1 Joachim Wiemeyer Gerechtigkeit zwischen Generationen als sozialethische Herausforderung Einleitung Seit der Antike sind in der philosophischen und theologischen Ethik immer wieder Gerechtigkeitsfragen thematisiert worden.1 Dabei haben sich die Gerechtigkeitskategorien angesichts geänderter gesellschaftlicher Verhältnisse und Herausforderungen gewandelt. In den vormodernen europäischen Gesellschaften wurden drei zentrale Gerechtigkeitskategorien herausgestellt: die Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa), die Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) und die Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva).2 Während die Tauschgerechtigkeit Anforderungen des gerechten Austausches auf der gleichgeordneten Ebene, etwa im Handel zwischen zwei Akteuren, definierte, umfasst die legale Gerechtigkeit die Beziehung des Einzelnen zum Gemeinwesen, nämlich die der Einhaltung der Gesetze, etwa der Steuerpflicht. Die distributive Gerechtigkeit betrifft dann die Frage, wie ein Gemeinwesen, der Staat, die einzelnen Bürger behandelt und ihnen nach Bedarf Leistungen zukommen lässt. Westeuropäische Gesellschaften haben sich durch die Aufklärung, die französische Revolution und die industrielle Revolution seit etwa 1800 grundlegend gewandelt. Zunächst versuchte die Ethik durch Weiterentwicklung der drei traditionellen Gerechtigkeitskategorien auch den neuen Bedingungen gerecht zu werden. Es kam aber angesichts der sozialen Herausforderungen im Gefolge der Industrialisierung mit der Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ eine neue Gerechtigkeitskategorie auf. Während die drei traditionellen Gerechtigkeitskategorien von einer gegebenen Gesellschaftsordnung ausgehen und das gerechte Verhalten innerhalb vorgegebener Strukturen thematisieren, bezieht sich die „soziale Gerechtigkeit“ auf die gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen selbst. Sie fragt nach der Teilhabe aller Bürger an den materiellen Möglichkeiten der Gesellschaft, an individuellen Lebenschancen und am gesellschaftlichen Geschehen einschließlich der Entscheidungsprozesse. Von Kritikern wie dem liberalen Ökonomienobelpreisträger Friedrich August von Hayek3 ist der Kategorie der „sozialen Gerechtigkeit“ vorgeworfen worden, sie sei ein Instrument im politischen Meinungsstreit, das mit beliebigen Inhalten gefüllt werden kann, tatsächlich aber dazu diene, die eigenen Interessen mit einem wohlklingenden Wort zu untermauern. In der Christlichen Sozialethik hat man aber aufgrund solcher Kritik den Begriff nicht aufgegeben4, weil man das dahinter stehende Anliegen für unverzichtbar hält. Man gebraucht „soziale Gerechtigkeit“ aber eher als Oberbegriff und versucht, diesen durch verschiedene Gerechtigkeitskategorien zu präzisieren. Die erste und grundlegende Gerechtigkeitskategorie ist die Teilhabegerechtigkeit. Sie fragt danach, ob es in einer Gesellschaft Personen gibt, die vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Ein Verstoß gegen Teilhabegerechtigkeit war es etwa, als das Stimmrecht in westeuropäischen Staaten im 19. Jh. auf 10-20% der steuerzahlenden männlichen Bürger beschränkt war und dort die besitzlosen Arbeiter ausgeschlossen waren. Ebenso galt dies für Frauen, die z.B. in Deutschland erst 1919 das 1 Otfried Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 2001. Vgl. Kardinal Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre. 4. Aufl. der Studienausgabe, Kevelaer 1983, S. 71ff. 3 Vgl. Friedrich A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg a. L. 1981. 4 Vgl. Arnd Küppers, Soziale Gerechtigkeit im Verständnis der Katholischen Soziallehre, in: Anton Rauscher (Hg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, S. 165-174. 2 2 aktive wie passive Wahlrecht erhielten. Solche Verstöße gegen die Teilhabegerechtigkeit können sich auch auf nationale oder religiöse Minderheiten, Zuwanderer etc. beziehen. Wegen der Verweigerung der Teilhabegerechtigkeit trennten sich 1776 die nordamerikanischen Kolonien vom englischen Mutterland, weil sie nicht im Londoner Parlament vertreten waren, aber trotzdem Steuern zahlen sollten. Sie forderten unter dem Motto „No taxation without representation“ Teilhabegerechtigkeit ein und erklärten sich nach dessen Ablehnung für unabhängig. Die zweite Gerechtigkeitskategorie ist die Leistungsgerechtigkeit5, die eine Weiterentwicklung der Tauschgerechtigkeit darstellt, indem sie nicht nur den einzelnen Tausch, sondern ausdrücklich auch strukturelle Marktbedingungen, wie die Stärke von Marktseiten (etwa Arbeitnehmer im Verhältnis zu Arbeitgebern), in den Blick nimmt. Die dritte Gerechtigkeitskategorie ist dann die Chancengerechtigkeit. Wenn in modernen Gesellschaften Einkommen, Vermögen und gesellschaftliche Positionen nach individueller Leistung vergeben werden, sind gerechte Chancen in einem solchen Leistungswettbewerb zentral. Unter den Bedingungen der heutigen Wissensgesellschaft kommt unter dem Gesichtspunkt der Chancengerechtigkeit den Bildungschancen eine Schlüsselrolle zu. Chancengerechtigkeit hat aber innerhalb des Unternehmenssektors in der Hinsicht Bedeutung, ob sich Unternehmen neu gründen und am Markt etablieren können. Hier kann der Staat die Chancengerechtigkeit fördern, indem er neuen Kleinunternehmen bei der Unternehmensgründung durch Beratung und zinsgünstige Kredite hilft. Die vierte Gerechtigkeitskategorie ist die Bedarfs- bzw. Bedürfnisgerechtigkeit. Alle Menschen haben als Menschen unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistung