Handout Vortrag Prof. Lehr 8.11.2003 - FDP

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FDP Baden-Württemberg
Schwäbisch Hall, 8. Nov.2003
Der demografische Wandel –
Auswirkungen auf unsere zukünftige Gesellschaft
Prof. Dr. Ursula Lehr
DZFA, Universität Heidelberg
Ich möchte unter 6 Aspekten den demografischen Wandel diskutieren und einige
Konsequenzen für Individuen und Gesellschaft aufzeigen.
II: Der demografische Wandel, das Leben in einer alternden Welt
1) Die Zunahme der Lebenserwartung
Um 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung etwa 45 Jahren, heute hat
bei uns ein neugeborener Junge eine Lebenserwartung von 74,6 Jahren, ein neugeborenes Mädchen von knapp 82 Jahren. Man kann davon ausgehen, dass sich pro
Jahr die Lebenserwartung des Neugeborenen um 3 Monate verlängert, d.h., dass
unsere Gesellschaft weiter altern wird. – Der 60jährige hat schon heute noch eine
durchschnittliche weitere Lebenserwartung von etwa 23 Jahren. Das heißt: wenn
man heute in Rente geht, dann hat man noch mehr als ein Viertel seines Lebens vor sich – bei besserer Gesundheit und höherer Kompetenz, als dies vor
Jahrzehnten der Fall war.
Aber wir haben nicht nur eine zunehmende Langlebigkeit, sondern auch eine verlängerte Jugendzeit. Man beginnt später mit der Berufstätigkeit, man heiratet
später (wenn überhaupt), man zählt in allen politischen Parteien bis 35 Jahre zu den
Jugendorganisationen. Also: bis 35 ist man „Jugend“, ab 45 bereits „älterer Arbeitnehmer“ und ab 50 wird man als „zu alt“ betrachtet für einen neuen Job und ab 55
spricht einen die „Seniorenwirtschaft“ an, zählt man zu den Senioren. „Vom BAFÖG
in die Rente“ – kann das ein Lebensziel sein?
Schon jetzt: die Löcher in den Rentenkassen, den Krankenkassen und Pflegekassen
sind nicht nur durch die zunehmende Langlebigkeit und den höheren Anteil alter
Menschen bedingt: Sie sind auch Folge der wirtschaftlichen Situation und einer Bildungspolitik, die zu einem verspätetem Berufsbeginn und verfrühtem Berufende
führt. Ein ein Jahr früherer Berufsanfang würde 1,3 Beitragspunkte (Westerwelle), ein
ein Jahr späteres faktisches Berufende sogar 1,7 Punkte (Rürup) bei der Rentenabgabe sparen.
2) Deutschland wird älter: wir leben in einer alternden Welt.
Der Anteil der über 60jährigen in Deutschland betrug um die Jahrhundertwende 5%,
heute sind es fast 25% und für das Jahr 2030 rechnet man mit ca. 35- 38% der Bevölkerung, die das 60.Lebensjahr erreicht bzw. überschritten hat. Der Anteil der unter
20jährigen geht mehr und mehr zurück (heute haben wir nur 21% unter 20 Jahren –
schon 2030 werden wir doppelt so viele über 60jährige haben wie unter 20jährige,
35:17%).
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Aber wir haben auch eine Zunahme des Anteils der über 70-,80- 90 und Hundertjährigen, Vor 35 Jahren lebten in Deutschland 265 Hundertjährige; 1994 waren es
4602 (558 Männer und 4004 Frauen); und heute leben bei uns etwa 10.000 Personen „die aus dem vorletzten Jahrhundert“ stammen, 2025 werden es über 44.000
sein, 2050 sogar über 117.000. Hier sei aber jetzt schon festgestellt, dass etwa ein
Drittel aller Hundertjährigen noch so kompetent ist, dass es alleine den Alltag meistern kann; ein 2. Drittel ist hilfsbedürftig, kann aber noch außer Haus gehen. Das dritte Drittel ist schwer pflegebedürftig und wünscht zum Teil den Tod herbei.
Die Gruppe der Hochbetagten oder Langlebigen, die der über 80jährigen, ist
weltweit die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe in den nächsten
Jahren. – Doch die übliche Einteilung, von den sog. “jungen Alten“ und ab 80/85
von den „alten Alten“ zu sprechen, ist problematisch. Manch einer ist schon mit
55/60 ein „alter Alter“, andere sind noch mit 90 „junge Alte“. Das „functional age“ ist
ausschlaggebend, die Funktionsfähigkeit verschiedener körperlicher und seelischgeistiger Fähigkeiten. Und diese Funktionsfähigkeiten sind keinesfalls an ein
chronologisches Alter gebunden, sondern werden von biologischen und sozialen Faktoren, die während eines ganzen Lebens einwirken, mitbestimmt. Hier
werden Schulbildung, berufliches Training, Lebensstil und Reaktionen auf Belastungen ausschlaggebend. Einem generellen Defizit-Modell des Alterns ist der Kampf
anzusagen; es wurde durch viele Studien widerlegt.
Altern muss nicht Abbau und Verlust bedeuten, sondern kann in vielen Bereichen geradezu Gewinn sein, Zunahme von Kompetenzen und Potentialen, und
damit eine Chance – für den Einzelnen und die Gesellschaft! Fest steht: Gleichaltrige zeigen oft größere Unterschiede als Menschen, deren Altersunterschied 20
Jahre und mehr beträgt. - Die Forschung hat sehr viel zur neuen Sicht des Alters
beigetragen. Sie hat nachgewiesen: je älter wir werden, um so weniger sagt die
Anzahl der Jahre etwas aus über Fähigkeiten und Fertigkeiten, über Erlebensund Verhaltensweisen. Alterszustand und Alternsprozesse sind stets das Ergebnis des eigenen Lebenslaufes, ureigenster individueller Erlebnisse und Erfahrungen und der ganz persönlichen spezifischen Art der Auseinandersetzung mit diesen. Sie sind beeinflusst durch viele Facetten der gegenwärtigen Situation, zu denen neben Gesundheit, finanzieller Situation, familiärer Situation auch das
Altersbild der Gesellschaft gehört – und das ist bei uns in Deutschland sehr negativ getönt. Die Wirtschaft, die großen Konzerne und alle Parteien preisen eine
„Verjüngung“, einen „Generationswechsel“ – der „große Bellheim“ wird bestenfalls bewundert, gehandelt wird nicht danach.
