Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Volker Bernius WISSENSWERT Was bleibt von John Locke? Von Mischa Ehrhardt Mittwoch, 29.08.2007, 08.30 Uhr, hr2 Sprecherin: Sprecher: 07-074 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 1 Zitator: Wenn die Leute sagen, daß meine Lehre „nicht erlaubt werden dürfe, weil sie so zerstörerisch sei für den Frieden der Welt, so können sie ebenso gut… sagen, ehrliche Menschen dürften sich Räubern und Piraten nicht widersetzen, weil dies Unordnung oder Blutvergießen verursachen könnte… Ich möchte bitten darüber nachzudenken, wie jener Friede in der Welt aussehen wird, der nur aus Gewalttat und Raub besteht und lediglich zum Vorteil von Räubern und Unterdrückern gewahrt werden soll. Wem würde es nicht als ein trefflicher Friede zwischen dem Mächtigen und dem Schwachen erscheinen, wenn das Lamm seine Kehle dem gebieterischen Wolf widerstandslos zum zerreißen darböte“. Sprecherin: Verächtlich spricht John Locke über diejenigen Philosophen und Zeitgenossen, die ein Recht des Volkes auf Widerstand gegen die Regierung nicht anerkennen wollen. Und das zu einer Zeit, in der diese Worte politische Brisanz in sich bergen. Denn seine berühmte Schrift „Über die Regierung“, aus der diese Sätze stammen, kam an die Öffentlichkeit nur ein Jahr nach der „Gloreichen Revolution“ in England 1688. Es war also eine bewegte Epoche in der John Locke lebte und schrieb. Seine Schrift über die Regierung veröffentlichte er anonym, denn trotz gelungener unblutiger Revolution in England fürchtete der Philosoph damals die strafende Hand der Obrigkeit. Martin Hartmann: ((p) Ehrhardt Locke 1 Umstände) Das England des 17. Jahrhunderts war eine Zeit der Revolutionen, und in dieser Zeit ist Locke große geworden, in dieser Zeit hat er politische Ämter inne gehabt, in dieser Zeit musste er dann England verlassen. Das hat mit sehr komplexen religionspolitischen Fragen zu tun, mit seinen Kontakten zu Lord Shaftesbury zum Beispiel, der eine Zeitlang involviert war in den Versuch, einen Umsturz des Königtums vorzunehmen. Man kann also Locke gar nicht richtig verstehen ohne Bezug zu nehmen auf die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit, die immer auch sehr stark in religiöse Kontexte eingebettet sind. Sprecherin: Sagt der Philosoph Martin Hartmann von der Universität Frankfurt. In dieser Zeit wendet sich Locke in seiner politischen Philosophie strickt gegen den Absolutismus und die mittelalterliche Begründung von Staat und Gesellschaft. Er kritisiert vor allem die Theorie seines Zeitgenossen, des Royalisten Robert Filmers. Der begründete politische Herrschaft und den Besitz des 2 Eigentums der Menschen durch eine Erbfolge. Diese Erbfolge führte letztlich auf den biblischen Adam zurück, dem Gott den Besitz der Erde und aller Dinge geschenkt und überdies die politische Herrschaft auf Erden übertragen habe. Gegen diese hierarchische Erbfolge von Gott behauptet Locke eine Gleichheit aller Menschen vor Gott – und damit die Pflicht und das Recht, sich selbst zu erhalten, erklärt Reinhard Brandt. Er ist emeritierter Professor an der Universität Marburg. Reinhard Brandt, 11,50: (p) Ehrhardt Locke 2 Selbsterhaltung Das ist eine theologische Prämisse. Ich bin das Machwerk eines Gottes und dessen Machwerk zu erhalten habe ich die Pflicht. Und zu dieser Pflichterfüllung gehört die äußere Freiheit meiner Handlung. Ich muss meine Handlung steuern können, um der Pflicht zu genügen, mich selber zu erhalten. Sprecherin: Das Recht auf Nahrung und die Dinge zum Überleben hat aber Grenzen im Naturzustand. Erstens darf man sich nicht so viel aneignen, dass es verrottet oder verfault. Zweitens gehört