und dem erzielten Einkommen das Recht auf materielle Existenzsicherung. Dies betrifft die Vermeidung von Einkommensarmut sowie den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die europäische Union definiert dabei kein absolutes Existenzminimum, sondern ein relatives. D.h. mit wachsendem Wohlstand der einzelnen Gesellschaft steigt dieses Existenzminimum an. In der EU ist vor einiger Zeit die relative Armutsgrenze von 50 auf 60% des Durchschnittseinkommens angehoben worden. Nach dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung für das Jahr 2005 gelten im Sinne dieser Festlegung etwa 13,2% der Bewohner Deutschland als relativ arm. Die Erstellung eines amtlichen Armuts- und Reichtumsbericht geht auf eine Forderung des gemeinsamen Sozialworts beider großer deutscher Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“6 (Nr. 219) zurück. Weniger gebräuchlich ist noch eine fünfte Gerechtigkeitskategorie als Konkretion der „sozialen Gerechtigkeit“, die ich hier ausdrücklich anführen möchte. Dies ist die Steuer- bzw. Finanzierungsgerechtigkeit. Sie betrifft die Frage, wie die materiellen Lasten des Gemeinwesens gerecht auf alle Bürger zu verteilen sind, wobei die durch höhere Einkommen bzw. Vermögen leistungsfähigeren Personen überproportional zur Finanzierung herangezogen werden sollen. Eine progressive Einkommenssteuer ist ethisch geboten. Hingegen muss das Existenzminimum für Einzelne wie für Familien steuerfrei bleiben. Fragen der Finanzierungsgerechtigkeit können auch bei der Verteilung der Schuldenstreichungen für Entwicklungsländer oder bei der Finanzierung europäischer Institutionen (EU) oder internationaler Organisationen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank) eine Rolle spielen. 5 Vgl. Joachim Wiemeyer, Europäische Union und weltwirtschaftliche Gerechtigkeit, Münster 1998, S. 76f. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Eingeleitet und kommentiert von Marianne Heimbach-Steins und Andreas Lienkamp, München 1997. 6 3 Alle diese Gerechtigkeitsformen sind synchrone Gerechtigkeitskategorien, die die Gerechtigkeit innerhalb eines Zeitraumes thematisieren. Neu ist die Gerechtigkeitsfrage, die diachron ist, also die Gerechtigkeit zwischen zwei weiter auseinander liegenden Zeitpunkten betrachtet und fragt, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse eine Generation begünstigt, andere Generationen aber benachteiligt haben.7 Hat eine Generation einer anderen nachfolgenden Generation Lasten aufgebürdet und sich selbst begünstigt? Solche Fragen der Generationengerechtigkeit sind vor allem durch die technischen Möglichkeiten der Industriegesellschaft mit ihren weitreichenden Eingriffen in die Natur aufgekommen: den Raubbau von Rohstoffen, der Umweltzerstörung, der Ablagerung von Schadstoffen etc. Weil diese zeitlichen Gerechtigkeitsfragen in die bisherigen Gerechtigkeitskategorien nicht mehr einordbar waren, wurde die Generationengerechtigkeit als neue Gerechtigkeitskategorie formuliert. Man findet auch die Begriffe „intergenerationelle Gerechtigkeit“ oder die „Zukunftsgerechtigkeit.“8 Im Folgenden wird gemäß dem in der Soziallehre der katholischen Kirche (Johannes XXIII., Enzyklika Mater et magistra, 1961, Nr. 236 u. Paul VI., Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens, 1971, Nr. 4). verbreiteten Drei-Schritt „Sehen - Urteilen - Handeln“ vorgegangen. Das bedeutet, dass in einem ersten Abschnitt Probleme der Generationengerechtigkeit analysiert werden. Im zweiten Schritt erfolgt eine ethische Überlegung. Im dritten Schritt werden Ansatzpunkte für mehr Generationengerechtigkeit aufgezeigt. Zuvor sei noch kurz auf den Generationenbegriff eingegangen. Dieser ist in der Mikroperspektive zunächst in Familien gebräuchlich, wenn zwischen Großeltern, Eltern und Kindern als jeweils einer eigenen Generation unterschieden wird. In politischer Hinsicht wird in einer gesellschaftlichen Makroperspektive von Generationen gesprochen, wenn sie durch gemeinsame Erlebnisse geprägt wurden wie die Generation, die den 2. Weltkrieg bewusst erlebt hat, oder die 68er Generation sowie die 89er Generation9. 20 Jahre nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Polen und dem Fall der Berliner Mauer ist eine Generation herangewachsen, die den kalten Krieg, ein geteiltes Deutschland und die zentralgelenkten Volkswirtschaften des Ostblocks nicht mehr erlebt hat. Bei den nachstehenden Überlegungen steht aber ein dritter Generationenbegriff im Vordergrund, der eine Gesellschaft idealtypisch in Generationen von ca. 30 Jahren aufteilt und jeweils fragt, ob gesellschaftliche Entwicklungen und gesellschaftliche Institutionen bestimmte Generationen bevorzugen oder benachteiligen. Dieser dritte Generationenbegriff ist vor allem in einer ökonomischen Modelbetrachtung üblich. I. Gerechtigkeitsfragen zwischen Generationen Im Folgenden ist eine Reihe von Sachproblemen zu beschreiben, die mit wesentlichen Gerechtigkeitsfragen zwischen Generationen zu tun hat: Fragen der Generationengerechtigkeit sind zuerst und am intensivsten anhand der Umweltproblematik diskutiert worden. Menschliches Wirtschaften ist immer und unvermeidbar mit Eingriffen in die Schöpfung 7 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch die katholisch-sozialethische Dissertation: Werner Veith, Intergenerationelle Gerechtigkeit. Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung, Stuttgart 2006. Weiterhin generell zu der Thematik: Johannes Eurich, Peter Dabrock, Wolfgang Maaser (Hg.), Intergenerationalität zwischen Solidarität und Gerechtigkeit, Heidelberg 2008 (Festgabe f. den evangelischen Ethiker Christopher Frey). Aus der Sicht der philosophischen Ethik: Andrea Heubach, Generationengerechtigkeit - Herausforderung für eine zeitgenössische Ethik, Göttingen 2008. 8 Vgl. Joachim Wiemeyer, Gerechtigkeit zwischen Generationen als wirtschaftsethisches Problem, in: Ethica 12. Jg. (2004), 71-94. 9 Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neuen Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8/ 2005 v. 21.2.2005, 3-9. 4 verbunden. Dabei wird die Natur als Rohstofflager wie als Medium der Ablagerung von Schad- und Reststoffen benutzt. Umkippen von Flüssen, Seen oder Meeren sowie die Schadstoffbelastung der Luft sind die Folge. Global gilt vor allem die C02-Anreicherung der Atmosphäre als das schwerwiegendste Problem.10 Die Endlagerung von Abfallstoffen, vor allem chemisch oder radioaktiv belasteten Stoffen, wirft weitere Fragen auf. Dabei gilt die atomare Endlagerung wegen der zeitlich weit reichenden Folgen als besondere Herausforderung. Ein zweites Umweltproblem liegt darin, dass regenerative Ressourcen (Wälder, Tierbestände wie Fische in den Weltmeeren etc.) über ihre natürliche Regenerationsfähigkeit hinaus genutzt werden. Wenn Tier- und Pflanzenarten sogar ganz ausgerottet werden, werden nachfolgende Generationen vollständig von deren Nutzung ausgeschlossen. Manche ausgerottete pflanzliche Arten hätten sich in Zukunft, z. B. als Arzneimittel, noch als wertvoll erweisen können. Die Nutzungsmöglichkeiten nachfolgender Generationen werden eingeschränkt. Fossile Brennstoffe wie Öl, Gas und Kohle sind erdgeschichtlich in mehreren Millionen von Jahren entstanden. Gegenwärtig werden sie in einer solchen Geschwindigkeit verbraucht, dass zumindest Erdöl und Gas nur noch von einer oder zwei zukünftigen Generationen genutzt werden können. Viele Länder, wie Russland, exportieren ihre fossilen Brennstoffe und importieren dafür Konsumgüter. Damit wird ein Kapital des Landes von den gegenwärtigen Generationen ohne Vorteile für zukünftige Generationen verbraucht. Hingegen sammelt Norwegen seine Öleinnahmen in einem großen Staatsfonds an, der weltweit investiert und damit das Vermögen nachfolgenden Generationen sichert. Lediglich die Gewinneinnahmen werden dort für öffentliche Ausgaben genutzt. Im ökonomischen Bereich ist eine Lastverschiebung auf kommende Generationen durch die Aufnahme von Staatsschulden im Ausland möglich, die erst spätere Generationen abbezahlen müssen. In der Periode der Schuldenaufnahme kann man mehr, in der Zeit der Abzahlung der Schulden weniger Güter importieren. So kann die jetzige Generation Lasten in die Zukunft verschieben. Bei Inlandsschulden ist die ethische Problematik geringer, weil nachfolgende Generationen die Forderungen (z. B. Staatsanleihen) erben, als Staatsbürger aber für die Schulden aufkommen müssen. Auf der Ebene der Generationen gleicht sich dies auf, nicht jedoch als Verteilung innerhalb der Generationen, weil diejenigen, die Steuern für die Staatsschulden zahlen nicht identisch mit denjenigen sein können, die die Zinsen für die Staatsschulden erhalten. Die wirtschaftliche Prosperität eines Landes hängt wesentlich auch von der Infrastruktur ab: von Straßen, dem Schienen- und Kanalnetz, den Energieleitungen etc. Heutige Generationen profitieren von der Errichtung der Infrastruktur, die teilweise - wie beim Schienenweg oder beim Kanalbau, bei U-Bahn-Netzen - 100 und mehr Jahre zurückliegt. Eine gegenwärtige Generation kann Investitionen in den Unterhalt und den Ausbau der Infrastruktur vernachlässigen, um selbst mehr zu konsumieren. Um einen Zusammenbruch der Infrastruktur zu verhindern, müssen nachfolgende Generationen dann erheblich investieren. In praktisch allen ehemaligen sozialistischen Ländern ist die Infrastruktur stark vernachlässigt worden, ebenso die Erhaltung des Wohnungsbestandes. Fragen der Generationengerechtigkeit hängen auch mit der Bevölkerungsentwicklung und den sozialen Sicherungssystemen zusammen. Deutschland wie Polen haben eine schrumpfende inländische Bevölkerung, weil die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten übersteigt. In 10 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Kommission Weltkirche Nr. 29,, Der Klimawandel: Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit. Ein Expertentext zur Herausforderung des globalen Klimawandels, Bonn 2006. Vgl. auch Amosinternational Heft 1/ 2009, Schwerpunktthema Klimawandel. 5 Deutschland sinkt die inländische Bevölkerung seit 1972. Bisher ist dies durch Zuwanderung auch aus Polen - aufgefangen worden. Mittlerweile ist die Geburtenziffer Polens mit 1,27 Kinder11 pro Frau unter die Ziffer Deutschlands mit 1,37 Kindern gesunken. Vermutlich entspricht die Ziffer deutscher Frauen dem polnischen Wert. Die höhere Zahl ist durch die höhere Geburtenziffer bei Migrantinnen zurückzuführen. Wenn man nicht mehr wie in den vergangenen Jahrhunderten die Bevölkerungszahl danach betrachtet, ob dem Militär genug Rekruten zur Verfügung stehen, stellt die Bevölkerungsentwicklung vor allem ein Problem sozialer Sicherungssysteme, insbesondere der Renten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung, dar. Immer weniger Beitragszahler müssen immer mehr Rentner versorgen. In Deutschland hat man deshalb die staatlichen Renten gleitend um 25-30% gekürzt, um den Anstieg der Belastungen für die kommenden Generationen zu beschränken. Die