Doch schließlich ist das Altern einer Gesellschaft ist aber neben der zunehmenden
Langlebigkeit auch durch die abnehmenden Geburtenzahlen bedingt, was sich
auch auf Wirtschaft und Handwerk auswirken dürfte. Selbst so kinderfreundliche
Länder wie Spanien und Italien, neuerdings auch Griechenland, konstatieren ein Sinken der Geburtenrate. Deutschland liegt unter dem Durchschnitt der EU, und es ist
nicht anzunehmen, dass es hier – trotz familienpolitischer Leistungen – zu Veränderungen kommen wird. Damit man mich nicht falsch versteht: familienpolitische
Leistungen sind notwendig und könnten sogar noch verbessert werden – aber
sie sind kein Instrument einer Bevölkerungspolitik. Ein JA zum Kind erreicht
man bei der jungen Generation eher durch eine Gewährleistung der Kinderbetreuung, durch bessere Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, als durch
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300 oder auch 600.00 EURO! – Eine bessere Kinderbetreuung ist notwendig! hier
sind auch die Betriebe gefordert! Aber wir sollten die Forderung nach Kindergärten
nicht nur unter dem Aspekt der Entlastung der Mütter sehen, sondern: Kinder brauchen Kinder! Bestimmte Verhaltensweisen lernt das zweijährige Kind nur von Kindern und nicht von noch so geschulten Eltern (Geben und Nehmen!)
Die Gründe des Geburtenrückgangs sind vielseitig und liegen
- einmal in den seit den 60er Jahren gegebenen besseren Möglichkeiten der
Familienplanung („Pille“),
- in dem Verlust des „instrumentellen“ Faktors (Kind als Arbeitskraft, als persönliche Alterssicherung, als „Stammhalter“ bzw. Namensträger)
- in der einseitigen öffentlichen Diskussion „Kind als Kostenfaktor“, bei der
verschwiegen wird, dass Kinder auch Freude machen und eine enorme
Bereicherung des Lebens sind; dass im Grunde genommen diejenigen
„arm“ sind, die keine Kinder haben – auch wenn sie sich jetzt vielleicht
mehr leisten können;
- Einer der Gründe des Geburtenrückgangs liegt aber auch in der verlängerten
Jugendzeit, in der sich manchmal bis in das vierte Lebensjahrzehnt hinein
ziehenden Berufsausbildung; in der in ein immer höheres Lebensalter hinausgeschobenen Heirat (auch mitbedingt durch die gesellschaftliche Akzeptanz
enger partnerschaftlicher Beziehungen ohne Trauschein);
- Ein weiterer Punkt: Während in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts die
Frau solange im Elternhaus lebte, bis geheiratet wurde (und sie so zur Anpassung an die Lebensgewohnheiten anderer gezwungen war), nach der Heirat
sehr schnell Kinder kamen, die wiederum eine Anpassung verlangten, geht sie
heute mit 18,20 Jahren aus dem Haus und lebt selbständig, allein. Ein solches
mehrjähriges Alleinwohnen führt zu einer verstärkten Ausbildung der
Individualität; es bilden sich Eigenheiten und Gewohnheiten, eine Zeit in der
oft ein ganz individueller eigener Lebensstil kreiert wird, der dann schon eine
Anpassung an einen Partner, erst recht aber an Kinder, sehr erschwert.
(Von hier aus gesehen ist auch kein Sinken der Scheidungsraten in Zukunft zu
erwarten).
3. Das Verhältnis zwischen den Generationen hat sich verändert.
a) Zunächst einmal unter quantitativen Aspekten: Kamen vor 100 Jahren auf einen
über 75jährigen noch 79 jüngere Personen, so sind es heute nur noch 12,4. Und
man hat berechnet, dass im Jahre 2040 ein über-75jähriger nur noch 6,2 Personen gegenüberstehen wird, die jünger als 75 Jahre sind, 2050 sogar nur noch
5.5.
Wenn wir diese Entwicklung vor Augen haben, dann ist auch die Gesellschaft, die
Kommune, - aber auch die Wirtschaft und Industrie gefordert. Dann haben wir einmal
z.B. Konzepte der Stadtentwicklung zu überdenken - von der Verkehrsführung bis
hin zu Sportstätten und Sportmöglichkeiten für Ältere; neben Kinderspielplätzen
brauchen wir Sport- und Freizeitmöglichkeiten für Ältere; Warmbadetage in
Schwimmbädern werden immer notwendiger. Wir müssen und Gedanken über die
Erreichbarkeit von Schwimmbädern, Sportstätten, Arztpraxen und Einkaufsmöglichkeiten machen. Dabei gilt: manch ein Älterer ist durchaus noch fähig, sicher Auto zu fahren – auch wenn ihm das Zu- Fuß- Gehen größere Schwierigkeiten be-
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reitet. Hier spielt sowohl der Öffentliche Nahverkehr als auch die Parkplatzfrage eine
ganz große Rolle; Garagen ohne mühsames Treppensteigen sind sowohl für
Ältere als auch für Kinderwägen notwendig! – Manch einer geht nicht in die Innenstädte einkaufen, weil dieses Problem nicht gelöst ist. Das Einkaufsverhalten
richtet sich ganz stark nach dem Parkplatz in der Nähe.
Wir haben aber auch über den entsprechenden Ausbau von Beschäftigungs- und
Weiterbildungsmöglichkeiten (und hier Ältere in die Programmgestaltung mit
einzubeziehen) nachzudenken;- ein Umdenken im Freizeitbereich, aber auch im
Gesundheitsbereich (Hausarztbesuche) wird erforderlich; Wohnungsplanung
(Wohnungsausstattung) und Wohnumfeld sollte auf die veränderte Bevölkerungsstruktur und deren Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Warum können von vorne herein WCs nicht in Sitzhöhe sein, warum können nicht Badewannen von vorne
herein einen Zusatzgriff haben?