einem nur, was man sich selbst erarbeitet hat, also gesammelt oder erjagt hat. Im Gegensatz zum Modell des Naturzustand seines Zeitgenossen Thomas Hobbes, in dem ein Krieg aller gegen alle herrscht, sieht Lockes Naturzustand freundlicher aus: Martin Hartmann 17,30 ((p) Ehrhardt Locke 3 Naturzustand) In dem Naturzustand Lockes gelten bestimmte Naturgesetze, die die Menschen erkennen oder erkennen können, wenn sie sich nur anstrengen. Und diese Naturgesetze sind Pflichten, die die Menschen als Menschen erfüllen müssen. Unangenehm wird der Naturzustand nach Locke nur deswegen, weil es natürlich immer andere Menschen gibt, die möglicherweise sich nicht ganz an die Naturgesetze halten, die also die Gesetze, die keine geschriebenen Gesetze in unserem Sinne sind, brechen. Stimme bleibt oben! Sprecherin: - und damit andere Menschen angreifen oder deren Eigentumsrecht verletzen. Die ursprüngliche Gleichheit vor Gott übersetzt John Locke also bereits in seinem Naturzustand in Rechtsbeziehungen. Da es nun aber in diesem Naturzustand keinen unabhängigen Richter gibt, die Streitereien beizulegen und auch keine unparteiische Strafinstanz, delegieren die Menschen beide Aufgaben an einen Staat. Das ist die Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft und Herrschaft. Und damit bringt John Locke quasi aus dem Modell eines Naturzustandes eine bis heute gültige Aufteilung in die philosophische Begründung von Staaten ein, nämlich die Teilung der Gewalten. 3 Brandt, 19,30 ((p) Ehrhardt Locke 4 Gewaltenteilung) Wir können schon vor der Staatsgründung den Gesetzesbrecher erkennen. Und er sagt, das ist wirklich seltsam, aber wir können den Mann auch aufhängen. Das heißt ich habe drei Möglichkeiten: Erstens die Erkenntnis des Gesetzes, zweitens die Applikation auf bestimmte Umstände und drittens die Exekution des Urteils. Das ist das Fundament der Gewaltenteilung. Diese Triade, die geht dann ein in die Staatsgründung. Das ist dann von Montesquieu im 18 Jahrhundert weiter durchbustabiert worden und von Kant vollkommen übernommen bis hin zur Formulierung eines Syllogismus, dass das absolut notwendig sei. Sprecherin: Sagt der Philosoph Reinhard Brandt. Der Staat hat nun die Aufgabe, über die natürlichen Gesetze zu wachen, also über das Leben der Bürger, ihre Freiheit und über deren Eigentum. Oder, In Worten Lockes: Zitator: So ist der Anfang und die tatsächliche Begründung einer politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer der Mehrheitsbildung fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern. Dies und einzig dies gab oder vermochte den Anfang zu geben für jede rechtmäßige Regierung auf der Welt. (76) Sprecherin: Das moderne an dieser Konzeption Lockes ist, dass die Menschen freiwillig und per Mehrheit entscheiden, in einer durch Gesetze geregelten Gesellschaft leben zu wollen. Musiktrenner Sprecherin: Nun gab es im Naturzustand eine grundlegende Gleichheit zwischen den Menschen, und Locke bemerkt natürlich, dass man von einer ökonomischen Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft nur schwer reden kann. Während vorher das Eigentum auf den eigenen Gebrauch beschränkt war und nicht mehr an Eigentum angeeignet werden konnte, weil es sonst verrottet wäre, macht es das Geld als Tauschmittel möglich, über die eigene Selbsterhaltung hinaus Güter anzusammeln. Martin Hartmann: 4 Hartmann, 27,00 ((p) Ehrhardt Locke 5 Ungleichheit) Ich darf zwar nicht hemmungslos viele Äpfel in meinem Speicher haben, aber ich darf nach Locke hemmungslos viele Geld in meinem Speicher haben. Damit aber gibt es natürlich die Möglichkeit des Entstehens von Ungleichheit. Und das ist schon einer der kontroversen Aspekte