Probleme werden ab 2020 einsetzen und sich ab 2030 verschärfen. Diese Kürzung betrifft Personen ohne Kinder praktisch genauso wie Familien mit Kindern, die ihre Leistung für die Funktionsfähigkeit des Generationenvertrages erbracht haben. Die letzte Dimension, die hier angeführt werden soll, betrifft Bildung und Erziehung. Wenn eine junge Generation schon zahlenmäßig kleiner wird, sollte diese zumindest optimale Bildungschancen erhalten. Das deutsche Bildungssystem weist aber erhebliche Mängel auf, weil nicht alle Kinder (z. B. aus sozial schwächeren Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund) optimal gefördert werden.12 Die Zahl der Schulabbrecher ist hoch. Auch Schüler mit abgeschlossener Schulausbildung erhalten keinen Ausbildungsplatz. Viele Auszubildenden brechen die Ausbildung, viele Studierende ihr Studium ohne Abschluss ab. Auch bei denjenigen, die Schule und Hochschule erfolgreich absolvieren, stellt sich die Frage, ob sie nicht noch besser hätten gefördert werden können. Die Frage der Bildung darf aber nicht auf beruflich-funktionelle Wissensvermittlung beschränkt werden. Gerade die christlichen Kirchen haben in Deutschland immer wieder - auch im Sinne der humanistischen Tradition - auf eine ganzheitliche Bildung hingewiesen. Diese umfasst dann im Sinne der Persönlichkeitsbildung nicht nur Sport, Kunst und Kultur, Politik, sondern auch die Religion und die Vermittlung von Werten. Daher ist der Religionsunterricht an staatlichen Schulen und kirchlichen Privatschulen wichtig. Religionsunterricht ist dazu als gleichberechtigtes Unterrichtsfach anzusehen, wenn er - wie in fast allen Teilen Deutschlands - von den Schülern auch als Prüfungsfach im Abitur gewählt werden kann. Zwar muss jede neue Generation letztlich freiwillig einen religiösen Glauben und bestimmte Werte annehmen. Es ist aber Verpflichtung der älteren Generation dieser dafür hinreichende Chancen zu bieten. Im Rahmen des 40-jährigen „Jubiläums“ der Studentenunruhen der 68er mit ihrer neomarxistischen Welle gab es in Deutschland eine Debatte darüber, in welchem Umfang die Weitergabe von Werten (auch religiösen Werten) durch die Verbreitung der Ideen der 68er geschwächt wurde. Mit diesen Sachverhalten ist deutlich geworden, dass es Fragen gibt, die das Verhältnis der Gerechtigkeit zwischen Generationen betreffen. Dies kann faktisch immer nur zukunftsgerichtet sein, weil innerweltliche Fragen der Gerechtigkeit zwischen Generationen rückwärts nicht rückwirkend abgegolten werden können. So können wir, wenn wir heute von Leistungen verstorbener Vorfahren profitieren, diesen es in dieser Welt nicht mehr entgelten, genauso wenig wie uns möglicherweise zukünftige Generationen, die wir durch unser Verhalten geschädigt haben, nicht mehr sanktionieren können. Das Christentum enthält aber eine Perspektive, die über die Dauer des irdischen Lebens hinausgeht, rückwärts etwa in der 11 Stanislaw Fel, Sozialethik in Polen. Geschichte und aktuelle Bedeutung, in: Amosinternational 1/ 2009, S. 5861, hier 58. 12 Vgl. vbw-Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft e.V. (Hg.), Bildungsgerechtigkeit, Jahresgutachten 2007, Wiesbaden 2007. 6 Verehrung von Heiligen (dies gilt im gewissen Sinne auch im Protestantismus, wenn man an die Rolle des im April 1945 von den Nationalsozialisten hingerichteten Theologen Dietrich Bonhoeffer im deutschen Nachkriegsprotestantismus denkt), vorwärts im Sinne des schon angebrochenen, aber noch nicht vollendeten Reiches Gottes. Das Christentum enthält die Hoffnung, dass bei der Rückkehr Christi am Ende der Zeit den Opfern und ungerecht Leidenden der Geschichte Gerechtigkeit widerfährt und das die nach rein innerweltlichen Maßstäben vermeidlichen Sieger der Geschichte, die ihren Sieg auf Kosten anderer Menschen errungen haben, zur Rechenschaft gezogen werden. II. Ethische Überlegungen Gegen das Bestreben, „Generationengerechtigkeit“ als eine zentrale Gerechtigkeitsherausforderung der Gegenwart anzusehen, könnte ein Einwand lauten: Warum soll es überhaupt oder in größerer Zahl menschliches Leben auf dieser Erde geben? Warum soll man die Umwelt nicht schädigen, die Natur verbrauchen. Der Mensch könnte wie Dinosaurier und Millionen andere pflanzliche und tierische Arten der Erdgeschichte aussterben.13 Gegen eine solche Position wird ein Christ den Einwand erheben, dass das Ende der Menschheit auf der Erde bzw. der Erde insgesamt nicht von Menschen bewusst herbeigeführt werden darf. Das Ende ist vielmehr in das göttliche Ermessen gestellt. Die Menschen haben ihr Leben untereinander sowie ihr Verhältnis zur außermenschlichen Schöpfung so einzurichten, dass dauerhaft menschliches Leben auf der Erde möglich ist. Selbst wenn man den christlichen Glauben nicht teilt, müsste man sein eigenes Leben als sinnlos erfahren und eigentlich wünschen, nicht geboren zu sein, wenn man gegenüber zukünftigem menschlichen Leben auf der Erde gleichgültig wäre und sein Ende gar bewusst in Kauf nimmt. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Mehrzahl der Menschen ihr Leben als sinnvoll und lebenswert erfährt, sollten sie auch für zukünftiges menschliches Leben auf der Erde eintreten. Die Menschenrechtsidee der modernen Gesellschaft beruht auf der Anerkenntnis der gleichen Würde aller Menschen. Eine solche gleiche Würde wird man auch zukünftigen Generationen zugestehen. Die Anerkenntnis der gleichen Würde führt zu der Frage der Gerechtigkeit des eigenen Verhaltens aus der Sicht zukünftiger Generationen. So könnte man versuchen, sich in die Lage zukünftiger Generationen zu versetzen und zu fragen, ob diese in späterer Zeit das eigene Verhalten als gerecht ansehen oder etwa als ungerecht, weil man viele Ressourcen verbraucht oder Teile der Umwelt unwiderruflich geschädigt hat. Wenn man so grundsätzlich die Berechtigung der Frage der Generationengerechtigkeit anerkennt, stellt sich im christlichen Kontext zunächst die Frage nach biblischen Anknüpfungspunkten. So ist das Generationenverhältnis bereits im vierten Gebot des Dekalog behandelt worden: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebest in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“ (Ex 20,12 bzw. Dtn 5,21). Entgegen einer langen in der christlichen Tradition vorherrschenden Interpretation des Gehorsams gegen Eltern und andere Autoritäten, war es der ursprüngliche Sinn der Vorschrift, die aktive erwerbstätige Generation aufzufordern, ihre alten und hilfsbedürftigen Eltern rücksichtsvoll zu behandeln. Darauf weist Kardinal Lehmann mit Hinweis auf die überwiegende Auffassung der gegenwärtigen Exegeten hin.14 13 Der utilitaristische Ethiker Dieter Birnbacher hält dies unter bestimmten Bedingungen für ethisch wünschenswert. Vgl. dazu Heubach, a.a.O., S. 162. 14 Vgl. Kardinal Lehmann, Zusammenhalt und Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen, in: Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Nr. 24, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003, S. 20f. 7 In der katholischen Sozialethik ist es Tradition, dass sie nach dem Motto des Apostel Paulus „Prüft alles, und behaltet das Gute“ (1. Thess 5,21) philosophische Strömungen aufgreift und überprüft, ob und wieweit sie rezipiert werden können. Dies hat z. B. Thomas von Aquin bei der Rezeption der Schriften des Aristoteles getan. In der modernen philosophischen Gerechtigkeitsdiskussion haben besonders die Schriften von John Rawls15 besondere Resonanz gefunden. In seiner berühmten „Theorie der Gerechtigkeit“ thematisiert Rawls auch Fragen der Generationengerechtigkeit. Dabei bedient sich Rawls eines Gedankenexperiments. Menschen sollen Grundsätze der Gerechtigkeit, also auch Grundsätze der Generationengerechtigkeit, in einem Urzustand festlegen, ohne dass sie wissen, welche soziale Stellung sie in der Gesellschaft einnehmen, für die sie die Gerechtigkeitsgrundsätze formulieren. Bei der Frage der Generationengerechtigkeit kann man die rawls´sche Position so modifizieren, dass die Grundsätze der Generationengerechtigkeit m Urzustand unter einem „Schleier des Nichtwissens“ und ohne Kenntnis der Generation festgelegt werden, der man angehört. Man wird dann einen Gerechtigkeitsgrundsatz festlegen, der weder im Rahmen der menschlichen Kulturentwicklung frühere und sehr arme Generationen zwingt, zugunsten der Besserstellung nachfolgender Generationen erheblichen Konsumverzicht zu leisten. Noch wird man früheren Generationen einen Raubbau an Rohstoffen und der Natur erlauben, die nachfolgende Generationen schädigt. Man wird vielmehr für eine Kapitalbildung und einen Umgang mit Ressourcen plädieren, die zu einer schrittweisen Besserstellung kommender Generationen führen. Während in der ethischen Debatte manche Autoren16 dafür plädieren, dass wir kommenden Generationen lediglich menschenwürdige Lebensbedingungen schulden, die materiell aber erheblich unter dem jetzigen Wohlstand westlicher Industrienationen liegen dürfen, plädiere ich im Sinne der Kulturentwicklung der Menschen dafür, auf eine tendenzielle Besserstellung abzuzielen. Welche Generation sollte unter welcher Voraussetzung das Recht haben, aus der Kulturentwicklung auszusteigen?17 Diejenigen, die lediglich für das Recht menschenwürdiger Lebensbedingungen für zukünftige Generationen plädieren, können m. E. dafür kein plausibles Kriterium benennen. Im Kontext der ethischen Fragen der Generationengerechtigkeit gibt es noch zwei weitere Probleme: Wieweit kann man überhaupt voraussehen, ob das eigene Verhalten kommende Generationen schädigt oder gar begünstigt? Da die Entwicklung menschlicher Gesellschaften gerade wegen der Innovationsfähigkeit und Kreativität der Menschen offen ist, ist eine längerfristige Voraussicht nicht möglich. Die mangelnde Voraussicht spricht dafür, ein Vorsichtsprinzip gelten zu lassen sowie zweitens keine irreversiblen Maßnahmen (z. B. die vollständige Erschöpfung von Rohstoffen, vollständige Ausrottung ganzer Arten) zu treffen. Es gilt das Gebot, möglichst eine Revisionsoffenheit anzustreben. Ein zweites Problem ist, ob man bei der Bewertung zukünftiger Güter eine Diskontierung (eine Abzinsung und damit Abwertung zukünftiger Ressourcen) vornehmen darf oder ob dies der Gleichbehandlung kommender Generationen widerspricht. Hier wird für eine vorsichtige Diskontierung argumentiert, weil technischer Fortschritt es kommenden Generationen 15 Vgl. John Rawls, Theory of justice, Cambridge / Mass. 1971. Dazu auch: Wolfgang Kersting, John Rawls zur Einführung, Hamburg 1993, zur intergenerationellen Gerechtigkeit dort, S. 143-149. Andrea Heubach behandelt neben Rawls auch Hans Jonas, Dieter Birnbacher und Felix Eckhardt als philosophische Ethiker, die sich mit Fragen der Generationengerechtigkeit auseinandergesetzt haben. 16 Vgl. etwa Angelika Krebs, Wieviel Natur schulden wir der Zukunft? Eine Kritik am zukunftsethischen Egalitarismus, in: Dieter Birnbacher / Gerd Brudermüller (Hrsg.) Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Würzburg 2001, S. 157-183. 