Weit mehr als bisher üblich haben sich Wirtschaft und Industrie auf das älterwerdende und strukturveränderte Land einzustellen; - das reicht von der notwendigen
größeren Auswahl von 1-Personen-Rationen im Supermarkt bis hin zu einem kreativen Ausbau von Dienstleistungsangeboten, zu denen dann auch die Bedienung
an der Tankstelle oder ein verstärkter Hol- und Bring-Dienst gehört. Das schließt
aber auch sonstige vielseitige Veränderungen mit ein, die man unter dem Begriff der
„Ökogerontologie“ und der „Gerontotechnik“ zusammenfasst (einfacher bedienende
Fahrkartenautomaten, Lichtschalter, Armaturen, Telefontasten, Schraubverschlüsse
bei Putzmitteln und Medikamenten, einfacher zu bedienende Videogeräte usw.) –
Und: was ließe sich an unseren Autos alles benutzerfreundlicher gestalten! – Geronto- Ökologie, - altersgerechte Umweltgestaltung, ist ein relativ junger Forschungszweig. Wer dabei nur an barrierefreie Behördeneingänge denkt, denkt viel zu kurz.
- Schauen Sie sich zum Beispiel in Gemäldeausstellungen einmal die Informationen
zu den einzelnen Bildern an: ¨Minitafeln“, an die man ganz nahe herangehen muss,
um etwas entziffern zu können. – Das gilt übrigens auch bei den Platzreservierungen in der Bundesbahn. Von kleiner, unleserlicher Beschriftung sind Senioren in
erster Linie betroffen, wenngleich Sehbehinderungen ja bekanntlich auch bei Jüngeren vorkommen sollen.
Und: haben unsere Auto- Konstrukteure schon realisiert, dass immer mehr ältere Menschen Auto fahren werden? Eine neuere Studie zeigt, dass sich bei den
Seniorinnen der Anteil der Führerscheinbesitzer und Autofahrer von 2000 bis 2020
um 25% erhöhen wird, bei den Senioren um 10%. Was ließ sich hier alles verbessern, um das Ein- und Aussteigen zu erleichtern, um einfacher an den Haltegurt heranzukommen, um die Sitze leichter verstellbar zu machen? Und was die Elektronik
angeht: manchmal wäre weniger mehr! -
Das quantitative Verhältnis der Altersgruppen in unserem Land hat sich verändert, aber auch unter qualitativen Aspekten ist der demografische Wandel und das
Verhältnis zwischen den Generationen zu diskutieren.
b) Hier sei zunächst der Rückgang der 3- und 2-Generationen-Haushalte und der
Anstieg der Ein-Generationen bzw. Ein-Personen-Haushalte erwähnt. Nur 1,1%
von allen 34 Millionen Haushalten in der Bundesrepublik sind 3-GenerationenHaushalte. Rund 37% aller Haushalte in Deutschland sind heute 1-PersonenHaushalte (im Jahr 1900 waren es nicht einmal 5%!) – Diese zunehmende Singula-
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risierung und Individualisierung sollte aber keineswegs mit Einsamkeit gleichgesetzt werden. Sie hat aber Konsequenzen sowohl in bezug auf die Kinderbetreuung als auch auf etwaige notwendig werdende Hilfs- und Pflegeleistungen im Alter.
Und in der Gruppe der über 75jährigen leben zwei von drei Frauen in einem EinPersonen-Haushalt. Wer trägt da die Mineralwasserkästen hoch, wer schraubt da die
neue Glühbirne in die Deckenbeleuchtung ein? Deswegen kann man nicht den
Handwerker, den Elektriker rufen, - aber auch nicht den Pflegedienst der Sozialstation! Und wie ist es mit der täglichen Zeitungszustellung, wenn leicht Gehbehinderte
die Tageszeitung abbestellen müssen, weil sie sich das Treppensteigen höchstens 1
mal am Tag zumuten können, aber dann die vor die Tür gelegte Zeitung weg ist? –
Wir brauchen zumindest größere Briefkästen! – und mehr Nachbarschaftshilfe.
Ein ganz großes Problem bei Ein-Personen- Haushalten: die Paketzustellung
(seien es Versandhaus- oder Internet-Bestellungen). Alleinwohnende sind nicht immer zuhause und können dann kilometerweit fahren (oder gehen! und tragen!) zur
nächsten Poststation. Es ist auch keiner da, der einmal schnell den Brief zum nächsten Briefkasten trägt (für manchen Älteren eine Riesenbelastung!). Post und Bahn
haben keineswegs den demografischen Wandel berücksichtigt! Ein ähnliches Problem ist aber auch gegeben, wenn der Handwerker keine genaue Uhrzeit angeben
kann oder diese Uhrzeit nicht einhalten kann! Da hatte man es bei MehrpersonenHaushalten leichter. c) Zum anderen aber haben wir gleichzeitig
einen Trend zur 4 (bzw.5)Generationen- Familie, die allerdings nicht im gleichen Haushalt leben. In der ersten
Hälfte unseres Jahrhunderts kannte ein Kind bestenfalls 2 seiner Großeltern. Heute
leben im allgemeinen noch alle 4 Großeltern, oft sogar noch 2 Urgroßeltern. – Rund
20% der über 60jährigen haben Urenkel; aber ebenso viele haben noch einen lebenden Elternteil. Die Großeltern- Generation sind die „sandwich-generation“,
die oft sowohl für Kinder- und Kindeskinder aufkommen als auch noch für die alten
Eltern sorgen. Die viel gepriesene Familienpflege sieht heute oft so aus, dass die
Großmutter die Urgroßmutter pflegt. –
Großeltern sind heutzutage weit öfter die „Gebenden“ als die „Nehmenden“..
Heute wissen wir, dass dem öffentlichen Leistungsstrom von den Jüngeren zu
den Älteren im Rahmen der Sozialversicherung ein privater Leistungsstrom
von den Älteren zu den Jüngeren gegenübersteht...Es gibt also starke Solidaritätsbeziehungen, die das Konfliktpotential zwischen den Generationen verringern“
(KOHLI et al. 1996).
Wir haben die „multilokale Mehrgenerationenfamilie“, oder – nach BENGTSON:
die „Bohnenstangenfamilie“, in der Schwestern und Brüder, Cousins und Cousinen, Schwägerinnen und Schwäger fehlen. Andererseits braucht der Mensch aber
Kontakt zu seiner Generation – den muss er sich heutzutage außerhalb der Familie
suchen.
4. Vom 3-Generationen-Vertrag zum 5-Generationen-Vertrag:
Generationenkonflikt oder Generationensolidarität?