seiner politischen Theorie, weil er an der Stelle dann eine ganze Menge von Ungleichheiten rechtfertigen kann und rechtfertigen muss, die im Naturzustand an sich noch gar nicht vorhanden sind. Und man kann bei Locke erkennen, wie das gerechtfertigt wird, aber man muss es nicht akzeptieren, oder man muss nicht sagen, dass daran gar nichts kontrovers ist. Es gibt eine ganze Reihe auch von linken Kritikern, die bis heute Locke vorwerfen mit den normativen Prinzipien, die er selbst über den Naturzustand eingeführt hat, im Laufe seiner politischen Philöosophie zu brechen. Sprecherin: Es sind nach Locke‘s Auffassung die Fleißigen, die sich dieses Mehr an Eigentum angesammelt haben. Wenn es eine Ungleichheit des Besitzes gibt, liegt das also daran, dass es friedsame, fleißige Menschen gibt und faule „Querulanten“. Freilich denkt Locke, dass diese Ungleichheit allen Menschen der Gesellschaft zu Gute kommt; denn die ärmeren könnten ja bei den reicheren Mitbürgern Arbeit finden – und so auch das für sie Nötige zum Lebensunterhalt verdienen. Die wesentliche Funktion des Staates ist es also, das Eigentum seiner Bürger, deren Freiheit und Leben zu schützen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Konzeption macht Locke zum Gründervater des politischen Liberalismus. Und bis heute greifen – auch wirtschaftsliberale – Denker auf ihn zurück. In alle sonstigen Angelegenheiten darf sich der Staat nach John Locke nicht einmischen. Denn das würde die Freiheit seiner Bürger einschränken. Die Zurückhaltung des Lockeschen Staates drückt sich auch in religiösen Fragen aus. Hartmann, 41,00 Ich habe ja erwähnt, dass es die wesentliche Aufgabe der politischen Herrschaft ist, den einzelnen Bürgern Selbsterhaltung zu ermöglichen durch den Schutz des Eigentums. Der politische Herrscher darf aber nicht eingreifen in die religiösen Belange der Bürger. Man kann mich vielleicht äußerlich zu bestimmten Handlungen zwingen; gleichwohl glaubt Locke, dass der innerste Glaube nicht erzwingbar ist und durch keine Politische Maßnahme herbeigeführt werden kann. Stimme bleibt oben Sprecherin: Dabei war John Locke keineswegs Atheist. Denn selbst seine politische Philosophie gründet in natürlichen Gesetzen, die Gott den Menschen gegeben hat und die jeder Mensch durch seine Vernunft auch einsehen kann. Im Übergang zwischen Mittelalter und Moderne greift Locke als frommer Mann also auf Gott zurück, leitet davon aber vor allem weltliche Normen und Gesetze ab 5 – und trennt so zwischen privater Religion und Glauben auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite. Dennoch rät Locke gläubigen Menschen, dass ihre Zustimmung zu bestimmten Glaubenssätzen eine Grenze nicht überschreiten; und das ist die Grenze zum Raum unseres Wissens und der menschlichen Erkenntnis. Musiktrenner Sprecherin: Glaubenssätze dürfen unseren Erkenntnisprinzipien deshalb nicht entgegenstehen, weil das unser gesamtes geistiges Vermögen entwerten würde. Diese Prinzipien des geistigen Vermögens legt Locke in einem anderen zentralen Werk auseinander, nämlich seiner „Abhandlung über den menschlichen Verstand“. Auch hier ist Locke ein Wegbereiter, dem große Philosophen später folgen sollten; wie beispielsweise ein Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft. Als kritischer Philosoph fragt bereits Locke nach dem Umfang und den Grenzen der Erkenntnis. Den festen Ankerpunkt findet Locke aber nicht wie Descartes in einem „Ich denke, also bin ich“. Sondern eher in einem: Ich erfahre, also weiß ich. Brandt, 1’00 Das, was wir erkennen können, das sind Dinge, die wir aus der Erfahrung entnehmen; und daraus machen wir etwas. Und dann können wir, wenn wir das im Griff