17 Vgl. Joachim Wiemeyer, Gerechtigkeit zwischen Generationen als wirtschaftsethisches Problem, S. 71-94. 8 möglich macht, z. B. mit weniger Benzin als heute identische Mobilität zu erreichen. Man darf entsprechend des Vorsichtsprinzips aber den technischen Fortschritt nicht zu optimistisch ansetzen.18 Wenn man diese Überlegungen hinsichtlich der Umwelt- und Ressourcenproblematik konkretisiert, weil bei diesen Fragen die Generationengerechtigkeit am intensivsten diskutiert worden ist, lassen sich folgende Gesichtspunkte19 festhalten: Umweltmedien, wie Gewässer, die Luft etc., dürfen nicht so mit Schadstoffen belastet werden, dass ihre Aufnahmefähigkeit und natürliche Selbstreinigungsfähigkeit überfordert wird, so dass es etwa zum Umkippen von Flüssen oder Seen kommt. Bei regenerierbaren Rohstoffen (z. B. Fisch- und Wildbeständen, Wäldern) darf immer jeweils nur so viel der Natur entnommen werden, wie nachwächst oder sich natürlich selbst erneuert. Indem man nur von Zinsen aber nicht vom Kapital selbst lebt, wird der Kapitalstock erhalten. Die Vielfalt der Natur (Landschaft, Arten) ist sowohl aus ästhetischen Gründen als auch zukünftiges Nutzungspotential möglichst weitgehend zu bewahren. Ein Verbrauch nichtregenerierbarer Ressourcen, wie etwa Rohöl, ist nur zulässig, wenn die nachfolgenden Generationen für den Verlust entschädigt werden. Durch die Entwicklung von Ersatzstoffen / Substituten, neuem Wissen, Kapitalbildung usw. kann gewährleistet werden, dass nachfolgende Generationen Lebensbedingungen vorfinden, die sie trotz des unwiderruflichen Verbrauchs nichtregenerierbarer Ressourcen nicht schlechter stellen. Wenn man diese Kriterien betrachtet, liegen gegenwärtig vielfältige Probleme vor. Beim ersten Kriterium ist vor allem an die CO2-Anreicherung in der Atmosphäre zu denken, beim zweiten Kriterium an die Abholzung von Regenwäldern und die Überfischung vieler Weltmeere, beim dritten Kriterium ist an tiefgreifende und vermutlich irreversible Natureingriffe, etwa das Austrocknenlassen des Aralsees zu denken. Bei dem vierten Kriterium muss man davon ausgehen, dass noch keine hinreichenden Ersatztechnologien zur Verfügung stehen, um z. B. Benzin als Antriebsstoff in Verkehrsmitteln (Autos, Flugzeuge, Schiffe) zu ersetzen. Auch für die übrigen Sachbereiche können ethische Kriterien näher präzisiert werden. So sollten Staatsschulden nur für langfristige Investitionen aufgenommen werden, damit diejenigen, die die Staatsschulden tragen müssen, auch von ihrer Verwendung profitieren. Die Aufnahme von Schulden kann sogar generationengerecht sein, wenn ein langlebiges Projekt, gemäß der Nutzung durch die einzelnen Generationen, finanziert wird. Insofern kann international die Höhe der gegenwärtigen Schuldenaufnahme im Kontext der globalen Wirtschaftskrise unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit problematisch sein, weil hier für kurzfristige Maßnahmen langfristige Schulden aufgenommen werden. Bei der Infrastruktur, im Wohnungsbestand und bei Produktionsanlagen müsste eine Verpflichtung bestehen, dass zeitnah Abnutzungen durch Erhaltungs- und Ersatzinvestitionen kompensiert werden und es nicht zu einer schleichenden Entwertung kommt. Im Kontext der Bevölkerungsentwicklung und der sozialen Sicherung sollte der Grundsatz gelten, dass jeder Bürger für seine Zukunft Vorsorge zu betreiben hat. Dies kann einmal durch die Erziehung eigener Kinder erfolgen oder durch Kapitalbildung. Nicht geschehen darf es, 18 Eine Diskontierung wird in der philosophischen Ethik überwiegend abgelehnt. Vgl. dazu Andrea Heubach, a.a.O. 19 Vgl. Markus Vogt, Das neue Sozialprinzip „Nachhaltigkeit“ als Antwort auf die ökologische Herausforderung, in: Wilhelm Korff u.a. (Hrsg.) Handbuch der Wirtschaftsethik Bd. 1, Gütersloh 1999, S. 237-257. 9 dass Menschen in ihrer Alterssicherung darauf vertrauen können, dass andere Kinder erziehen, und sie darauf setzen, dass die Kinder anderer Personen ihre Soziale Sicherung finanzieren werden. Wegen der demographischen Probleme hat man in Deutschland die Renten für Kinderlose wie für Eltern deutlich gekürzt und allen eine ergänzende kapitalbildende Vorsorge empfohlen. Gerechter wäre es gewesen, wenn die Renten von Eltern mit wenigstens zwei Kindern ungeschmälert geblieben wären, während notwendige Rentenkürzungen allein Eltern mit nur einem Kind bzw. Kinderlose getroffen hätten, so dass diese eine ergänzende kapitalbildende Vorsorge hätten treffen müssen. In der Bildung wäre es wichtig, dass man sich für die Gesamtbevölkerung um gute Bildungschancen kümmern würde. Dies hieße etwa, dass nicht Mittel aus dem Bildungssystem bei zurückgehender Kinderzahl abgezogen, sondern gezielt zur Verbesserung der Bildungsqualität genutzt werden. Außerdem sollte die Gesellschaft der nachfolgenden Generation ermöglichen, grundlegende religiöse und ethische Werte kennenzulernen, die sich in der Vergangenheit im Sinne des humanen Zusammenlebens als dienlich erwiesen haben. Damit sind Bestrebungen entgegenzutreten, die unter rein ökonomisch-funktionalen Gesichtspunkten etwa den Religionsunterricht im öffentlichen Schulwesen zurückdrängen wollen. III. Mehr Generationengerechtigkeit schaffen Die Sicherstellung von Generationengerechtigkeit ist zunächst eine Frage der gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen. In Deutschland hat man in einer Anpassung der Verfassung solche Herausforderungen der Generationengerechtigkeit aufgriffen. So wurde die Verfassung geändert und ausdrücklich der Umweltschutz als Staatsaufgabe in die Verfassung aufgenommen. Gegenwärtig wird im Rahmen einer weiteren Verfassungsrevision20 (neuer Art 20 b GG „Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen zukünftiger Generationen zu schützen.