Der 3-Generationen-Vertrag ist schon heute zu einem 5-Generationen-Vertrag
geworden. Er wurde bekanntlich Ende letzten Jahrhunderts ins Leben gerufen und
besagt, dass diejenigen, die im Erwerbsleben stehen, durch ihre Steuern und Beiträ-
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ge für jene aufzukommen haben, die noch nicht ins Erwerbsleben eingetreten sind
und für jene, die bereits aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind.
Damals lag das durchschnittliche Eintrittsalter in das Berufsleben zwischen 15
und 16 Jahren : Berufsschule gab es (leider) noch nicht; eine weiterführende Bildung oder gar ein Studium konnten sich nur wenige leisten, - Frauen schon gar nicht.
Das Schuleintrittsalter lag bei 5 Jahren und die Volksschulzeit betrug 8 Jahre. So
hatte man mit 15 Jahren bereits (wenn auch wenig) verdient und seine Beiträge abgeführt, hatte von 15/16 Jahren an in die Rentenkassen einbezahlt. – Die Altersgrenze wurde unter Bismarck auf 70 Jahre festgelegt, - ein Alter, das damals die
meisten Menschen gar nicht erreichten (die durchschnittliche Lebenserwartung betrug um die Jahrhundertwende bei uns ganze 45 Jahre!). Erst 1916 wurde die Altersgrenze reduziert, auf 65 Jahre festgelegt. Das heißt also, dass die 15-70jährigen
für jene aufzukommen hatten, die noch nicht 15 waren und für die über
70jährigen – und das waren um 1900 2% der Gesamtbevölkerung. Dieser Generationenvertrag funktionierte lange Zeit.
Doch wie sieht es heute aus? Wir haben ein durchschnittliches BerufsEingangsalter – allerdings nach Abschluss der Berufsschule- bei 25 Jahren. Immer
mehr junge Menschen kommen in den Genuss einer weiterführenden Bildung, was
sehr zu begrüßen ist. Dass das durchschnittliche Alter, in dem man seinen ersten
Universitätsabschluss macht, Magister oder Diplom, allerdings erst bei 28 Jahren
liegt, ist weniger erfreulich. Und das Berufende liegt in der Realität heute bei
59/60 Jahren, begünstigt durch Vorruhestand, Frühverrentung, Sozialpläne und Altersteilzeit (ein Begriff, der vielfach ein Etikettenschwindel ist, denn es handelt sich
nicht um eine Teilzeitbeschäftigung, die aus vielen psychologischen Gründen für den
älteren Arbeitnehmer zu begrüßen wäre, sondern um eine vorzeitige Ausgliederung).
Tatsache ist, dass die Gruppe der im Erwerbsleben Stehenden – d.h. die 2559/60 Jährigen– für die aufzukommen haben, die noch nicht im Berufsleben
stehen (und das sind manchmal 2 Generationen, denn mancher 30jährige Student
hat sein Kind im Kindergarten) und vor allem für die große Gruppe jener Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Und das sind nicht – wie
vor 100 Jahren – 2% der Bevölkerung, sondern über 25%, ebenso 2 Generationen. Mutter und Tochter, Vater und Sohn im Rentenalter, das ist heute keine Seltenheit.
Dass dann die Generation der im Erwerbsleben Stehenden über zu hohe Abgaben
stöhnt, ist verständlich. Die zunehmende Langlebigkeit muss berücksichtigt werden,
der Einbau eines demografischen Faktors in die Rentenberechnung wird notwendig. Hätte Schröder diesen 1998 nicht rückgängig gemacht (und durch dieses
Wahlversprechen die Wahl gewonnen), dann hätten wir heute nicht diese Löcher in
den Rentenkassen.. Doch die Entwicklung vom 3- zum 5-Generationen-Vertrag
ist nicht nur demografisch bedingt, sondern durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation mitbestimmt. Und vor allem: Auch hier fällt neben der
zunehmenden Langlebigkeit auch die verlängerte Jugendzeit stark ins Gewicht.
Das Aufbegehren mancher „junger Wilder“, die als 33 jährige weder im Berufsleben
Fuß gefasst haben noch eine Familie gegründet haben, die über den durch sie
selbst mit verursachten demografischen Wandel stöhnen, die heute aber den Generationenvertrag kündigen wollen, scheint mir nicht ganz gerechtfertigt.
Zunächst einmal ist hier zu bedenken, dass viele der heutigen Rentner – oft gegen
ihren Wunsch - vorzeitig aus dem Berufsleben ausgestiegen sind, um den Jungen einen Arbeitsplatz zu sichern. Das ist auch gut so. Nur, dann dürfen diese
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Jungen nicht kommen, und den Rentnern diese „Rentenlast“ und „Alterslast“ vorwerfen und über erhöhte Einzahlungen in die Rentenkassen klagen.
Außerdem ist zu bedenken, dass viele der heutigen Rentner ein 45jähriges Berufsleben hinter sich haben – was die jungen Aufbegehrer nie erreichen werden.
Viele der heutigen Rentner kannten noch die 60-Stunden-Woche, bestimmt aber die
48-und 45-Stunden-Woche. Der Samstag war für sie ein voller Arbeitstag – und
der Urlaub betrug 12 Tage im Jahr, Samstage mit eingerechnet.(ab 1957 dann
14 Tage im Jahr) Außerdem sollte man bedenken, dass die heutigen Rentner für
ihre Berufsausbildung – und zwar auch für die Lehre – noch selbst zahlen mussten; an ein AZUBI- Gehalt oder BAFÖG war nicht zu denken. Vielfach mussten sie
auch noch ganz für die Berufsausbildung ihrer Kinder zahlen. Sie haben mehr
Kinder großgezogen als die heutige jüngere Generation - und das in Kriegs- und
Nachkriegszeiten, in denen es weder Erziehungsgeld bzw. Kindergeld noch Erziehungsurlaub gab. – Weiterhin sollte wenigstens erwähnt werden, dass die Staatsausgaben im Bereich der Bildung, von denen ja hauptsächlich jüngere Generationen profitieren, enorm gestiegen sind. Das ist notwendig und unbedingt zu begrüßen, sollte aber bei einer Diskussion der „Generationengerechtigkeit“, bei einer
Analyse der Chancen und Herausforderungen der Generationen nicht vergessen
werden.