haben, auch entscheiden, ob es bestimmte Bereiche gibt, die sich unserer Erkenntnis entziehen, weil wir keine Sinnensinformationen haben. Das ist beispielsweise der Bereich der Theologie. Da müssen wir uns Gedanken machen, kommen zu Schlüssen der Existenz Gottes – aber wir können in scholastische Detailfragen um Gotteseigenschaften nicht einsteigen, dazu fehlen uns die Materialien. Sprecherin: Ohne Erfahrungen zu denken und zu kombinieren ist für Locke bloße Phantasterei. Sein oberster Grundsatz lautet dagegen: Nichts ist im Verstande, was nicht zuvor in unserer Sinneswahrnehmung gewesen wäre. Damit führt Locke das Ideal der Erfahrungswissenschaft ins Feld gegen mittelalterliche oder idealistische Spekulation – und ist der Aufklärung verpflichtet. Hartmann, 6,25 Locke selbst verwendet manchmal den Begriff der Tabula Rasa. Die menschliche Seele ist, wenn sie geboren wird, nackt, sie ist unbeschrieben. Alles, was der Mensch sich aneignet, erlangt er durch Erfahrung. Man kann da vielleicht die Nähe zur modernen Wissenschaft sehen, in der Wissen Schritt für Schritt durch Experimente erworben werden muss. Das 6 spiegelt sich wieder in der Erkenntnistheorie von Locke, die davon ausgeht, dass nur Erfahrung dem Menschen überhaupt Wissen verschafft. Sprecherin: Dennoch ist der Verstand keine vollkommene Tabula Rasa, in die , die rohen Erfahrungen nur einlaufen und sich darin abbilden. Denn er unterstreicht trotz aller Notwendigkeit von Erfahrungen die Leistung und Arbeit des Verstandes. Denn der Mensch muss seine Erkenntnis durch seinen Verstand und seine Erfahrungen selbst machen, ja: er muss sie herstellen. Das ist das aufklärerische Moment in der Philosophie John Lockes. Wir müssen selbst in Erkenntnis- und Wissensangelegenheiten aktiv werden. Und das gilt eben auch in politischen Angelegenheiten, in denen wir als Bürger in einem Staat leben. Für den Marburger Locke-Forscher Reinhard Brandt ist dies einer der Kerne dessen, was von John Locke bleibt: Die Identität der Person, die wir selbst immer wieder herstellen müssen. Brandt, 5,40 Ich würde sagen es bleiben in theoretischer Hinsicht solche Elemente wie die Identität der Person als etwas, wofür ich selber auch tätig und verantwortlich bin. Ich stifte mich insofern auch selbst durch meine planenden Handlungen. Ein anderer Punkt ist die Emphase der Freiheit, von der man sagen muss, sie ist nicht nur in Europa geblieben sondern auch exportiert worden nach Nordamerika. Man kann sagen: Die gesamte nordamerikanische Aufklärung ist ein Werk von John Locke. Sprecherin: - wie auch die Verfasser der Bill of Rights sich auf Locke berufen haben. Viele Philosophen kritisieren bis heute die liberalistische Tendenz in der Staatsphilosophie John Lockes. Und fest steht, dass John Locke einer der Gründungsväter zumindest des politischen Liberalismus ist. Vor allem die materielle Ungleichheit, die er begründet, ruft Kritik hervor. Sein Liberalismus aber führte in seiner Philosophie auch zum Gedanken religiöser Toleranz. Ein Merkmal von bestechender Aktualität. Hartmann 48,00 Was die Toleranzfrage angeht, erübrigt es sich ja fast, auf die Aktualität hinzuweisen. Wir haben heute in allen Ländern mit der Frage zu tun, wie wir umgehen mit verschiedenen Formen der Religion, und es ist leicht einsehbar, dass ein Autor wie Locke dabei helfen kann, Toleranz zu begründen und Toleranz zu rechtfertigen. Also man ist wirklich erstaunt, wenn man das liest, wie nah einem das alles selber ist. Und da brauchen Sie nur die neuesten Schriften von Habermas zu lesen, in denen ja auch eine Hinwendung zu Religionsfragen wieder gegeben ist, dass man Locke fast wie einen Zeitgenossen lesen kann. 7 8