“)21 darüber diskutiert, ob man nicht die Bestimmungen über die Staatsverschuldung verschärfen sollte. Um das Zukunftsinteresse in der Gesellschaft zu stärken, ist auch der Vorschlag unterbreitet worden, allen Deutschen ab der Geburt das Stimmrecht einzuräumen. Dieses könnten die Eltern bis zur Volljährigkeit der Kinder ausüben. Mit diesem Instrument will man das Stimmengewicht für eine bessere Bildungs- und Familienpolitik sowie für mehr Gerechtigkeit in den Sozialen Sicherungssystemen stärken. Für mehr Generationengerechtigkeit setzt sich auch eine zivilgesellschaftliche Initiative ein, die diese Fragen der Generationengerechtigkeit gesellschaftlich thematisiert. Diese Initiative ist die „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen“ 22. Die Stiftung wirbt mit Schriften, wissenschaftlichen Publikationen, Kontakt zu Politikern und Medien für mehr Generationengerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft. In Deutschland ist die Frage der Generationengerechtigkeit schon länger von den Kirchen thematisiert worden. Bereits 1997 hatten die beiden großen deutschen Kirchen nach einem langjährigen Konsultationsprozess in der deutschen Gesellschaft ein viel beachtetes 20 Vgl. Jörg Tremmel, Generationengerechtigkeit in der Verfassung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8/ 2005 v. 21.2.2005, S. 18-28 sowie Andreas Lienkamp, Nicht auf Kosten unserer Kinder. Generationengerechtigkeit als neuer Maßstab der Politik, in: Herderkorrespondenz 57 (2003), S. 497-501 sowie ders., Ansprüche noch nicht Gezeugter, Von der Generationengerechtigkeit zu den Rechten künftiger Menschen, in: Herderkorrespondenz 62 (2008), S. 204-208. 21 Zitiert nach Heubach, a.a.O., S. 209. Vgl. etwa Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.) Handbuch Generationengerechtigkeit, 2. Aufl. München 2003. 22 10 Dokument für eine „Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ vorgelegt. In diesem Wort wird einleitend (Nr. 4) die Vorlage eines solchen gemeinsamen Wortes damit begründet, dass die Kirchen vor allem Stimme der Stimmlosen, etwa der „kommenden Generationen“ sein wollen. In verschiedenen Abschnitten greifen sie diese Problematik auf, für die sie grundlegend in Nr. 122 die ethische Maxime vorgeben: „Solidarität bezieht sich nicht nur auf die gegenwärtige Generation; sie schließt die Verantwortung für die kommende Generation ein. Die gegenwärtige Generation darf nicht auf Kosten der Kinder und Kindeskinder wirtschaften, die Ressourcen verbrauchen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft aushöhlen, Schulden machen und die Umwelt belasten. Auch die künftigen Generationen haben das Recht, in einer intakten Umwelt zu leben und deren Ressourcen in Anspruch zu nehmen. Diese Maxime versucht man neuerdings mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit und der Forderung nach einer nachhaltigen, d. h. einer dauerhaften und zukunftsfähigen Entwicklung auszudrücken.“23 Die Kirchen nehmen sich bei den Fragen der Generationengerechtigkeit selbst in die Pflicht, wenn sie etwa alternative Energien für Heizung und Stromversorgung kirchlicher Gebäude nutzen und eigene Landflächen ökologisch bewirtschaften lassen. Sie versuchen in die Gesellschaft hineinzuwirken, indem kirchliche Bildungseinrichtungen Fragen der Generationengerechtigkeit thematisieren. Kirchliche Bildungshäuser selbst sollen in ihrem Betrieb ökologisch vorbildlich sein (z. B. durch Wärmedämmung und Heizung mit Solarenergie). Während der Staat für die Alterssicherung seiner Beamten nicht vorsorgt, haben dies die Kirchen in der Regel durch Kapitalfonds getan. In den einzelnen Diözesen und bei vielen Orden gibt es ausreichende kapitalgedeckte Fonds, um die Pensionen von Kirchenbeamten und Priestern sowie die Alterssicherung von Ordensleuten zu sichern. Nur sehr selten nehmen kirchliche Einrichtungen Kredite auf und dann auch nur für langfristige Investitionen. Vor seiner Ernennung zum Bischof von Eichstätt war Gregor Hanke Abt des Benediktinerklosters Planstetten, das ökologisch ausgerichtet und unter seiner Leitung zu einer vorbildlichen ökologischen Einrichtung wurde.24 Der Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und sozialen Sicherungssystemen und die daraus erwachsenden Fragen der Generationengerechtigkeit sind in Deutschland besonders in den Jahren 2003 und 2004 diskutiert worden. Auch als Anwälte zukünftiger Generationen haben sich die Kirchen aktiv in diese Debatte eingeschaltet. Der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Lehmann25 hat 2003 sein Eröffnungsreferat vor der Herbstvollversammlung der Bischofskonferenz diesem Thema gewidmet. In der Deutschen Bischofskonferenz werden die sozialethischen Fragen vor allem von der Kommission VI bearbeitet. Dieser Kommission unter der Leitung des Erzbischofs von München und Freising Dr. Reinhard Marx, der selbst früher Prof. f. Christliche Gesellschaftslehre war, gehören mehrere Bischöfe und Weihbischöfe sowie Berater an. Diese Berater sind zum einen Wissenschaftler aus dem Bereich der Christlichen Sozialethik, der Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Daneben gibt es aber auch (ehemalige) Politiker, Vorstandsmitglieder von Gewerkschaften etc. Dies ermöglicht der Kommission nicht an den politischen Prozessen vorbei zu