Dieser 3-Generationen- Vertrag gilt auch im Gesundheitsbereich: während des
Erwerbslebens, in jungen und mittleren Lebensjahren, zahlt man mehr in die „Gesundheitskassen“ ein als man an Leistungen herausbekommt und im Alter zahlt man
im allgemeinen weniger ein und benötigt und erhält größere Leistungen. Dass die
Kassen jetzt Probleme haben, liegt auch an dem verspäteten Berufsanfang und dem
verfrühten Berufende und der hohen Zahl der Arbeitslosen; es liegt aber auch am
medizinischen und medizin-technischen Fortschritt, von dem allerdings alle Jahrgänge profitieren. Der Mensch ist nun einmal die letzten zwei Jahre vor seinem Tod am
„teuersten“, besonders, wenn er zwischen 20 und 40 Jahren stirbt. Die über
85jährigen verursachen kurz vor ihrem Tod weniger Kosten als die jüngeren; teuere
Intensivmedizin kommt da seltener zum Einsatz. – Ein neues Hüftgelenk ist aber keine Intensivmedizin!
Die misslichen Äußerungen von dem jungen Missfelder müssen wir mit Nachdruck zurückweisen. Keine Behandlung darf sich nach der Anzahl der Lebensjahre
richten. Die generelle Fragwürdigkeit von Altersgrenzen haben viele Studien
nachgewiesen; allein die Anzahl der Jahre darf nie ein Kriterium sein für Entscheidungen. Am schlimmsten war Mißfelder’s Bemerkung: „...früher gingen Alte
auch auf Krücken“! Dem kann man nur entgegnen: früher starb man schon als Kind
weg, wenn man krank war (die Säuglings- und Kindersterblichkeit war viel höher),
früher ist man „ein Leben lang“ gestorben – wie die Sterbekurven zu „Krückenzeiten“
nachweisen; früher gab es auch keine Zahn- und Kieferkorrekturen bei Jugendlichen.
– Aber auch: früher konnte man nicht „umsonst“ zur Schule gehen; früher musste
man für das Studium große Summen hinlegen, musste auch für seine handwerkliche
Ausbildung bezahlen. Zu „Krückenzeit“ war es undenkbar, dass Jugendliche und
junge Erwachsene ein eigenes Auto hatten, dass sie sich große Ferienreisen leisten
konnten, anspruchsvolle eigene Wohnungen hatten. Früher wohnte man in seinem
Alter noch im Elternhaus, bestenfalls in einem kleinen Zimmerchen in „Untermiete“
bei einer gestrengen Wirtin, die darüber wachte, dass keinerlei Besucher kamen! Und schließlich: „Früher“ ging man statt in Diskos in Luftschutzbunker; „früher“
opferte man als 23jähriger sein Leben an der Front oder man geriet in Gefangenschaft oder man lag im Lazarett. „Früher“ hat man zu Kindern JA gesagt, auch wenn
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man hungern musste, keinerlei Zukunftsaussichten hatte, in schlechten zerbombten
Wohnungen hauste, die man nicht heizen konnte. Früher hatte man den Mut, eine
Familie zu gründen, auch wenn die Zeiten noch hoffnungsloser waren als heute.
Die Menschen zu „Krückenzeiten“ waren nicht für den demografischen Wandel verantwortlich; sie hatten 3, 4 und manchmal mehr Kinder.
Bei einem echten Vergleich mit „früher“, den Herr Missfelder nahe legt, würde
sich zeigen, dass die heute viel zitierte „Generationengerechtigkeit“ ganz anders zu sehen ist als von den jungen Wilden heute interpretiert.
Doch wir sollten den Generationenkonflikt nicht weiter schüren. Nur gemeinsam
können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern. Jüngere, Mittelalterliche
und Ältere haben zugleich Gebende und Nehmende zu sein. Wir sollten nicht länger
fragen „Ist das Alter noch zu bezahlen“ oder „Ist unsere heutige anspruchsvolle Jugend noch zu bezahlen?“, sondern wir sollten gemeinsam Verantwortung für uns und
die Gesellschaft übernehmen. Wir brauchen den Dialog zwischen den Generationen und nicht einen Macht- und Verteilungskampf. Wir brauchen gemeinsames
Tun, nicht gegenseitige Vorwürfe und Beschimpfungen; wir brauchen gegenseitiges
Verständnis. Wir brauchen die Möglichkeit, dass Junge von den Alten lernen, aber
auch, dass Alte von den Jungen lernen.
5. Altern muss nicht Armut bedeuten.
Es ist ungerecht, Ältere in unserer Gesellschaft nur als Kostenfaktor zu sehen.
Wir haben (noch) eine sehr wohlhabende Rentnergeneration – was nicht heißt, dass
eine kleine Gruppe – vor allem von Frauen über 75/80 Jahre – gibt, die sehr zu rechnen hat. Der Anteil der Rentner unter allen Sozialhilfe- Empfängern ist auf 6%
zurückgegangen. Nur 2% der Rentner ist heute auf Sozialhilfe-Leistungen angewiesen – und dies sind vielfach jene, die in Heimen untergebracht sind und dort die sog.
„Hotel-Kosten“ (eine makabre Bezeichnung!) bezahlen müssen, für die die Pflegeversicherung nicht einspringt.
Insgesamt ist festzustellen: die Kaufkraft der heutigen Rentner ist groß. Das Eigenheim bzw. die Eigentumswohnung ist meist abbezahlt; die Kinder sind aus dem
Haus; es muss nicht mehr so gespart werden. Auch die Wohnsituation der Senioren ist insgesamt gesehen recht günstig,
Das frei verfügbare Haushaltseinkommen der über 50jährigen ist höher als das der
unter 50-jährigen (KRIEB u. REIDL, 2001, S.40). Ältere sind eine kaufkräftige
Gruppe. Schätzungen zufolge verfügen die über 60-jährigen monatlich über 5
bis 7,5 Milliarden Euro Kaufkraft.. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ermittelte in 2000 ein Vermögen von 1065 Milliarden Euro .
Rentner sind ein Wirtschaftsfaktor – und das nicht nur im Hinblick auf Kukident,
Sehhilfen, Hörgeräte, Treppenlifte, Gehhilfen, Rollstühle, Pflegleistungen und
Pflegebetten. Manches Reiseunternehmen könnte schließen, wenn es die Senioren nicht gäbe – und manche Senioren wären durchaus bereit, mehr auszugeben, wenn das entsprechende Angebot da wäre.
