engagement durchaus eingeschlossen. Der Einzelne muss etwas für sich tun, sollte aber auch etwas für andere tun. 2. gilt es, Rehabilitationsmöglichkeiten weiter auszubauen (in dieser Beziehung ist Baden-Württemberg bereits Spitze innerhalb der Bundesländer) und vor allem, von diesen mehr Gebrauch zu machen, 3.kommt es darauf an, die Qualität der Pflege zu sichern – und darauf vorbereitet zu sein, dass Familienpflege, Angehörigen-Pflege, immer seltener werden wird. Angesichts des demografischen Wandels und der Zunahme der Senioren lässt sich heutzutage eine Politik nicht nur für Senioren, sondern vor allem mit Senioren und in Teilbereichen auch von Senioren gestalten. Wir brauchen die Erfahrung, den Rat und die Mitarbeit der Älteren aber in allen Politikbereichen – von der Wirtschaftspolitik bis zur Kulturpolitik. In den 60er Jahren startete eine Altenpolitik unter dem Motto „Was kann die Gesellschaft für Senioren tun?“ Heute muss es heißen: „Was können wir Senioren für die Gesellschaft tun?“ Dabei brauchen wir das Miteinander aller Generationen; nur gemeinsam können wir den auf uns zukommenden Herausforderungen gerecht werden. LITERATUR: siehe: LEHR,U. (2003) Psychologie des Alterns; 10. überarbeitete Auflage (1.A.1972), Heidelberg / Wiesbaden: Quelle & Meyer