arbeiten, sondern auch Anknüpfungspunkte zu finden, wie ihre Positionen Eingang in die politische Willensbildung finden können. Diese Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen ist für eine Reform sozialer Sicherungssysteme eingetreten und hat durch seine ökologische Arbeitsgruppe eine Reihe von Studien zur Umweltproblematik herausgebracht. Vor allem die Studie zum Klimawandel hat innerhalb der deutschen Gesellschaft wie auch in der katholischen Kirche außerhalb Deutschlands hohe Aufmerksamkeit gefunden. Im Bereich 23 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit a.a.O. Vgl. zu solchen Initiativen in der deutschen Kirche, Die deutschen Bischöfe, Der Klimawandel a.a.O., S. 59ff. 25 Vgl. Karl Lehmann, a.a.O. 24 11 der „Sozialen Sicherung“ ist im Auftrag der Kommission VI ein Gutachten erstellt worden26, das bessere Leistungen für Eltern mit Kindern im Rentenversicherungssystem fordert. In die Sitzungen der Kommission werden auch Politiker eingeladen, so dass die Kirche mit diesen wesentliche Anliegen diskutieren kann. So hat sich die jetzige Bundeskanzlerin Angela Merkel damals noch als Oppositionsführerin vor einigen Jahren der Diskussion in der Kommission gestellt, ebenso wie der ehemalige Vizekanzler und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Franz Müntefering noch im März 2008. Ebenso hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 2004 in Magdeburg das Thema „Verhältnis der Generationen“ als Hauptthema behandelt und dazu einen Beschluss gefasst. Der Ratsvorsitzende der EKD Bischof Huber von Berlin sowie andere Bischöfe der evangelischen Kirche haben diese Thematik in vielen Reden angesprochen.27 Die Kirchen haben mit ihrem Engagement nicht direkt politisch gehandelt, sondern nach ihrem Selbstverständnis „Politik möglich zu machen“, für politisches Handeln den Boden bereitet. Ihre Aufgabe liegt dabei nicht in den technischen Details der Gesetzesgestaltung, sondern in dem Aufzeigen der für die Politik relevanten ethischen Grundlagen der Thematik. Für das Handeln der Politiker haben sie die Richtung im Sinne von Generationengerechtigkeit als Anwalt kommender Generationen gewiesen. Die Bemühungen der Kirche in Deutschland, Einfluss auf die Politik zu nehmen, laufen auf vielen Ebenen. So sprechen etwa die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen mit den Parteipräsidien der wichtigsten Parteien. Die beiden Vertretungen der Ev. und der Kath. Kirche in Berlin verfolgen die laufende Gesetzgebungsarbeit und halten Kontakt zu Abgeordneten und Beamten in den Ministerien. Die Katholischen Laien und ihre Verbände haben sich im Zentralkomitee Deutscher Katholiken zusammengeschlossen und erheben ihre Stimme, indem sie zu bestimmten politischen Fragen Stellungnahmen verabschieden. In das Zentralkomitee fließen sowohl die Positionen der Verbände und Parteien ein, aus denen die Mitglieder entstammen. Die Mitglieder des Zentralkomitees geben aber die Positionen des Zentralkomitees auch in ihre Verbände und Parteien zurück. In der heutigen Mediengesellschaft kommt es zudem darauf an, solche kirchlichen Positionen auch in den Massenmedien Aufmerksamkeit zu verschaffen. Erfolgreicher gesellschaftlicher Einfluss der Kirchen setzt voraus: - fundierte theologisch-ethische Reflexion. - hoher Kenntnisstand in den Human- und Sozialwissenschaften bzw. ethisch relevante Erkenntnisse anderer Wissenschaften (Ökologie). - Anknüpfung an die Logik des politischen Entscheidungsprozesses (Frage des geeigneten Ortes und Zeitpunktes) und der öffentlichen Meinungsbildung. - Mittragen der kirchlichen Position durch die Gläubigen, die als Wähler ihr Stimmrecht für solche Anliegen in die Waagschale legen können. 26 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) Arbeitshilfen Nr. 214: Familiengerechte Rente. Gutachten im Auftrag der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz zu einer familiengerechten Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, Bonn 2008. 27 Kundgebung zum Schwerpunktthema „Keiner lebt für sich allein - Vom Miteinander der Generationen“; Beschluss zu den Thesen als Anlage zu der Kundgebung zum Schwerpunktthema „Keiner lebt für sich allein Vom miteinander der Generationen“; Wolfgang Huber, „Reformen - notwendig, aber gerecht“ - Rede in Gladbeck am 3.12. 2004 und Christoph Kähler, Du sollst Vater und Mutter ehren - Generationengerechtigkeit in biblischer Perspektive - Vortrag bei der Jahrestagung des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer in Deutschland, 30.4.2004 (Vgl. http.www.ekd.de letzter Zugriff 5.5.09)). 12 IV. Schlussbemerkung Generationengerechtigkeit ist auf lange Sicht eine zentrale ethische Herausforderung, die nicht nur Deutschland und Polen, sondern praktisch alle EU-Länder hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung betrifft. Weltweit sind vor allem der ökologische Bereich sowie der Umgang mit natürlichen Ressourcen besonders relevant. Es gibt aber auch länderspezifische Fragen der Generationengerechtigkeit. Da im politischen Prozess zukünftige Generationen noch kein Stimmrecht haben, droht die Gefahr, dass deren Interessen vernachlässigt werden und sich heutige Generationen zu Lasten zukünftiger einen Vorteil verschaffen. Daher ist es eine wichtige Aufgabe der Kirche, auf dieses wichtige ethische Anliegen hinzuweisen. Das Christentum enthält ein unausgeschöpftes und unausschöpfbares Zukunfts- und Hoffnungspotential. Dies befähigt es, ein berufener Anwalt der Generationengerechtigkeit zu sein.