SCHMÄHL(1999) wendet sich mit recht dagegen, Ältere einseitig als „ökonomische
Belastung“ zu sehen und begründet dies u.a.:
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1. Gerade sehr viele Ältere haben sowohl Vermögen als auch eine positive
Sparquote, bilden also Vermögen – und beteiligen sich damit am Prozess der
Wertschöpfung
2. Auch Arbeit, die nicht als Erwerbsarbeit ausgeführt wird (Kinderbetreuung,
Pflege, Ehrenamt) ist eine ökonomische Aktivität. Man bedenke, was gerade die
Älteren an Pflegeleistungen erbringen - und dann sollen ausgerechnet sie einen erhöhten Betrag in die Pflegeversicherung bezahlen! – Das ist keine Generationengerechtigkeit!)
3. Ältere sind eine starke Konsumenten-Gruppe;
4. Ältere sind auch Steuerzahler und damit beteiligen sie sich nicht unerheblich
an der Finanzierung von Staatsausgaben
5. Intrafamiliäre Transfers vorwiegend von den Älteren zu den Jüngeren
6. Altern muss nicht Hinfälligkeit und Pflegebedürftigkeit bedeuten.
Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit alter Menschen wird oft überschätzt. Die INFASStudie, die 26.000 Haushalte erfasste, hat gezeigt: Pflegebedürftigkeit fällt eigentlich
erst in der Gruppe der über 85jährigen ins Gewicht und betrifft dort rund 23% der
Männer und 28% der Frauen. Das heißt aber, dass noch rund 70 von 100 Hochbetagten in der Lage sind, allein kompetent ihren Alltag zu meistern. – Bei
Hochschätzungen im Hinblick auf den Anteil der Pflegebedürftigen von morgen,
wenn ja weit mehr über 85jährige in unserer Gesellschaft leben werden, sollte man
vorsichtig sein: schon die Älteren von heute sind in einem höheren Alter viel gesünder und kompetenter als es unsere Eltern und Großeltern im gleichen Alter waren. – sofern sie dieses überhaupt erreicht hatten - und dieser Trend wird sich fortsetzen.
SVANBORG, der Sozialmediziner aus Göteborg, hat z.B. festgestellt, dass die
70jährigen des Jahres 1983 (Geburtsjahrgang 1912/13) „10 Jahre jünger und gesünder“ waren als die 70jährigen des Jahres 1973 (Geburtsjahrgang 1902/03)
(SVANBORG 1985, SVANBORG et al.1982). –
Eine Studie der DUKE-Universität stellte fest: „Senioren bleiben länger gesund“.
Die Krankheitsanfälligkeit von Menschen über 65 nimmt deutlich ab. Gerade die
typischen Alterserkrankungen gingen in ihrer Häufigkeit rapide zurück. Der Trend
könne bedeuten, dass die zunehmende Überalterung der Bevölkerung besonders
der Industrienationen keine so gravierenden finanziellen Lasten für die öffentlichen
Kassen mit sich bringe, wie sie heute bereits befürchtet werden. In den USA schlägt
sich das Phänomen bereits in messbaren Werten nieder: Dort lag 1994 die Zahl
der über 65jährigen Hilfs- und Pflegebedürftigen bereits um eine Million unter
der, die man 1982 prognostiziert hatte. (Manton et al.1997). - . Hierzu haben
Fortschritte der Medizin in Diagnose und Therapie, der Medizintechnik, der
Pharmakologie und auch der gesundheitsbewusstere Lebensstil beigetragen.
Im Bereich der Prävention, der Vorbeugung, muss allerdings weit mehr getan werden!
Doch, auch wenn wir den Anteil der Pflegebedürftigen von morgen und übermorgen
nicht überschätzen sollten, müssen wir feststellen: die Thematik der Pflegebedürftigkeit in einer alternden Gesellschaft wird weiterhin eine Herausforderung
bleiben. Werden heute noch 70-80% der Pflegebedürftigen in der Familie gepflegt (nicht immer in einer optimalen Form), so müssen wir und dennoch deutlich sagen: Familienpflege hat ihre Grenzen:
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- angesichts des immer höheren Alters der Pflegebedürftigen und
damit auch der pflegenden Angehörigen. Hier bedeutet Pflege oft
Überforderung, die im Extremfall zur Altenmisshandlung führen kann.
- angesichts des fehlenden Töchterpotentials, der geringen Kinderzahl,
so dass sich kaum mehrere Geschwister die Pflege teilen können;
- angesichts der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen bzw. der Töchter
- angesichts der heutzutage geforderten Mobilität, der unterschiedlichen
Wohnorte von Eltern und erwachsenen Kindern:
- und schließlich angesichts der steigenden Scheidungsrate. Ob man auch den
nicht angetrauten Partner entsprechend pflegen wird, wissen wir nicht; aber die
Ex-Schwiegermutter wird man wohl kaum pflegen.
Das Fazit: Wir brauchen einen Ausbau der ambulanten Pflege und werden auch
in Zukunft auf institutionelle Einrichtungen nicht verzichten können.
Wir brauchen außerdem eine Qualitätssicherung der Pflege, - auch der Pflege
durch Angehörige. Altenmisshandlungen sind sehr subtil und manchmal schwer
nachweisbar, kommen aber doch vor, - oft als Folge einer Überforderung der pflegenden Familienangehörigen .
III. Langlebigkeit verpflichtet!
Doch es gilt zunächst einmal, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten, – und das ist eine Herausforderung für
jeden einzelnen und die Gesellschaft. Dazu gehört ein entsprechender Lebensstil:
sportliche Aktivität, geistige und soziale Aktivität, richtige Ernährung, Hygiene, Vorsorge- Untersuchungen etc. Der einzelne sollte gesundheitsbewusster leben –
aber die Gesellschaft, die Kommunen, sollte Möglichkeiten dazu bereitstellen,
die zu körperlichem, geistigem und sozialem Training motivieren. Die Notwendigkeit
einer umfassenden Prävention (die schon beim Schulsport beginnt!) sollte weit
stärker als bisher erkannt werden und entsprechende Förderung erfahren.
Schließlich sollte man Aspekten einer „Geronto-Ökologie“, einer entsprechenden
Umweltgestaltung (vom Wohnbereich bis zur Stadtplanung) stärkere Beachtung
schenken
Weiterhin sind Möglichkeiten fachgerechter geriatrischer Rehabilitation auszubauen, um im Krankheitsfall möglichst bald verlorene Kompetenzen wieder zurückzugewinnen.
„Altwerden bei psychophysischem Wohlbefinden“, das ist die Devise unserer
Zeit. Nicht „Forever young“ sollte das Ziel sein, sondern „kompetent alt sein
bei Wohlbefinden“. Hier ist eine Korrektur des Altersbildes vonnöten. Altsein muss
eben nicht bedeuten, abgebaut, klapprig, hinfällig zu sein. Wir brauchen keine „Anti
-age- Bewegung“, sondern setzen uns für ein gesundes, kompetentes Altern
ein. Wir sagen JA zum Älterwerden, wollen aber für voll genommen werden und
wenden uns gegen jede Abwertung des Alterns. Da ist noch viel zu tun!
Die Abwertung des Alters wird besonders deutlich in der Berufswelt. Wirtschaft und
Industrie werden sich überlegen müssen, wie weit sie auf das Expertenwissen
der erfahrenen älteren Mitarbeiter verzichten können. Untersuchungen haben
doch sehr eindeutig gezeigt: ein lebenslanges Training vorausgesetzt, gilt in vielen
Berufen: gerade mit zunehmendem Alter gewinnt man einen größeren Überblick,
wächst die Fähigkeit zur Zusammenschau, neigt man dazu, mehrere Einflussgrößen
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gleichzeitig zu überschauen und adäquat einzuordnen, neigt man zum vorsichtigen
Abwägen, zur Besonnenheit und trifft dann klare, wohlüberlegte Entscheidungen. Wir
brauchen die Älteren in der Politik, in der Wirtschaft, in der Verwaltung . Freilich, wir brauchen auch die Ideen der Jüngeren, ihre Dynamik, ihren Schwung,
ihr Drängen nach Veränderung , - aber wir brauchen auch den Rat der Erfahrenen, die sorgsam zwischen gegebenen Möglichkeiten und Grenzen abwägen.
Wir brauchen das Miteinander der Generationen!
Die angeblich mangelnde „Innovationsfähigkeit“ älterer Arbeitnehmer ist durch keine
Studie belegt! Kreativität, Mut zum Experimentieren, Erfindungsgabe, Innovation,
braucht aber eine gewisse Sicherheit, die allerdings durch das derzeit weitverbreitete
negative Image älterer Arbeitnehmer nun einmal nicht gegeben ist.
„Rente mit 60“ – eine verhängnisvolle Diskussion, die mit zu einem generellen
negativen Altersbild beiträgt. Jenseits der „Altersgrenze“ zählt man nun einmal zu
den „Alten“, ist irgendwie abgemeldet, zur Seite geschoben – und das, wenn man
noch ein Drittel seines Lebens vor sich hat. Viele Menschen werden auf diese Weise
frühzeitig zu einer Problemgruppe gemacht. „Rente mit 67“ wird auch nicht allen
gerecht. Wir brauchen Flexibilität, d.h., die Möglichkeit, früher aufzuhören, aber
auch länger im Beruf weiterzuarbeiten. Derjenige, der mit 16/ 18 Jahren seine
Berufstätigkeit beginnt, sollte nach 45jähriger Tätigkeit ohne Rentenabschlag
aufhören können – wenn er will. Aber warum sollte derjenige, der nach einem
Studium erst mit 30 ins Berufsleben einsteigt, nicht bis 70 weiterarbeiten?
Und wir brauchen mehr Flexibilität in der Arbeitsgestaltung. Wir sollten über eine
Entzerrung der Lebensarbeitszeit nachdenken. Der Mensch muss ja nicht mehr
arbeiten, aber zu anderen Zeiten – und dann auch in ein höheres Alter hinein. In den
enddreißiger, vierziger Jahren, wenn eigentlich familiäre Aufgaben Männer und
Frauen stärker beanspruchen, wenn Weiterbildung, Sport- und Freizeittätigkeit eigentlich nötig wären (auch im Hinblick auf ein gesundes Altwerden), sind die meisten
Menschen ganz massiv ins Berufsleben eingespannt. Hier wären „sabaticals“, die
übrigens schon 1972 von dem Engländer HEARNSHAW gefordert wurden, zum „Auftanken“ notwendig. Diese „Auszeit“ sollte – dem Rat von vor 30 Jahren entsprechend – sowohl zur Weiterbildung als auch zur Entwicklung und Pflege von eigenen
Interessen und Hobbys genutzt werden. - Später, im „höheren Mittelalter“, wenn die
familiären Aufgaben weniger werden, ist für viele Menschen eine Berufstätigkeit, die
weder überfordert noch unterfordert, ein Gewinn, oft der Lebenssinn. Und hier brauchen wir eine richtig verstandene „Altersteilzeit“ mit weit mehr Flexibilität als
bei und derzeit möglich. Vor allem aber ist bei uns eine „Altersteilzeit“, die 2 ½ Jahre volle Arbeitszeit bedeutet und dafür ein 2 ½ jähriges früheres Ausscheiden aus
dem Beruf ermöglicht, ein Etikettenschwindel! Die Altersteilzeit wurde Ende der
siebziger Jahre in skandinavischen Ländern, Kanada und den USA eingeführt, um
dem älteren Arbeitnehmer ein allmähliches Ausgleiten aus dem Beruf zu ermöglichen, da die plötzliche Veränderung von einem 8- Stunden- Tag auf einen NullStunden Tag oft Umstellungsprobleme mit sich bringt. Unsere derzeit oft praktizierte
Altersteilzeit nutzt nicht dem Einzelnen, - höchstens vielleicht dem Betrieb.
Und: warum kann man heute bei der Altersteilzeit nur zwischen voller und 50% Berufstätigkeit wählen? Warum kann man sich nicht für 30, 25, 15 oder 10 Wochenstunden entscheiden? Schließlich haben andere Länder bereits seit Ende der siebziger Jahre gute Erfahrungen mit „partial retirement" oder – wie in den USA- mit
dem SEPR-Plan (selective early partial retirement plan) gemacht.
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Der bekannte amerikanische Gerontologie BUTLER hat nachgewiesen, dass Gesundheit und Produktivität eng zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen: so wirkt sich nicht nur eine schlechte Gesundheit negativ auf die Produktivität aus, sondern fehlende Produktivität beeinflusst auch den Gesundheitszustand negativ. (BUTLER, 1985).
Wir neigen oft dazu, Arbeit nur als Fluch zu begreifen und glauben, der Menschheit
Gutes zu tun, wenn wir sie von dieser Last befreien. Dass die Berufstätigkeit auch
als Segen erlebt werden kann – und das auch im Alter – das vergessen wir gerne.
Der Mensch arbeitet nicht nur des Geldverdienens wegen. Für viele bedeutet die Arbeit die Möglichkeit, produktiv zu sein, eigene Leistung zu zeigen und sich daran zu
erfreuen; für viele Menschen bedeutet sie die Möglichkeit zu Sozialkontakten; für viele bedeutet die Berufstätigkeit vielfältige Anregung und auch Rhythmisierung des
Tages- und Wochenablaufs. Für alle aber bedeutet die Berufstätigkeit eine Herausforderung zur körperlichen Aktivität, zur geistigen Aktivität und zur sozialen
Aktivität – und ist damit ein ganz wichtiger Trainingsfaktor dieser Fähigkeiten.
Werden diese Aktivitäten nicht gefordert und damit nicht trainiert, dann stellt
sich eher ein Altersabbau ein. Freilich, es kommt auf das rechte Maß an. Überforderung schadet, Unterforderung aber auch.
Der „abgebaute“ ältere Mensch hat nicht nur einen Verlust an Lebensqualität, er fällt
auch eher seiner Familie, den jüngeren Generationen, der Gesellschaft zur Last. Ein
möglichst „gesundes Altwerden“ zu erreichen sollte im Interesse von uns allen liegen.
Eine Berufstätigkeit – in Maßen ausgeführt – ist durchaus als Geroprophylaxe
zu sehen. Dies gilt freilich nicht für alle Berufe, aber doch für viele. Dieser Gedanke wird nicht auf allgemeine Zustimmung stoßen. Freilich, wir brauchen Arbeitsplätze für die jüngere Generation, - aber ist eine vorgezogene Rente wirklich der
einzige Weg? Wenn man feststellt, dass von 7 freigemachten Arbeitsplätzen nur ein
einziger von einem jüngeren Arbeitnehmer wieder besetzt wird, dann muss man das
bezweifeln. Als Psychologin und Gerontologin sehe ich die Thematik stärker aus der Situation
des älter werdenden Menschen und möchte die etwas provozierende Frage stellen:
Können wir den Menschen ab 59/6o (das heutige Rentenzugangsalter) dazu bestimmen (oder auch nur dazu „verführen“), auf Entwicklungschancen zu verzichten? Können wir ihm diese Möglichkeiten einer Geroprophylaxe, eines Trainings
und damit eines Erhalts der Fähigkeiten vorenthalten? Freilich, viele wünschen sich
das Ende der Berufstätigkeit herbei – und das ist für bestimmte Tätigkeiten auch verständlich und sollte ermöglicht werden. Doch manche andere würden gerne weiterarbeiten – und es wird ihnen verboten, oft mit dem Hinweis einer generellen mit
zunehmendem Alter stärker werdenden Einbuße der Leistungsfähigkeit. Diese
ist keinesfalls belegt, alle Untersuchungen sprechen dagegen.– Man kann nicht von
einem generellen Leistungsabbau in einem höheren Alter ausgehen, sondern muss
sich der äußerst starken interindividuellen Unterschiede bewusst sein.
Schlussbemerkung
Der demografische Wandel ist eine Herausforderung für jeden einzelnen und
die Gesellschaft. Es gilt einmal, die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft we-
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nigstens ein klein wenig abzubremsen durch eine Steigerung der Geburtenrate. Die
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist hierzu der einzige Weg.
Sodann müssen wir an die Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen appellieren, alles zu tun, um möglichst „gesund“ und „kompetent“ zu altern. Prävention ist
hier gefordert, sowohl im gesundheitlichen Bereich, ( gesundheitsbewussterer
Lebensstil, körperlichen, seelisch-geistige und sozialen Aktivität, Wahrnehmen von
Vorsorge-Untersuchungen etc.) – als auch Prävention, Vorsorge im Hinblick auf
die Wohnsituation im Alter und nicht zuletzt auf die finanzielle Absicherung.
Die Gesellschaft aber muss – neben einer Korrektur des negativen Altersbildes, die dringend geboten ist, - diesen Präventionsgedanken fördern und Möglichkeiten bereitstellen. Eine moderne Seniorenpolitik muss mehr sein als eine
Politik für Rente.
1. gilt es , Kompetenzen zu entwickeln, zu erhalten und zu fördern. Hier sind Kompetenzen zum bürgerschaftlichen Engagement durchaus eingeschlossen. Der Einzelne muss etwas für sich tun, sollte aber auch etwas für andere tun.
2. gilt es, Rehabilitationsmöglichkeiten weiter auszubauen (in dieser Beziehung
ist Baden-Württemberg bereits Spitze innerhalb der Bundesländer) und vor allem,
von diesen mehr Gebrauch zu machen,
3.kommt es darauf an, die Qualität der Pflege zu sichern – und darauf vorbereitet
zu sein, dass Familienpflege, Angehörigen-Pflege, immer seltener werden wird.
Angesichts des demografischen Wandels und der Zunahme der Senioren lässt sich
heutzutage eine Politik nicht nur für Senioren, sondern vor allem mit Senioren
und in Teilbereichen auch von Senioren gestalten. Wir brauchen die Erfahrung, den
Rat und die Mitarbeit der Älteren aber in allen Politikbereichen – von der Wirtschaftspolitik bis zur Kulturpolitik.
In den 60er Jahren startete eine Altenpolitik unter dem Motto „Was kann die Gesellschaft für Senioren tun?“ Heute muss es heißen: „Was können wir Senioren für die
Gesellschaft tun?“ Dabei brauchen wir das Miteinander aller Generationen; nur
gemeinsam können wir den auf uns zukommenden Herausforderungen gerecht
werden.
LITERATUR:
siehe: LEHR,U. (2003) Psychologie des Alterns; 10. überarbeitete Auflage (1.A.1972), Heidelberg / Wiesbaden: Quelle & Meyer
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